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Einführung

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Der Leser hält ein Buch in der Hand, das in einem christlichen Verlag erschienen ist. Grob gesehen finden sich im Programm christlicher Verlage gewöhnlich drei Arten von Büchern. Zum Ersten gibt es Bücher, die sich mit der Auslegung von Bibelbüchern beschäftigen (Kommentare und Meditationen). Zum Zweiten gibt es Bücher, die sich der Verteidigung des Christentum als einer vertrauenswürdigen Religion widmen, die der Wissenschaft nicht notwendigerweise widerspricht (Apologetik). Und zum Dritten gibt es Bücher, die sich mit der praktischen Lebensführung auseinandersetzen und Hilfen anbieten, das Leben im christlichen Sinne erfolgreich zu leben (Ratgeber, christliche Romane). Alle drei Buchtypen sind wichtig und erfüllen ihren Zweck.

Aber mit biblischer Auslegung, Glaubensverteidigung und praktischen Lebenshilfen berühren wir nur selten den existenziellen Fragenkomplex des heutigen Menschen. Wie das Leben leben, wenn wir nicht einmal wissen, was das Leben ist? Wie das Christentum verteidigen, wenn wir nicht einmal wissen, ob es sich als historisches und soziokulturelles Produkt überhaupt vom Islam oder Buddhismus unterscheidet? Wieso die Bibel auslegen, wenn es keinen objektiven Standard für subjektive Interpretation gibt? Die Fragen des (post)modernen Menschen gehen tief und zielen auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ab.

Diese Frage entbrennt vor allem durch den Tempelkult der Moderne: die Wissenschaft. So will uns die Psychologie davon überzeugen, dass die erlebte Wirklichkeit Produkt unserer Subjektivität ist. Objektivität existiert nur in unserer Psyche. Evolutionstheorien wie auch Schöpfungstheorien haben beide ihren Ursprung in der menschliche Sehnsucht, Zukunft und Vergangenheit zu erklären. Aber gegen eine solche Vorstellung erhebt sich die Biologie. Die Evolutionstheorie hat eine objektive Grundlage. Mit ihr lässt sich das Funktionieren der menschlichen Psyche erst verstehen. Der Historiker hingegen sieht im evolutionistischen Entwurf des Biologen zum großen Teil das Produkt eines Zeitgeistes. Wenn die Zeiten sich ändern, werden sich auch unsere Gedanken über Zukunft und Vergangenheit ändern. Historismus, Biologismus und Psychologismus befinden sich mit vielen anderen Wissenschaften im Streit. Und da, wo wir uns um multidisziplinäre Wissenschaftszugänge bemühen, werden die Spannungen des antiken Pantheon aufs Neue belebt. Mit Max Weber gesprochen, sind die totgeglaubten Götter der Antike wieder auferstanden – in neuem Gewand.

Die Götter sind auferstanden, das ist die Situation, in der sich der (post)moderne Mensch befindet. Diese Situation beeinflusst sein Fragen und Suchen. Das Fragen des (post)modernen Menschen zielt nicht mehr nur auf Fakten, sondern auf einen philosophischen Lebensentwurf, der die Konflikte der Moderne überwinden kann. Der (post)moderne Mensch lebt in einer komplexen und globalen Welt. Diese Komplexität will er verstehen, sie abbilden, um sich in ihr sicher und verantwortlich zu bewegen.

Zur Zielgruppe dieses Buches zählt jeder, dem die Frage nach der Wirklichkeit wichtig geworden ist. Oft sprosst diese umfangreiche Frage mit ihrer tief kritischen Kraft während des universitären Studiums auf. Aber auch das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft stimuliert diese Frage. Und da, wo sie den Leser nicht unmittelbar begleitet, er aber einen Zugang zur Lebenswelt seines Kindes oder Enkels erhalten will, kann dieses Buch ebenso eine Hilfe sein.

Dieses Buch ist dialogisch angelegt und verfolgt ein lebensphilosophisches Interesse. Es sucht das Gespräch mit dem heutigen (post)modernen Menschen. Es will den Menschen von heute, ob Christ oder Nichtchrist, ob religiös oder agnostisch, ernst nehmen. Seine Ängste und Unsicherheiten, seine kritischen Gedanken und Sehnsüchte sollen gehört und verstanden werden.

