Читать книгу Enophasia - Olaf Sandkämper - Страница 6
Gefahr im grünen Wald
ОглавлениеNachdem die beiden zur Gruppe zurückgekehrt waren, verabschiedete sich Silberstreif, um allein den vor ihnen liegenden Weg zu erkunden. Die Familie legt sich nieder und wartete. Simnil hatte es sich etwas abseits auf einer kleinen Anhöhe unter einem Baum bequem gemacht und starrte in den Himmel. Hier, an der Grenze zwischen dem dunklen und dem grünen Wald, wechselte ständig die Farbe des Himmels. Mal war er blau, dann wieder schwarz und wolkenverhangen. Als er so da lag und nach oben starrte, wurde sein Blick von einem schwarzen Klumpen hoch in den Bäumen angezogen - ein Vogelnest. „Das hole ich mir später“, dachte er schläfrig.
Er sah auf die drei Einhörner, die regungslos und eng aneinander gekuschelt im weichen Moos lagen, die Köpfe tief auf dem Boden, als ob sie schliefen. Simnil hatte sich anfangs gewundert, dass die Kleinen so brav bei ihrer Mutter blieben, anstatt herumzutollen, wie es kleine Fohlen sonst tun. Aber die drei waren so müde, dass sie die Gelegenheit zu einem kleinen Schläfchen nutzten, solange Silberstreif fort war.
Die Müdigkeit steckte Simnil an. Er gähnte herzhaft und drehte sich auf die linke Seite, damit er die drei besser im Blick hatte.
„Ein kleines Schläfchen wird mir auch gut tun“, dachte er und schloss die Augen. „Dieser Hengst ist sicher ruck zuck wieder hier, so schnell wie der ist.“
Dann hörte er ein leises Knacken.
Sofort war Simnil hellwach und schlug die Augen auf. Sonst bewegte er sich nicht. Das Geräusch war aus nächster Nähe gekommen und kaum zu hören gewesen.
Aber die Einhörner hatten es gehört. Ihre Köpfe flogen hoch und sicherten nach allen Seiten. Simnil staunte darüber, wie fein die Sinne dieser Wesen sein mussten. Er selbst hatte das Knacken zwar auch gehört, aber er befand sich ja auch in unmittelbarer Nähe des Verursachers. Die Einhörner aber waren ein ganzes Stück weit weg. Gleichzeitig stellten sich ihm vor Entsetzen die Nackenhaare auf. Denn er wusste aus Erfahrung, dass die Art des Geräusches nur einen Schluss zuließ. Es war ein Jäger, der sich anpirschte.
Gleich darauf schob sich ein mächtiger Katzenkopf an dem Baum vorbei, unter dem es sich Simnil bequem gemacht hatte. Den Blick starr auf das Ziel gerichtet, ging eine riesige Katze, mit Eckzähnen lang wie Dolche, so dicht an ihm vorbei, dass er sie hätte berühren können.
Aber da war noch etwas anderes. Irgendetwas stand dicht hinter ihm und schnupperte an ihm und seinen Sachen. Er spürte einen warmen Atem in seinem Nacken. Simnil lag ganz still und hielt die Luft an. Er zweifelte keinen Moment daran, dass hinter ihm eine zweite Katze stand, die versuchte seine Witterung aufzunehmen. Simnil hoffte inständig, dass seine Kleidung wie der Wald roch und seinen eigenen schwachen Körpergeruch überdeckte. Das Ganze dauerte nur einen Moment. Aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor.
Dann war es wieder still hinter ihm. Die erste Katze war den Abhang zur Hälfte hinab gestiegen und ging direkt auf die Einhörner zu. Unten stand die kleine Gruppe und blickte dem Feind entgegen. Ein leises Schnauben von Morgenröte und die Fohlen liefen hinter ihre Mutter.
Simnil, der immer noch auf der Seite lag, drehte sich ganz langsam auf den Rücken. Jetzt konnte er auch die zweite Katze sehen. Auch sie ging den kleinen Abhang hinunter, schlug aber einen Bogen und näherte sich den dreien von der Seite. „Sie nehmen sie in die Zange“, dachte Simnil und griff ganz langsam nach seinem Beutel. Dann sprang er auf, flitzte los und war im nächsten Augenblick hinter dem Baum verschwunden.
„Silberstreif!“, wieherte Morgenröte voller Angst. Rosenblüte, die gesehen hatte wie Simnil verschwand, rief ihm nach: „Simnil! Hilf uns, bitte!“ Aber vom Zwerg war nichts mehr zu sehen. „Silberstreif!“, schrie Morgenröte noch einmal, diesmal voller Panik.
