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4 JENSEITS VON 1. UND 3. PERSON: JHWH AM ANFANG

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Die Einheit der menschlichen Seinsweise, welche die Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Seinsarten, an denen sie teilhat, überbrückt, also die Überbrückung von Gegensätzen wie Soma und Psyche, werden wir vergebens in den Ebenen suchen, in die wir den Menschen projizierten. Vielmehr ist sie einzig und allein […] in der Dimension des spezifisch Humanen zu finden.

(Frankl, V. E. »Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen«. In Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 20 – 29. München: Piper, 1998, 26.)

Literatur: Bibel: Genesis 1 - 2; »Enuma Elish the Epic of Creation«, n.d., http://www.sacred-texts.com/​ane/​stc/​index.htm; Frankl, V. E. »Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen«. In Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 20 – 29. München: Piper, 1998; Woudenberg van, R. Gelovend Denken: Inleiding Tot Een Christelijke Filosofie. Amsterdam, Kampen: Buijten & Schipperheijn; KoK, 2004.

4.1 Einleitung

In der ersten Reflexion wurde das zentrale Problem des modernen Menschen geklärt. Durch den Subjektivismus mit seiner verabsolutierten 1. Person-Perspektive (Ich) und den Objektivismus mit seiner verabsolutierten 3. Person-Perspektive (unabhängiges Es) ist er ganz unbemerkt in die sinnentleerte Enge getrieben worden. In der zweiten Reflexion wurde Descartes vorgestellt und versucht zu identifizieren, wie das moderne Problem in seinem »cogito ergo sum« seinen Anfang nahm. In der letzten Reflexion wurde erläutert wie es beim »Theoriedenken« zu den verschiedenen Varianten des Objektivismus kommt, und dass Denken, auch wissenschaftliches Denken, nicht neutral oder objektiv ist. Im Gegenteil, das Denken braucht immer da, wo es nach der Analyse wieder den Zusammenhang der unterschiedenen Phänomene sucht (Synthese), ein organisierendes Prinzip, das als Voraussetzung für die Existenz der Wirklichkeit begriffen werden muss. Dieses Prinzip wurde mit der Gottesrolle identifiziert. Die verschiedenen wissenschaftlichen Reduktionen oder »Ismen« bestehen, weil in der Wissenschaft verschiedene Prinzipien um die Gottesrolle streiten. Die Wahl des spezifischen Prinzips, das die Synthese dominiert, ist willkürlich. Wer ein Prinzip des biotischen Seins-Aspekts verabsolutiert (oft Evolutionisten), wird sehr schnell von jemandem herausgefordert, der z. B. ein Prinzip des sensorischen/​psychischen Seins-Aspekts verabsolutiert. Dann kommt es zur klassischen Debatte mind vs. brain (Gehirn vs. Verstand). Das ist der moderne Götterstreit. In der letzten Reflexion wurde gezeigt, wie der moderne Götterstreit in seiner Struktur identisch ist mit dem antiken Götterstreit. Allerdings sind die Propheten der Bibel davon überzeugt, dass dieser Götterstreit überwunden werden kann. Aus ihrer Perspektive entsteht der Götterstreit immer nur da, wo man Dinge aus der geschaffenen Wirklichkeit mit der Gottesrolle identifiziert. Da, wo aber der wirkliche Schöpfer mit der Gottesrolle identifiziert wird, entsteht ein sinnvoller Zusammenhang des Lebens, ohne dass der Mensch in einen ausweglosen Götterstreit (Dualismus) verwickelt wird, bei dem er am Ende in einer sinnentleerten Welt dasteht. Der antike Mensch würde nicht mehr in der Zwickmühle von Sonne und Berg stehen, und der moderne Mensch würde nicht mehr in der Zwickmühle von Objektivismus und Subjektivismus stehen, wenn er den wahren Schöpfer als Ausgangspunkt seines Lebensverständnisses nehmen würde.

Fazit: Mit JHWH in der Gottesrolle würden Sonne und Berg sowie evolutionäre Prinzipien und die Gesetze der Konditionierung etc. immer noch bestehen, aber eben nicht mehr in der Gottesrolle (kein Evolutionismus, kein Psychologismus).

Schon seit Jahrtausenden haben Menschen im Gott der Bibel und dem, was die Propheten über ihn offenbart haben, ihren Frieden gefunden und die Welt als sinnvoll erlebt. In den nächsten drei Reflexionen möchte ich versuchen, in Grundzügen zu klären, wie die Propheten der Bibel in ihrem Reden und Denken von einem Gott zeugen, der radikal anders ist als die bekannten Götter.