Dieses Buch möchte aber nicht nur zuhören und Sympathie empfinden. Es möchte experimentieren. Es möchte versuchen, als Rebellion gegen die Auferstehung der modernen Götter in neuem Gewand, die biblischen Propheten hörbar werden zu lassen. Nachdem in den ersten Kapiteln der Hintergrund unseres heutigen Lebensgefühls und Denkens erläutert wurde, soll im weiteren Verlauf versucht werden, die zu interpretierende Wirklichkeit aus den Augen der biblischen Propheten zu sehen. Wie würde unser heutiges Fragen aus Sicht der Propheten verstanden werden? Wie würden die Propheten den Subjektivismus und naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der unser Denken heute so sehr herausfordert, interpretieren? In diesem Buch wird als Experiment versucht, die Wirklichkeit so abzuzeichnen und zu besprechen, wie sie sich im prophetischen Geist darstellen würde. Während des Zeichnens dieses Bildes soll der Dialog mit dem (post)modernen Menschen fortgesetzt werden. Dabei soll der Dialog eine kritische Dimension erhalten, indem die prophetische Wirklichkeitsinterpretation den populären Wirklichkeitsinterpretationen wie ein Spiegel entgegengestellt wird.

In diesem Buch kommt es immer wieder zu einer dialogischen Konfrontation, die den Leser zum Nachdenken herausfordert. Er soll angeregt werden, sich selbst zu reflektieren und seine eigene Meinung zu bilden. Er soll sich und sein Denken besser verstehen und den Mut erhalten, seinen eigenen Weg ins Leben zu finden. Der Autor hofft, dass dieser Weg nicht alleine beschritten wird, sondern, ganz im prophetischen Geiste, mit dem, der die Wegwahl überhaupt erst möglich macht.

AUFBAU DES BUCHES

Das Buch ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Der erste Abschnitt (I) versucht den Status quo des (post)modernen Menschen, seine Grundfragen und sein Lebensgefühl zu klären. Dabei wird das Fundament seines Denkens und Interpretierens analysiert und mit dem prophetischen Verständnis von Wirklichkeit konfrontiert. Im zweiten Abschnitt (II) soll auf einzelne einflussreiche Denkgebäude, die auf dem (post)modernen Fundament stehen (z. B. Interpretation von Geschichte, Interpretation von Kultur), eingegangen werden. Auch hier soll die prophetische Alternative zum (post)modernen Entwurf die kritische Komponente im Dialog mit dem heutigen Menschen darstellen. Diese Gegenüberstellung soll dem Leser helfen, seinen eigenen Ort zu bestimmen und sich mit ihm kritisch auseinanderzusetzen. Während in den ersten beiden Abschnitten dem Leser die prophetische Wirklichkeitsinterpretation »vorgelesen« wird, soll der Leser im dritten Abschnitt (III) in die Kunst des Lesens der prophetischen Literatur eingeführt werden. Er soll in gewisser Weise vom »Vorlesen« unabhängig werden und dem prophetischen Philosophieren unvermittelt begegnen können. Er soll selber lesen können. Im letzten und vierten Abschnitt (IV) soll die historische Qualität der prophetischen Texte kritisch behandelt werden. Es geht um Bibelkritik. Während sich die ersten zwei Abschnitte mit der prophetischen Interpretation von Wirklichkeit auseinandergesetzt haben, bleibt die Frage offen, ob diese Interpretation nur von unserer Sehnsucht gestützt wird oder ob sie auch von der historischen Wirklichkeit bestätigt werden kann. Dabei werden die klassischen bibelkritischen Argumente untersucht werden. Lassen sich die prophetischen Aussagen mit der Wirklichkeit decken?

Für alle Abschnitte gilt, dass in die besprochenen Themen nur eingeführt werden kann und sie darum nicht in Vollständigkeit abgehandelt werden. Allerdings sind jedem Kapitel Literaturhinweise hinzugefügt, die eine ausgiebige und dem aktuellen Stand angepasste Vertiefung ermöglichen.

AUFBAU DER KAPITEL

Im Prinzip besitzen alle Kapitel den gleichen Aufbau. In der Einleitung wird in das Thema eingeführt. Dabei wird vor allem im zweiten und dritten Abschnitt mit einem biografischen Ausschnitt eines (post)modernen Menschen begonnen. Diese biographischen Ausschnitte sind realistisch und basieren auf der Erfahrung tatsächlich existierender Menschen (Namen und Ortsangaben geändert). Sie sollen helfen, einen lebensnahen Zugang zum Thema zu gewinnen. Des Weiteren geben sie Einblick in die Erlebnis- und Denkwelt des (post)modernen Menschen.