Die beiden großen Katzen waren jetzt bedrohlich nahe. Die zweite Katze, die sich den Einhörnern von der Seite genähert hatte, duckte sich bereits zum Sprung, spannte die Muskeln und … sprang brüllend in die Höhe. Dann drehte sie sich um sich selbst, als hätte sie einen Feind im Rücken. Schneekristall sah, dass sie am Hinterteil blutete. Gleich darauf brüllte die Katze auf der anderen Seite und das Schauspiel wiederholte sich.
Schneekristall sah verwirrt hinüber zu dem Baum, hinter dem Simnil verschwunden war, konnte aber nichts entdecken. Dafür brüllte plötzlich die Katze mit der Wunde auf dem Hinterteil erneut auf. Diesmal blutete ihre Nase. Und gleich darauf erscholl vom Baum auf der Anhöhe ein Hornsignal.
Simnil war zurückgekehrt und deckte mit einer Schleuder die Katzen mit einer Reihe von kleinen, aber dafür äußerst scharfkantigen Geschossen ein. Es zeigte sich, dass er dabei äußerst geschickt vorging. Denn nicht eines seiner Geschosse verfehlte sein Ziel.
Schließlich wurde es einer der beiden Katzen zu bunt, sie wendete sich von den Einhörnern ab und griff den Baumzwerg an. Der aber kletterte wieselflink den Baum, neben dem er stand, hinauf. Die Katze sprang ihm nach und zog sich mit kräftigen Armzügen hinauf. Simnil warf beim Hinaufklettern immer wieder kleine Steinchen, Stöckchen und sogar Sand aus seinem Beutel auf die Katze, was diese nur noch wütender machte.
Nachdem der Baumzwerg die beiden Katzen getrennt hatte, konnte Morgenröte sich nun ganz auf den verbliebenen Angreifer konzentrieren. Sie war immer noch geschwächt und die Raubkatze schien das zu spüren. Ihr Horn leuchtete nur schwach und jedes Mal, wenn die Katze angriff, schoss ein Lichtblitz heraus. Aber das Raubtier war auf der Hut und wich dem tödlichen Licht geschickt aus. Doch jeder abgegebene Lichtstrahl schwächte das Einhorn.
Geduldig wartete die riesige Katze auf ihre Gelegenheit. Nach kurzer Zeit war Morgenröte so wackelig auf den Beinen, das ihre Hinterhand weg knickte. Darauf hatte der Angreifer gewartet. Die Bestie duckte sich und sprang – an Morgenröte vorbei auf Schneekristall zu. Mit vorgestreckten Krallen und weit aufgerissenem Maul stürzte sie sich brüllend auf das kleine Einhorn.
Aber auch Morgenröte sprang. Mit letzter Kraft warf sie sich todesmutig auf die Katze und stieß ihr Horn in die Brust des Angreifers.
Sofort löste sich das Raubtier auch diesmal in einem Funkenregen auf.
Simnil war inzwischen im Wipfel des Baumes angekommen. Staunend sah er zu, was sich dort unten ereignete, wie die Katze sich vor seinen Augen auflöste, wie Morgenröte zu Boden fiel und liegen blieb. Er blickte nach unten und sah die andere Katze dicht unter sich. Simnil stieß noch einmal in sein Horn, in der Hoffnung, dass Silberstreif seinen Notruf von so hoch oben besser hören würde.
Dann griff er in seinen Beutel und wartete er noch einen Moment, bis die Katze ganz nahe war. Die Spitze des Baumes schwankte bedrohlich, als das mächtige Tier herankam, aber das machte dem Baumzwerg nichts aus. Kaltschnäuzig streute er dem furchtbaren Gegner mit beiden Händen eine ordentliche Portion Sand in die Augen. Das Raubtier jaulte und brüllte, schüttelte den dicken Kopf, um den Sand wieder los zu werden und klammerte sich dabei fest an den Stamm.
Dann knöpfte der Zwerg seine Waldläuferjacke auf, nahm die unteren Enden fest in die Hand und zog sich die Jacke über den Kopf, ohne die Ärmel auszuziehen. Er stieß sich kräftig ab und sprang aus dem Baumwipfel. Sofort blähte sich die Jacke wie ein Segel auf und Simnil schwebte sanft, wie ein Ahornsamen zu Boden.
Sofort stand Schneekristall neben ihm.
„Wie geht es deiner Mutter, Schneekristall?“, fragte er, ohne das große Raubtier aus den Augen zu lassen.
„Sie ist völlig erschöpft und kann nicht aufstehen.“
„Ist sie bei Bewusstsein?“
„Ja.“
„Das ist gut“, murmelte Simnil und holte seine Habseligkeiten aus seinem Rucksack. Schneekristall sah, wie er ein Blasrohr, mehrere dazu passende, bunt gefiederte Pfeile und ein kleines tönernes Gefäß säuberlich vor sich aufreihte. Er entfernte den Verschluss von dem Gefäß und stellte die Pfeile hinein. „Es muss schnell gehen“, murmelte er. „Wenn ich Glück habe, kann ich sie solange aufhalten, bis Hilfe kommt, hoffentlich.“ Mit diesen Worten legte er den ersten Pfeil in sein Blasrohr und zielte damit auf die Raubkatze, die sich bereits an den Abstieg gemacht hatte. Schneekristall sah den bunten Pfeil durch die Luft fliegen. Ein Brüllen von oben verriet ihm, dass Simnil getroffen hatte. Der aber zögerte nicht lange und schickte den nächsten Pfeil auf die Reise. In Windeseile hatte er alle Geschosse ins Ziel gebracht.
