Читать книгу Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren - Oliver Glanz - Страница 8

1 WOFÜR NOCH KÄMPFEN?

Оглавление

I belong to the Blank Generation. I have no beliefs, I belong to no community, tradition, or anything lith that. I‘m lost in this vast, vast world. I belong nowhere. I have absolutely no identity.

(Veith, G. E. Postmodern Times: a Christian Guide to Contemporary Thought and Culture. Wheaton: Crossway Books, 1994, 72)

Literatur: Heschel, A. J. God in Search of Man: A Philosophy of Judaism. New York: Farrar, Straus and Giroux, 1997; Plantinga, A. »On Christian Scholarship«, n.d. http://www.calvin.edu/​academic/​philosophy/​virtual_library/​articles/​plantinga_alvin/​on_christian_scholarship.pdf; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.

1.1 Einleitung: Beobachtungen

Unser Leben heute ist ganz anders als das Leben vor 50 oder 200 Jahren. Unser Lebensgefühl ist ein anderes, unsere Probleme sind auch anders. Während die ökologische Herausforderung, die Terrorgefahr und die bedrohlich wachsende Weltbevölkerung uns meist nur noch über die Medien begegnen, ist unser gewöhnlicher Alltag ganz subtil, aber dominant, von der Spannung zwischen Subjektivismus und Objektivismus geprägt. Was das bedeutet und wie sich diese Spannung als zentrale Spannung unseres modernen Lebens darstellt, wird in dieser Reflexion behandelt.

Die Spannung zwischen Subjektivismus und Objektivismus erlebt heute jeder Mensch, egal ob Putzfrau oder Professor, ob religiös, atheistisch oder agnostisch. Sie liegt in jedem Menschen. Diese Spannung ist so dominant und allgegenwärtig, dass sie gar nicht mehr registriert wird, aber in den meisten Handlungen, Gesprächen und Entscheidungen vorausgesetzt ist. Schlussendlich hat diese Spannung den modernen Menschen in ein Dilemma gebracht, ihm seine Träume, Ideale, den Lebenssinn und dessen Würde genommen – nicht da draußen in der sogenannten Dritten Welt, sondern hier: in Amsterdam, in München und in Genf. Die Moderne ist Opfer dieser Spannung.

Bevor ich erkläre, was Subjektivismus und Objektivismus genau sind, werde ich an zwei konkreten Beispielen diese Spannung sichtbar machen:

1. Alltagssubjektivismus: An einem kühlen Sommerabend in der Amsterdamer Altstadt sind ein Freund und ich auf der Suche nach einem Café, das zur Stimmung passt. Dabei treffen wir zwei Studenten im Alter von ca. 25 Jahren. Es ergibt sich, dass wir sie nach ihrer Studienrichtung fragen und was sie motiviert, zu studieren. Der eine studiert Politikwissenschaften, der andere Biologie. Mit ihrem Studium verfolgen sie keinen Traum, kein Ideal spornt sie an, und an Karriere denken sie auch nicht wirklich. Von einer besonderen Motivation kann darum auch nicht die Rede sein – eher von Lethargie. Man studiert, weil jeder studiert, und als Nichtstudierter hat man auf dem Arbeitsmarkt heute kaum noch Chancen. Aber die beiden Studenten sehnen sich nach Idealen, nach etwas, wofür man sein Leben investieren könnte. »So wie damals unsere Eltern«, meinen sie. Als ihre Eltern so alt waren wie sie (60er und 70er Jahre), haben sie in den Studentenbewegungen (68er-Bewegung), den Bürgerrechtsbewegungen (Martin Luther King) und der Hippiebewegung (Woodstock) das eigene Leben für die eigenen Überzeugungen aufs Spiel gesetzt! Es gab Dinge, die waren wichtiger als das eigene Leben. Das ist heute anders, vielleicht werden wir uns einmal mit aller Leidenschaft um die Rettung unserer Umwelt bemühen – aber dann wohl eher aus Gründen der Selbstrettung und weniger aus Idealismus. Wer wählt heute noch eine Partei aus ideologischen Gründen? Man wählt nicht die Sozialdemokraten oder Liberalen, weil man Sozialdemokrat oder Liberaler ist, sondern weil in den nächsten vier Jahren besser regiert werden soll. Der heutige Mensch ist Pragmatiker.

