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5 JENSEITS VON 1. UND 3. PERSON: PROPHETISCHES THEORIEDENKEN
ОглавлениеIt is forgotten that the secularization of life would have been impossible apart from the secularization of science, and that this scientific secularization has taken place under the overwhelming influence of the religious secularization effected by the post-Renaissance humanism. We have simply come to regard this situation as a fait accompli.
(Dooyeweerd, H. »The Secularization of Science«. Montpellier, 1953, 1.)
Literatur: Die Bibel, Genesis 1 - 2; »Enuma Elish the Epic of Creation«; Clouser, R. A. The Myth of Religious Neutrality: An Essay on the Hidden Role of Religious Belief in Theories. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2005; Frankl, V. E. »Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen«. In Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 20 – 29. München: Piper, 1998; Wolters, A. M. Creation Regained: Biblical Basics for a Reformational Worldview. Grand Rapids: Eerdmans, 2002; Woudenberg van, R. Gelovend Denken: Inleiding Tot Een Christelijke Filosofie. Amsterdam, Kampen: Buijten & Schipperheijn; KoK, 2004.
5.1 Einleitung: Vom prophetischen Alltagsdenken zum prophetischen Theoriedenken
Der biblische Schöpfungsbericht ist von elementarer Bedeutung, wenn man verstehen möchte, wie sich JHWH als Gott zum modernen Problem verhält. Während im Subjektivismus eine verabsolutierte 1. Person-Perspektive existiert (alles besteht und wird gesteuert durch das Ich – außer mir gibt es nichts anderes), gibt es im Objektivismus eine verabsolutierte 3. Person-Perspektive (alles besteht und wird gesteuert durch etwas außerhalb des Ichs – nur dieses Etwas ist unabhängig). Das Besondere des biblischen Berichtes ist, dass der Mensch darin weder durch ein Etwas völlig bestimmt wird, noch die Wirklichkeit durch ein Ich entsteht. Vielmehr macht der Schöpfungsbericht deutlich, dass der Sinn der eigenen Ich-Existenz immer nur in der Du-Begegnung liegt. Die eigene Subjektivität (1. Person-Perspektive) ist ein wichtiger Beitrag für die Du-Begegnung, denn nur wo es eine Ich-Perspektive gibt, kann ein Mensch dem anderen ein wirkliches Du sein. Die allgemeingültigen Naturgesetze, die den Menschen umgeben (3. Person-Perspektive), sind dabei eine notwendige Rahmenbedingung, die den Kontakt zwischen dem Ich und dem Du möglich machen.
Nun ist klar, dass der Schöpfungsbericht kein wissenschaftlicher Bericht ist, der auf spezifische Fragen nach Naturgesetzen und individueller Freiheit eingeht. Die Bibel ist nicht im Mikroskopdenkmodus geschrieben, sondern im Alltagsdenkmodus. Aber, und das ist wichtig, die Bibel erhebt den Anspruch, die Wirklichkeit richtig zu interpretieren. Und nachdem herausgearbeitet wurde, dass Denken nicht autonom ist, sondern immer von geglaubten Annahmen gesteuert wird (Reflexion 3), wird im nächsten Kapitel ein Experiment gewagt. Es soll überprüft werden, was mit dem Denken geschieht, wenn der biblische Schöpfungsbericht als Grundlage und Inspiration gebraucht wird.
5.2 Schöpfung und Gesetz
Täglich finden zwischenmenschliche Kontakte statt. Die Begegnung mit dem Kollegen auf der Arbeit oder in der Ausbildung, dem Freund oder Familienmitglied ist normal und für viele Menschen selbstverständlich. Eine solche Begegnung ist aber erst unter ganz spezifischen Voraussetzungen möglich.
Stefan und Julia müssen sich Raum, Zeit, einen bestimmten Sauerstoffgehalt, eine Körpertemperatur von ca. 37 Grad, eine ähnliche Sozialisierung, eine Sprache und vieles andere teilen, um eine sinnvolle Begegnung möglich zu machen. Diese Voraussetzungen sind normativ, d. h. wo sie nicht gegeben sind, kann auch keine Begegnung stattfinden.