Er stellt das Leben in einen solch sinnvollen Zusammenhang, dass die individuelle Freiheit (das Subjektive) und der gesetzmäßige, allgemeingültige Kontext, in dem wir leben (das Objektive) nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich in einem sinnvollen Gefüge verstehen lassen.

4.2 In der Biblischen Gottesrolle: JHWH

In der Bibel offenbart sich Gott als erstes im Schöpfungsakt (Genesis 1 und 2). Gott offenbart sich als der, der die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, mit seinem Wort schafft (auch »Wortschöpfung« genannt). Es gibt keine Hierarchie in der Schöpfung in dem Sinne: Gott schafft das Meer, das Meer erzeugt dann die Meereslebewesen, und aus den Meereslebewesen entstehen die Menschen. Wer Genesis 1 liest, wird feststellen, dass das Meer durch das Wort Gottes geschaffen ist, die Meereslebewesen ebenso durch das Wort Gottes geschaffen sind und ebenso die Menschen. Jedes Leben wird also unmittelbar von Gott abgeleitet. Die Einheit der Schöpfung wird darum nicht so sehr von biologischen oder psychologischen Gesetzmäßigkeiten dominiert, sondern vom Wort Gottes, das die biologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten hervorbringt. Es kommt alles von JHWH und findet auch bei ihm seine Einheit (siehe Abb. 13).

In den ersten fünf Schöpfungstagen bleibt JHWH ein Mysterium. Wer er ist, was er will und woher er kommt, sind Fragen, die nicht beantwortet werden. Muss er als eine Art Idee oder Weltgeist oder absoluter Wille verstanden werden, so wie es in vielen Kulturkreisen der Fall ist? Da, wo in der Geschichte Gott als eine zeitlose und materielose Idee verstanden wurde, haben die Menschen als Konsequenz zu objektivistischen Vorstellungen geneigt, bei denen der Mensch durch das Schicksal vorherbestimmt ist. Gott war eine Art 3. Person (unabhängiges Es), die die Wirklichkeit und ihre Zukunft bestimmte. Aber auch in den »primitiveren« Vorstellungen von Gott, in denen Gott eine persönliche Natur hat, wird Gott oft objektivistisch verstanden. Hier ist nämlich die gesamte Schöpfung darauf ausgelegt, dass sie das Leben der Götter einfacher macht. Dabei werden die Menschen z. B. als Sklaven geschaffen und fremdgesteuert. Der Gott der Bibel schildert sich aber ganz anders. Seine erste Selbstoffenbarung geschieht, etwas verzögert, am sechsten Tag in der Schöpfung des Menschen:

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich! Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen! (1. Mose 1,26)

Zum ersten Mal spricht Gott von sich selbst und offenbart dabei seine Persönlichkeit: »Lasst uns Menschen machen […] uns ähnlich«. Gott möchte durch die Menschenschöpfung etwas schaffen, das sein eigenes Wesen offenbart (Genesis 1,26a). Die Frage nach der Identität und Persönlichkeit Gottes wird also in der Schöpfung des Menschen beantwortet.

Fazit: Wer Gott ist, sehen wir zu einem großen Teil daran, wie der Mensch ist.

Weder die Schöpfung des Menschen noch die Schöpfung an sich wird als eine Notwendigkeit beschrieben, die einen bestimmten Nutzen verfolgt. Im Kontrast dazu wird in den außerbiblischen antiken Schöpfungsberichten (z. B. Enuma Elish und Gilgamesh Epos) vor allem die Menschenschöpfung als eine Art Lösung für ein bestehendes Problem betrachtet. In der Enuma Elisch brauchen die Götter ein Servicepersonal und schaffen darum die Menschen. Hingegen wird die Schöpfung in der Bibel als ganz »nutzlos« dargestellt. Nutzlos in dem Sinne, dass der Mensch nicht als Problemlösung geschaffen wird. Er wird nicht als Formel für die Lösung einer bestehenden Aufgabe ins Leben gerufen. Vielmehr ist der Mensch ein Produkt unbedingten göttlichen Spiels. Man könnte fast sagen, dass in der Bibel die Schöpfung ein Kunstprodukt ist und Gott sich vielmehr als Künstler und weniger als Ökonom offenbart. Der geschaffene Mensch muss dann auch kein Problem lösen, sondern existiert »nutzlos«, einfach nur weil er gewollt ist. Hierin liegt die Grundlage für das biblische Verständnis von Liebe. Was nun den Menschen als Spiegelbild Gottes im Kern ausmacht, lesen wir in den Versen 26 bis 30. Der Bericht definiert den Menschen über die folgenden fünf Aspekte:

1. als Herrscher (Vers 26b): Der Mensch wird als König geschaffen und spiegelt damit Gott als König und Herrscher. Landläufig versteht man Gott immer als Herrscher über das Geschaffene. Aber in den Augen Gottes ist der Mensch König und Herrscher über das geschaffene Leben: ein revolutionärer Gedanke, damals wie heute. Als König trägt man die letzte Verantwortung. D.h. das eigene Handeln ist durch niemanden bedingt als durch einen selbst. Für den modernen Kontext würde das bedeuten, dass aus der biblischen Schöpfungsperspektive der Mensch nicht fremdbestimmt werden muss, sondern selbst für sein Denken und Handeln verantwortlich ist. Das ist ein kräftiges Wort gegen den Objektivismus und zeigt zugleich die subjektivistische Dimension, die dem Menschen innewohnt. Und dass JHWH es damit ernst meint, sehen wir in Vers 28b, wo er dem Menschen gegenüber ausdrücklich wiederholt, dass er Herrscher und König über die Lebewesen sein soll, die Gott geschaffen hat.

2. mit freiem Willen (Vers 28b): Die Tatsache, dass Gott den Menschen nicht zum Königsein programmiert, sondern ihn auffordern muss, die Königsrolle einzunehmen, zeigt, dass die Bibel den Menschen als frei versteht. Der Mensch kann offensichtlich auch »Nein« zu seiner Rolle sagen. Der Mensch als Spiegelbild Gottes offenbart, dass JHWH nicht als apersonale Idee, Kraft oder abstraktes allgemeingültiges Prinzip zu verstehen ist, sondern als ein persönlicher Gott, der eine eigene Freiheit hat, »Ja« und »Nein« zu sagen. Dies wird sich in der Bibel noch sehr oft zeigen. Die Tatsache, dass der Mensch frei ist, betont nicht nur, dass der Objektivismus keinen Platz im biblischen Weltbild hat, sondern auch, dass Individualität und Subjektivität essenzielle Bestandteile menschlichen Lebens sind.

3. mit Verantwortung und begrenzter Freiheit (Vers 29a): Wenn der Mensch als Herrscher Gott als Herrscher widerspiegelt, gilt zu klären, ob sich hier Gott mit dem Menschen einen Rivalen geschaffen hat. Nun, die Bibel ist ganz deutlich, dass die Freiheit, Verantwortung und der Herrscherauftrag des Menschen nur innerhalb einer bestimmten Grenze ihre Entfaltung finden. Der Mensch wird nicht über die Sonne herrschen, das Wasser oder gar JHWH selbst. Sein Herrschaftsgebiet begrenzt sich auf die Tiere, also andere Lebewesen. Der Rest der Schöpfung wird unmittelbar durch JHWH regiert. Der menschliche Herrscherauftrag wird von JHWH an ein Nahrungsgebot gekoppelt. Dem Menschen ist geboten, vegetarisch zu leben, wo er verantwortlicher Herrscher über die Tiere sein will (Vers 30).2 Ein guter König tötet nicht, sondern ist seinen Untertanen ein gutes Vorbild und zeigt Respekt vor dem Leben des anderen. Königsein heißt darum auch, verantwortlich Sorge tragen. Das begrenzte Herrschaftsgebiet des Menschen macht deutlich, dass der geschaffene Mensch nicht mit JHWH gleichzusetzen ist. Der Mensch bleibt Abbild. Seine Freiheit hat Grenzen. Und somit ist die Objektivismusrelativierung des biblischen Berichtes nicht in das Extrem des Subjektivismus entglitten. Es geht um freies Herrschen innerhalb gegebener Grenzen. Später wird dieser Punkt noch einmal aufgegriffen.

4. als sinnloser Schöpfer (Vers 28a): Der Auftrag, sich zu vermehren, ist auch der Auftrag, neue Menschen ins Leben zu rufen. Auch hier spiegelt der Mensch wieder in einem begrenzten Rahmen die Schöpferkraft Gottes. Und ähnlich wie die Schöpfung Gottes wird der Aufruf, sich zu vermehren und schöpferisch zu sein, nicht mit der Überwindung eines Problems verbunden. Der Sinn der Kinderzeugung wird nicht darin gesehen, dass dadurch mehr Dienstpersonal für die Götter entsteht (JHWH braucht keine Sklaven!), oder das Böse mit einer Mehrheit an guten Menschen überwunden werden kann (es gibt noch keine Sünde!), oder die Eltern damit in ihre Altenpflege oder den Fortbestand der Menschheit investieren (es gibt noch keinen Tod!). In diesem Sinne ist die Kinderzeugung »nutzlos«, aber genau in dieser Nutzlosigkeit, in diesem Überschuss liegt der Sinn des Lebens: Schöpfung aus Passion zum Schöpferischen. Das Geschaffene existiert in erster Linie, weil es gewollt und geliebt ist und nicht, weil es einen Nutzen oder Zweck erfüllt. Vom Blickwinkel unseres modernen Subjektivismus-Objektivismus-Dilemmas betrachtet, müssen wir sehen, dass in der Bibel ein bestimmter Bestandteil der Wirklichkeit durch schöpferische Individualität (Subjektivität) zu Stande kommt (z. B. Kulturen). Das Verhältnis des Menschen in Bezug auf Objektivität und Subjektivität könnte man mit einem Haus vergleichen, in das ein Bewohner einzieht. Das Haus ist der objektive Rahmen, den der Mensch nicht verändern kann, aber der es ermöglicht, dass er sein Leben beschützt und sinnvoll leben kann. Innerhalb dieses Hauses ist er völlig frei, seine eigene kreative und subjektive Einrichtungsvorstellung zu verwirklichen.