»Die Eltern sitzen schon seit Jahren abends vorm Fernseher mit einem kühlen Bier auf dem Tisch. – Warum sind unsere Eltern keine Aktivisten mehr? Warum haben wir keine großen Ideale mehr?«, fragen die zwei Studenten. Je moderner und offener unsere Welt wurde, desto mehr haben wir entdeckt, dass es endlos viele Religionen gibt, politische Ideen, unterschiedliche Gesellschaftsordnungen, Tausende Arten, die Welt zu sehen. Es ist schwer, heute noch von »dem« Ideal zu sprechen, wo es so viele verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Ideale gibt, alle mit ihrer eigenen Rationalität. Wir leben in einer subjektiven Welt, jeder sieht die Welt anders. »Die Welt« gibt es nicht, sondern immer nur »meine Welt in meinen Augen«. »Den Traum« gibt es nicht. Immer nur »meinen Traum in meinem Herzen«. Wahrheit? »Meine Wahrheit« (siehe Abb. 1)!

Vom »Wir« redet man schon lange nicht mehr, es gibt zu viele Unterschiede zwischen dir und mir – das ist gemeint, wenn vom »Subjektivismus« gesprochen wird. Damit sind auch die gemeinsamen Ziele, Ideen und Träume, für die es wert ist, sein Leben zu riskieren, verloren gegangen. Das, was unsere Eltern in den 60ern und 70ern ausgemacht hat, war, dass sie einer Gruppe, einem »Wir« angehörten und zusammen mit anderen an der Verwirklichung eines Traumes arbeiteten. Heute sind die meisten Eltern keine Idealisten mehr, sondern nüchterne Realisten, Pragmatiker, vielleicht sogar Pessimisten. »Heute sagen unsere Eltern, dass sie früher naiv waren.« Bald hat auch sie der Subjektivismus zerschlagen und erkennen lassen, dass das, was sie glaubten, nicht der Glaube der anderen war. Es gibt nichts mehr, was man mit anderen teilen könnte. Wir sind alle subjektiv, und was der andere denkt und träumt, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Alle großen Ideen sind dahin. Die Religionen, der Nationalismus, der Kommunismus und seit ein paar Jahren auch der Kapitalismus. Wenn du Ideale hast, dann bist du noch nicht erwachsen. Vom »Wir« redet nur das Kind. Selbst die polnische, tief katholische Putzfrau sagte, nachdem eine Bekannte gestorben war: »Maria wird uns beistehen. Zumindest glaube ich das.«

Fazit: Im Subjektivismus gibt es keine Allgemeingültigkeit. Objektive Wahrheit gibt es nicht. Alles ist subjektiv. Der Subjektivismus ist die Absolutierung der 1. Person-Perspektive! Es gibt nicht mehr das eine Ideal, für das alle gemeinsam kämpfen können.

