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4. ES GEHT VORWÄRTS! Der Aufstieg zum Studentenführer

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Adolf Hitler hatte den Gymnasiasten Baldur von Schirach zwar nach München eingeladen, aber nicht auf ihn gewartet. So galt es, den Kontakt zum »Führer« neu herzustellen – wie sich zeigte, keine einfache Aufgabe. Rudolf Heß wimmelte den zudringlichen Studiosus, der um einen Termin bei Hitler bat, ziemlich ungnädig ab, und selbst Elsa Bruckmann scheiterte mit ihren Bemühungen. Schirach erkannte, dass er Hitler mit einer neuen Aufgabe konfrontieren und für sich gewinnen musste. Und dann war da auch das Studium, das er ganz nach den eigenen Vorlieben und Interessen gestaltete. Seine erste Bleibe in München bezog er in der Franz-Josef-Straße in Schwabing, eine »zünftige Studentenwohnung«.105

Schirachs eigenen Eintragungen im SA-Führerfragebogen vom 13. März 1931106 zufolge habe er in München vier Semester Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte studiert; laut den Unterlagen der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) sogar fünf Semester – vom Sommer-Halbjahr 1927 bis inklusive Sommer-Halbjahr 1929.107 Die Studentenkartei vermerkt nur das Studium der Germanistik, das auch sein Schwerpunkt gewesen sein dürfte. Über etwaige Prüfungserfolge lässt sich anhand der Unterlagen im Archiv der LMU München keine Aussage treffen. Baldur von Schirach sah, wie er in seinen Memoiren festhält, seine Universitätszeit eher als Nebenbeschäftigung an, im Zentrum stand bereits seine Parteiarbeit für die nationalsozialistische Bewegung.108

In Erinnerung geblieben sind ihm Vorlesungen über englische Literatur bei Max Förster, einem auch international bekannten Experten für altenglische Philologie, und in Kunstgeschichte bei Wilhelm Pinder. Der aus Kassel stammende Kunsthistoriker war ein betont völkischer Gelehrter109, der unverhohlen die Stärkung der deutschen Nation durch die Rückeroberung der von Slawen eingenommenen »östlichen Wohnsitze« propagierte und über das »germanische Blut- und Geschichtserbe« referierte. Schon 1930 attackierte Pinder öffentlich den Kustos in der Pinakothek August Liebmann Mayer als »Kunstjuden«. Mayer wurde nach 1933 entlassen und nach seiner Flucht nach Frankreich 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten engagierte sich Pinder offen für den Nationalsozialismus und Adolf Hitler, wurde aber trotz Aufnahmeantrag niemals Mitglied der NSDAP.

Schirach frequentierte eigenen Angaben zufolge auch das Goethe-Kolleg bei Hans Heinrich Borcherdt, der als außerordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literatur seit 1926 auch das Institut für Theatergeschichte in München leitete. Wie Baldur von Schirachs Vater war er nicht nur Sohn eines Offiziers, sondern trat auch dem antisemitischen »Kampfbund für deutsche Kultur« bei, dies aber erst 1931. Borcherdt galt unter den NS-Hochschulfunktionären noch 1937 als Anhänger der Bayerischen Volkspartei, der zudem noch mit der »Tochter eines bayerischen Ministers der Systemzeit« verheiratet war.110

Letztlich gab es keine aktuellen Bedenken gegen ihn, und er erhielt auch eine Reisegenehmigung, um am 2. März 1937 im Deutschen Klub in Wien, einem elitären Netzwerk von Nationalsozialisten, Deutschnationalen und Antisemiten, über den »Staatsgedanken des deutschen Idealismus« vorzutragen.111 Borcherdt wurde 1942 auf eine ordentliche Professur in Königsberg berufen.

Schirach junior meinte im übrigen mit selbstbewusster Überheblichkeit auch als Mitglied der Shakespeare-Gesellschaft in Weimar alle bekannten Anglisten Deutschlands schon gekannt zu haben.112

In seinen Erinnerungen nennt Schirach weitere beeindruckende Wissenschaftler, die er in den Salons der Familie des Geheimrats Schick und vor allem durch den Salon der Bruckmanns kennengelernt hatte. Dazu gehörten beispielsweise der Romanist Karl Vossler, der Historiker Hermann Oncken und der Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg, die kurz auch politisch zugeordnet werden sollen.

