Читать книгу Enophasia - Olaf Sandkämper - Страница 7
Elfenkraut
ОглавлениеAls der Morgen herauf dämmerte wachte Silberstreif auf. Er fühlte sich noch etwas matt vom gestrigen Tag und sah sich nach Simnil um. Er fand ihn ein wenig abseits von der Gruppe schlafend unter einem Baum sitzend. Ganz leise, um ihn nicht zu wecken, ging er auf ihn zu und betrachtete ihn.
Ein kleiner, magerer Mann, kleiner als Silberstreifs Bein, mit mageren Händen und schmalem Gesicht, soweit man das wegen des strubbligen und braunen Bartes beurteilen konnte. Die Nase war schmal und gerade und die Augen funkelten wie zwei schwarze Perlen, wenn er nicht gerade schlief. Seine Kleidung war optimal für ein Leben im Wald angepasst.
Silberstreif fragte sich, ob er ihn wohl bemerkt hätte, wenn er an diesem Baum vorübergegangen wäre und nicht gewusst hätte, dass hier ein Baumzwerg schlief. Allmählich begann er zu verstehen, warum man sie so selten zu Gesicht bekam. Sie waren, wie die Einhörner, Meister der Tarnung.
In diesem Moment schreckte Simnil hoch, riss ein Messer aus dem Ärmel und erkannte einen Moment später, wer da vor ihm stand.
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lle Achtung. Deine Reflexe sind in Ordnung“, sagte Silberstreif.
„Ich muss eingeschlafen sein“, erwiderte Simnil ein wenig schuldbewusst.
„Wie lange hast du uns bewacht?“ fragte Silberstreif sanft. Große Dankbarkeit lag in seinen Augen.
„Bis die Morgendämmerung anbrach“, erwiderte der Zwerg und kratzte sich verlegen am Ohr, weil er während seiner Wache eingenickt war.
„Danke Simnil“, begann Silberstreif. „Ohne dich wäre meine Familie jetzt tot. Ich werde auf ewig in deiner Schuld stehen, ohne sie jemals tilgen zu können.“
„Och, das war doch nicht der Rede wert“, entgegnete der kleine Mann. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass das Einhorn sich so überschwänglich bei ihm bedankte.
„Morgenröte hat mir erzählt, wie tapfer du dich geschlagen hast, und wie du dein Leben für ihres geben wolltest!“
„Wann denn?“, fragte Simnil erstaunt. „Ihr habt doch die ganze Nacht geschlafen wie die Murmeltiere!“
„Sie hat es mir erzählt, als unsere Hörner sich berührten. Ich gab ihr von meiner Kraft ab, damit sie sich schneller erholt. Sie hatte all ihre Magie in dem Kampf gegen die Katze verbraucht.
„Dann weißt du alles, was sich hier zugetragen hat, während du weg warst?“, fragte Simnil immer noch ungläubig.
„Ich weiß alles, was auch Morgenröte weiß. Ihre Bilder sind nun auch in meinem Kopf.“
Der Hengst wandte sich um und fragte: „Wollen wir ein Stück zusammen gehen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Silberstreif dem grünen Wald zu. Simnil schüttelte nur den Kopf, ihm fehlten die Worte. Dann folgte er dem Einhorn.
„Wieso haben sich diese … diese Katzen in Nichts aufgelöst?“, fragte Simnil nach einer Weile.
„Weil es keine Katzen sind“, war die Antwort. „Es sind Zauberwesen.“
„Zauberwesen? Aber ich habe auf sie geschossen. Sie haben geblutet!“ Simnil war baff.
„Es ist eben ein sehr guter Zauber. Scheinbar sind sie solange Katzen, bis man sie ins Herz trifft. Wenn das geschieht, lösen sie sich auf. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Jemand der so etwas kann, muss ein mächtiger Zauberer sein“, vermutete Simnil.