5. als Mitmensch (Vers 26 und 27): Neben den obigen vier Aspekten menschlichen Lebens ist der wichtigste noch nicht genannt. Dieser Aspekt dominiert den Bericht der Menschenschöpfung in Genesis 1, wird aber noch einmal gesondert in Genesis 2 volle Aufmerksamkeit finden. In Vers 26a erklärt der Text auf eine poetische Weise, dass der Mensch seinem Wesen nach plural und singulär zugleich ist. Leider wird das nicht in allen Übersetzungen deutlich. In Vers 26 heißt es, dass Gott »den« einen (Sg.) Menschen schaffen will, aber nicht »er« sondern »sie« sollen herrschen (Vers 26b). Woher kommt aber das »sie« (Pl.), wenn JHWH nur »ihn« (Sg.) gemacht hat? Die gleiche Spannung findet sich in Vers 27, wo JHWH »den« (Sg.) Menschen schafft, aber »ihn« (Sg.) als männlich und weiblich (Pl.) schafft. Der Text definiert klar, dass in der biblischen Schöpfung der Mensch an sich erst existiert, wenn zwei verschiedene Personen existieren (siehe Abb. 14). Der Mensch besteht immer erst, wenn er Mitmensch ist! Ich existiere immer erst dann, wenn mir ein Du gegenübergestellt ist. Und es ist gerade diese Wirklichkeit, mit der der Mensch zum Imago Dei, zum Abbild Gottes wird (siehe Vers 26a und 27a).

Ganz offensichtlich besteht JHWH in der gleichen Wesenhaftigkeit. Dies wird schon in Vers 26 angedeutet, wo Gottes Sprechen im Singular (»sprach«) angekündigt wird, das Sprechen selber aber im Plural stattfindet (»lasst uns«). Vers 27 führt diese Spannung weiter, indem es nicht mehr »unser Bild«/​»lasst uns machen« (Pl.) sondern »sein Bild«/​»er schuf« (Sg.) lautet. JHWH ist nicht nur der »Eine«, er ist auch der Gott, der immer nur im Bündnis Gott ist. Im Laufe der biblischen Geschichten kristallisiert sich diese Pluralität des einen Gottes immer stärker heraus und wird dann in der Kirchengeschichte technisch mit »Dreieinigkeit« beschrieben. Es ist dieser fünfte und letzte Aspekt, der als prophetische Antwort auf das moderne Dilemma zentral steht. Dem Menschen kann man nicht gerecht werden, wo man ihn ausschließlich aus der 1. Person-Perspektive (Subjektivismus) oder 3. Person-Perspektive (Objektivismus) beschreibt. Man kann den Menschen nicht völlig verstehen, wo man ihn nur in Abgrenzung zu absoluter Freiheit und absoluter Fremdbestimmung definiert. Was der Mensch ist, kann erst dann richtig verstanden werden, wo man ihn in der Begegnung mit dem »Du«, der 2. Person-Perspektive, betrachtet (siehe Abb. 15 und 16).

Um zu wissen, wer man selbst ist, braucht es immer eine Begegnung mit dem »Du«. Man mag den Menschen objektivistisch beschreiben (biologisch, soziologisch, psychologisch, religiös etc.), aber sein wahres Wesen und seine Individualität wird dabei immer übersehen werden.

Man mag den Menschen subjektivistisch verstehen (Relativismus), aber auch hier gerät sein wahres Wesen aus dem Blickfeld (siehe Abb. 17).

Erst da, wo das »Ich« einem »Du« begegnet, wird der Mensch ins Leben gerufen. Die Konsequenzen für das moderne Denken sind dabei immens und werden noch deutlicher werden.