2. Alltagsobjektivismus: Vor einiger Zeit trafen wir uns mit verschiedenen Wissenschaftlern in Den Haag. Dabei kam es zu einem Gespräch mit einer russischen Neurophysikerin, Alexandra. Ihre Forschung bestand darin, zu untersuchen, wie menschliche Emotionen durch atomare Bewegungen in den Nervenbahnen gesteuert werden. Die Ergebnisse ihrer Forschung werden helfen, ganz neue Medikamente für bestimmte Depressionsarten zu entwickeln. Was sie daran fasziniere, fragten wir sie. »Nichts so wirklich«, war die Antwort. Und wieder begegnet uns diese Lethargie. Ihre Forschung wird mit gutem Geld von der Pharmaindustrie bezahlt … Danach erzählte sie ganz verliebt von ihrem neuen Freund. Das verwunderte uns. Wie kann sie so ehrlich über ihr Verliebtsein reden, wenn am Ende jedes Gefühl durch naturgesetzliche atomare Vorgänge im Nervensystem vorherbestimmt ist. Nicht »ich« bin verliebt, sondern ein biochemischer Prozess lässt mich verliebt sein. Gib mir ein anderes Medikament und ich werde die Person hassen. Menschliche Freiheit gibt es nicht. Nicht ich entscheide, sondern die natürlichen Prozesse, die in mir arbeiten. Die Ironie ist, dass die biochemischen Prozesse mich denken lassen, dass ich es bin, der sich entscheidet. Menschliche Freiheit ist eine biochemisch erzeugte Illusion! Der Mensch ist eine komplexe Maschine, die so programmiert ist, dass sie ständig denkt, ein freies Individuum zu sein. Man nennt diese Sichtweise im Gegensatz zum vorher beschriebenen Subjektivismus »Objektivismus«. Denn Naturgesetze gelten ausnahmslos für jedes Individuum (Subjekt). Kein Mensch kann sagen, dass für ihn Kohlenstoffmonoxid nicht tödlich ist. Während im extremen Subjektivismus das »Ich« (1. Person-Perspektive) alle Objekte entstehen lässt (der/​das Andere existiert immer erst durch meine Augen, mein Denken und mein Fühlen), wird im Objektivismus das »Ich« durch allgemeingültige Gesetze vorherbestimmt und geschaffen (3. Person-Perspektive). Es gibt verschiedene Variationen des Objektivismus (Biologismus, Psychologismus, Physikalismus, Kulturalismus, …). Die populärste ist wohl die Evolutionstheorie (Biologismus). In allen Variationen lässt sich die angebliche Freiheit des Menschen über Gesetzmäßigkeiten erklären. Im Kulturalismus z. B. ist der enthusiastische, gut argumentierende Atheist letztlich nicht aus Freiheit Atheist, sondern weil er in Russland auf einem Eliteinternat erzogen wurde; während der evangelisierende Christ nicht aufgrund eines persönlichen Bekehrungserlebnisses Christ geworden ist, sondern weil er in Texas sozialisiert wurde. Wir alle wären Muslime, wenn wir in Bagdad aufgewachsen wären … Ich frage Alexandra: »Wie bringst du dein Verliebtsein in Einklang mit deiner Forschung?« Sie schaut uns verstört an und sagt: »Bevor ich zu meinem Freund gehe, schließe ich das Labor und meine Forschungsgedanken ab, würde ich das nicht tun, müsste ich ja Selbstmord begehen.«

Fazit: Im Objektivismus gibt es keine Subjektivität, d. h. individuelle Freiheit. Wahrheit ist, was die Wissenschaft objektiv erklären kann. Der Objektivismus ist die Absolutierung der 3. Person-Perspektive! Es gibt keine Werte mehr, für die es sich zu kämpfen lohnt.

1.2 Problembeschreibung: Subjektivismus und Objektivismus

Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben sich zu zwei rivalisierenden Dogmen unserer Zeit entwickelt. Ich nenne sie Dogmen, weil sie von jedem geglaubt werden. Nun sind weder Subjektivismus noch Objektivismus Denkphänomene der Neuzeit. Im Prinzip stellen sie die Basisgegensätze der Philosophiegeschichte dar. Aber ihre Gegensätzlichkeit hat sich vor allem in der Moderne und ihrem Wissenschaftsbetrieb erheblich verschärft. Das Dogma von Subjektivismus und Objektivismus darf nicht nur negativ bewertet werden. Beide Dogmen haben auch geholfen, dass die Welt sich verbessert. Die Menschenrechtsbewegung baut vor allem auf den subjektivistischen Glauben auf, dass es individuelle Freiheit gibt und diese von keiner Macht manipuliert werden darf. Diese Bewegung hat Diktaturen gestürzt und blühende Demokratien entstehen lassen. Auf der anderen Seite sind die Fortschritte in Wissenschaft und Forschung (z. B. Medizin) dem Objektivismus zu verdanken, der davon ausgeht, dass es allgemeingültige natürliche Prozesse gibt, die das Leben zum Guten bzw. zum Schlechten steuern. Aber wie gezeigt wurde, sind diese beiden Dogmen auch problematisch.

→Der Subjektivismus hat zur Folge, dass es keine allgemeinen Werte und Ideale gibt, denen jeder Mensch untergeordnet ist:

→Was ist richtig, was ist falsch? z. B.: Heterosexualität oder Homosexualität; Unterordnung der Frau oder gleichberechtigte Geschlechter? Was ist gut, was ist schlecht? z. B.: Ehe oder offene Beziehung; körperliche Zucht oder aufklärendes Gespräch?

