Читать книгу Goettle und der Kaiser von Biberach - Olaf Nägele - Страница 12

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Im VIP-Zelt des 1. FC Oberschwaben herrschte dicke Luft. Eine große Videoleinwand zeigte die Zusammenfassung des Spiels gegen den FC Homburg, das vor knapp einer Stunde abgepfiffen worden war.

»Jetzt guck dir den Fliegafänger a«, entrüstete sich ein älterer Herr über die Leistung des Torwarts Thomas Heimerdinger, der soeben an einer Flanke vorbeisegelte, die vom Homburger Mittelstürmer kompromisslos per Kopf zum 1:2 ins Netz befördert wurde.

Schneider schüttelte den Kopf. »Das ist echt nicht zu begreifen. In einem Spiel zeigt dieser Heimerdinger Weltklasseformat, und heute hätte er nicht einmal gegen die Damenmannschaft von Bad Waldsee eine Chance gehabt«, maulte er, was ihm einen Ellbogencheck von seiner Begleitung einbrachte. Christine war selbst Fußballerin und schätzte es gar nicht, wenn sich Männer abfällig über ihre Sportart äußerten.

»Entschuldigung, aber es ist doch wahr. Schau dir das an.«

Schneider wies auf die Leinwand, auf der die Szene lief, in der Heimerdinger einen Homburger Spieler im Strafraum in einer sehr robusten Art zu Fall brachte. Einer seiner Teamkollegen zeigte ihm den Vogel und wurde daraufhin vom Tormann geohrfeigt. Die Rote Karte war die unweigerliche Folge.

»Der isch doch net ganz sauber. Haut der sei’m oigena Mann oine an dr Grend«, wetterte der ältere Herr.

Ein kollektives Empörungsstöhnen füllte das Zelt, als Präsident Siegfried Röder vor die Kamera trat. Buhrufe und Pfiffe ertönten.

»Natürlich hätten wir das Spiel gern gewonnen, aber Thomas hat heute einen rabenschwarzen Tag erwischt. Dennoch bleibt unbestritten, dass er ein Ausnahmetalent ist. Wir wissen, was wir an ihm haben«, kommentierte der große Mann des 1. FC Oberschwaben die Leistung seines Schützlings.

Wie immer sah er aus, als käme er von einer Gala und befände sich nicht im Stadion eines Viertligisten. Seine grauen Haare hatte er sauber in der Mitte gescheitelt, die dunkelblaue Krawatte setzte eine dezente farbliche Nuance zum hellblauen Hemd, das Sakko saß wie angegossen.

Er ließ sich von dem Reporter, der immer wieder die schwankenden Leistungen des Torhüters ins Gespräch brachte, nicht aus der Ruhe bringen. Lediglich bei der Frage, ob die handgreiflichen Entgleisungen Heimerdingers vereinsintern verfolgt würden, geriet der Präsident in Rage. »Natürlich können wir eine solche Tat nicht dulden. Thomas hat sich bereits bei Harry entschuldigt, aber das kann nicht genügen. Wir werden uns überlegen, welche Konsequenzen das haben wird.«

»Isch des älles, was der zum saga hot? 1:5 verlora, auf oigenem Platz. An Skandal isch des!« Der Alte schleuderte seine Faust in Richtung Videoleinwand und verließ heftig fluchend das Zelt.

Schneider wäre ihm am liebsten gefolgt, doch Christine machte keine Anstalten zu gehen. Sie war eine der glühendsten Verehrerinnen des FC und kostete jede Minute aus, die sie im VIP-Zelt verbringen konnte. Schneider hatte sie mit den Karten überrascht, als sie seinem Drängen, sich mit ihm zu treffen, nachgegeben hatte.

Kennengelernt hatte er die junge Frau beim »Weißen Fest« im »Alten Haus«. Alle Gäste dieser Party waren in Weiß gekleidet gewesen.

Christine war ihm sofort aufgefallen. Ihre dunklen Haare schienen durch die fast blendende Umgebung an Schwärze zu gewinnen, der rot geschminkte Mund strahlte wie ein Leuchtturm-Signal und zog ihn magisch an. Und dann dieses umwerfende Lächeln, das sie ihm mehr als einmal zusandte – er konnte nicht anders, er musste sie anstarren.

Dass er sie angesprochen hatte, war das Resultat einer Wette gewesen: Sein Freund Charlie hatte 50 Euro gesetzt, dass er, Denis Schneider, nicht den Mut besäße, zu ihr zu gehen und Kontakt aufzunehmen. Tatsächlich hatte es noch dreier Anfeuerungsschnäpse bedurft, bis er sich im schwankenden Tänzelschritt auf sie zubewegte und ihr mit »Du tanzt wie eine Feder im Wind« ein äußerst gut getarntes Kompliment ins Ohr lallte.