Nach der Einleitung wird das jeweilige Thema in aufeinanderfolgenden Abschnitten behandelt. Jedes Kapitel wird mit einer »Klärung« abgeschlossen. In dieser Klärung wird das Besprochene zusammengefasst und mit konkreten Fragen, die auch als Übungen verstanden werden dürfen, vertieft.

Die insgesamt 21 Kapitel bauen aufeinander auf. Dennoch können die jeweiligen Abschnitte auch als in sich abgeschlossene Themenkomplexe verstanden werden. Aber ein vertieftes Verstehen eines späteren Abschnitts ist nur unter dem Einbezug eines früheren Abschnitts garantiert. Gerade der erste Abschnitt (Kapitel 1 bis 6) ist äußerst wichtig und Grundlage für alles Darauffolgende. Diese ersten Kapitel sind in ihrer Art komplexer als der Rest des Buches, aber mit ihnen erschließt sich ein faszinierendes Verständnis der Wirklichkeit aus prophetischer Sicht. Mit diesem Verständnis lassen sich viele (post)moderne Herausforderungen sinnvoll verstehen und beantworten. Ab dem zweiten Abschnitt lesen sich die Kapitel wesentlich einfacher.

Auch wenn jedes Kapitel seinen Gegenstand nicht umfassend behandelt, ist es in den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Diskurses eingebettet. Literaturhinweise, die jedes Kapitel ergänzen, helfen, das Gelesene im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu kontextualisieren. Die Literaturhinweise haben nicht ausschließlich die Funktion, die Aussagen der jeweiligen Kapitel zu bestätigen, sondern sind als Reflexionsmaterial zu verstehen, mit dem die ausgeführten Gedanken dieses Buches kritisch reflektiert und weitergeführt werden können. Das Buch ist also nur ein Anfang, eine Hilfe zum weiteren Nachdenken. Das ist dann auch der Grund, weshalb die einzelnen Kapitel mehr als Meditationen und Reflexionen zu verstehen sind und nicht als endgültige Antworten. Und so wird der Leser schnell feststellen, dass im Textverlauf das Wort »Reflexion« häufig stellvertretend für »Kapitel« gebraucht ist.

HOFFNUNG

Als Autor dieses Buches wünsche ich mir drei Dinge. Als erstes hoffe ich, dass der Leser einen Zugang zu sich selbst findet. Dass er sich selbst verstehen und kritisieren kann. Dass der prophetisch-philosophische Entwurf in der Lage ist, ihn zu spiegeln, sodass der Leser sich selbst ansehen kann. Die Momente, in denen wir uns selbst sehen, sind äußerst selten – vielleicht auch, weil sie häufig schmerzvoll sind. Aber ohne diesen Selbstanblick bleibt man blind fürs Leben. Zweitens hoffe ich, der Leser erkennt, dass er mit seiner Gedanken- und Lebenswelt nicht allein steht. Oft übermannen einen der Zweifel und die Komplexität unserer Gedanken, sodass sie uns auch vom Anderen trennen und uns einsam fühlen lassen: »Sicher ist niemand solchen Gedanken, solchen Zweifeln und solchen Ängsten ausgesetzt wie ich.« In der Einsamkeit müssen wir meist feststellen, dass unsere Kraft und Disziplin nicht ausreicht, unser Denken und Fühlen zu meistern. Aus Scham ziehen wir uns noch weiter zurück. Ich hoffe, dass dieser Rückzug mit dem Buch und seinen biografischen Ausschnitten unterbrochen wird und gewendet werden kann. Dass der Leser erkennt, dass er mit seinen Fragen und Sorgen Teil einer Gemeinschaft ist. Und drittens hoffe ich, dass der Leser in der prophetischen Wirklichkeitsschau den Anfang seines Lebens und in ihm den Sinn seines Lebens findet. Möge das Gelesene den Leser wie ein angenehm frischer Wind an die Ufer eines guten Gottes treiben.

Oliver Glanz

Rotterdam, im Januar 2012

Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren

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