Einen Moment lang passierte nichts, außer dass das Raubtier seinen Weg nach unten fortsetzte. Dann aber wurden seine Bewegungen immer langsamer und unsicherer. Es fing an ins Leere zu greifen und fiel schließlich ganz aus dem Baum. Einen Moment lang hatten die Freunde die Hoffnung, dass die Katze den Sturz möglicherweise nicht überlebt haben könnte, aber schon nach kurzer Zeit regte sich das Tier wieder und versuchte aufzustehen.
Schneekristall und Simnil waren inzwischen zu Morgenröte hinunter gelaufen, um nach ihr zu sehen. Der Baumzwerg hielt ein silbernes Fläschchen in seinen Händen. Damit flößte er Morgenröte, die kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, einige Tropfen ein.
„Ein Geschenk der Elfen“, lächelte er. „Ich hoffe, es wirkt auch bei dir.“ Sein besorgter Blick glitt hinüber zur Raubkatze, die bereits versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihr aufzustehen. Auf wackeligen Beinen, jaulend und brüllend, versuchte sie einen Schritt nach vorne zu machen und fiel kopfüber mit der Nase in den Dreck. Dabei ließ sie auch weiterhin die ganze Zeit über ein Kreischen und Jaulen hören. Dann stand sie zum zweiten Mal auf. Aber auch diesmal torkelte sie wieder und fiel auf ihr Hinterteil. So blieb sie eine ganze Zeit lang sitzen und glotzte die Gruppe aus glasigen Augen an.
Dadurch gewann Morgenröte wertvolle Zeit, die sie dazu nutzte, wieder zu Kräften zu kommen. Der Katze entging dieses nicht. Sie stemmte sich hoch und ging mit wackeligen Schritten auf die Freunde zu.
„Steh auf Morgenröte, hoch mit dir!“, drängte der Zwerg.
„Bitte Mama“, flehte auch Rosenblüte, „sie kommt!“
Das Einhorn versuchte verzweifelt auf die Beine zu kommen. Ihre Kinder und der Zwerg unterstützten sie dabei aus Leibeskräften. Die Bewegungen der Katze wurden unterdessen immer sicherer und als es Morgenröte gelang ihren Oberkörper aufzurichten nahm die Katze brüllend Anlauf und stürzte sich auf die Mutter.
Simnil zog sein Messer, das lächerlich klein war im Vergleich zu den gewaltigen Eckzähnen der Katze und stellte sich ihr in den Weg. Das Tier nahm überhaupt keine Notiz von ihm und sprang einfach über ihn hinweg.
In diesem Moment gab es einen dumpfen Knall und die springende Katze wurde einfach hinweg gefegt. Wie hingezaubert stand Silberstreif da. Seine Flanken bebten und ein böses Wiehern stieg aus seiner Kehle auf. Er war aus vollem Lauf auf die Katze geprallt, so schnell wie ein Blitz und hatte ihr sein Horn in die Seite gestoßen. Das Ganze war so schnell geschehen, dass das große Raubtier bereits am Boden lag, ja sogar noch einmal versuchte aufzustehen, bevor es sich in einem Funkenregen auflöste.
Schwer atmend wandte sich Silberstreif Morgenröte zu. Die hatte sich zurück auf die Seite fallen lassen und lag völlig hilflos da. Silberstreif rieb zärtlich seine Nüstern an ihrem Hals. Dann berührte er mit seinem Horn das Ihrige. Simnil sah, wie ein kleiner Funke übersprang und ihre Hörner anfingen zu glühen. Silberstreif schien eine Ewigkeit so zu verharren. Dann ließ er sich erschöpft neben Morgenröte fallen und schlief sofort ein.
Die beiden Fohlen, die die ganze Zeit verstört daneben gestanden hatten, kuschelten sich nun ängstlich an ihre schlafenden Eltern.
„Na toll“, knurrte Simnil und versuchte den Hengst wieder aufzuwecken.
„Silberstreif, wach auf! Wir müssen dringend hier weg. Wer weiß, wie viele von den Biestern noch hier herumlaufen. Und wir sitzen hier ohne Deckung mitten im Wald!“
Aber es hatte keinen Zweck, er bekam das Einhorn nicht mehr wach.
So suchte er sich ein geschütztes Plätzchen, kramte ein Stück Brot aus seinem Beutel und bewachte die Einhornfamilie.