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Simnil

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Allein hätte Silberstreif vielleicht einen Tag gebraucht, um den Palast zu erreichen. Denn nichts kann mit einem galoppierenden Einhorn mithalten, nicht einmal die schnellsten Vögel. Aber Silberstreif war nicht allein. Seine Gefährtin musste sich noch sehr schonen und die Zwillinge brauchten häufig eine Pause. Außerdem waren sie noch zu verspielt, was das Fortkommen zusätzlich verlangsamte. Er schätzte, dass es eine Woche dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

Die Familie lief schweigend durch den Wald. Die Eltern, weil sie angespannt auf jedes Geräusch achteten, die Kinder, weil sie noch nicht sprechen konnten. Sie würden mit dem Horn auch ihre Sprache erhalten. Dieses war immer der erste Zauber. War das Horn erst einmal da, konnten die kleinen Fohlen sprechen, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Der Wald war so dicht, das man den Himmel nicht sehen konnte. Trotzdem war es hell und luftig und das Vorankommen bereitete keine Schwierigkeiten. Alles schien so wie immer zu sein. Und doch war es irgendwie anders in den Wäldern Enophasias. Morgenröte brach als erste das Schweigen. „Etwas ist anders als sonst. Aber ich weiß nicht was es ist. Die Vögel singen wie immer, aber leiser. Oder aber es erscheint weiter weg als sonst.“ „Du hast Recht, Liebes“, antwortete Silberstreif. „Ich höre die Vögel, aber ich sehe keine – als ob sie sich verstecken. Aber vor was haben sie Angst?“

Lautlos, die Sinne bis zum Zerreißen angespannt, trabten die Eltern durch den Wald, immer darauf bedacht, die Fohlen schützend in ihrer Mitte zu halten. Ab und zu knackte ein Zweig unter ihren kleinen Hufen, was von Silberstreif jedes Mal mit einem unwilligen Blick bedacht wurde. Aber er wusste, dass die Kleinen ihr Bestes gaben. Bei ihnen wirkte die Magie noch nicht. Die erwachsenen Einhörner aber waren eins mit der Natur. Sie hätten in vollem Galopp den Wald durchqueren können, ohne auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen.

Nach einer Weile nahmen die Fehltritte der Fohlen zu. Morgenröte hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, dass ihre Kinder müde wurden und suchte nach einem Platz für die Nacht. Sie fand ein weiches Plätzchen unter einer großen Weide, deren dichte Zweige fast bis auf den Boden reichten und so ein natürliches Dach bildeten, das Platz für die ganze Familie bot. Nachdem die Kleinen getrunken hatten, kuschelten sie sich ganz eng aneinander in das weiche Moos und schliefen, erschöpft von der langen Wanderung, sofort ein.

Auch Morgenröte war müde und legte sich zu ihren Kindern. Zärtlich rieb sie mit ihren samtweichen Nüstern über Schneekristalls und Rosenblütes Stirn. Dann sah sie noch einmal hinüber zu Silberstreif, der völlig regungslos am Eingang ihres Unterschlupfs stand und in die Nacht hinaus sah. Sie wusste, dass er sich bis zum ersten Sonnenstrahl nicht mehr vom Fleck rühren und jedes Geräusch und jede Bewegung wahrnehmen würde. Nichts dort draußen würde es schaffen, sie im Schlaf zu überraschen. In der Ferne hörte sie das leise Grummeln eines entfernten Gewitters. Doch dieser Unterstand war so sicher und dicht, dass er den Regen zuverlässig abhalten würde. Beruhigt schlief auch sie bald ein.

Am nächsten Morgen erwachte Morgenröte und sah gerade noch wie Silberstreif den Unterstand verließ. Sofort merkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Wald war dunkel geworden, so als hätte jemand die Farbe weggenommen. Äste, Blätter und Zweige waren grau und schwarz. Sie trat neben Silberstreif, der die Umgebung genau musterte und sich ohne umzusehen sagte: „Es scheint, wir sind neben den Bäumen hier die einzigen Lebewesen in diesem Wald.“ „Ja“, antwortete Morgenröte. „Ich höre keine Vögel und sehe auch keine anderen Tiere mehr. Was geschieht hier?“

„Die 'Finsternis' hat sich diesen Teil Enophasias bemächtigt“, antwortete Silberstreif düster. „Sie dringt immer tiefer in unser Land ein. Sind unsere Kinder schon wach? Wir sollten keine Zeit verlieren und uns auf den Weg machen. Unser Vorteil ist, dass wir nun nicht mehr so aufpassen müssen. Denn für einen Angreifer gibt es hier nun keine Deckung mehr. Auch die Bäume werden wohl bald verschwunden sein.“