4.3 Leben aus dem Du

Den Menschen über den Subjektivismus zu definieren und die Existenz der Wirklichkeit auf sein eigenes Vorstellungsvermögen zu reduzieren, wird im biblischen Schöpfungsbericht deutlich korrigiert. Wasser, Sonne, Fische, Vögel und natürlich JHWH existieren bereits vor dem Menschen. Aber der Mensch ist in bestimmten Grenzen frei, seine eigene Kreativität auszuleben und seiner Verantwortung individuell Gestalt zu geben.

Fazit: Subjektivität – Ja! Subjektivismus – Nein!

Den Menschen über den Objektivismus zu definieren, das Denken und Handeln des eigenen Lebens auf vorherbestimmende natürliche Prozesse zurückzuführen, wird ebenso im Schöpfungsbericht korrigiert. Der Mensch wird durch nichts anderes ins Leben gerufen als durch JHWH. JHWH, der ohne bedingt zu sein, aus freiem Willen eine »überflüssige« Schöpfungshandlung durchführt, will sein Spiegelbild im Menschen finden. Auch der Mensch soll im Kern frei von Vorherbestimmungen sein und als König und Herr seiner Kreativität eine eigene Richtung geben. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen JHWH und Mensch. Die Macht des Menschen kann nur innerhalb einer Begrenzung seine Möglichkeiten finden. Und bestimmte Elemente der Schöpfung wie Sonne und Mond, die den Tag und die Nacht bestimmen, werden auch das Leben des Menschen zu einer gewissen Weise mitbestimmen. Die Bewegungen von Sonne und Mond werden nicht durch den Menschen ferngesteuert. Der Mensch bleibt aber in seinem Wesen König und Herrscher. Und zwar in der Sphäre der Lebewesen (Vers 26b und 28), der Sphäre des »Du«.

Fazit: Objektivität – Ja! Objektivismus – Nein!

Diese Schlussfolgerung wird vor allem in Genesis 2 ganz plastisch dargestellt. Nach den knappen Worten zur Menschenschöpfung im ersten Kapitel der Bibel wirft Genesis 2 noch einmal ein genaueres Bild auf das, was bei der Menschenschöpfung eigentlich geschah. Genesis 2 erklärt, dass die Menschenschöpfung in einem bedeutungsvollen Schöpfungsprozess entstanden ist. Ohne ins Detail zu gehen, sind folgende Elemente des Berichtes wichtig:

1. Ohne Retter kein Leben (Vers 18 bis 20): Zuerst schafft Gott eine Person ohne Mitmenschen und macht ganz deutlich, dass ein Bestehen des Menschen im Alleinsein nicht gut ist und ihm nicht entspricht. Das deckt sich mit der Menschendefinition aus Genesis 1,26 - 27. Was der Mensch nötig hat, um zu überleben, ist ein »Gehilfe« (עֵזֶר). Dieses Wort muss sehr existenziell aufgefasst werden. Es bedeutet weder Haushilfe oder Assistent, sondern hat wesentlich mehr die Bedeutung von Retter. In der Regel wird dieses Wort im Alten Testament darum auch nicht für Menschen gebraucht, sondern für Gott (z. B. Psalm 70,6; 115,9 - 11). David sagt: »Wäre Gott mir kein עֵזֶר gewesen, dann wäre ich jetzt tot« (Psalm 94,17). Wenn es um die Erhaltung des Lebens geht, braucht man einen עֵזֶר einen Mitmenschen als Partner. Aber JHWH will diese eine geschaffene Person – die ja noch nicht wirklich Mensch ist – mit dem Alleinsein als einer Unmöglichkeit für sinnvolles Menschenleben konfrontieren. Und so ermöglicht er diesem »Nicht«-Menschen ein paar Augenblicke des Lebens ohne עֵזֶר. In seiner Begegnung mit den Lebewesen, über die er herrschen soll, erlebt er sehr schnell, dass sich weder das Pferd noch das Huhn als Lösung für das Alleinsein anbieten.

2. Einsamkeit ist Tod (Vers 21): Sinnbildlich wird die Erfahrung in Vers 20 Adam zur Todeserfahrung, denn er fällt in einen todesähnlichen Schlaf. Das hebräische Wort תַּרְדֵּמָה (tiefer Schlaf) kann auch metaphorisch für Tod benutzt werden. Der Schreiber will, dass der Leser versteht: Ein Leben, das auf das eigene Ich reduziert ist (Subjektivismus), endet im Tod. Sonnenschein, Nahrung und physische Gesundheit sind nicht ausreichend, um zu überleben. Wo der עֵזֶר fehlt, trifft der Tod ein. Mitmenschlichkeit hat also eine existenzielle Dimension. Alleinsein bedeutet Einsamkeit und kann im biblischen Sinne als das Gesicht des Todes beschrieben werden.