Aus der biblischen Perspektive sind diese normativen Rahmenbedingungen durch JHWH garantiert. Die Bibel sieht darum nicht nur den Ursprung eines jeden geschaffenen Wesens in direkter Abhängigkeit von JHWH, sondern auch dessen Leben und Fortbestand (2. Petrus 3,5+7). JHWH schafft Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten als einen Rahmen, in dem die Schöpfung fortbestehen kann. Physikalische Ordnungen (z. B.Gesetze der Gravitation) oder biologische Ordnungen (z. B. Gesetze der Genetik) charakterisieren die Existenz alles Geschaffenen. Und so offenbaren die biblischen Propheten JHWH nicht nur als Schöpfer (Ursprung der Schöpfung), sondern auch als Gesetzgeber (Fortbestand der Schöpfung) (siehe Abb. 19).
Aufgrund dieser normativen Rahmenbedingungen ist es möglich, dass Kühe Gras essen können, Blätter Sauerstoff erzeugen, Vögel ihre Brutplätze finden, der Regen den Erdboden fruchtbar macht und Menschen sich mittels Sprache verständigen können. Das Zusammenleben der gesamten Schöpfung ist durch Gottes Gesetzgebung möglich und garantiert. JHWHs Gesetze als Rahmen für die Erhaltung der Schöpfung sind allumfassend. Sie betreffen die räumlichen, energetischen, biotischen, psychischen, logischen, historischen, linguistischen, ökonomischen und ästhetischen Seins-Aspekte des geschaffenen Lebens:
Die obige Tabelle stellt die verschiedenen Seins-Aspekte mit ihren charakteristischen Gesetzen dar. Die Tabelle wird nicht als definitiv verstanden, sondern als experimentell. Auch wenn man darüber diskutieren kann, inwiefern der ein oder andere Seins-Aspekt fehlt, so sind die dargestellten 15 Aspekte eine gute Ausgangsbasis für die weitere Reflexion. Dass jeder der genannten Aspekte einen Gegenstand für sich darstellt, wird durch die wissenschaftliche Disziplinenvielfalt bestätigt. Um jeden einzelnen Aspekt herum hat sich eine fachspezifische Wissenschaft geformt, die die spezifischen Gesetze analysiert.
Im Alltagsdenkmodus ist man sich dieser Seins-Aspekte nicht bewusst, da sie organisch miteinander verwoben sind. Sie werden erst im mikroskopischen Denkmodus sichtbar, wo sie aus dem organischen Zusammenhang abstrahiert werden. Zur Erinnerung: Im Alltagsdenken wird zwischen Dingen und Phänomen, nicht aber zwischen Seins-Aspekten unterschieden. Beispielsweise wird zwischen Mann und Frau unterschieden und wird dabei nicht der chemische Seins-Aspekt hervorgehoben, der sie charakterisiert.
Die Reihenfolge der verschiedenen Seins-Aspekte ist nicht willkürlich. Es sind ganz bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Aspekten, die eine solche Sequenz entstehen lassen. In Reflexionsabschnitt 5.3 wird ein kleiner Einblick in diese Aspektzusammenhänge gegeben.
Es ist wichtig festzuhalten, dass die Bibel keine detaillierte Beschreibung spezifischer Naturgesetze und ihrer Verhältnisse untereinander enthält. Dies liegt an der Tatsache, dass die biblischen Propheten ihre Weisheiten im Alltagsdenkmodus niedergeschrieben haben. Die biblischen Texte ermutigen aber jeden denkenden Menschen, sich beim wissenschaftlichen und philosophischen Nachdenken von der biblischen Darstellung der Wirklichkeit beeinflussen zu lassen.
