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Der längste Tag

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Fett kochte. Er ärgerte sich über Schmelzer, darüber, dass ihre Abteilung immer die Fälle mit Geschichte bekam, immer diese Vergangenheit, der Zweite Weltkrieg. Es hörte nicht auf, es hörte nie auf. Nun kam die Enkelgeneration, und auch die hatte offene Rechnungen. Eugen Kaltenbach, 75 Jahre, alleinstehend, klettert im Dunkeln auf den Krawutschketurm, geht jeden Morgen hinauf. Kann ein Täter rausfinden. Kaltenbach schaut in den Westen, steht am Rand der Brüstung, peng, Kopfschuss, sofort tot. Schütze steigt hinterher, sticht sieben Mal zu und verschwindet. Muss ein guter Schütze gewesen sein. Schmelzer sollte prüfen, wer aus Bergstein Scharfschütze bei der Bundeswehr war. Wer war der beste Schütze im Schießverein, hat Bergstein einen Schießverein oder eine Schützenbruderschaft? Fett ging die gesammelten Fakten durch. Die Patrone am Grab des amerikanischen Gefreiten Peternell. Ablenkung, Zeichen, Rätsel? Das war kein Krieg zwischen zwei verfeindeten Nachbarn. Der Fall reichte vermutlich zurück in die Geschichte. Wer war Eugen Kaltenbach? Wer war sein Vater, seine Mutter, Geschwister?

Fett erreichte die oberste Plattform. Das Blut auf den Holzbrettern war dunkler geworden, ein paar Spritzer auf der Infotafel, die Richtung Vossenack aufgestellt war. Der nächste Regen würde die Spuren der Tat abwaschen. Alles würde versickern in den Burgberg, den Hügel der blutigen Stiefel, getränkt vom Blut der Soldaten. Fett griff zu seinem Handy. Der Empfang war hundsmiserabel. Er gab Burgberg ein und stieß auf Hill 400. Fett versank in die Zeit vor 75 Jahren. Genau vor 75 Jahren war hier auf und am Berg die Hölle los gewesen. Er lehnte sich an die Brüstung und sah vor seinen Augen die amerikanischen Ranger, die von Brandenberg aus über die freie Fläche angriffen. Sie waren dem Artilleriefeuer der Wehrmacht schutzlos ausgesetzt. Er blickte auf die kargen Felder, die keine Deckung boten. Am 7. Dezember 1944 stürmten die Ranger den Burgberg. Der deutsche Kommandant befahl deutsches Artilleriefeuer auf den eigenen Bunker. Die Ranger verloren beim ersten Angriff ein Viertel aller Männer. Fett dachte an den Film Platoon, der damit endete, dass die US-Einheit von Nordvietnamesen überrannt wurde und der Kommandant einen Luftschlag auf die eigenen Stellungen befahl. Alles versank in Napalm. Vor Fetts Augen tobten die Kämpfe. Kann man sich das vorstellen? Kann man versuchen, die Situation zu erfassen, die Angst, das Schreien, den Kampf Mann gegen Mann, die abgerissenen Glieder, den Stoß des stumpfen Bajonetts in den Brustkorb, der letzte Blick auf die Handgranate, die in das Schützenloch fliegt? Private First Class Peternell, der amerikanische Gefreite, wurde vermisst bis zu dem Tag im Jahre 1981, an dem seine Überreste in einem Schützenloch gefunden wurden.

Fett dachte an den 7. Dezember 1944. Sieben Messerstiche. Was sagte Elke Unsleber? »Voll in die Zwölf.« Kopfschuss. Sieben und zwölf. 7.12., der Tag des Horrors hier am Burgberg. Im Schnee, im Matsch, im Eis, im Regen, im Dreck, im Granatenhagel. Die Amerikaner waren seit dem 12. September 1944 in Deutschland. Da erreichte die erste Einheit Roetgen, und zur Warnung standen überall die Schilder: »Entering Germany«. Jetzt lag hier oben Eugen Kaltenbach, erschossen mit einem M1 Karabiner der US-Army. Die Patronenhülse auf dem Grab von Peternell. Eine Ablenkung? Fett schaute auf Bergstein, Brandenberg, Vossenack, Schmidt, das Kalltal. Wolkenfetzen jagten von Westen nach Osten, es lag Schnee in der Luft. Ein Pfiff. Die Rurtalbahn. Wo war er hineingeraten, wer lenkte hier das Geschehen, warum diese Messerstiche, diese Legende, diese Stephen-King-Geschichte aus dem 16. Jahrhundert? Oder narrte sie jemand? Fett blickte auf Bergstein. Aus einigen Kaminen stieg Rauch, der sofort vom Wind nach Osten vertrieben wurde. Er steckte die kalten Hände in die Jackentasche seines gefütterten Parkas, den er auf seinem Klapprad brauchte. Die Dockermütze zog er fest über die Ohren. Er war nicht überzeugt von den Verbindungen zur US-Army. Zu offensichtlich, zu einfach.

Herr über Leben und Tod bist du

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