Vossler, ein bedeutender Romanist, ist die große politische Ausnahme in der hier referierten Liste. So sprach er sich als Rektor 1926/27 für die Gleichstellung der jüdischen Studentenverbindungen aus und ließ bei Feiern das bei Rechtskonservativen und Nationalsozialisten verpönte schwarz-rot-goldene Reichsbanner hissen.113 1930 ging er sogar so weit, öffentlich zu fragen: »Wie werden wir die Schande des Antisemitismus los?«114 Er wurde 1937 vom NS-Regime zwangspensioniert.




Professoren an der LMU München, an die er sich später noch erinnerte: der Anglist Josef Schick (oben), der deutsch-jüdische Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg (Mitte) und der Kunsthistoriker und Antisemit Wilhelm Pinder.

Es ist wohl anzunehmen, dass Schirach Vossler im Salon von Geheimrat Josef Schick, der wie sein Vater aktives Mitglied der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft war115, kennengelernt hat. Schick selbst hatte zwei Jahre in England studiert und war ein ausgezeichneter Mathematiker und habilitierter Anglist. Von 1896 bis zu seiner Emeritierung 1925 lehrte er an der LMU München. Er war ein weitgereister Gelehrter, der auch 1911/12 an der Columbia University in New York unterrichtet hatte und mit einer Engländerin verheiratet war. Trotz seines hohen Alters – Schick wurde 1859 in Rißtissen bei Ulm geboren –, meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg und war durchaus deutschnational eingestellt.116 Schick wohnte in der Ainmillerstraße 4 in München und lud auch den jungen Baldur von Schirach zu diversen Treffen in seine Wohnung ein.

So berichtete Victor Klemperer in seinem Revolutionstagebuch 1919 über einen Besuch mit seiner Frau Eva Schlemmer, einer Konzertpianistin, bei Schick, dessen Vorlesungen er schon 1902 gehört hatte. Da aber nur dessen Frau, Mary Schick, geborene Butcher, zu Hause war, entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden Frauen, bei dem Frau Schick meinte: »… ob wir denn wirklich dächten, daß die Engländer den Krieg gewollt hätten? So wenig wie die Deutschen, so wenig wie die Franzosen seien sie blutgierig gewesen, niemand, nein niemand habe dieses Morden auf dem Gewissen außer ganz allein die Juden, denen allein er Gewinn gebracht habe. Wir sahen die alten Damen in schweigender Verblüfftheit an, sie nahm es für Mitgefühl und predigte weiter über die schwesterliche Verbundenheit aller weiblichen Herzen.«117 Der habilitierte Romanist Klemperer, der konvertierter Jude war, registrierte den Antisemitismus im Hause Schick bereits um 1919.

Der Historiker Hermann Oncken, der zwar vaterländisch eingestellt war und 1915 bis 1918 im badischen Landtag als nationalliberaler Abgeordneter tätig war, passte eigentlich so wie Vossler nicht in das antisemitisch-völkische und antidemokratische Umfeld Schirachs. Oncken galt als »Vernunftrepublikaner«. Gleichzeitig votierte er wie viele andere bereits vor 1933 für den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich und wäre deswegen 1923 fast an die Universität Wien gegangen.118 1929 hielt er in Berlin eine Gedenkrede »aus Anlass des 10-jährigen Bestehens der Weimarer Verfassung«.119 Oncken versuchte, den Brückenschlag zwischen Sozialdemokratie und dem Bürgertum, aber auch zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik zu propagieren. Damit wollte er die Studenten für den demokratischen Nationalstaat, die Weimarer Republik, gewinnen – durch eine Art »organische Verbindung« zwischen »deutscher Vergangenheit und deutscher Zukunft«.120 Nach 1935 überwarf er sich mit den Nationalsozialisten, deren antisemitisch-rassistisches Geschichtsbild er nicht teilte, und wurde daher zwangspensioniert.121

Die letzte interessante Persönlichkeit aus seiner Studienzeit war der deutsch-jüdische Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg, der zum Protestantismus übergetreten war und seit 1923 den Lehrstuhl für Ägyptologie in München leitete.122 Er ist der einzige Wissenschaftler jüdischer Herkunft, den Schirach in seinen Memoiren nennt. Spiegelberg, der 1930 nach einer Operation verstarb, fühlte sich voll assimiliert und zeigte sich »bestürzt« über das »auffällige, oft herausfordernde Gehaben mancher Juden« auf der Straße und beklagte das Make-up und die »übertriebene« Kleidung jüdischer Frauen.123

Baldur von Schirachs intellektuelles Netzwerk in und außerhalb der Ludwig-Maximilians-Universität in München verstärkte den Weimarer Grunddiskurs in Richtung Antisemitismus, Deutschnationalismus und Demokratiefeindlichkeit, trotz der genannten zwei Ausnahmen Oncken sowie vor allem Vossler. Kaum vorstellbar, dass Schirach wirklich von Vossler beeindruckt war.