»Bisch du aus em Lyrik-Seminar ausbrocha?«, hatte sie erwidert, ihn dabei aber aufmunternd angelacht – und da war es um Schneider geschehen gewesen.

Eine bildhübsche Frau mit Humor und Esprit, einem Flirt offensichtlich nicht abgeneigt, die sich anmutig bewegte und die trotz ihres Stylings eine frische Natürlichkeit ausstrahlte, die musste er einfach näher kennenlernen.

Alles wollte er wissen: Wer sie war, wie sie lebte, wo sie wohnte, was sie beruflich machte – und: Wann sie mit ihm ausging.

Sie brüllte ihm gegen das Hämmern der Musik Antworten ins Ohr, nur bei der letzten Frage blieb sie zunächst stumm, zog am Strohhalm ihres Cocktails und sah ihn lange an.

»Gut, i gang mit dir aus«, hatte sie schließlich gesagt. »Zum Fußball. Aber nur, wenn du mi ins VIP-Zelt vom 1. FC einlädsch.«

Schneider hatte sofort zugestimmt. Das VIP-Zelt des 1. FC Oberschwaben strahlte zwar die Romantik einer Hocketse der örtlichen Feuerwehr aus, war jedoch gleichzeitig ein unverfänglicher Ort. Und für Christine gab er gern die 40 Euro aus, die für eine Karte verlangt wurden.

Allerdings hatte sich der Kommissar einen anderen Ausgang des Spiels erhofft. Er hatte sich ausgemalt, dass ihm Christine im Rausche des Torjubels um den Hals fallen würde, dass sie, erregt vom mitreißenden Spiel der Mannschaft, den Sieg auf amouröse Art mit ihm feiern würde.

Bei einem 1:5 gab es jedoch nicht viel zu feiern, die aphrodisierende Wirkung des Ergebnisses entsprach den gewonnenen Punkten, sie war gleich null.

Er sah Christine an, die sich dem Studium der Tabelle in der Stadionzeitschrift »Der Wadenbeißer« gewidmet hatte. Sie erörterte gerade die neue Tabellensituation nach dem misslungenen Heimspiel.

»Des dät no lange zum Aufstieg. Es sen no zwoi Spiel, ond die misset se halt g’winna«, erläuterte sie.

Schneider lachte. »Ja, aber die kann die Mannschaft nur gewinnen, wenn Heimerdinger nicht mitspielen darf.«

Christine funkelte ihn angriffslustig an. Sie hatte ein Faible für den jungen Torhüter und ließ keine schlechte Äußerung über ihn zu.

»I würd sage, dass der Tom der Garant für dr Aufstieg isch.«

Ein junger Mann im FC-Fan-Ornat drehte sich zu ihr um und schnaubte. An seiner Gesichtsfarbe war zu erkennen, dass ihn das Spiel seiner Mannschaft ziemlich mitgenommen hatte, und seiner Ausdünstung nach zu schließen, hatte er den Frust mit reichlich Bier hinuntergespült.

»Wenn’s noch mir gange dät, dürft der Heimerdinger maximal die Linia vom Spielfeld nochzieha. Der taugt doch nix. Beim 0:1 gega d’Kickers Offenbach getunnelt, beim 2:3 gegen Trier lenkt der den Eckball ins oigene Tor. Do könntsch moina, der kriagt von de andere Geld für seine Aussetzer.«

Christines Lippen bebten. Schneider kam nicht umhin, auch diese Geste süß zu finden.

»Ond wer hot beim 2:1 gega Saarbrücka zwoi Elfer g’halta? Überhaupt: Wer hot in de erschde sechs Spiel sein Kaschda sauber g’halta? Der Tom. I sag’s, wie’s isch: Aus dem wird no was. Außerdem kann er ja nix für seine Aussetzer. Des kommt älles von sei’m Unfall.«

Schneider dachte nicht daran, sich in dieses Gespräch einzumischen. Christines Tonlage wurde immer schriller und die Argumente giftiger. Sie kannte sich aus in der Historie des FC, schüttelte Berichte und Analysen aus dem Ärmel ihres Trikots – das sie in einer Größe gekauft hatte, die ihre atemberaubenden Kurven bestens zur Geltung brachte – und nahm dem Kritiker sämtlichen Wind aus den Empörungssegeln. Dass sie sich darüber hinaus mit der Biografie des Torhüters intensiv beschäftigt hatte, stieß Schneider sauer auf. Allerdings eignete sich die tragische Geschichte des Jungen, der seit einem Autounfall, bei dem er seine Eltern verloren hatte, unter demenzartigen Störungen litt, bestens, um jedes Sommerloch in den Gazetten zu füllen. Und die regionalen Blätter kamen auch immer wieder gern auf das Thema zurück und bauten es herzergreifend aus. Trotz seiner Erkrankung und der Trauer um die Eltern hatte sich Thomas Heimerdinger ins Leben zurückgekämpft. Er hatte diszipliniert trainiert und galt nun als Ausnahmetalent der Liga.