Wie würde die Welt wissenschaftlich-philosophisch beschrieben werden können, wenn sie von den prophetischen Texten aus gedacht würde? Das soll hier versucht werden. Dabei sind folgende biblische Prinzipien grundlegend:
1. Es gibt eine allumfassende von JHWH gegebene Gesetzgebung, durch die alle geschaffenen Dinge existieren und funktionieren. Gesetze sind gegeben und damit nicht identisch mit Gott.
2. Nichts Geschaffenes kann isoliert bestehen, sondern nur im Zusammenhang mit anderem Geschaffenen. So hat JHWH die Welt geschaffen. Am Beispiel der Menschenschöpfung hat sich verdeutlicht, wie der eine nur mit dem anderen im Zusammenhang leben kann.
3. Nichts Geschaffenes kann sich zum Schöpfer eines anderen Geschaffenen erheben. JHWH allein bleibt Schöpfer und Erhalter alles Geschaffenen.
Der Alltagsdenkmodus ändert sich in den mikroskopischen Denkmodus (Theoriedenkmodus): Es kann gesagt werden, dass Gott seine Gesetze jedem Seins-Aspekt des Lebens gibt. Konsequenterweise sind beispielsweise die Gesetzmäßigkeiten des biotischen Seins-Aspektes nicht als Schöpfung oder Folge von Gesetzmäßigkeiten des energetischen Seins-Aspektes zu verstehen (rechte Grafik), sondern finden ihren Ursprung direkt bei JHWH (untere Grafik). Weder ein Wesen (z. B. die Sonne) noch ein Seins-Aspekt kann sich zum Ursprung des Lebens erklären lassen. JHWH allein entspricht der Gottes- und Schöpfer-Rolle für jedes existierende Wesen und jeden Seins-Aspekt. JHWH ist der radikale Anfang von allem (siehe Abb. 20).
5.3 Die Du-Natur von Gesetzen
Die obige Abbildung soll verdeutlichen, dass Reduktion aus einer biblischen Perspektive nicht möglich ist. Nun dürfen die Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Seins-Aspekte nicht als isoliert betrachtet werden. Es erklärt sich von selbst, dass die Gesetze des Raumes (räumlicher Seins-Aspekt, z. B. a2+b2=c2) mit den Gesetzen der Bewegung (kinematischer Seins-Aspekt, z. B. Gesetz der Wellenbewegung) und den Gesetzen der Energie (z. B. Thermodynamik) in engem Zusammenhang stehen. Die Natur dieses Zusammenhangs ist identisch mit der Natur der Schöpfung an sich! Wie bereits in Reflexion 4 gezeigt wurde, besteht der Mensch immer nur im Kontext des Mitmenschlichen. Außerhalb dieser Beziehung existiert er nicht. Zwar könnte man abstrakt über die Existenz des einen Individuums reden, aber in der konkreten Wirklichkeit besteht das eine Individuum immer erst im Kontext der Mitmenschlichkeit. Ganz gleich verhält es sich dabei mit den Gesetzen der verschiedenen Seins-Aspekte. Zwar kann man sie isoliert beschreiben, aber die biotischen Gesetzmäßigkeiten bestehen immer nur im Kontext der energetischen, räumlichen und anderen Gesetzmäßigkeiten. Man könnte sagen, dass jeder Seins-Aspekt immer nur in der »Du-Begegnung« mit anderen Seins-Aspekten besteht. So wie Eva erst mit Adam existiert, aber ihren Ursprung nicht in Adam, sondern in JHWH findet, können biotische Gesetze nicht ohne energetische Gesetze (Chemie) existieren. Dabei sind sie nicht reduzierbar auf chemische Prozesse (JHWH ist radikaler Anfang von allem!). Da keine Gesetzmäßigkeit eines Seins-Aspekts auf die Gesetzmäßigkeit anderer Seins-Aspekte reduzierbar ist, sprechen einige Philosophen von »Sphären-Souveränität«. Damit wollen sie betonen, dass jeder Seins-Aspekt des geschaffenen Lebens seine eigene unableitbare Sphäre hat. Diese Sphäre existiert zwar nur im Zusammenhang mit den anderen Sphären, hat aber ihre ganz eigene Gesetzesidentität, die nur von Gott und nicht von einem anderen Seins-Aspekt her abzuleiten ist.