Aber noch wichtiger für Ausbau und Festigung der politischen Netzwerke aus Familie und Weimarer Umfeld waren die intensiven Kontakte, die der junge NS-Karrierist im Salon von Elsa und Hugo Bruckmann knüpfte.124 Elsa Bruckmann, geboren 1865 im oberösterreichischen Traundorf bei Gmunden, war die Tochter des ehemaligen königlich-bayerischen Ulanenoffiziers Fürst Theodor Cantacuzène und damit Nachkommin eines alten griechisch-byzantinischen Fürstengeschlechts. Ihre Mutter Caroline Gräfin Deym von Střitež stammte aus böhmisch-österreichischem Uradel. Die »Prinzessin« hielt sich 1893/94 als Gast der jüdischen Familie Todesco in Wien auf und lernte hier den jungen »Buben« Hugo von Hofmannsthal kennen.125 Mit ihm stand sie bis 1924 in teilweise engem Kontakt, die schwärmerische Beziehung zu ihm sollte der Dichter später als »Flirtation« abtun.

Nachdem sie 1898 im Alter von 33 Jahren den bürgerlichen Münchner Kunstbuchverleger Hugo Bruckmann geheiratet hatte, eröffnete sie im Jänner 1899 im Neubau des Bruckmann-Verlags in der Nymphenburgerstraße 86 ihren Münchner Salon mit einem Leseabend Chamberlains. Elsa Bruckmann war eine sehr kunstsinnige und belesene Frau, die Abende in ihrem Salon – ab 1909 im Prinz-Georg-Palais am Karolinenplatz 5 – wurden zu einer Art von Netzwerktreffen zwischen Künstlern, Literaten, Theaterleuten und Wissenschaftlern, aber auch Politikern und antisemitischen und deutschnationalen Ideologen wie eben Chamberlain. Unter der bunten Schar ihrer Gäste befanden sich so bekannte Persönlichkeiten wie Rainer Maria Rilke, Heinrich Wölfflin, Rudolf Kassner, Hermann Graf Keyserling, Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Harry Graf Kessler, Alfred Schuler, Georg Simmel, Hjalmar Schacht und ihr Neffe Norbert von Hellingrath. Sie alle wetteiferten miteinander auf der Suche nach den Leitlinien und maßgeblichen Inhalten der Moderne in der Phase der ersten Turboglobalisierung.

Während des Ersten Weltkriegs radikalisierte nun dieser bürgerliche Netzwerkknoten den bereits vor 1914 vorhandenen aggressiven Deutschnationalismus und völkischen Antisemitismus: Die Suche nach einem starken Mann, der Deutschland, aber auch Europa, aus der Krise und Bedeutungslosigkeit führen könnte, trat in den Vordergrund. Dadurch sollte auch die Frage nach der Moderne endgültig geklärt und entschieden werden. So war es kein Zufall, dass Hugo Bruckmann ein früher Verehrer des italienischen faschistischen Diktators Benito Mussolini war – wie übrigens kurze Zeit auch Hugo von Hofmansthal. Dieser entwickelte letztlich seine eigene autoritäre Ideenwelt mit dem Modell einer »konservativen Revolution«, die er bei einem Vortrag in München 1927 vorstellte.

In der großzügigen Wohnung der Bruckmanns am Karolinenplatz 5 stellte Elsa Bruckmann am 23. Dezember 1924 den erst zwei Tage vorher aus der Festungshaft entlassenen gescheiterten Putschisten Adolf Hitler erstmals ihren Gästen aus der bürgerlichen Gesellschaft Münchens vor. Begeistert erinnerte sich später die Verlegergattin: »Nun trat mir – in der bayerischen kurzen Wichs und gelbem Leinenjöpperl – Adolf Hitler entgegen: einfach, natürlich und ritterlich und hellen Auges!«126

In diesem kulturellen Umfeld – Elsa und Hugo Bruckmann hatten inzwischen die Vorzeige-NSDAP-Mitgliedsnummern 91 und 92 erhalten – schaffte es Baldur von Schirach, seine persönliche Nähe nicht nur zu Adolf Hitler zu vertiefen. Später zog er aus seiner Studentenwohnung in der Franz-Josef-Straße in Schwabing in eine komfortablere Wohnung bei den Bruckmanns in der Leopoldstraße 10 um, die ihren Salon Anfang 1931 vom Karolinenplatz hierher verlegt hatten. Im dritten Stock des großzügigen Gründerzeitbaus gelegen, bot sich von seinem neuen Zuhause der Blick auf das Münchner Siegestor.

