Читать книгу Enophasia - Olaf Sandkämper - Страница 10
Überraschungen
ОглавлениеDie Nachricht vom Verschwinden der Elfen war bei den Einhörnern eingeschlagen wie ein Blitz. Und so verbrachten sie die nächsten Tage damit, zu zweit oder in kleinen Gruppen den Wald nach ihnen zu durchsuchen.
Auch Rosenblüte, Schneekristall und Simnil ließen es sich nicht nehmen, ebenfalls nach den Elfen zu suchen. Allerdings waren bei ihnen immer mindestens zwei erwachsene Einhörner in der Nähe, die auf das Geschwisterpaar aufpassten. Während die Großen sich ernsthaft Sorgen machten, war die Suchaktion für die Kleinen eher ein Abenteuer und so ganz nebenbei lernten sie viele Pflanzen und Tiere kennen. Schon bald kannten sie sich im Wald so gut aus, wie Simnil in seinem eigenen Beutel. Manchmal spielten sie auch mit den anderen Fohlen in der Herde. Aber Simnil, der immer dabei war, blieb den meisten Einhörnern doch ein wenig unheimlich und so blieben die Zwillinge und er meistens unter sich.
Silberstreif war nun ständig mit seinem Vater auf der Suche nach den Vermissten. Tag und Nacht durchforsteten sie gemeinsam ein riesiges Gebiet. Dabei waren sie allerdings genauso erfolglos wie der Rest der Herde. Sie verließen sogar den Wald und erklommen die Berge im Süden bis zur Schneefallgrenze, in der Hoffnung, hier eine Spur der Elfen zu finden. Auf einer dieser Touren bemerkte Silberstreif im Schein des Vollmonds, wie bedrückt sein Vater aussah und fragte: „ Du sorgst dich sehr um die Elfen und um Enophasia. Habe ich Recht, Vater?“
„Ja, aber das ist es nicht allein.“ Nebelstreif blickte in die Ferne und fuhr fort: „Ich werde euch nicht mehr lange helfen können.“
Silberstreif blickte ihn überrascht an, während sein Vater fortfuhr: „Noch bevor die ersten Blätter fallen, werde ich dem weißen Pfad folgen und über die Silbernen Wiesen galoppieren!“
Silberstreif war bestürzt. Dass sein Vater ihn in dieser schweren Zeit verlassen könnte, daran hatte er noch gar nicht gedacht. Sicher, sein Vater war alt, das älteste Einhorn in Enophasia. Aber er war kräftig, schnell und ausdauernd.
Aber Silberstreif wusste natürlich, dass das für ein Einhorn keine Rolle spielte. Denn wenn seine Zeit gekommen war, zeigte sich ihm der weiße Pfad, der es zu den Silbernen Wiesen brachte. Und wenn es so weit war, spürte es das Einhorn.
Plötzlich dachte Silberstreif daran, wie viel Verantwortung sein Vater für Enophasia trug und das diese nun auf jemand anderen übergehen musste. Aber gab es jemanden, der dieser Verantwortung auch gewachsen war? Er selbst fühlte sich noch nicht bereit dazu.
Nebelstreif schien seine Gedanken zu erraten, denn ohne seinen Blick in die Ferne abzuwenden sagte er: „Es wird ein Platz frei werden im 'Rat der Einhörner'. Man wird dich drängen diesen Platz zu besetzen.“ Der Vater sah seinem Sohn nun fest in die Augen. „Nimm diesen Platz ein, um Enophasias Willen.“
Silberstreif senkte den Kopf. Das Ganze kam zu plötzlich und musste erst einmal verdaut werden. Eigentlich hatte er noch nicht vorgehabt, dem Rat schon so bald beizutreten, denn er wollte soviel Zeit wie möglich mit seiner Familie verbringen. Tief in seinem Innersten jedoch spürte er, dass sein Vater Recht hatte. Aber zuerst einmal musste er die Nachricht vom nahenden Abschied verarbeiten.
Nebelstreif wollte keinen Schwermut aufkommen lassen, trabte los und rief übertrieben fröhlich: „Komm mein Junge, oder willst du erst nach deinem alten Vater auf den Bergkamm dort drüben ankommen?“ Silberstreif sah, wie sein Vater mit weit ausgreifenden Hufen davon galoppierte. Lächelnd folgte er ihm und musste sich wirklich anstrengen, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Der Bergkamm, den Nebelstreif sich zum Ziel gesetzt hatte, war undeutlich am Horizont zu sehen gewesen und die beiden brauchten eine ganze Weile, um ihr Ziel zu erreichen. Während der ganzen Zeit liefen sie im gestreckten Galopp und als sie endlich auf dem Bergrücken standen, dämmerte bereits der neue Tag herauf.
Silberstreif sagte: „Wir haben Enophasia bereits verlassen. Lass uns auf dieser Bergkette nach Westen gehen und dann in den Wald zurückkehren.“ Nebelstreif nickte zustimmend und so trabten sie los. Das Morgenrot kündigte den baldigen Sonnenaufgang an, aber noch behaupteten sich Nebel und Dunkelheit. Während sie so über den Bergrücken trabten, schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend, bewegte sich plötzlich der Fels vor ihnen.