3. Leben in der Teilung (Vers 22 - 23): Die bedeutungsträchtige Handlung findet in Vers 22 statt. Gott teilt den Körper Adams und ergänzt die zwei getrennten Teile mit Materie. Es entstehen zwei ähnliche Formen. Zwar kann man das Hebräische Wort צֵלָע mit Rippe übersetzen, aber es hat meist die Bedeutung von Seite (z. B. Exodus 26,26) und macht in diesem Kontext auch mehr Sinn. Die materielle Existenz der einen Person ist damit Teil der materiellen Existenz der anderen Person (siehe Abb. 18).

Nachdem JHWH die beiden Formen ins Leben ruft, gibt es nicht mehr einen auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen, sondern zwei Mitmenschen. Die Menschenschöpfung ist jetzt erst abgeschlossen, und erst jetzt wird die Gottähnlichkeit des Menschen erreicht. Interessanterweise führt erst die Begegnung mit dem »Du« der Eva Adam zur Verwendung des »Ich«-Begriffs (»von meinem Gebein«, »von meinem Fleisch«). Dies spiegelt dann auch eine tiefe Realität unseres eigenen Lebens wider: Die Begegnung mit dem anderen Du ist zum Großteil Voraussetzung für die Selbstwahrnehmung. Unseren eigenen Körpergeruch kennen wir nicht, ohne dass es uns jemand sagt. Ob wir schön sind oder nicht, ob unsere Arbeit gut ist oder nicht, ob wir geliebt sind oder nicht, wissen wir erst, wenn uns das jemand mitteilt. Wenn man wissen will, wer man als Mensch ist, wenn man Mensch sein will, braucht man eine Du-Begegnung mit einem Mitmenschen. Da, wo uns der Mitmensch genommen wird (z. B. durch den Tod des langjährigen Lebenspartners), erscheint einem das eigene Leben oft sinnlos. Und so kann ein Beziehungsbruch mit einem Selbstmord enden, da der Sinn zu leben abhanden kam. Babys, die nach ihrer Geburt all ihre biologischen Grundbedürfnisse gedeckt bekommen, aber keine Du-Begegnung mit einem Menschen haben, sterben. Oft verstirbt der physisch gesunde Opa kurz nachdem die Oma nach 55 Jahren Ehe gestorben ist.


4. Zweisein-Einssein (Vers 24 - 25): Der Schöpfungsbericht endet dann mit einem Höhepunkt, der das Wesen menschlichen Lebens noch einmal auf den Punkt bringt: Nacktheit und Einheit. Die Sinnhaftigkeit des Lebens realisiert sich überall da, wo man seinem Mitmenschen alles sein kann, was man wirklich ist. Es gibt keine Scham, Zurückhaltung oder Unsicherheiten. Dabei wird man nicht nur akzeptiert, sondern so verstanden, dass man mit dem anderen eine Einheit formt. Der Sinn des Lebens besteht auf der einen Seite darin, vom »Du« verstanden zu werden und akzeptiert zu sein, und auf der anderen Seite darin, das »Du« zu verstehen und akzeptieren zu können.

Die Berichte aus Genesis 1 und 2 sprechen eine einheitliche Sprache: Der Mensch findet seine Existenz erst in der Begegnung mit einem Du. Diese Tatsache dominiert sein Sein noch mehr als seine Fähigkeit zu herrschen und kreativ zu sein. Das »Ich« (1. Person-Perspektive) mit seiner von Gott gegebenen subjektiven Macht (Herrscher über die Lebewesen, Schöpfer von Nachkommen) wird erst in der »Du«-Begegnung sinnvoll, denn erst da entsteht überhaupt ein Bewusstsein vom »Ich«. Das »Er/​Sie/​Es« (3. Person-Perspektive) mit seinen durch den Menschen unbeeinflussbaren Begrenzungen (z. B. Rhythmus von Tag und Nacht) wird auch erst in der »Du«-Perspektive sinnvoll. Denn der natürliche, objektive und allgemeingültige Rahmen, in den der Mensch eingebettet ist, ermöglicht die Bühne, auf der die »Ich-Du«-Begegnung stattfinden kann.

