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Herr Jens und die Identitätsfrage
Оглавление»Sind Sie nicht Herr Jens?«
Ein älterer Herr kam im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung auf Fett zu. »Sie sind doch Herr Jens!«
»Was nicht ist, das kann noch werden. Fett, Vorname Michael. Jens steht nicht in meinem Ausweis.«
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Sie sehen aus wie Herr Jens. Auf Wiedersehen.«
Fett blieb irritiert stehen. Zum wiederholten Mal war er verwechselt worden. In Kloster Steinfeld war ein Bierkutscher auf ihn zugekommen und hatte ihn mit »Guten Tag, Herr Scheidtweiler« begrüßt. Als er Toni Erdmann im Capitol-Kino schaute, drehte sich die Dame vom Nachbarsitz zu ihm und sagte: »Sie sehen aus wie mein Bruder.« Und bei einer Podiumsdiskussion freute sich der Historiker Michael Wolffsohn: »Schön, dass Sie gekommen sind. Wir kennen uns ja.« Diese plötzlich auftauchenden und zunehmenden Verwechslungen nagten an ihm. War er ein Avatar, ein geklonter Kommissar? Oder war sein Vater in Wirklichkeit ein umherziehender Kurzwarenverkäufer gewesen, der an vielen Orten seine fruchtbaren Spuren hinterlassen hatte? Fett versuchte, es von der komischen Seite zu betrachten, so richtig gelang es nicht. Er war nicht einmalig, sondern es gab viele Fetts. Wenigstens äußerlich. Ihm fiel eine Erzählung von Clemens Brentano ein, die er kürzlich im Antiquariat gefunden hatte: Die mehreren Wehmüller. Sie handelte von der Auflösung der Identität, von Verwechslungen, von Spuk, Zauberei und der Wilden Jagd. Er dachte daran, als er in Höhe des Hauses stand, in dem einst Sport Gruber beheimatet war. Für immer geschlossen. Danke, Internet, dachte Fett. Was wird aus unseren Städten? In Höhe des Bistros Anvers stieß er fast mit Vera Braun zusammen, Redakteurin des Zeitungsverlags. Sie bewegte sich beschwingt in Richtung Jakobstraße.
»Dein Freund und Helfer, ja da schau an. Der liebe Kommissar Fett.«
»Vera, die Chefaufklärerin des Zeitungsverlags. Welche Freude, welche Ehre.« Wenigstens sie hat mich nicht verwechselt, dachte Fett.
»Hör auf zu säuseln, du alter Colombo. Oder Columbo? Wie hieß der denn?«
»Columbo.« Schon wieder eine Verwechslung, aber nicht mit Columbus, schoss es Fett durch den Kopf.
»Lass uns einen Kaffee trinken, gleich hier im Anvers.« Sie lächelte ihn an.
»Wenn du mich nicht ausquetschst. Einverstanden.«
Fett schloss sein Rad an eine Laterne. Er öffnete der Redakteurin die Tür des Lokals. Sie standen im studentisch anmutenden Bistro Anvers, eher eine griechische Taverne als ein Bistro aus Antwerpen.
»Was hast du für mich? Mord, Totschlag, Eifersucht, Gift?« Vera Braun konnte ihre Neugier nicht verbergen.
»Kaffee. Oder auch einen Schoppen. Trinkst du noch gerne Chianti?«
»Eins, nur ein klitzekleines Gläslein. Muss zum Dom. Da spricht heute Aleida Assmann.«
»Friedenspreis des Buchhandels.« Fett nickte wie ein allwissender Professor.
»He, Kommissar Fett kennt sich aus. Das gibt’s nicht.« Ihre dunkelbraunen Augen blickten erstaunt.
»Ein bisschen Bildung kann nicht schaden. Stammt von Heine, nicht von mir.«
»Bildungsmonster Fett. Wow. Darauf einen Chianti.«
Sie rief den Kellner und bestellte zwei Gläser.
»Vorsorgliche Bevormundung. Merci. Wenn du es nicht wärst.«
»Wer dann, Columbo? Du hast sonst nur den Schmelzer.«
Das saß. Fett hatte nur Schmelzer. Fett, der Chef, und Schmelzer, der Schüler. Oder war er eher sein alter Lehrmeister. Nur Schmelzer. Ja, wenn er darüber nachdachte, er hatte wirklich nur Schmelzer. Er verbrachte mehr Zeit mit Schmelzer als mit irgendeinem anderen Menschen.
»Zwei Chianti?« Der Kellner jonglierte ein Tablett durch die Tischreihen.
»Hier. Die junge Dame und der alte Mann.« Fett verwies freundlich auf Vera Braun.
»Ein Toter in der Eifel, und der Kommissar schiebt in Seelenruhe sein Klapprad durch die Kockerellstraße.«
»Feststellung oder Frage?«
»Beobachtung.«
»Zum Wohle. Auf die vierte Gewalt.«
Sie lächelte ihr Journalistenlächeln. Halb wissend, halb fragend, neugierig, auf der Suche nach einer Story. Dunkelblauer Blazer, die Daunenjacke von Moncler hing lässig über dem Stuhl, braune Lederstiefel und strohblonde Haare.
