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»Du bist also auch nicht aus Biberach. Genau wie ich. Ursprünglich stamme ich aus Hannover, aber die letzten Jahre habe ich in New York zugebracht. Eine geniale Stadt, am liebsten würde ich da sofort hinziehen. Die Leute dort sind so offen und frei, so ganz anders als hier. Allein dieser Dialekt, den sie hier reden. Furchtbar.«

Greta rührte mit dem Strohhalm in ihrem Hugo und betrachtete das Pfefferminzblatt, das auf der Oberfläche schwamm, als wäre darauf eine geheime Botschaft zu entdecken. Zum Beispiel, wie sie diesen Kerl gegenüber wieder loswerden konnte, der seit einer geschlagenen halben Stunde ohne Punkt und Komma aus seinem ereignislosen Leben erzählte. Natürlich hatte sie sich mit Joachim getroffen, um ihn kennenzulernen, aber war davon ausgegangen, dass auch sie einmal zu Wort kommen würde. Das war bislang noch nicht der Fall gewesen.

Der sportliche, schlanke Mittdreißiger ohne Altlasten, der »mit beiden Beinen im Leben stand, der in Anzug und in Jeans eine gute Figur machte, mit dem man lachen und auch mal weinen konnte, der sich für Kunst, Theater und Musik interessierte, gerne reiste und auch kulinarischen Freuden nicht abgeneigt war«, hatte sich in einen Rausch geredet. Davon hatte nichts in seinem Profil gestanden, das er im Flirtportal »www.ausgesinglet.de« eingestellt hatte, um ein weibliches Pendant zu finden.

Greta fragte sich, warum sie immer wieder auf diesem Wege versuchte, jemanden kennenzulernen. Konnte sie nicht einfach in eine Kneipe gehen, ein bisschen flirten, sich auf einen Drink einladen lassen?

Nein, konnte sie nicht. Wenn sie von einem Mann angelächelt wurde, sah sie sofort an sich herunter, um einen Fehler an sich zu suchen. Einen Fleck auf der Bluse zum Beispiel oder einen offenen Reißverschluss der Jeans.

Das Selbstbewusstsein, das Greta im Job an den Tag legte, schien sie jeden Abend an der Pforte des Kriminalkommissariats abzugeben. Dann verwandelte sich die toughe Hauptkommissarin in ein unscheinbares Mäuschen, das so gar nichts mit sich anzufangen wusste und so wirkte, als existierte es gar nicht.

Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, in der neuen Stadt alles besser zu machen als in ihrer Heimatstadt Freiburg. Der Job in Biberach hatte der erste Schritt in diese Richtung sein sollen. Es war nicht der berufliche Aufstieg, den sie sich gewünscht hatte, aber die Stelle hatte Vorteile: Neue Kollegen, ein interessantes Aufgabengebiet und vor allem war sie schnell verfügbar gewesen. Hier konnte Greta einen Neuanfang wagen, ohne die Last der Erinnerung, die sie in den ruhigen Momenten niederdrückte.

Wenn der Boden zu rutschen beginnt, muss man die Zelte abbrechen, um sie auf festem Grund wieder zu errichten, hatte ein Freund geraten.

Das hatte sie getan und bereute diesen Schritt keinen Moment. Von Anfang an hatte sie sich in das malerische Städtchen verliebt. Die bunten Fassaden in der Innenstadt, die Fachwerkbauten, die Türme und Erker der Häuser am Marktplatz. Dieser ruhige, unaufgeregte Strom, in dem sich die Menschen durch die Stadt treiben ließen, oder dieses Laisser-faire, mit dem sie in den zahlreichen Cafés saßen, um sich dem Müßiggang hinzugeben. Allerdings, und das war wohl das berühmte Haar in der Wohlfühl-Suppe, verwandelte sich das Zentrum nach Ladenschluss in ein Postkartenmotiv. Schön anzusehen, aber viel zu ruhig für Gretas Geschmack, die etwas mehr Umtriebigkeit von der einstigen badischen Heimat gewohnt war.