Diese Schlussfolgerung hat verschiedene weitreichende Folgen für den modernen Götterstreit. Der Ursprung menschlichen Lebens lässt sich nicht von irgendwelchen Prozessen und Gesetzen ableiten, die in der geschaffenen Wirklichkeit entdeckt werden können (biologische Gesetze, psychologische Prozesse, etc.), sondern nur unmittelbar vom Willen JHWHs. Des Weiteren ist der Sinn menschlichen Lebens nicht im Kampf ums Überleben (Biologismus/​Evolutionismus), im Fortschritt (Ökonomie) oder anderen Aspekten (Physik, Chemie, etc.) des Lebens zu suchen, sondern vor allem in der zwischenmenschlichen Begegnung mit dem »Du«. Zwei biblische Beispiele sollen das verdeutlichen:

1. Sexualität:

Der Höhepunkt des Schöpfungsberichtes in Genesis 2 wird nicht durch das Nennen der Fähigkeit zur Fortpflanzung erreicht, sondern durch poetische Erwähnung der Fähigkeit, mit einem anderen Mitmenschen »eins zu werden« und ihm gegenüber »nackt zu sein«. Das ist dann wohl auch der Grund, warum Sexualität in der Bibel nicht als Methode der Existenzsicherung verstanden wird (Evolutionismus/​Biologismus), sondern als Ausdruck eines Erkenntniserlebnisses im Ich-Du-Verhältnis (z. B. Genesis 4,1). Sexualität wird dann auch dort verpönt und verurteilt, wo sie nicht in diesem existenziellen Ich-Du-Verhältnis stattfindet, wo das Leben sich vom andern abhängig darstellt (siehe עֵזֶר erster Punkt unter 4.3). Sexualität im unpersönlichen Ich-Er/​Ich-Sie-Verhältnis, in der die Unabhängigkeit vom anderen bewahrt bleiben soll, ist Prostitution. Und so wird auch die ganze biblische Partnersuche dominiert durch das Ideal, jemanden zu finden, dem man ganz begegnen kann.

2. Sabbat:

Der Höhepunkt des Schöpfungsberichtes in Genesis 1 findet seinen Ausdruck im Sabbat. Für den Höhepunkt der Schöpfung steht das Aufhören von Arbeit und das Ende der Produktivität. Der Sabbat wird dann auch zu einem Tag, an dem die Arbeit nicht im Vordergrund stehen darf, sondern die Gemeinschaft des Menschen mit seinem Mitmenschen, den Tieren und Gott. Die Botschaft dabei ist deutlich: Nicht die Ökonomie soll das Leben beherrschen, sondern die barrierefreie Begegnung mit dem Du. Der erholsame Sabbat dient nicht dazu, in der Woche noch produktiver zu sein, sondern vielmehr dient die Woche dazu, am Sabbat genug Essen und Trinken zu haben, sodass der Ich-Du-Begegnung keine Arbeit mehr im Weg stehen muss. Das Gleiche gilt für das Sabbatjahr und Jubeljahr. Ziel ist kein ökonomischer Fortschritt, sondern das Erreichen einer zwischenmenschlichen Tiefe. Und so lässt sich verstehen, dass vor allem im Alten Testament Erlösung nicht so sehr als Befreiung von Tod und Leid verstanden wird, sondern als die Wiederherstellung der Fähigkeit, dem anderen im Bund, als vertrauenswürdiger und vertrauensweckender Mitmensch (Nacktheit) zu begegnen. Das mag auch der Grund dafür sein, weshalb die Überwindung des Todes im Alten Testament kaum Beachtung findet, sondern die Wiederkunft des Messias, der wieder die Begegnung von Mitmenschen in einer aus der sozialen Balance geratenen Welt ermöglicht. Tod ist nicht so sehr der physische Tod, sondern der Verlust der Mitmenschlichkeit (siehe Genesis 3).

Da, wo sensibel über das Leben nachgedacht wird, wird es im biblischen Text gespiegelt. In Wahrheit ist es doch so, dass mein Leben Bedeutung und Identität bekommen hat, weil meine Eltern mich Oliver nannten, weil meine Mutter sagte, dass sie stolz auf mich ist, weil mein Vater mich irgendwann aufs Fahrrad setzte, mich anschubste, hinter mir her rannte und rief: »Du schaffst das schon, ich bin bei dir! Du schaffst das schon! Schön geradeaus sehen!«

Dein Leben hat Bedeutung bekommen, weil es da im Rahmen der 3. Person (räumlicher, kinematischer, energetischer, psychischer, Seins-Aspekt), immer schon die 2. Person gab, die dir als 1. Person Bedeutung gegeben hat. Und da, wo durch Scheidung, Tod und Trennung das Du entzogen wird, hat sich schon immer diese tödliche Leere eingestellt.