Dann wechselte er das Thema. „Weißt du, warum der Wald schwarz wird?“
„Nein. Wir Einhörner nennen es die ‚Ausbreitung der Finsternis' und beobachten das schon seit vielen Jahren. Der Wald wird nicht einfach nur schwarz. Als erstes fliehen die Tiere. Dann sterben die Pflanzen und Gräser. Als letztes verfaulen die Bäume. Es bleibt nichts übrig, als schwarze Wüste, auf der nie wieder etwas wächst. Auch der Wald, durch den wir her gekommen sind, wird schon bald vollständig verschwunden sein.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte der Baumzwerg. „Heute ziehen wir nicht weiter“, erwiderter Silberstreif. „Meine Familie ist zu erschöpft. Wir werden uns ein Versteck im grünen Wald suchen und uns ausruhen. Es ist besser, wenn wir alle wieder bei Kräften sind, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Morgenröte wird all ihre Kraft brauchen, wenn ich wieder vorausgehen muss und sie mit den Fohlen allein ist.“
Bei diesem letzten Satz sah Silberstreif Simnil aus den Augenwinkeln an. Der Zwerg kratzte sich am Ohr.
„Weißt du“, begann er, „angesichts der Gefahr, in der ihr schwebt, ich meine, wenn ihr wollt, … dann begleite ich euch ein Stück.“
„Danke“, antwortete der Hengst. „Ich nehme dein Angebot gerne an. Aber damit du es weißt, die Gefahr in der wir stecken, geht uns alle an, auch dich. Wenn die Finsternis immer tiefer in Enophasia eindringt, wird das Folgen für alle Lebewesen haben, für Elfen, Baumzwerge, Gnome, Nymphen, Wichtel, Wasserwesen und auch für alle Tiere und Pflanzen.“
„Und für die Einhörner!“, vollendete Simnil den Satz. „Na ja, um die Gnome wäre es ja nicht schade, aber alle anderen sind mir ja doch mehr oder weniger sympathisch.“
„Auch die Gnome haben ihren Platz in Enophasia“, erwiderte Silberstreif.
„Ach die. Die leben doch nur davon, andere zu beklauen, um sich danach mit ihren eigenen Leuten um die Beute zu balgen. Außerdem stinken sie und verschleppen kleine Baumzwerge“, entgegnete Simnil.
„Von euch Baumzwergen behauptet man, ihr würdet Vogelnester mit ganz frisch geschlüpften Küken ausnehmen, die ihr dann roh verspeist“, antwortete Silberstreif.
„Igitt!“, antwortete der Zwerg angeekelt. „So etwas glaubst du doch nicht wirklich, oder…?“ Simnil war ehrlich entrüstet.
„Wie viele Baumzwerge kennst du, die von Gnomen verschleppt wurden?“, war Silberstreifs Gegenfrage.
„Keinen…“, gab Simnil kleinlaut zu. „Siehst du“, lächelte Silberstreif, „es muss nicht immer alles stimmen, was man über den anderen erzählt!“
„Wo wollen wir eigentlich hin?“, versuchte Simnil das unangenehme Thema zu wechseln.
„Wir suchen ein Kraut für Morgenröte. Es wird sie wieder auf die Beine bringen.“
„Aha. Und wie heißt dieses Kraut? Vielleicht kann ich da helfen“, sagte Simnil, sehr von sich überzeugt.
„Es heißt Elfenkraut und wächst dort, wo es schattig und feucht ist – am liebsten unter Weiden.“
„Ich weiß, wo es wächst“, antwortete Simnil fast ein bisschen beleidigt. „Ich bin schließlich ein Waldläufer, hast du das schon vergessen? Ich kenne alle Kräuter im Wald! Und wenn du das ein bisschen früher gesagt hättest, könnten wir jetzt schon auf dem Rückweg sein. Wir sind nämlich eben daran vorbeigelaufen!“
„Was? Wirklich?“, fragte Silberstreif erstaunt. „Ich kenne auch eine Stelle, aber bis wir die erreichen, dauert es noch eine Weile.“
Simnil war stehen geblieben und sagte: „Komm mit! Ich zeig dir meine.“
Nach kurzer Zeit hatten sie den Ort erreicht. Triumphierend hob der Baumzwerg einige Zweige einer Trauerweide hoch und zeigte dem Einhorn ein kleines Feld Elfenkraut.
„Es wächst nie sehr üppig. Das hier ist schon ein großes Beet!“
„Das größte, das ich je sah“, bestätigte Silberstreif.
In Windeseile hatte Simnil aus seinem Beutel einen weiteren gezogen und ihn mit den Pflanzen gefüllt. Silberstreif war erstaunt, wie rasch der kleine Waldläufer dabei vorging. Schon hielt er ihm den gefüllten Sack voller Stolz entgegen.