Aus einer biblischen Perspektive wird versucht, die in Reflexion 3 erwähnten Seins-Aspekte in einen unableitbaren Zusammenhang zu stellen (siehe Abb. 21).
→ »Zusammenhang« heißt: Keine Gesetzmäßigkeit eines Seins-Aspekts existiert isoliert von den Gesetzmäßigkeiten anderer Seins-Aspekte. Die Existenz des einen Seins-Aspekts ist damit Voraussetzung (nicht Ursache!) für die Existenz eines anderen Seins-Aspekts.
→ »Unableitbar« heißt: Keine Gesetzmäßigkeit eines Seins-Aspekts ist reduzierbar auf die Gesetzmäßigkeit eines anderen Seins-Aspekts. Die Gesetze des Raumes produzieren nicht die Gesetze der Bewegung. Jeder Seins-Aspekt hat seine eigene »Sphären-Souveränität«, die er von JHWH (Ursache!) erhalten hat.
Das Phänomen des unableitbaren Zusammenhangs soll konkret betrachtet werden. Dabei wird die Du-Natur der Seins-Aspekte deutlich werden. Als erstes wird der Zusammenhang zwischen den ersten beiden Seins-Aspekten betrachtet:
Die Abb. 22 zeigt, wie der räumliche Aspekt mit seinen Gesetzen den quantitativen Aspekt mit seinen Gesetzen voraussetzt. Der räumliche Aspekt weist damit zurück auf den quantitativen Aspekt. Allerdings verweist der quantitative Aspekt ebenso auf den räumlichen Aspekt und muss diesen voraussetzen, denn Zahlen werden räumlich gedacht und organisiert (1 - 2-3 als Linie; 1 vor 3; 3 neben 2). Man kann darum nicht behaupten, dass der quantitative den räumlichen Aspekt oder der räumliche den quantitativen Aspekt verursacht. Klar ist aber, dass beide Aspekte einander ermöglichen und bedingen. Erst in der Du-Begegnung existieren sie auch.
Alle Aspekte zeigen sich auf der einen Seite in gegenseitiger Bedingtheit und auf der anderen Seite mit Bezug auf ihre Existenzursache in Unabhängigkeit voneinander. Das wird auch am Beispiel des linguistischen Seins-Aspekts deutlich (siehe Abb. 23): Der linguistische Seins-Aspekt retrozipiert (weist zurück) und antizipiert (weist voraus). Damit existiert er in Abhängigkeit zu den anderen Aspekten. Der Aspekt ist insofern souverän, als dass es keine Möglichkeit gibt, ihn als eine Schöpfung eines anderen Aspektes zu betrachten. Dafür ist jeder andere Aspekt zu sehr abhängig vom Sprachaspekt.