Die beiden blieben abrupt stehen und verschmolzen augenblicklich mit dem sie umgebenden, wabernden Nebel. Staunend sah Silberstreif, wie aus dem Fels der Kopf eines Tieres zu wachsen schien. Ein großer Kopf mit gelben Augen und langen, spitzen Zähnen in einem riesigen Maul. Nach hinten wuchsen dem Untier vier Hörner aus dem Schädel, die den Kopf noch größer erscheinen ließen. Dem Kopf folgte ein langer, wendiger Hals, Und als sich das Tier erhob, sah man dass der ‚Fels‘ in Wirklichkeit ein riesiger Körper war, der von vier säulenartigen Beinen getragen wurde. Vor ihnen stand wahrhaftig ein Drache!
„Er muss uns gehört haben“, dachte Silberstreif und fühlte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Angst. Verstohlen sah er zu Nebelstreif hinüber und bemerkte, wie der sich innerlich auf einen Kampf mit der riesigen Echse vorbereitete. Diese Haltung seines Vaters gab ihm seinen Mut zurück und er beschloss es ihm gleich zu tun.
Der Drache musste das Traben der Einhörner tatsächlich gehört haben, denn er sah sich um und suchte die Umgebung ab. Aber die Tarnung der beiden Einhörner war perfekt. Nach einer Weile breitete die Kreatur die bislang eng am Körper liegenden Schwingen aus. Kräftige Flügelschläge zerschnitten ein paar Mal die Luft und erzeugten ein Geräusch, wie Silberstreif es damals im Wald gehört hatte. Die lederartigen Schwingen waren so lang, dass sie die Einhörner berührt hätten, wenn der Drache nur ein wenig anders gestanden hätte. Sein langer Schwanz peitschte durch die Luft.
Dann hob er seinen Kopf in den Himmel und öffnete den Rachen. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle der Drache gähnen. Aber dann zerriss ein ohrenbetäubender Schrei, der eine Mischung aus Brüllen und Kreischen war, die morgendliche Stille. Ihm folgte ein Feuerball, der in den Himmel hinauf stieg.
Nachdem er so den neuen Tag begrüßte hatte, stieß sich der Drache vom Boden ab und erhob sich in die Luft. Mit einer Leichtigkeit, die man einem so großen Tier gar nicht zugetraut hätte, gewann er rasch an Höhe, kreiste noch einige Male über seinem Schlafplatz und verschwand.
Die beiden Einhörner standen noch eine Zeit lang wie vom Donner gerührt da und bewegten sich nicht. Dann brach Nebelstreif das Schweigen: „Wir sollten zurück nach Enophasia gehen. Wir haben zwar keine Elfen gefunden, aber diese Neuigkeit muss die Herde unbedingt erfahren.“
Sofort galoppierten die beiden auf direktem Wege in Richtung Enophasia zurück.
„Glaubst du, wir hätten es mit dem Drachen aufnehmen können?“, fragte Silberstreif.
„Aber ja“, antwortete Nebelstreif überzeugt.
„Warum bist du so sicher?“
„Weil er durch einen Zauber geschaffen wurde. Ein Wesen aus Magie kann aber auch durch Magie ausgelöscht werden. Denk an die Katzen, die du vernichtet hast.“
„Wie kommst du darauf, dass es sich um ein Zauberwesen handelt“, fragte Silberstreif verwundert.
Nebelstreif lächelte und fragte: „Es war doch ein riesiger Drache, nicht war?“
„Ja“, antwortete Silberstreif, nicht wissend, worauf sein Vater hinaus wollte.
„Solch ein Drache, riesig, so groß wie zehn Einhörner, muss doch sicherlich schon sehr alt sein, oder?“, fragte Nebelstreif weiter. Wieder bejahte Silberstreif die Frage.
Sein Vater fuhr fort: „Wenn ein Drache von solcher Größe, mit vielleicht vielen hundert Jahren Erfahrung auf dem Buckel, dort gelegen hätte, wären wir wahrscheinlich direkt vor sein Maul spaziert, ohne es zu merken. Glaubst du, der hätte sich gerührt, wenn er uns gehört hätte? Und er hat uns gehört, soviel ist schon mal klar! Ganz still liegen geblieben wäre er und hätte dann blitzschnell zugeschlagen.
Aber dieser hier hat sich noch nicht mal die Zeit genommen, die Umgebung richtig abzusuchen. Dafür hat er aber alle Welt wissen lassen, dass er dort oben auf dem Berg saß. Nein, so benimmt sich kein erfahrener Drache. Dieser hier war ein Heißsporn, einer ohne Erfahrung. Und darum kann es kein echter Drache gewesen sein.“
Silberstreif war perplex. Sein Vater hatte Recht. Er hatte sich nicht täuschen lassen. Wieder einmal wurde ihm vor Augen geführt, wie wertvoll sein Vater für Enophasia war und wie schmerzhaft sein Verlust sein würde.