„Ich bin dir schon wieder zu Dank verpflichtet“, sagte das Einhorn. „Du hast mich nicht nur zu einer Stelle geführt, die nicht so weit weg liegt, dank deiner Schnelligkeit und deines Beutels brauchen wir auch nur einmal zu gehen und sind auch noch schneller wieder zurück.“
Simnil erwiderte: „Also,... wenn du dich gerne bedanken möchtest, es gäbe da schon etwas, was du für mich tun könntest...!“
„Und das wäre…?“ fragte der Hengst.
„Wir Baumzwerge sind ja ziemlich schnell auf den Beinen. Aber verglichen mit euch Einhörnern sind wir ja wirklich lahme Enten. Du könntest mich ja mal auf einen gestreckten Galopp mitnehmen. Ich würde wirklich gerne mal wissen, wie es ist, so schnell zu sein.“
„Aber gerne“, antwortete Silberstreif, „es wäre mir eine Ehre!“
Simnil hängte sich die Beutel um. Dann sprang er mit einem, für seine Größe mächtigen Satz an Silberstreif hoch, fasste mit den Händen in die Mähne und schwang sich auf den Rücken.
„Alles klar, es kann losgehen!“, sagte er. „Pass nur gut auf unseren Sack auf“, lachte Silberstreif und preschte los.
Am Anfang fühlte sich Simnil noch ganz gut und rief, während die Bäume ziemlich schnell links und rechts vorbei rasten: „Also, ich habe mir das schneller vorgestellt!“
„Etwa so?“ fragte Silberstreif zurück.
Plötzlich verwischten die Umrisse der Bäume und es hatte den Anschein, als würden sie durch einen braungrünen Korridor fliegen. Silberstreif war jetzt so schnell, dass das Auf und Ab des Galopps nicht mehr zu spüren war.
Simnil hatte das Gefühl, dass sie den Boden gar nicht mehr berührten. Außerdem wurde er immer wieder hin und her geworfen, weil Silberstreif ja den Bäumen ausweichen musste. Bäume, die Simnil aufgrund der Geschwindigkeit nicht einmal mehr sah. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, in einen Tunnel zu blicken, der vor ihm immer länger wurde. Schon längst hatte er seinen festen Sitz auf dem Einhornrücken verloren und konnte sich nur noch mühsam mit den Händen in die Mähne krallen, um nicht wegzufliegen.
Nach einigen Momenten bemerkte er erleichtert, wie der Hengst sein Tempo verlangsamte, austrabte und schließlich neben seiner Familie anhielt. Simnil, der vorgehabt hatte, am Ende des Ritts mit einem lockeren Spruch von Silberstreifs Rücken zu springen, war ganz grün im Gesicht. Er glitt, mit einer Hand vor dem Mund, vom Rücken des Einhorns herunter und war gleich darauf hinter einem Baum verschwunden.
„Was hat er denn?“, fragte Morgenröte die inzwischen erwacht war und auch einen ganz munteren Eindruck machte. „Er hat dir Elfenkraut mitgebracht“, grinste Silberstreif.
Schneekristall war zu Simnil hinter den Baum gesprungen und fragte mit der Unschuld eines Fohlens: „Dir geht’s wohl nicht gut, wie?“
„Hau ab, lass mich in Ruhe!“, würgte der Zwerg, „und gib das deiner Mutter!“
Mit diesen Worten nahm er den Beutel ab und warf ihn ohne sich umzudrehen nach hinten, Schneekristall direkt an den Kopf. Gehorsam trabte das kleine Einhorn mit dem Beutel im Maul zu seinen Eltern.
Simnil brauchte noch eine ganze Weile, um sich zu erholen. Als er schließlich wieder hinter dem Baum hervorkam, kreidebleich und noch etwas wackelig auf den Beinen, stellte er fest, dass alle Einhörner wieder wohlauf waren und sich offensichtlich gut erholt hatten. Morgenröte und die Fohlen machten sich gerade hungrig über das Elfenkraut her, während Silberstreif ihnen dabei zuschaute. Seine Augen strahlten vor Glück.
