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»Ich las es und wurde Antisemit«

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Schirach nannte beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg – übrigens gegen den Willen des Vorsitzenden, der an derartigen Hintergrundinformationen nicht interessiert war – drei Bücher, die ihn geprägt hätten: Grundlagen des 19. Jahrhunderts des »Bayreuther Denkers«, wie ihn Schirach beschrieb, Houston Stewart Chamberlain, Adolf Bartels’88 Weltgeschichte der Literatur und Henry Fords Der internationale Jude. Bartels’ Werk relativierte er umgehend, indem er behauptete, dass es »keine ausgesprochen antisemitische Tendenz« hätte, sich jedoch »der Antisemitismus wie ein roter Faden hindurchzog«. Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ihn und seine Kameraden beeinflusste, wäre Fords Der internationale Jude gewesen: »Ich las es und wurde Antisemit. Dieses Buch hat damals auf mich und meine Freunde einen so großen Eindruck gemacht, weil wir in Henry Ford den Repräsentanten des Erfolges, den Repräsentanten aber auch einer fortschrittlichen Sozialpolitik sahen. In dem elenden, armen Deutschland von damals blickte die Jugend nach Amerika, und außer dem großen Wohltäter Herbert Hoover war es Henry Ford, der für uns Amerika repräsentierte.«89

Hier wandte Schirach ebenfalls eine Strategie der Umdeutung an wie im Falle der rechtskonservativ-völkischen und teilweise antisemitischen Jugendwehrverbände, denen er angehört hatte und die er mit den Pfadfindern des britischen Generals Robert Baden-Powell verglich. Dabei erwähnte er nicht, dass es sich bei Baden-Powells Boy Scouts nicht um eine britisch-nationalistische, sondern um eine internationale Jugendbewegung handelte – 1929 beispielsweise nahmen 50.000 Pfadfinder aus 72 Ländern an dem Weltpfadfindertreffen (»Jamboree«) in England teil.90 Zwar existierten aufgrund der militärischen Erfahrungen Baden-Powells bei den Pfadfindern in einigen Bereichen paramilitärische Strukturen, etwa in der Ausbildung zum Spurenleser oder Meldegänger, jedoch fehlte der aggressiv völkisch-rassistische Grundton, der in den zuvor genannten deutschen Verbänden durch aktive oder pensionierte Militärs an die Jugendlichen vermittelt wurde. Dennoch wird bis heute heftig über die Frage nach dem Ausmaß von Militarismus gegenüber dem Pazifismus in den ursprünglichen Ideen Baden-Powells gestritten, der auch als angeblicher Antisemit von Michael Rosenthal angegriffen wurde.91

Schirach erkannte selbst in Nürnberg 1946 und auch später in seinen Memoiren 1967 nicht, dass bereits vor 1914 der Antisemitismus sowie die Rassenlehre stark in den deutschen Eliten verankert gewesen war und insbesondere auch die Armee und das Offizierskorps durchdrungen hatte. So pflegte Kaiser Wilhelm II. einen intensiven Kontakt mit dem britischen Schriftsteller und Kulturphilosophen Houston Stewart Chamberlain92, der bekanntlich Richard Wagners Schwiegersohn gewesen war, und machte dessen 1899 in zwei Bänden erschienenes, antisemitisch-rassistisches Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts zur Pflichtlektüre in der Oberlehrerausbildung bzw. an Lehrerseminaren.93 Das nach seiner Übersiedlung von Dresden nach Wien 1896/97 in der k. u. k. Metropole verfasste Buch wurde später zum zentralen Referenzwerk94 für rassentheoretische und deutsch-völkische Auseinandersetzungen in der nationalsozialistischen Bewegung. Bereits vor 1914 erfuhr das 1.200-seitige Erfolgsbuch eine breite Rezeption innerhalb des Bildungsbürgertums – jüdische Weltverschwörungstheorien, welche die angebliche Weltherrschaft der Juden erklärten, waren ebenso gern gelesene Thesen wie Chamberlains Suche nach dem »Urarischen« oder »Urgermanischen«.




Wegbereiter und Förderer Hitlers: der Ur-Germane und Antisemit Stewart Houston Chamberlain und seine Frau Eva (oben, mit dem Dirigenten Arturo Toscanini 1931 in Bayreuth) und der Verleger Hugo Bruckmann mit seiner Gattin Elsa, einer gebürtigen Prinzessin Cantacuzène. Im Münchner Salon der Bruckmanns knüpfte der junge Baldur von Schirach wichtige Kontakte.