Es war schon später Nachmittag, als die beiden in die Wälder Enophasias zurückkehrten und den ‚Palast des Lichts’ betraten. Soeben waren auch Blauhorn und Weißrose eingetroffen. Sie hatten im Osten nach den Elfen gesucht.
Weißrose berichtete den versammelten Einhörnern aufgeregt von einem seltsamen Rauschen und Brausen über ihren Köpfen, deren Quelle sie aber wegen des dichten Blätterdaches nicht ausmachen konnten. Blauhorn versuchte das Ganze herunterzuspielen und vertrat die Meinung, dass es nur der Wind gewesen war.
„Wir haben einen Drachen gesehen!“ Nebelstreif und Silberstreif platzten atemlos mitten in den Bericht von Weißrose. Augenblicklich wurde es still und alle Augen richteten sich auf die beiden Neuankömmlinge.
Einen Moment lang sah es so aus als wolle Blauhorn etwas sagen, dann aber besann er sich und schwieg. Atemlos lauschten die Einhörner dem Bericht von Nebelstreif und sahen einander ratlos an.
Rosenblüte und Schneekristall, die die Unruhe und die Hilflosigkeit der Herde spürten, drängten sich instinktiv dichter an ihre Mutter. Simnil, der bei ihnen stand, kraulte ihnen beruhigend die Stirnen.
Obwohl es draußen noch heller Tag war, dunkelte es im ‚Palast des Lichts’ bereits, denn die Sonne berührte bereits den Horizont. In diese einsetzende Dämmerung hinein, segelte plötzlich der Schatten eines großen Vogels. Lautlos flog er zwischen den Bäumen hindurch, über die Köpfe der Einhörner hinweg und landete direkt auf dem 'Stein der Rede'. Deutlich sah man seine Beute, eine kleine Maus, die zwischen seinen mächtigen Klauen steckte.
Sprachlos sahen die Einhörner den ungebetenen Gast an. „Na, der wird doch nicht etwa auf dem 'Stein der Rede' die Maus fressen wollen!“, sagte Blauhorn ungehalten.
Aber da gab der Vogel, ein großer Uhu, seinen Fang behutsam frei und schwang sich wieder in die Luft. Auf dem tief hängenden Ast eines nahen Baumes ließ er sich nieder und ließ seine tiefe Stimme ertönen. „Buhuuu, Buhuuuu.“
Eine junge Stute mit veilchenblauen Augen löste sich aus der Herde, trat vor den Uhu hin und fragte sanft: „Hallo, Bufo. Was bringst du uns denn da?“ Es war Veilchenauge, die fast alle Sprachen der Tiere des Waldes verstehen konnte. Noch einmal ertönte die dunkle Stimme des Nachtvogels und Veilchenauge wandte sich der kleinen Maus auf dem Stein zu. „Bufo sagt, dass du keine gewöhnliche Maus bist. Wer bist du denn?“
Als Antwort gab die Maus eine Reihe von quietschenden Lauten von sich. Veilchenauge runzelte die Stirn. Offenbar verstand sie die Kleine nicht.
Blauhorn wurde ungehalten und wieherte: „Schluss jetzt, das da ist eine ganz gewöhnliche Maus. Weg mit ihr. Sie hat auf dem Stein der Rede nichts zu suchen. Wir haben uns schließlich um wichtigere Dinge zu kümmern!“
Das Mäuschen wandte sich erneut Veilchenauge zu, sein Piepsen klang verzweifelt. Veilchenauge schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich verstehe dich nicht“, sagte sie bedauernd. „Ich weiß nicht, was du mir sagen willst. Was bedeutet das, Landsa… Selin?“
Nebelstreif ging auf die beiden zu. Sofort wandte sich die kleine Haselmaus von Veilchenauge ab und empfing den Hengst mit verzweifeltem Piepsen. Fragend sah er die junge Stute an. Diese schüttelte aber nur den Kopf und sprach: „Ich verstehe nicht, was sie sagt. So habe ich noch nie eine Haselmaus reden hören. Sie versucht mir etwas mitzuteilen, hat aber nicht die passenden Wörter dafür.“
Prüfend sah Nebelstreif die kleine Maus an. Diese stellte sich auf die Hinterbeine und erwiderte seinen Blick.
Nun wurde es ganz still. Die Einhörner warteten gespannt, was als nächstes passieren würde. Lange sahen sich die beiden tief in die Augen. Als Nebelstreif mit seiner Nüstern noch ein wenig näher kam breitete die kleine Maus ihre winzigen Pfötchen aus, als wolle sie ihn umarmen. Dann drückte sie ihr winziges Köpfchen an sein weiches Maul. Dabei zitterte ihr kleiner Körper, als würde sie dabei weinen.
Und plötzlich neigte der alte Hengst zum Erstaunen aller sein Haupt und sprach: „Ich grüße dich Landaselina, Prinzessin der Elfen! Sei willkommen im ‚Palast des Lichts‘!“