„Simnil!“, riefen Rosenblüte und Schneekristall wie aus einem Mund und liefen auf den Baumzwerg zu. Zärtlich rieben sie ihre Nüstern an dem kleinen Kerl, der nicht wusste, ob er die Liebkosungen abwehren oder sich darüber freuen sollte. Auch Morgenröte kam hinüber, um sich bei ihm zu bedanken.
„Es ist gut, …es reicht jetzt“, murmelte Simnil verlegen. Aber es war ein gutes Gefühl, gleich von drei Einhörnern einen Beweis ihrer Dankbarkeit zu bekommen. Außerdem hatte er die beiden Fohlen so richtig ins Herz geschlossen. Und nachdem er gesehen hatte, welche Gefahren den vieren auflauerten, hatte er auch ein wenig Angst um sie bekommen. Aber das würde er natürlich niemals zugeben.
„Simnil wird uns noch ein Stück begleiten!“, sprach Silberstreif und unterbrach damit das allgemeine Geschmuse.
„Oh, wirklich? Wie schön!“, „Das ist ja toll!“, „Ich freue mich ja so!“, riefen alle durcheinander. Ihre Freude darüber war wirklich unbeschreiblich.
Simnil wurde ganz warm ums Herz. Er räusperte sich und um seine Verlegenheit zu überspielen sagte er: „Ja, ja, schon gut. Wie ich sehe, seid ihr alle wieder auf den Beinen und guter Dinge. Das freut mich. Aber nun sollten wir uns sputen und in den grünen Wald ziehen. Habt ihr nicht gesagt, ihr wollt zum 'Palast des Lichts'? Bis dahin ist es noch ein gutes Stück Weg. Wir sollten also aufbrechen.“
„Du weißt, wo der 'Palast des Lichts' ist?“, fragte Schneekristall erstaunt.
„Natürlich! Ein Waldläufer kennt schließlich seinen Wald!“ erklärte Simnil, der sich in Hochstimmung befand, großspurig. Damit stapfte er los und führte die Einhörner geradewegs in das dichte Unterholz des grünen Waldes hinein.
„So, so, du kennst also den Weg zum ‚Palast des Lichts’“, lächelte Silberstreif den Baumzwerg vielsagend an. Er ging mit Simnil ein Stück voraus, während Morgenröte mit ihren beiden Kindern hinterher ging und ihnen die Pflanzen und Tiere des Waldes erklärte. Seitdem sie den dunklen Wald verlassen hatten, waren die Kleinen spürbar lebhafter geworden und entfernten sich schon mal ein Stück von der Gruppe. Aber jedes Mal wenn Morgenröte nach ihnen rief, trabten sie brav zu ihrer Mutter zurück.
Simnil fühlte sich ertappt und versuchte seine Flunkerei zu entschuldigen. „Was hätte ich denn sagen sollen. Der Kleine sah mich mit so großen Augen an, da konnte ich irgendwie nicht anders. Ich weiß, dass das nicht richtig war. Aber ich fühlte mich so…großartig. Da ist es wie von selbst über meine Lippen gekommen.“
„Du bist großartig!“, antwortete Silberstreif, „du hast es nicht nötig zu prahlen.“
„Vielleicht kannst du mir ja die ungefähre Richtung sagen…?“, fragte Simnil das Einhorn hoffnungsvoll.
„Vielleicht“, sagte Silberstreif. Er hatte sich vorgenommen, den Baumzwerg eine Weile zappeln zu lassen.
Inzwischen waren Schneekristall und Rosenblüte nach vorne getrabt, um ein Stück Weg gemeinsam mit Simnil zu gehen.
„Wenn du nicht mehr kannst, darfst du auf meinem Rücken reiten“, erklärte ihm Schneekristall ganz ernst.