→Was ist schön, was ist hässlich? z. B.: behaarte Beine oder unbehaarte Beine; Klassik oder Punk?

→Was ist glaubwürdig, was ist illusorisch? z. B. Katholizismus oder Atheismus; Denken oder Fühlen?

Dies sind alles Fragen, die nur subjektiv beantwortet werden können – glauben wir. Das Dogma der Subjektivität sagt, dass kein Mensch die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, sondern sie sich nur so vorstellt, wie er will. Darum darf auch kein Mensch behaupten, dass er die Wirklichkeit sieht, denn jeder sieht nur seine eigene Wirklichkeit. Deshalb darf man den nicht verurteilen, der andere Werte und eine andere Wirklichkeit kennt. Gemeinschaft oder Liebe besteht bei einem solchen Dogma nicht mehr wirklich, denn einen gemeinsamen Nenner gibt es nicht mehr. Was der eine unter »Wir lieben uns« versteht (z. B. er versteht mich und ist einfühlsam), ist etwas ganz anderes, als was eine andere Person unter »Wir lieben uns« versteht (z. B. mit ihr kann ich meine Lebensträume verwirklichen) (siehe Abb. 2).

Der Objektivismus mit seiner absolutierten 3. Person-Perspektive hat zur Folge, dass es keine individuelle Freiheit und damit keine Liebe oder Verantwortung gibt.

Das, was wir richtig oder falsch machen, verantworten wir nicht selbst, sondern wird durch allgemeingültige Prozesse gesteuert und verantwortet, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können. Ich sterbe an Krebs, nicht weil ich das will, sondern weil meine Gene so programmiert sind (Biologismus: Selektion). Ich vergewaltige Kinder, nicht weil ich das will, sondern weil ich von meinen Eltern sexuell misshandelt wurde (Psychologismus: Trauma). Der Zweite Weltkrieg brach nicht aus, weil man das wollte, sondern wegen einer zu hohen Arbeitslosigkeit (Soziologismus/​Historismus: Wirtschaftskrise) (siehe Abb. 3).

Subjektivismus und Objektivismus haben folglich ein gemeinsames Problem: Wirkliche Gemeinschaft zwischen Menschen ist nicht mehr möglich. Beim Subjektivismus ist jeglicher gemeinsame Nenner zwischen zwei Menschen abwesend und damit weder echte Kommunikation noch gegenseitiges Verstehen oder Verantwortung gegenüber dem anderen möglich. Beim Objektivismus ist ein gemeinsamer Nenner vorhanden (bestimmte allgemeingültige Prozesse), aber dieser gemeinsame Nenner tritt als Verursacher aller menschlicher Handlungen auf und hat zur Folge, dass keine individuelle Freiheit oder Verantwortung bestehen, was Grundvoraussetzungen für echte Gemeinschaft sind.

1.3 Jeder denkt es, jeder glaubt es

Die zwei eingangs beschriebenen Beispiele (siehe 1.1) stehen stellvertretend für unser Lebensgefühl – das Lebensgefühl des modernen Menschen. Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben verursacht, dass die zwei Studenten und Alexandra keine wirklich großen Träume mehr haben, sondern von Lethargie begleitet werden. Für die einen verhindert die allgemeine Relativität menschlichen Denkens, Fühlens und Glaubens, dass man sich für »das« Ideal völlig einsetzt. Für die anderen wirkt sich die Tatsache, dass die erlebte Freiheit nur Illusion ist und der Mensch in Wahrheit fremdbestimmt wird, sinnentleerend aus. Hier macht sich der Mensch nicht selbst, sondern er wird gemacht (3. Person-Perspektive). Nun kann man den modernen Menschen aber nicht in Subjektivisten und Objektivisten aufteilen. Weil der Mensch nicht sinnentleert leben kann, wird er nie entschlossen reiner Subjektivist oder Objektivist sein können. Es ist gerade typisch für den modernen Menschen, dass er gleichzeitig im Subjektivismus und im Objektivismus lebt. Durch die Kombination dieser beiden Dogmen möchte er deren Nachteile überwinden. Die Nachteile des Subjektivismus (z. B. keine allgemeingültigen Regeln) kehrt der Objektivismus in Vorteile um (z. B. allgemeingültige Naturgesetze). Die Nachteile des Objektivismus (z. B. Fremdbestimmung) werden im Subjektivismus oft vorteilhaft verändert (z. B. individuelle Freiheit) (siehe Abb. 4).