„Hast so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Morgenröte verwundert und rieb ihre Nüstern an seinem Hals. „Ja. Es ist schon lange her. Vor vielen Jahren kam die Finsternis aus dem Norden und verschlingt seither unser Land. Ich war mit meinem Vater und dem Rat der Einhörner dort und habe es mir angesehen. Bisher haben wir noch kein Mittel gefunden, sie zurück zu drängen, darum hatte der Rat der Herde bislang noch nichts gesagt. Wo sich die 'Finsternis' breit macht, stirbt alles. Große Teile des Nordens wurden schon zerstört.“ „Aber wir sind hier im Westen!“, warf Morgenröte ein. „Ja“, antwortete Silberstreif traurig. „Aber im äußersten Nordwesten. Wie es scheint, breitet sich die Finsternis zuerst an den Rändern unseres Landes aus, bevor sie ins Landesinnere vordringt. Wer weiß, vielleicht ist der Osten auch schon betroffen.“

Inzwischen waren die Fohlen erwacht und traten aus dem Versteck heraus. Mit großen Augen sahen sie sich um. Der grüne Wald, durch den sie gestern noch gelaufen waren, war einem düsteren und dunklen Ort gewichen, der einen scharfen Kontrast zu den weißen Einhörnern bildete.

Silberstreif drängte zum Aufbruch und nachdem die Kinder getrunken hatten, machte sich die Familie wieder auf den Weg.

Nachdem sie einige Zeit durch diesen unwirklich anmutenden Wald gelaufen waren, kamen sie auf eine kleine Lichtung. Wie trostlos dieser Ort war, kein Vergleich mit dem grünen Fleckchen Erde, auf dem Schneekristall und Rosenblüte das Licht der Welt erblickt hatten. Hier war alles dunkel und trist. Am Himmel jagten dunkle Wolken dahin, aus denen kleine, grelle Blitze zuckten. Die Geschwister schauten sich dieses Schauspiel staunend einige Zeit an. Die Eltern hingegen, getrieben von Sorge, wollten schnell weiter.

Am frühen Nachmittag stellte die kleine Gruppe fest, dass es im Wald wieder etwas Farbe gab. Scheinbar verließen sie nun den Einflussbereich der 'Finsternis'. Doch noch immer war es totenstill im Wald, kein Vogelgezwitscher, kein Plätschern eines Bächleins und kein Rauschen von Blättern drangen an ihr Ohr. Dafür hörten sie plötzlich etwas anderes. Es war ein leises, schleifendes Geräusch und es kam aus unmittelbarer Nähe.

Die Einhörner blieben wie erstarrt stehen und lauschten. Dann, sehr langsam und vorsichtig, ging Silberstreif auf die Quelle des Geräusches zu. Es kam direkt hinter einer dicken Eiche hervor. Ganz langsam lugte der Hengst um den Baumstamm herum und sah – ein kleines, hageres Männlein, das sich mühte, einen viel zu großen Sack unter einer viel zu kleinen Baumwurzel hervor zu ziehen. Es trug braune Hosen und eine grünbraune Jacke mit einer spitzen Zipfelmütze und stand so am Baum, dass es dem Einhorn den Rücken zudrehte. Ab und zu fluchte der Zwerg leise und zerrte immer wieder aus Leibeskräften an dem braunen Sack. Dabei riss der Stoff und das Männlein fiel hinten über, knallte mit dem Kopf auf den Boden und - blickte direkt in die schwarzen Augen eines schneeweißen Wesens mit einem eben so weißen Horn auf der Stirn.

„Oooaahh“, schrie der Zwerg entsetzt, sprang behände auf die Füße und drückte sich mit dem Rücken an den Baum. Aus dem Gesicht, das fast ganz von einem braunen Bart zugewachsen war, funkelten zwei Augen, schwarz wie kleine Kohlen, die das Einhorn angstvoll anschauten. Gehetzt blickte der kleine Mann nach links und rechts auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, dann wieder auf den Sack, der immer noch verklemmt unter der Baumwurzel hing. Es war nicht schwer zu erraten, dass das Männlein am liebsten Reißaus nehmen, andererseits aber seinen Sack mit den Habseligkeiten nicht im Stich lassen wollte.

„Bitte, bitte, bitte … tu mir nichts!“, rief es mit heiserer Stimme.

„Keine Angst, ich tue dir gewiss nichts“, antwortete Silberstreif mit sanfter Stimme. „Soll ich dir helfen?“

„Ja … nein … wieso“, stammelte der Zwerg, der offensichtlich immer noch völlig von der Rolle war. Zu allem Unglück kamen nun auch noch die anderen Einhörner links und rechts um die große Eiche herum und kreisten das Männlein regelrecht ein. „Was wollt ihr denn alle von mir?“, kreischte der kleine Kerl und sah unsicher von einem zum andern.

Rosenblüte trat einen Schritt vor und sah das Wesen vor sich mit unverhohlenem Interesse an.

„Mama, was ist das?“, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden. Morgenröte bedachte die kleine Stute mit einem liebevollen Blick.

„Oh Rosenblüte, du sprichst schon. Wie schön! - Das was du da siehst ist ein Baumzwerg. Und noch ein ziemlich junger, wie mir scheint.“

Jetzt drängte auch Schneekristall nach vorne. „Es sieht so – zerbrechlich aus“, sagte er.