Heute werden vor allem der biotische (Biologie), energetische (Chemie) oder kinetische (Physik) Seins-Aspekt verabsolutiert. Der gegenwärtige Mensch ist geneigt, die Welt vor allem aus einer materialistischen, bio-chemischen Perspektive zu betrachten (Evolution). Aber genauso selbstverständlich hat man am Anfang des 20. Jahrhunderts den linguistischen Aspekt verabsolutiert. Richard Rorty beschreibt diese Zeit als »linguistic turn«. Wittgenstein, Heidegger, Gadamer und die postmodernen Philosophen wie Foucault und Derrida erklärten, dass das ganze menschliche Leben von der Sprache geprägt ist. Mit Hilfe der Sprache erst kann der Mensch die Welt interpretieren, das Leben ordnen, Macht über andere ausüben, denken. Die Sprache ermöglicht erst, dass eine konkrete Vorstellung von der Wirklichkeit hergestellt wird. Aber Sprache verhindert auch einen direkten Zugang zur Realität. Was als Wirklichkeit erlebt wird, ist immer nur versprachlichte Wirklichkeit. Das erinnert an Kant, der Ähnliches behauptet, dabei aber nicht den linguistischen Aspekt, sondern den sensorisch-psychischen Aspekt verabsolutiert. Für Kant sind die räumlichen, kinematischen, logischen Gesetze Bestandteil der Wahrnehmungskategorien. D.h. Höhe, Breite, Tiefe sind erfahrbar, Logik und Unlogik kann erkannt, Bewegung und Stillstand ausgemacht werden, nicht weil die Wirklichkeit Dreidimensionalität, Logik oder Bewegung enthält, sondern weil die menschliche Sensorik die Welt so zugänglich macht. Die Welt kann gar nicht anders erlebt werden, weil die menschlichen sensorischen Kategorien vorgeben, die Welt in einer bestimmten Art und Weise zu erleben. Während also die Welt bei Kant durch die Sensorik geschaffen wird, wird in der Bewegung des »linguistic turn« die erlebte Welt durch die Sprache geschaffen.
Der »linguistic turn« hat gezeigt, dass alles mit Sprache zu tun hat. Alles beruht auf und ist abhängig von Sprache. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Universalität der Sprache auch für alle anderen Seins-Aspekte gilt (siehe Kants Sensorik!). Man könnte darum sagen: »Alles ist sprachlich, aber Sprache ist nicht alles.« Und: »Alles ist Wahrnehmung, aber Wahrnehmung ist nicht alles.« Die Universalität der Seins-Aspekte erklärt dann auch die Vielzahl an Analogien, die im täglichen Sprachgebrauch gepflegt werden, z. B. gesellschaftliches Leben (biotische Analogie des soz. Seins-Aspekts), gesellschaftliche Elemente (quantitative Analogie des soz. Seins-Aspekts), Gesellschaftsdynamik (kinematische Analogie des soz. Seins-Aspekts). Wegen der »Universalität« der einzelnen Seins-Aspekte wird auch verständlich, warum die Versuchung groß ist, sie zu verabsolutieren.
Wer die gegenseitige Abhängigkeit aller Seins-Aspekte besser verstehen möchte, sollte die obigen Literaturempfehlungen ernst nehmen.
5.4 Universalität der Gesetze JHWHs
Es wird davon ausgegangen, dass JHWHs Gesetze den objektiven Rahmen schaffen, in dem die Begegnung von Geschaffenem erst möglich wird. Zwei Menschen können einander nur begegnen, wo sie teilhaben an Raum, Zeit und Energieprozessen. Diese Voraussetzung trifft auch auf die Begegnung von Mensch und Vogel oder Mensch und Gestein zu. JHWHs Gesetze durchdringen damit die ganze geschaffene Wirklichkeit. Der Psalmist sagt, dass alles auf seine Stimme hört (z. B. Psalm 147,15 - 18; Psalm 148,5 - 8), wenn er das Verhältnis der Gebote Gottes zur Schöpfung beschreibt. Für den Theoriedenkmodus hat das wichtige Folgen: Alle Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Seins-Aspekte sind in allem Geschaffenen anwesend. Auf diese Weise befindet sich die Schöpfung in der gleichen Matrix. So wird die Du-Begegnung ermöglicht.