Jeder moderne Mensch denkt, handelt und fühlt täglich auf der Basis dieser beiden Dogmen:

1. Wenn wir krank sind, gehen wir zum Mediziner, der die allgemeingültigen Gesetze, aufgrund deren wir krank oder gesund werden, kennt. Wenn wir nach Lösungen suchen, um den Terrorismus zu bekämpfen, gehen wir zum Historiker oder Soziologen, die uns erklären, welche sozialen Mechanismen und historischen Kontexte einen Menschen zum Terroristen machen. Der Wissenschaftler ist der Priester des modernen Menschen, denn er allein scheint Zugang zum Schicksal zu haben. Er allein kann die Zukunft vorhersagen, weil er in »Kontakt« mit den allgemeingültigen Gesetzen ist, denen sich alles Leben unterwerfen muss. Er kann uns heilen, die Gesellschaft retten und uns den Weg in eine bessere Zukunft weisen.

Dass wir dabei schon längst dem Objektivismus verfallen sind, dem Glauben, dass alles nach Gesetzmäßigkeiten determiniert ist, und damit die menschliche Freiheit untergraben, ist uns oft nicht bewusst. Und da, wo wir uns dessen bewusst sind, schließen wir – wie Alexandra – das Forschungslabor und grenzen den Objektivismus ab. Wenn wir uns verlieben, in die Kirche gehen oder bevor wir uns bei einer politischen Partei engagieren, reden wir nicht mehr von Evolution oder Sozialisation als Erklärungsgrund für unser Handeln. An dieser Stelle trennen wir die Welten.

2. Wenn gute Bekannte sich in Holland bei der Begrüßung dreimal auf die Wangen küssen, dann beurteilen wir deren Begrüßungsritual nicht als zu intim. Wir gehen davon aus, dass es ihre Art der Begrüßung ist und diese in keiner Weise besser oder schlechter ist als z. B. die deutsche Umarmung. Wenn die jüdischen Kinder in der Wohnsiedlung fröhlich vom Purimfest erzählen, sagt mir die katholisch erzogene Nachbarin: »Ja, jeder hat eben so seine eigene Art, Spiritualität zu erleben«. Über Homosexualität wird schon lange nicht mehr aggressiv debattiert. Mein Arbeitskollege findet es zwar nach wie vor schwer nachvollziehbar, aber er sagt letztendlich: »Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, seine Sexualität auszuleben.« Den Papst und seine Auffassungen findet er menschenverachtend: »Der ist noch im Mittelalter stecken geblieben«, meint er.

Wir sind uns alle einig über die Unterschiedlichkeit. Während die einen Elvis vergöttern, trauern die anderen um Kurt Cobain – Musikgeschmack ist eben subjektiv. Wenn jemand noch an das Ideal oder die Wahrheit glaubt, dann nennen wir ihn Fundamentalist. Fundamentalisten glauben, dass ihr Erleben der Wirklichkeit das einzig Wahre ist, und alle anderen sich in ihrer Wahrnehmung täuschen. Auch wenn es immer mehr Fundamentalisten gibt, so sind sie doch die Minderheit in unserer Gesellschaft. Wir aber – als moderne Menschen – erkennen im Gegensatz zu den altmodischen Fundamentalisten, dass es viele unterschiedliche in sich stimmige Möglichkeiten gibt, die Welt zu erfahren. Dass wir dabei oft schon längst subjektivistisch geworden sind, ist uns oft nicht bewusst. Aber wenn wir unseren eigenen Komfort bedroht sehen, lassen wir das Dogma Subjektivismus schnell fallen und berufen uns auf medizinische Gutachten (Objektivismus), um die 37-Stunden Woche zu bewahren. Da reden wir dann nicht vom 20-Zoll-LCD-Bildschirm, den wir uns geleistet haben, der aber eigentlich nicht nötig ist.