„Du kannst ihn noch nicht tragen“, belehrte Rosenblüte ihren Bruder. „Mama sagt, dein Rücken ist noch lange nicht stark genug dazu!“
„Ist er doch!“ „Ist er nicht!“ „Doch!“ „Nein!“
„Hört auf zu streiten, Kinder!“, mischte sich Silberstreif ein, „eure Mutter hat Recht. Es wird noch sehr lange dauern, bis euer Rücken stark genug ist, um einen Baumzwerg zu tragen.“
Rosenblüte kam dichter an Simnil heran. „Als du beim Kampf gegen die Raubkatzen plötzlich verschwunden warst, dachte ich, du würdest uns im Stich lassen. Ich schäme mich für diesen Gedanken!“
Simnil streichelte Rosenblütes Hals. „Ich musste doch Verwirrung stiften und das ging am Besten aus dem Hinterhalt. Du musst dich nicht schämen. Du warst schließlich in Lebensgefahr! Ich nicht.“
„Ist es noch weit zum Palast des Lichts?“, drängte sich Schneekristall eifersüchtig zwischen Simnil und Rosenblüte. „Nun ja, wir kommen nicht sehr schnell voran“, antwortete der Zwerg ausweichend und sah hilfesuchend zu Silberstreif hinüber. „Bei dem Tempo brauchen wir …, noch ungefähr…zwei Tage?“
„Drei Tage“, verbesserte ihn der Hengst.
„Drei Tage“, sagte auch Simnil schnell. Er ärgerte sich, dass er nicht den Mut aufbrachte, Schneekristall die Wahrheit zu sagen. Und er ärgerte sich über Silberstreif, der sich im Stillen auf seine Kosten amüsierte.
Plötzlich erstarrte Rosenblüte in ihrer Bewegung. Sie warf den Kopf zurück und lauschte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Was hast du, Kleines?“, fragte Morgenröte besorgt ihre Tochter, die nun am ganzen Körper zitterte.
„Da kommt etwas!“, flüsterte sie, „spürt ihr es nicht?“
„Da ist nichts“, beruhigte Silberstreif seine Tochter. „Ich hätte es sonst längst bemerkt. Lasst uns weiterziehen.“
„Nein Papa“, widersprach Rosenblüte, „es kommt näher und es ist sehr schnell!“
„Wirklich Rosenblüte, da ist …“ Silberstreif verstummte mitten im Satz und sah Morgenröte an. Sein empfindlicher Hörsinn hatte das Rauschen nun auch gehört. Zuerst noch ganz undeutlich, wurde es langsam immer klarer und lauter. Irgendetwas kam direkt auf sie zu.
Morgenröte sah sich suchend um. „Schnell hierher“, flüsterte sie und lief zu einigen Bäumen, bei denen das Unterholz besonders dicht war.
Die Elterntiere nahmen ihre Kleinen in die Mitte und verschmolzen farblich sofort mit ihrer Umgebung. Sie waren plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
Simnil, staunte nicht schlecht, als er das sah. Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Denn aus dem leisen Rauschen war nun ein lautes Brausen geworden. Er lief zu einem mit Moos bewachsenen Baum, hockte sich daneben, krümmte sich zusammen und sah einen Moment später aus wie ein mit Moos bewachsener Stein. Silberstreif, der das sah, fragte sich, welche Tricks der Zwerg wohl noch auf Lager haben mochte.
Simnil hatte seinen Platz keinen Moment zu früh eingenommen, denn schon bewegten sich die Blätter und Zweige in den Bäumen über ihnen. Wie ein Sturmwind brauste etwas über sie hinweg und verschwand in der Ferne.
Dann war es still.
Die fünf blieben noch einige Zeit in ihren Verstecken und warteten ab, ob dieser seltsame Wind noch einmal wiederkäme. Aber als alles ruhig blieb, gaben sie ihre Tarnung auf.
„Was war das?“, fragte Schneekristall verstört.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Silberstreif. Morgenröte sagte nichts. Sie schaute auf Rosenblüte, die immer noch ängstlich dreinschaute und unvermittelt sagte: „Es war ein Tier! Ein riesiges Tier, mit großen, gelben Augen - bösen Augen und großen Krallen.“
„Unsinn“, wandte Morgenröte ein. „Die Baumkronen sind hier viel zu dicht. Niemand von uns konnte etwas sehen.“
„Ich habe es auch nicht mit meinen Augen gesehen“, erwiderte die Kleine. „Ich sah es in meinem Kopf, Mama!“
Morgenröte rieb tröstend und ein wenig hilflos ihre Nüstern an Rosenblütes Hals. Silberstreif sah zu Simnil herüber, der sich nachdenklich über seinen Bart strich. Wenn der Zwerg wusste, was da über ihre Köpfe hinweggefegt war, behielt er es jedenfalls für sich.