Die Abb. 24 zeigt vier verschiedene konkrete Dinge, die unterschiedlicher nicht sein können. Aus der Perspektive biblischen Theoriedenkens besteht jedes Ding auf seine ganz eigene Art in allen Seins-Aspekten. Der Fels existiert unter anderem im quantitativen, räumlichen, kinematischen und energetischen Sinne. Damit ist gemeint, dass der Fels aktiv in diesen Eigenschaften den Gesetzen der Quantität, des Raumes, der Bewegung und der Energie untergeordnet bzw. gehorsam ist. Den Gesetzmäßigkeiten der restlichen Aspekte (biotisch-fidelisch) ist der Fels zwar untergeordnet, aber nur passiv. In Bezug auf den biotischen Aspekt ist damit gemeint, dass der Fels selbst nicht lebt. Im Gegensatz dazu existiert der Adler im biotischen Aspekt »aktiv«. Dass der Fels dennoch, wenn auch passiv, eine biotische Qualität besitzt, wird in dem Moment sichtbar, wenn der Adler zum Schutz seiner Jungen sein Nest in den Felsen baut. Auf gleiche Weise hat z. B. Wasser eine passive biotische Eigenschaft. Wasser lebt nicht, wird aber von Lebewesen zum Leben benötigt. Passiv existiert der Fels auch im psychisch-sensorischen Bereich. Eigentlich kann der Fels nicht fühlen. Aber der Fels kann gefühlt werden. Das gleiche trifft auf den linguistischen Aspekt zu. Der Fels kann nicht sprechen, aber er kann von Menschen besprochen und benannt werden. Wenn der Fels keine passive ökonomische Qualität besitzen würde, könnten bestimmte Felsen (z. B. Granit) keinen Wert für Menschen haben. Die biotischen/sensorischen/linguistischen/ökonomischen Seins-Aspekte des Felsen sind dann in dem Sinne vorhanden, dass andere konkrete Dinge (z. B. der Adler, der Mensch) seine jeweilige passive Qualität aktivieren können. Das ist nur möglich, weil der Fels eben den gleichen biotischen, sensorischen/psychischen, linguistischen und ökonomischen Gesetzen unterliegt wie der Adler und der Mensch. Auch hier zeigt sich erneut der Ich-Du-Charakter der Schöpfung. Das Sein des Wassers kommt erst in der Du-Begegnung mit dem Vogel oder dem Menschen völlig zur Geltung.
Fazit: Wer man wirklich ist, kann nur in der Begegnung festgestellt werden!
Nicht nur Lebewesen oder Materialien existieren in den verschiedenen Seins-Aspekten, auch Phänomene, Handlungen und Ereignisse sind dem Gesetz JHWHs unterordnet. So hat Deutsch als konkrete Sprache z. B. auch eine räumliche Eigenschaft, sonst könnten keine Sprachgebieten eingeteilt werden. Seine passiven sensorisch-psychische Eigenschaft wird deutlich, wenn es zum Sprachgefühl kommt. Die passive historische/kulturelle Qualität wird sichtbar, wenn der Mensch Sprachentwicklung als kulturelle Handlung ermöglicht.
Die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Seins-Aspekten macht auch verständlich, wieso wir Menschen im Alltagsleben die Welt meist in Materialien, Lebewesen und Menschen unterteilen. »Leblose« Materialien wie Eisen oder Sand existieren gemeinsam aktiv nur vom quantitativen bis energetischen Seins-Aspekt. Im Gegensatz zu Menschen existieren Lebewesen aktiv nur in den quantitativen bis sensorisch-psychischen Seins-Aspekten. Der Mensch existiert in allen Seins-Aspekten aktiv.
5.5 Gesetze und Normen
Wenn die Gesetze, die die einzelnen Seins-Aspekte dominieren, genauer betrachtet werden, wird klar, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den ersten sechs Seins-Aspekten (Quantität – Sensorik) und den letzten neun (Logik – Glauben) gibt. Der Unterschied liegt in der Natur der Gesetze, die diese Seins-Aspekte charakterisieren. Die Gesetze der Quantität, Geometrie, Physik, Chemie, Biologie und Sensorik kann man nicht übertreten. Wer von einer Brücke springt, wird nicht fliegen, und wer eine Adrenalinausschüttung erlebt, wird nicht schlafen können. Diese Gesetze wirken in einem gewissen Sinne direkt und unmittelbar. Die anderen Gesetze wie z. B. der Logik (z. B. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten) haben eine indirekte Natur. Die Realisierung dieser Gesetze findet nur indirekt statt (siehe Abb. 25).