Niemand würde verneinen, dass es allgemeingültige Gesetze gibt, die zu einem großen Teil unser Leben bestimmen, aber keiner will sagen, dass wir fremdbestimmte Maschinen sind, und Freiheit eine Illusion ist. Niemand würde verneinen, dass es individuelle Freiheit gibt, aber keiner will behaupten, dass der andere tun und lassen kann, was er will. Und bevor wir zur Maschine oder zum Tyrannen werden, entscheiden wir uns für ein unklares Leben zwischen zwei Dogmen, denen wir glauben, aber dann doch nicht vertrauen wollen. Wir sind Opfer einer Erpressung zweier Dogmen: Wir leben in der Zwickmühle. Darin liegt die Ursache für die Sinnleere, die der moderne Mensch erlebt.

1.4 Problembehandlung

Manche sind sich ihrer Opferrolle sehr, manche sind sich ihrer weniger bewusst. Aber für alle gilt, dass das Leben zwischen den Dogmen sich auf die eigene Existenz sinnentleerend auswirkt. Ein Leben mit wirklicher Überzeugung und Orientierung kann der moderne Mensch nicht leben. Was bleibt, ist Lethargie als Grundstimmung. Es mag seltsam erscheinen, aber unsere Opferrolle ist zum großen Teil selbstgemacht. Zwar haben nicht wir das Problem erzeugt, aber die Grundlagen für die Entstehung dieser modernen Sackgasse sind durch unsere Vorfahren vor ungefähr 400 Jahren gelegt worden. Und weil wir als moderne, fortschrittsliebende Menschen lieber vorausschauen, als in die primitive Vergangenheit blicken, wissen wir oft nicht mehr, warum wir heute so denken wie wir denken.

Und so müssen wir uns die historische Frage stellen, wie die Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus entstanden ist. Nur so werden wir unser Dilemma verstehen. Und nur dann kann in den weiteren Reflexionen sichtbar werden, wie die biblischen Schriften mit ihren Propheten eine überzeugende Gegenposition zum philosophischen Dilemma unserer modernen Zeit entwerfen.

In der folgenden Reflexion wird versucht, den Ursprung der Zwickmühle zu verstehen und die Gedanken der Vorfahren zu begreifen. Danach wird das menschliche Denken kritisch hinterfragt (Reflexion 3). In den Reflexionen 4 bis 6 wird der biblische Gegenentwurf der Propheten aufgezeigt.

1.5 Klärung

Wir haben gesehen, dass Subjektivismus und Objektivismus als Dogmen bei allen modernen Menschen als Basis für Denken, Handeln und Entscheiden funktionieren. In den meisten Fällen operieren diese Dogmen im Unterbewusstsein. Dabei lassen sie eine sinnentleerte Atmosphäre im Leben des modernen Menschen entstehen. Es ist darum wichtig, sich bewusst zu werden, wo und wie diese Dogmen im eigenen Denken und Fühlen anwesend sind.

Die folgenden Aufgaben sollen helfen, Spuren des Subjektivismus und Objektivismus im eigenen Leben und Lebenskontext aufzuspüren.

→ Untersuche, wo sich in deinem täglichen sozialen Kontext (Schule, Universität, Arbeitsplatz) Hinweise auf Subjektivismus und Objektivismus finden lassen. Du entdeckst diese Hinweise meist in Gesprächen, in denen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen.

→Wie wird in deinem Freundeskreis das Verhältnis zwischen Evolutionismus (Objektivismus) und persönlicher Freiheit und Vorstellungskraft (Subjektivismus) verstanden? Ist die Freiheit und Vorstellungskraft das Ergebnis der Evolution oder ist die Evolutionstheorie das Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft? Oder gibt es sogar eine dritte Möglichkeit?

→Lies zur Vertiefung Alvin Plantingas »On Christian Scholarship«. (http://www.calvin.edu/​academic/​philosophy/​virtual_library/​articles/​plantinga_alvin/​on_christian_scholarship.pdf)

→ Schaue dir einen der folgenden Filme an und erörtere, wie sich in diesem Film das Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus darstellt: A beautiful mind, Matrix, Inception.

Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren

Подняться наверх