4.4 Problembehandlung: Vom biblischen Alltagsdenken zum Theoriedenken

Nach der Lektüre von Genesis 1 und 2 wird kein moderner Leser behaupten, dass es sich hier um einen wissenschaftlichen Bericht im Sinne des Theoriedenkens handelt. Das moderne Subjektivismus-Objektivismus-Problem, das aus dem Theoriedenken kommt, scheint weiterhin ungelöst. Der Schöpfungsbericht reflektiert ein Denken, das nur im Alltagsmodus stattfindet. Dinge (Sonne, Mond) und Phänomene (Licht, Dunkelheit) werden voneinander unterschieden (und wieder in einen Zusammenhang gebracht, d. h. synthetisiert), nicht aber Seinsaspekte (energetischer oder biotischer Seinsaspekt). Auf der einen Seite ist das gut, da jeder Mensch im Alltag lebt und denkt, und damit alle Leser, ob klein oder groß, alt oder jung, studiert oder unstudiert, diesen Text verstehen können. Aber auf der anderen Seite stellt das auch eine Herausforderung dar: Das moderne Problem entsteht vor allem im Mikroskopmodus des Denkens (siehe Reflexion 3), wenn zuvor Unterschiedenes wieder synthetisiert werden muss. Jede moderne Synthese ist dabei reduktionistisch und hat den Menschen entweder in den Subjektivismus oder in eine der vielen Varianten des Objektivismus geführt. Wie aber soll im Theoriedenken eine Synthese erstellt werden, die sich vom biblischen Schöpfungsbericht beeinflussen lassen will? Wie soll sich die Wahrnehmung, dass da, wo JHWH die Gottesrolle übernimmt, das Leben und Sein nicht durch die 1. Person-Perspektive und nicht durch die 3. Person-Perspektive, sondern durch die 2. Person-Perspektive dominiert wird, auf das Theoriedenken auswirken? Wie kann ein christlicher Biologe die Welt sehen, ohne dabei in seiner Suche nach Objektivität evolutionistische Gedanken zu entwickeln? Wie kann ein christlicher Historiker die Welt sehen, ohne dabei relativistisch im Sinne von Zeitgeistentwicklungen zu reden?

In der nächsten Reflexion wird diesen Fragen nachgegangen und versucht, mit dem biblischen Bild von der Wirklichkeit das Theoriedenken zu beeinflussen.

4.5 Klärung

Wir sind es gewohnt, entweder aus der 1. Person-Perspektive oder aus der 3. Person-Perspektive zu denken. Die 2. Person-Perspektive bleibt dabei oft außer Sicht. Folgende Fragen sollen helfen, die 2. Person-Perspektive bewusst werden zu lassen und sie auch einzunehmen:

→Wie viel Zeit verbringst du mit einem Mitmenschen in dem Sinne, dass er dir ein Du ist (persönliche Gespräche über Freuden und Ängste, Hoffnung und Zweifel), du eine Einheit im Verstehen und Verstandensein erleben kannst?

→Was sind die wertvollsten Momente deines Lebens gewesen? Welche Unterschiede findest du zwischen materiell wertvollen Momenten (Arbeitsplatz, neuer Fernseher, eigenes Haus) und wertvollen Du-Momenten? Wenn nur einer deiner vergangenen wertvollen Momente sich in deinem Leben wiederholen dürfte, welchen würdest du wählen?

→Warum kostet es dich manchmal weniger Kraft, abends vor dem Fernseher zu sitzen, als dich mit einem Freund oder einer Freundin zum Austausch zu treffen?

→Sprich mit einem Menschen, der einsam ist. Wie beschreibt dieser Mensch sein Leben?

→Versuche dich an die Momente zu erinnern, in denen ein Mitmensch dir gesagt hat, dass er durch dich zu einer besseren Erkenntnis seines Selbst gekommen ist.

→Seit einem guten Jahr gibt es einen neuen Hype in Amerika, der auch immer mehr im westlichen Europa, Australien und Israel bekannt wird: sogenannte Cuddle Partys (Kuschelpartys) (www.cuddleparty.com, www.kuschelparty.com). Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, erfolgreiche Geschäftsleute, Rentner und Studenten treffen sich und kuscheln für zwei bis drei Stunden miteinander. Die Kuschelgruppe kennt sich nicht, und das Ausleben von Sexualität ist nicht gestattet. Diskutiere mit dem Hintergrund dieser Reflexion dieses Phänomen des anonymen Kuschelns. Würdest du an so einer Kuschelparty teilnehmen? Warum? Warum nicht?

→Höre dir Schuberts »Winterreise« an und bespreche sie mit dem Hintergrund dieser Reflexion in deinem Gesprächskreis.

→Diskutiere in deinem Gesprächskreis, warum nicht nur ein Lebenspartner als Mitmensch das Leben sinnvoll sein lässt. Was ist der Unterschied zwischen dem Lebenspartner als Du und dem guten Freund als Du?

Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren

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