Eine Wohnung hatte sie sofort gefunden: zwei Zimmer, Küche, Bad in einem lindgrün gestrichenen Haus mit roten Fensterläden in der »Neuen Gasse«, ganz nah am Zentrum. Das Beste daran, fand Greta, war jedoch die räumliche Nähe zur Chocolaterie Maya, gleich um die Ecke. Dort genehmigte sich die Hauptkommissarin hin und wieder eine der »süßen Versuchungen«. Das half ihr beim Nachdenken.

Und doch war sie auch nach vier Monaten im Oberschwäbischen noch nicht so richtig heimisch geworden, geschweige denn, dass sie in ihrer neuen Stelle gefordert gewesen wäre. In Biberach und Umgebung dachte anscheinend niemand daran, ein Verbrechen zu begehen, das über einen Einbruchdiebstahl, eine Körperverletzung oder einen Raub hinausging.

Auch den Kollegen oder den Nachbarn war sie nicht nähergekommen, was mitunter an deren Sprache lag. Greta mochte den warmen Klang des Schwäbischen, was aber nicht hieß, dass sie alles verstand. Ständig musste sie sich das Gesagte wiederholen lassen, und dieses stetige Nachfragen nervte wohl auch die Mitarbeiter, die sie deutlich spüren ließen, dass sie eine »Reig’schmeckte« war. Eine Badenerin obendrein.

In dem Bemühen, Anschluss zu finden, war sie in den katholischen Kirchenchor eingetreten. Nicht, dass sie besonders gläubig gewesen wäre, aber der Ruf, der dem Sangeskollektiv vorauseilte, hatte sie neugierig gemacht. Denn der Leiter, Pfarrer Andreas Goettle, war ein eingefleischter Rockfan, und entsprechend war die Auswahl der Songs eher modern ausgerichtet.

Für das nächste Sommerfest hatte er die Aufführung der Rockoper »Jesus Christ Superstar« geplant. Greta war als Besetzung der Prostituierten Maria Magdalena vorgesehen. Pfarrer Goettle hatte das als »Pfondsidee« eingestuft, dass ausgerechnet eine Hauptkommissarin diese verruchte Rolle bekleiden sollte. »Da könnet Se au mol die donkle Seite ausleba«, hatte er ihr augenzwinkernd zugeflüstert. Ungewöhnliche Worte aus dem Mund eines Geistlichen.

»Weißt du, die Leute denken immer, Versicherungsmakler sei so ein langweiliger Beruf. Aber das stimmt gar nicht. Wenn man erfolgreich sein will, muss man sehr individuell auf die Wünsche der Kunden eingehen. Das erfordert ein hohes Maß an Kreativität. Ich hatte da mal eine Unternehmerin, die den Betrieb des Vaters übernommen hatte …«

Von Versicherungsmakler hatte in dem Inserat ebenfalls nichts gestanden, und auch in der sonstigen Beschreibung hatte Joachim selbstgefällig beide Äuglein zugedrückt. Eine gute Figur würde er weder in Jeans noch im Anzug machen, über dem Gürtel seiner Hose spannte ein prächtiger Bauch den Stoff seines Hemds. Die Brille, den Schnauzbart und die Halbglatze hatte er auch nicht erwähnt, und für welche Art von Literatur und Musik er sich interessierte, das wollte Greta eigentlich schon nicht mehr wissen. Dem bisherigen Gespräch nach zu urteilen, kam Joachim über die Lektüre der Micky Maus nicht hinaus und zählte bestimmt Andrea Berg zu seinen Lieblingsinterpretinnen.