Freudig und voller Stolz betrachteten die erwachsenen Einhörner ihre Kinder, die beide nun ein winziges Horn auf der Stirn trugen.

„He, redet nicht so über mich, als wäre ich ein Vogel in einem Käfig!“, entrüstete sich der Zwerg. „Es!“, schnaubte er. „Ich bin Simnil, der Baumzwerg, der Waldläufer, ein geschickter Jäger und Krieger und …“.

„Und Nesträuber und Fallensteller“, vollendete Silberstreif die Prahlerei des kleinen Wichts und deutete mit seinem Horn auf den zerrissenen Sack aus dem allerlei Zeugs zum Vorschein kam.

„Das geht euch nichts an“, gab der Baumzwerg unwirsch zurück. „Von irgendwas muss man ja leben.“ „Du raubst Vogeleier?“ Rosenblüte war ehrlich entsetzt.

„Ja, … Nein“, druckste der Zwerg. „Es sind ja gar keine Vögel mehr da! Sie sind weg und lassen ihre Gelege im Stich. Es wäre doch schade um die schönen Eier. Wisst Ihr was? Ich mache uns jetzt erst mal ein schönes Omelette!“

Angeekelt wandten sich die Fohlen ab.

„Was denn, was denn? Wisst ihr denn nicht, wie gut ein Omelette aus frischen Vogeleiern schmeckt?“

„Wir Einhörner essen keine Eier und auch sonst nichts von einem Tier“, belehrte ihn Morgenröte.

„Waaas? Ihr seid Einhörner?“

„Ja natürlich! Was hast du denn gedacht?“, fragte Silberstreif zurück.

„Na ja, ich habe noch nie welche getroffen und wusste bis jetzt auch nicht, wie ihr ausseht. Da habe ich euch für Pferde gehalten. Für Pferde mit einer Riesenbeule auf dem Kopf“, grinste der Wicht frech.

„Hör mal“, sagte Silberstreif, die Unverschämtheit des Zwerges ignorierend, „wir sind auf dem Weg zum 'Palast des Lichts' und ich hätte gerne gewusst, ob du vielleicht etwas Ungewöhnliches oder Seltsames gesehen hast?“

„Nein“, antwortete der Zwerg. „Oder, doch…. Ungefähr eine Stunde Fußmarsch von hier in Richtung des grünen Waldes habe ich Fußabdrücke gefunden, wie von einer großen Katze, einer sehr große Katze, einer riesigen, gewaltigen …“

„Ja, ja, ist ja gut“, unterbrach ihn Silberstreif. „Ich möchte dich bitten, mit uns zu kommen und uns die Stelle zu zeigen. Du würdest uns damit einen großen Gefallen tun!“

„Tja, eigentlich komme ich gerade von dort und bin auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. – Außerdem hängt mein Beutel hier an dieser dummen Baumwurzel fest, den muss ich erst frei bekommen!“

Silberstreif fädelte behutsam sein Horn in den Stoff des Beutels und zog ihn vorsichtig unter der Baumwurzel hervor.

Simnil staunte: „Wie hast du das gemacht? Ich meine, der Sack war total eingeklemmt!“

„Gehen wir“, fiel ihm Silberstreif ins Wort, „je eher wir hier weg kommen, umso besser.“

Simnil fasste sorgfältig den Beutel am oberen Ende und sagte bedächtig: „Wie ich schon sagte, mein Weg führt leider in die andere Richtung.“

Damit sauste er zwischen den Beinen von Silberstreif hindurch und rannte wie ein geölter Blitz in Richtung des dunklen Waldes. Er war so schnell, dass er eine Staubfahne hinter sich herzog. Dabei besaß er noch die Frechheit zurückzublicken und zu rufen: „Passt gut auf euch auf und lasst euch nicht fress…“.

Rumms, knallte er gegen etwas und landete unsanft auf dem Hosenboden. Das Etwas war weiß und hart und als er aufblickte sah er in Silberstreifs dunkle Augen, die ihn ein wenig spöttisch anblickten. Er war voll gegen das rechte Vorderbein des Hengstes gelaufen.

„Wie kommst du denn hier her?“, kreischte Simnil fassungslos. „Du warst doch eben noch dort!“, stammelte er, während er in die Richtung zeigte wo die anderen Einhörner warteten.

Silberstreif kam ganz nah an Simnils Gesicht heran und sagte: „Du bist sehr schnell, Baumzwerg. Aber wir Einhörner hängen manchmal sogar unseren eigenen Schatten ab. Wenn du nicht mit uns kommen willst, bitte ich dich, wenigstens eine Zeit lang bei meiner Familie zu bleiben und sie zu beschützen, während ich mir mal ein wenig weiter vorne die Spuren ansehe. So ein erfahrener Waldläufer wie du würde uns damit wirklich sehr helfen!“

„Na ja“, sagte der Zwerg geschmeichelt und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. „Wenn das so ist, kann ich die Kleinen ja mal ein wenig im Auge behalten.“

Enophasia

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