Die Gesetze der Logik beherrschen den Menschen nicht in der direkten Weise, wie es die Gesetze der Physik tun. Der Mensch kann widersprüchlich denken, wenn er möchte. Der Mensch hat die Freiheit, die Gesetze der Logik zu beachten und ihnen zu gehorchen oder sie zu missachten und sich ihnen zu widersetzen. Es hängt also von der Willensentscheidung des Menschen und seinem Handeln ab, ob die Gesetze der Logik positiv aktiviert werden oder nicht. Bei einer positiven Einstellung vermitteln die Eltern den Kindern Gottes Gesetze zur Logik (siehe Abb. 26).
Die Bibel beschreibt auf zwei Weisen, wie JHWH seine Gesetze in die Welt einführt. Manche Gesetze führt er unmittelbar und direkt ein, während er andere Gesetze mittelbar und somit indirekt einführt. Ähnlich wie ein Geschäftsführer, der manche seiner Anordnungen selber ausführt (unmittelbar), aber andere Anordnungen durch seine Angestellten ausführen lässt (mittelbar), lässt JHWH manche Anordnungen auf direktem Wege ausführen, während er andere Anordnungen durch den Menschen ausführen lässt. Und so kann das Blatt bei Sonneneinstrahlung nicht die Photosynthese verweigern, da JHWH seine biotischen Gesetze direkt und unmittelbar ausführen lässt. Aber die Gesetze der Ethik (z. B. »Du sollst nicht töten.«) werden nur realisiert, wenn der Mensch sich dazu entscheidet, sie auszuführen. Die historisch/kulturellen Gesetze (z. B. »Macht euch die Erde untertan.«) werden da ausgeführt, wo Zivilisationen entstehen, die Technik des Ackerbaus entwickelt wird, Energieerzeugung entdeckt und Regierungsformen ausgedacht werden.
Auch in der Wissenschaft wird unterschieden zwischen den Seins-Aspekten, die von direkten und unmittelbaren oder indirekten und mittelbaren Gesetzen charakterisiert werden. Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit den unmittelbaren Gesetzen und deren dazugehörigen Seins-Aspekten. Dagegen beschäftigen sich die Humanwissenschaften mit den mittelbaren Gesetzen und deren dazugehörigen Seins-Aspekten.
Um diesen Unterschied zu unterstreichen, werden die indirekten und mittelbaren Gesetze als Normen bezeichnet.
Fazit: Gesetze bezeichnen die direkt ausgeführten Gesetze JHWHs (Naturgesetze), während Normen die indirekt von JHWH ausgeführten Gesetze bezeichnen.
Normen zielen auf die Freiheit und Verantwortung des Menschen ab. JHWH macht den Menschen für die Ausführung seiner Normen verantwortlich. Der Mensch ist aufgefordert, die Normen zu beachten und sie zu aktivieren. Wie dies geschieht und welche Auswirkung ein prophetisches Verständnis von Normen auf unser Wirklichkeitsverständnis und unsere Du-Begegnung hat, werden wir in unserer folgenden Reflexion sehen. Dabei werden wir uns mit dem Phänomen des kulturellen Relativismus beschäftigen. Im folgenden Buchabschnitt soll vor allem in Reflexion 9 und 10 deutlich werden, dass theoretisches Denken (Philosophie und Wissenschaft) nicht einfach nur als Gedankenspiel betrachtet werden kann, sondern als eine Notwendigkeit, wenn wir unser Alltagsleben besser verstehen und ausleben wollen.