»Lass mich nicht verhungern, Herr Fett.«
»Herr Fett bestellt einen gemischten Vorspeisenteller und sagt dir höchstens unter drei etwas.« »Unter drei« nannte man die vertrauliche Information, die sie in ihrem Blatt nicht drucken durfte.
»Unter drei. Immer so verschwiegen.«
»Warte bis zur Pressekonferenz vom Kollegen Kemmen.«
»Jörg, der gute Jörg. Du weißt viel mehr als Jörg Kemmen. In jeder Beziehung. Und der Jörg ist vor 14 Tagen in den Ruhestand verabschiedet worden.« Sie schaute ihm so tief in die Augen, dass er die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung überhörte. Stimmt, er hatte vergessen, dass Kemmen pensioniert worden war.
»Ein alter Mann aus Bergstein, morgens auf dem Krawutschketurm, wird mit einem amerikanischen Karabiner, wie ihn die GIs hatten, erschossen. Danach noch sieben Stiche in die Brust«, berichtete Fett. »Heute kurz vor Tagesanbruch.«
»Wer war der Ermordete?«
»Ermittlungstaktik. Nicht öffentlich.«
»Komm. Unter uns.«
»Wir wollten einen Kaffee trinken, nun ist es ein Wein, und du quetschst mich aus. Schade.« Fett wirkte enttäuscht und ein wenig genervt. Lieber wäre er nach Hause geradelt. Er, der »Herr Jens«.
»Schon gut, schon gut. Themenwechsel. Muss eh gleich zum Dom. Die Kulturleute sind alle krank. Da darf ich mal einen Beitrag für die Kulturseite schreiben.«
»Kann nicht schaden.«
»Was, der Dom oder Kultur oder beides.«
»Ein wenig Kontemplation.« Fett trank sein Glas aus.
»Schlechte Laune, Herr Kommissar?« Sie schaute ihn neckisch und frech an.
»Zu viel Trubel, schöne Vera. Wo geht die Reise hin? Die Gesellschaft rutscht, Schieflage. Organisierte Kriminalität, Clans, Gewalt, Drogen, Prostitution, Prepper-Typen, die sich auf den Weltuntergang vorbereiten, und diese Diskussion über die Antoniusstraße in der Innenstadt. Der Polizeipräsident hat recht. Dort wird es immer Kriminalität geben. Wollen wir daneben einen Kindergarten einrichten? Nein. Trotzdem proben die bewegten Damen von der Prostituiertenhilfe den Aufstand.«
»Einer muss den Zwangsprostituierten aus Osteuropa und Afrika helfen.«
»Ja, helfen. Und Gesetze respektieren und durchsetzen. Wir lassen unsere Spielregeln aufweichen. Klappt auch nicht beim Fußball. Wenn jeder seine eigenen Regeln macht, funktioniert das Spiel nicht. Schau nach Hambach. Schau nach Hamburg zum G20-Gipfel oder Berlin Rigaer Straße. Manche sprechen von befreiten Zonen. Wovon befreit? Von der Ordnung, den Gesetzen, die unser Zusammenleben regeln.«
»Spannender als Aleida Assmann. Könnte dir noch lange zuhören.«
»Mach dich nur lustig.« Fett war gereizt.
»Im Ernst, Michael.« Erstmals sprach sie seinen Vornamen aus. »Der Zynismus in der Redaktion geht mir auf den Senkel. Ein Ausdruck unserer Unsicherheit. Wer liest noch Zeitung? Wir glauben, dass wir für das System wichtig sind. Jeder blöde Youtuber hat mehr Follower als wir Leser. Manchen Redakteuren bleiben nur Zynismus und Alkohol. Und hin und wieder eine richtig gute Geschichte von den jungen Kollegen, die abtauchen in wahre Sorgen, Nöte und Probleme.«
»Wie heißt der Song? Hurra, unsere Welt geht unter?«
»Ja. Glaube schon.«
»Ich zahle vorne, Vera. Lass dir das Lächeln nicht stehlen. War vielleicht der falsche Moment für einen Plausch. Du musst los. Sonst platzt du mitten in die Veranstaltung.« Vera Braun schaute dem Kommissar nachdenklich hinterher, als er zum Tresen ging. Sie fand ihn seit Jahren interessant. Eine harte Nuss. Sie wurde nicht schlau aus diesem heiteren Melancholiker, von dem die Polizeireporter mit großem Respekt sprachen. Seine Aufklärungsquote sei beeindruckend. Aber er selbst unnahbar.
»Alles erledigt, schöne Frau Braun. Grüß mir den Dom, den Dompropst und Paul, den Chefredakteur, wenn du ihn siehst.«
»Paul Schnigge. Den sehe ich morgen bei der Redaktionskonferenz. Werde es ausrichten, Columbo. Mach’s gut. Beim nächsten Mal reden wir nicht über die Toten. Nur über uns, die Lebenden.«
»Gerne.« Fett hielt ihr die Tür auf, grüßte den Wirt, der ein Glas polierte und lächelnd nickte.