Christines Meinung nach gab es ganz andere Kandidaten, die geeigneter waren, um die Spielfeldlinien nachzuziehen. Verteidiger Dragoslav Melic zum Beispiel, der wahrscheinlich alle Schuhsohlen seiner Gegenspieler en Detail beschreiben konnte, da er sie nur von hinten sah.

Oder Mittelstürmer Antonio Puntini, bei dem jeder Jungvogel Flugunterricht nehmen konnte. »Es isch a Wonder, dass der scho fünfmol troffa hot. Aber bloß, weil er dem Ball nemme ausweicha konnt, als er angschossa worda isch.«

Christine redete sich immer mehr in Rage und arbeitete sich ausführlich am Mittelfeld-Ass Maik Riemenschneider ab, der heute durch Effektlosigkeit, um nicht zu sagen, durch seine Bewegungsstarre, aufgefallen und nach einer Stunde vom Platz genommen worden war.

Der junge Mann starrte sie mit offenem Mund an, während sie ihm ihre taktischen Änderungen ausführte, die unweigerlich zum Aufstieg des FC führen würden.

»Ich geh mal kurz für Königstiger«, warf Schneider dem Streithahn und dem Streithuhn zu und trat vor das Zelt.

Die sternenklare Nacht verhieß einen sonnigen nächsten Tag, die Luft war angenehm kühl, der Geruch von Bratwurst und Grillfleisch ließ den nahenden Sommer mit all seinen Biergartenausflügen erahnen. Ein Sommer der Liebe, schoss es Schneider durch den Kopf. Er musste es sich eingestehen, dass Christine ein lang verschollen geglaubtes Gefühl in ihm auslöste. Er war verliebt. Aber empfand sie auch etwas für ihn? So wie das Treffen verlaufen war, deutete nicht viel darauf hin. Er hätte Fußballer werden sollen, das hätte seine Chancen bei ihr eindeutig erhöht.

Die Reihe mit den Dixi-Toiletten befand sich am Ende des VIP-Parkplatzes. Etwa 50 Meter davon entfernt standen zwei dunkle Gestalten, die heftig aufeinander einredeten. Der Ältere versuchte, dem anderen eine Hand auf die Schulter zu legen, doch der stieß sie zurück.

Schneider schlich sich im Schutz der parkenden Fahrzeuge näher an die beiden heran, schließlich erkannte er die Männer.

»I kann nemme!«, brüllte Thomas Heimerdinger den Präsidenten Siegfried Röder an und heulte auf. Es klang wie der Klagelaut eines verletzten Tieres.

Röder sprach beschwichtigend auf ihn ein.

Schneider konnte nicht verstehen, was er sagte. Er versuchte, die Entfernung zu dem Spieler und dem Funktionär zu verringern.

»Zwei Spiele, es sind nur noch zwei Spiele«, raunte Röder. »Die wirst du noch durchhalten.«

Er packte den jungen Torhüter an den Schultern und schüttelte ihn. Aus Thomas Heimerdinger war jede Körperspannung gewichen, kraftlos hingen seine Arme an der Seite herab, den Kopf hatte er auf die Brust gesenkt.

»I kann aber nemme«, schluchzte er. »Die Fans, der Trainer, die andere, die hasset mi älle. I halt des nemme aus.«

Heimerdinger wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

Schneider wollte sich aufrichten, stieß mit der Stirn an den Außenspiegel eines parkenden Fahrzeugs, was einen dumpfen Laut verursachte.

Der Präsident und der Torhüter fuhren erschrocken herum und entdeckten den Kommissar. Der rettete die Situation, indem er sich suchend umsah.

»Können Sie mir sagen, wo die Toiletten sind?«, fragte er. Er versuchte, nicht wie ein beim Lauschen Ertappter zu klingen.

»Dahinten«, raunte Röder und wies in Richtung der blauen Dixi-Häuschen. Er wandte sich ab, legte dem unglücklichen Heimerdinger den Arm über die Schulter und führte ihn mit sich.

»Danke. Schönen Abend noch!«, rief Kommissar Schneider hinterher. Er erhielt keine Antwort.

Schneider sah den beiden nach, bis sie von der Dunkelheit geschluckt wurden. Der Motor eines Wagens wurde gestartet, zwei Lichtpunkte leuchteten kurz auf, drehten dann ab.

»Würde mich wirklich interessieren, was den Heimerdinger so mitgenommen hat«, murmelte der Kommissar.

Diese Frage sollte ihn die ganze Nacht beschäftigen.

Und natürlich das Rätsel, wieso Christine ohne ihn nach Hause gegangen war.

Goettle und der Kaiser von Biberach

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