5.6 Klärung
Wir haben in dieser Reflexion versucht, uns von den biblischen Texten inspirieren zu lassen, um zu sehen, wie die Welt in der Folge für Wissenschaft und Philosophie aussehen könnte. Die Darstellung ist nicht mehr und nicht weniger theoretisch als andere wissenschaftliche Theorien. Die Evolutionstheorie oder der erwähnte »linguistic turn« sind ebenso hypothetisch und beruhen auf Annahmen, die nicht zu beweisen sind. Die Glaubhaftigkeit einer Theorie lässt sich darum nie zu 100 Prozent beweisen. Am Ende muss man immer den Annahmen einer Theorie vertrauen. Dennoch kann man die Annehmbarkeit einer Theorie prüfen: Je sinnvoller eine Theorie den erlebten Alltag und die Resultate der Wissenschaft erklären kann, desto glaubwürdiger ist sie.
Keine modernistisch-reduktionistische Theorie wird der Komplexität unseres alltäglichen Lebens gerecht. So kann die Evolutionstheorie einige Phänomene unserer Wirklichkeit stimmig und sinnvoll erklären, aber die Erklärungen etlicher anderer Phänomene (z. B. Liebe oder Selbstmord trotz bester Überlebenschancen [starker Körper, Geist, Psyche]) sind häufig nicht zufriedenstellend. Die Tatsache, dass der Mensch zu einem gewissen Maße frei ist und ein Gewissen besitzt, bestimmte Krankheiten vererbt werden, der Mensch Kultur schafft und durch sie geprägt wird, Selbstmorde stattfinden, obwohl genug Nahrung und Wohlstand vorhanden sind, mancher Mensch aus Liebe für den anderen sein Leben aufs Spiel setzt, sich Gläser bei spiritistischen Treffen rücken lassen, kann nur im Theoriedenkmodus völlig ernst genommen werden, wo eine nicht-reduktionistische Vorstellung über unsere Welt besteht. Diese Reflexion zeigt, dass da, wo das Nachdenken von den Berichten der biblischen Schreiber beeinflusst wird, eine theoretische und nichtreduktionistische Weltanschauung entsteht. Diese Anschauung integriert sinnvoll Alltagserfahrung und wissenschaftliche Forschungsergebnisse und ist in der Lage, aus der Zwickmühle von Objektivismus und Subjektivismus zu einem Verständnis von der wahren Natur des Lebens zu führen, die die Du-Begegnung mit Mitmensch und Mitschöpfung ermöglicht.
Folgende Übungen bieten sich zur Vertiefung der vorigen Seiten an:
→Es gibt die bekannte und paradoxe Erzählung von Zeno von Elea über Achilles und die Schildkröte. Die beiden beschließen, einen Wettlauf zu organisieren, bei dem die langsamere Schildkröte einen kürzeren Abstand als der schnelle Achilles zurücklegen muss. Zeno erklärt, dass Achilles die Schildkröte nie einholen wird. Warum ist das so? Wie kann das Paradoxon gelöst und erklärt werden? Die Lösung lässt sich da finden, wo die einzelnen Seins-Aspekte als nicht reduzierbar angesehen werden.
→Der Aufenthalt in Krankenhäusern wird immer teurer. Das liegt unter anderem daran, dass Krankenhäuser mittlerweile als Wirtschaftsbetriebe gesehen werden, die Gewinn machen müssen. Überhaupt hat man den Eindruck, dass unsere Gesellschaft immer mehr auf ihren ökonomischen Aspekt reduziert wird. Alles muss Gewinn abwerfen, ansonsten hat es keine Daseinsberechtigung. Das widerspricht zu einem großen Teil dem sozialen Auftrag des Krankenhauses, sich um physisch kranke Menschen zu kümmern. Ganz ähnlich scheint die Polizei sich manchmal mehr um das für den Staat lukrative Verteilen von teuren Strafzetteln zu bemühen als um die Bewachung der sozialer Ordnung. Wie kann das gegenwärtige Problem aus der Perspektive unserer Seins-Aspekte analysiert und besser verstanden werden? Eine weiterführende Erklärung bietet der Text »A Non-Reductionistic Theory of Society« in Clouser, R. A. The myth of religious neutrality: an essay on the hidden role of religious belief in theories. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2005.