»Ich muss mal kurz für kleine Mädchen«, unterbrach Greta das Geschwurbel des Gegenübers und erhob sich. Sie zog den engen Rock, der hochgerutscht war, nach unten und stakste auf den für ihre Verhältnisse hochhackigen Schuhen in Richtung Toilette. Sie spürte Joachims Blicke auf ihrem Hintern und schwor sich, zum nächsten Blind Date, sollte es je wieder zu einem kommen, in Jeans und Sneakers zu erscheinen. Das fehlte noch, dass sich dieser personifizierte K.-o.-Tropfen an ihrem Outfit aufgeilte, während sie Mühe hatte, nicht ins Wachkoma zu fallen.

Im Vorraum des WCs baute sie sich vor einem Spiegel auf, strich mit einem Finger eine Verwischung ihres Kajalstrichs weg und sah sich kritisch an. Gut, die Nase war ein bisschen zu spitz, was die schmalen Wangen noch mehr betonte. Und ja, ein Friseurbesuch konnte auch nicht schaden, und sei es nur, um die ersten grauen Strähnchen wieder in den dunklen Fluss der schulterlangen Haare zu integrieren. Aber sonst sah sie doch gut aus. Nicht zu dick, nicht zu dünn, die wenig ausgeprägten Rundungen saßen zumindest an den richtigen Stellen, und schließlich gab es ja textile Mittel und Wege, diese zu betonen. Hatte sie es wirklich nötig, noch mehr Abende wie diesen mit den männlichen Vertretern der Resterampe zu verbringen?

Greta schüttelte den Kopf.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Kollegen Schneider. Nach einigen Sekunden nahm er ab und versuchte, das Gebrüll im Hintergrund zu übertönen. Offenbar hatte er mehr Spaß als sie.

»Hallo, Herr Schneider, hier ist Greta Gerber. Hören Sie. Sie müssen mir einen Gefallen tun.«

Schneider war wenig begeistert von dem Vorschlag, aber die Hauptkommissarin wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Als sie wieder an den Tisch trat und sich setzte, wurde sie von Joachim aufmerksam gemustert.

»Was machst du eigentlich so? Ich meine … beruflich.«

Diese Pause, dieser süffisante Ton gab seiner Frage eine anzügliche Note, und einmal mehr bedauerte Greta, ein Outfit gewählt zu haben, das ihre Weiblichkeit so eindeutig betonte. Am Ende dachte dieser Hinterhof-Casanova noch, dass sie es nur für ihn angelegt hatte.

Sie zog am Strohhalm, verschluckte sich, hustete, um den fehlgeleiteten Tropfen aus der Luftröhre hinauszubefördern, und überlegte, ob sie Joachim die Wahrheit sagen oder ihm eine Notlüge servieren sollte. Sie würde ihn ohnehin nicht wiedersehen, das stand fest. Und irgendwie hatte sie keine Lust, über ihren Beruf zu reden. Schon gar nicht mit ihm, dem Versicherungsmakler mit seinem so aufregenden Leben.

»Ich bin Sekretärin bei einer Gebäudereinigungsfirma«, sagte sie und sah dabei zu, wie Joachims Mimik den Fahrstuhl nach unten nahm. Offenbar hatte er sich ein spannenderes Date gewünscht.

»Hm, ja, das ist bestimmt auch ganz nett«, hakte er ein. »Ich sage ja immer: Ein Beruf ist so interessant, wie man ihn sich macht. Ich zum Beispiel stelle mir jede Woche eine neue Herausforderung …«

Er zog ein Smartphone aus der Tasche, wischte wie wild auf dem Display herum und präsentierte eine Liste. »Hier. Nächste Woche will ich zwei Neukunden besuchen und insgesamt mindestens 1.500 Euro Umsatz machen. Das ist hart, oder? Ich meine, ich kenne die Kunden noch gar nicht und ich habe keine Idee, wie und wo ich sie finden soll. Aber man wächst mit seinen Aufgaben. Das ist einer meiner Grundsätze. Nur so kommt man weiter …«

Die Melodie der TV-Serie »The Munsters« erklang. Der Klingelton ihres Telefons unterbrach Joachims einsetzende Wortkaskade. Mit geweiteten Augen starrte er Greta an, als sie ihr Handy aus der Tasche zog und ihn entschuldigend anblickte.