Auch Adolf Bartels’ zweibändige Literaturgeschichte war bereits vor 1914 fertiggestellt worden. Unter dem Titel Geschichte der deutschen Literatur erschien sie erstmals 1901/02 und wurde bis 1940 mehrfach in hohen Stückzahlen aufgelegt. 1906 hatte Bartels bereits äußerst aggressiv gegen ein Heinrich-Heine-Denkmal in Hamburg polemisiert.95

1910 wurde Bartels, den Kurt Tucholsky später boshaft als »Clown der derzeitigen deutschen Literatur« und »im Irrgarten der deutschen Literatur herumtaumelnden Pogromdeppen«96 bezeichnete, Vorsitzender des »Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes«, seit 1914 forcierte er die »reinliche Scheidung« der nach rassistischen Kriterien durchgeführten Trennung von Schriftstellern nach Juden und Nichtjuden.97 Bei der ersten öffentlichen Versammlung des von Bartels mitinitiierten Deutschen Studentenverbands Leipzig agitierte er gegen die »geheime Judenherrschaft« und attackierte sowohl Liberale als auch Sozialdemokraten, in denen er von Juden gestützte bzw. gegründete Parteien erblickte.98 Walter Goetz analysiert in der Deutschen Biographie Bartels’ Werke konzise: »Die ›Geschichte der deutschen Literatur‹ und die ›Einführung in die Weltliteratur‹ (3 Bände, 1913) zeigen ihn als einseitigen Parteigänger des Rassenprinzips und des Antisemitismus; von da an sind seine zahlreichen Arbeiten zumeist nicht Wissenschaft, sondern Propaganda zugunsten eines rein völkischen Schrifttums.99

Schon vor 1914 war er in seinen Publikationen als prononcierter Antisemit hervorgetreten, wie die Pamphlete Heine-Genossen. Zur Charakteristik der deutschen Presse und der deutschen Parteien (1907), Judentum und deutsche Literatur (1912) oder Deutsch-jüdischer Parnaß (1912) zeigen. In seiner Denkschrift Der Siegerpreis zu Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 forderte er bereits die dauerhafte Besetzung Polens und des westlichen Russlands und »Vorposten an Düna und Dnjepr und am Schwarzen Meer.«100

Der Weimarer Nationalsozialist, HJ-Gebietsführer und Freund Baldur von Schirachs, Rainer Schlösser (1899–1945), der als »Reichsdramaturg« bei Goebbels Karriere machen sollte, beschrieb die Rolle von Adolf Bartels für die nationalsozialistische Literaturpolitik präzise: Bartels habe in der »Literaturbetrachtung das nationalsozialistische Prinzip vorweg genommen«.101

Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, legt in seinem ZEIT-Artikel Professor Bartels’ Bücher die Wechselwirkung zwischen dem ursprünglich völkisch-rassistischen Antisemitismus102 und dem Nationalsozialismus klar und unmissverständlich dar: »Antisemitismus mit Bartels, das war keine Sache für knüppelschwingende Fanatiker, sondern eine wissenschaftlich begründete kulturelle Notwendigkeit für belesene, vaterlandsliebende Patrioten. Die Weimarer Botschaft lautete: ›Wer in unserer Zeit nicht Antisemit ist, der ist auch kein guter Deutscher.‹«103

Die Aussage Schirachs, dass er zwar die antisemitischen Schriften von Chamberlain und Bartels gelesen habe, aber erst durch Henry Fords Buch Der internationale Jude. Ein Weltproblem (Leipzig 1922) zum NS-Antisemiten wurde, kann nicht stimmen. Der rassistische Antisemitismus war gerade im Weimarer Umfeld von Schirach längst angekommen und hatte sich mit konservativ-nationalistischen antidemokratischen Positionen aus der Zeit vor 1918 zu einem gefährlichen politischen Konglomerat verbunden. Es war kein Zufall, dass Hitler so früh in Weimar auch in den Kreisen bürgerlicher Eliten wie der Schirachs akzeptiert wurde und der junge Sprössling ein glühender Hitler-Verehrer wurde. Adolf Bartels, der mit der Familie Schirach gut bekannt war, soll Sohn Baldur auch Privatunterricht gegeben haben – vermutlich zur Geschichte der deutschen Literatur.104




In Nürnberg 1946 ein wichtiger Eckpunkt in Schirachs Verteidigungslinie: Die Lektüre von Henry Fords antisemitischer Hetzschrift »Der internationale Jude« und der Schriften des Weimarer Judenhassers Adolf Bartels (unten rechts) hätten ihn zum Antisemiten gemacht. Der Kommentar von Hans Frank dazu: »Er wollte, daß jeder glauben solle, er sei bloß ein irregeführter unschuldiger Junge gewesen. Er hat fast so getan, als sei Henry Ford für Auschwitz verantwortlich!« (Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch, 346).


Ein Schnappschuss des Schwiegervaters Heinrich Hoffmann: Henriette und Baldur von Schirach kurz nach der Hochzeit im März 1932.

Schirach

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