Sie nahm ab. »Gerber? Ja … Ach so … Jetzt gleich? … Gut, ich komme.«

Sie legte Joachim eine Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid, aber ich muss dringend weg. Einer unserer Fensterputzer ist vom Gerüst gefallen. Nicht schlimm, nur aus dem ersten Stock. Das macht er oft. Wahrscheinlich will er sich eine Krankmeldung erschleichen. Ich muss die Unfallversicherungsunterlagen für ihn raussuchen. War wirklich nett mit dir.«

»Aber wir wollten doch noch einen Nachtisch …«, stammelte Joachim und sah ihr dabei zu, wie sie sich die schwarze Jeansjacke über die Schulter warf.

»Vielleicht ein anderes Mal. Ich ruf dich an«, sagte Greta und rauschte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszuprusten. Eine dümmere Ausrede hätte sie wohl kaum finden können, aber offenbar zog Joachim die Geschichte keine Sekunde in Zweifel. Blieb zu hoffen, dass dieser Langweiler ihre Aussage richtig interpretierte und seine Balz anderweitig fortsetzte.

»Was soll denn der Blödsinn, Frau Gerber?«, quäkte Denis Schneiders Stimme aus dem Handy. »Haben Sie getrunken?«

»Ich bin derartig stocknüchtern, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Und ernüchtert. Danke, Schneider, Sie haben etwas gut bei mir«, sagte Greta und legte auf.

Vor der Tür der Cocktailbar atmete sie tief ein und ließ die frische Frühlingsluft in die Lungen strömen. Sie fröstelte. Obwohl die Temperaturen tagsüber schon ab und an die 20-Grad-Marke überstiegen, waren die Nächte noch kühl.

Aus der Grünanlage neben der Stadthalle war jugendliches Johlen zu hören. Flaschen rollten über den Boden, Gelächter. Die jungen Biberacher schienen sich schon auf den nahenden Sommer einzustimmen, der, wie in anderen Städten auch, mit Alkoholgenuss in Freianlagen einherging.

Greta wurde ein wenig wehmütig, als sie daran dachte, dass sie die warmen Abende wohl allein verbringen musste. Einen Moment schoben sich die Gesichter ihrer Mutter und ihrer Schwester ins Gedächtnis und legten sich wie ein Band aus Stahl um den Brustkorb. Sie ließ sich von einer Heimwehwelle überrollen und kämpfte gegen die Selbstmitleidstränen an. Sie sah zum Weißen Turm, der sich stolz und mächtig über die Innenstadt erhob. Wie oft war sie in den letzten Wochen den Weg hinauf zu ihm gestiegen, hatte seine Nähe genossen und sich von ihm behütet gefühlt.

Geduld, das war es, was ihr fehlte. Und Gelassenheit. Es war alles eine Frage der Zeit, bis sie sich zurechtfand und nette Menschen kennenlernte. So viel besser war es ihr in Freiburg schließlich auch nicht gegangen. Der Beruf und die vermeintliche Karriere standen dem privaten Glück im Weg, und sie konnte in diesem Punkt auch nicht aus ihrer Haut. Vielleicht war sie keine gute Freundin, womöglich hatte sie als Liebhaberin Schwächen, aber eines war sie ganz gewiss: eine gute Polizistin. Das würde sie den Menschen hier in Biberach schon noch beweisen.

»Wenn nur mal etwas Interessantes passieren würde«, murmelte sie. Langsam schlenderte Greta die Theaterstraße in Richtung Marktplatz hinunter und nahm sich vor, sich in ihrer Wohnung noch ein Glas Rotwein zu genehmigen.

Goettle und der Kaiser von Biberach

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