Die Bruckmanns kannten Baldur von Schirachs Onkel, Friedrich Wilhelm von Schirach, Rittmeister a. D., der nach dem gescheiterten Putschversuch von Hitler und Ludendorff beim Prozess aussagen musste. Als Bezirksführer bei den Vaterländischen Verbänden Münchens hatte er Informationen über den geplanten Marsch auf Berlin des Reichsstaatskommissars Gustav von Kahr sowie zur Verhaftung von General Ludendorff.127 Friedrich Wilhelm von Schirach, der noch im selben Jahr des Prozesses 1924 starb, war in München ein Begriff – auch als Komponist.

Ein zufälliges Zusammentreffen mit Hitler Mitte November 1927 – an den Hochschulen stand die Wahl der »Allgemeinen Studentenausschüsse« bevor – wurde zum Auslöser für die Karriere Schirachs als Studentenvertreter: Nach einigem Hin und Her ließ sich der »Führer«, der seinen jungen Adepten zu einem Gespräch mit in die Wohnung in der Thierschstraße 41 genommen hatte, zu einem Auftritt vor Studenten im Festsaal des Hofbräuhauses überreden – er würde aber nur kommen, so die Bedingung, wenn der Saal »gut gefüllt« wäre. Schirach hielt Wort: Am 21. November 1927 war der Saal »so überfüllt, daß die Studenten auf den Kachelöfen hockten«.128 Hitler musste sein Versprechen einlösen und sprach zum Thema »Der Weg zu Freiheit und Brot«, der Auftritt wurde zu einem triumphalen Erfolg, und Schirach hatte von nun an bei Hitler einen Stein im Brett: Er war der Mann, der ihm die Studenten gebracht hatte. 1930 konnte Hitler, der anfangs bezüglich der Studenten so skeptisch gewesen war, in der NS-Wochenzeitung Die Bewegung schreiben: »Nichts gibt mir mehr Glauben an den Sieg unserer Idee als die Erfolge des Nationalsozialismus auf der Hochschule.«129

Im Februar 1928 wurde Baldur von Schirach Hochschulgruppenführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) in München und leitete daneben auch noch einen SA-Trupp. Ab Juli 1929 übernahm er die Führung des NSDStB. Er gründete überdies 1929 den Akademischen Beobachter, eine Zeitschrift, die im Dezember 1929 eingestellt und durch die Wochenschrift Die Bewegung ersetzt wurde, die ebenfalls nicht lange existierte (bis Mai 1931).130

Hinter diesen nüchternen Daten zur erfolgreichen Parteikarriere verbergen sich heftige Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm Tempel (1905–1983), dem Mitbegründer des NSDStB 1926, der die Reichsleitung übernommen hatte, und Schirach, der, wie erwähnt, die Münchner NSDStB-Hochschulgemeinde (HGM) leitete, die in der kurzen Zeit seit der Gründung bereits drei »HGM-Führer« verbraucht hatte.131 Während der Jurastudent Tempel und seine Gruppe eher auf Aktivismus setzten und sich als »Jugend- und Wehrbewegung« verstanden, die aber abseits von einigen Großversammlungen nicht wirksam wurde, wollte Schirach die kaum sichtbare HGM zu einem »geistigen Mittelpunkt im akademischen Leben Münchens« machen. So ließ er neue Klubräume mit einem Empfangsraum, einer Bibliothek, einem Schlafzimmer für sich selbst, Wohnräume für drei weitere HGM-Funktionäre und einem »Damenzimmer« einrichten.132 Dahinter steckte aber ein massiver strategischer Konflikt, denn Schirach wollte – ähnlich wie die Parteispitze – die NSDAP öffnen und durchaus bürgerliche Kreise ansprechen. Die Gruppe um Tempel hingegen zielte eher auf proletarische bzw. kleinbürgerliche und ökonomisch nicht so erfolgreiche Schichten.

Dazu gehörte unter anderem auch die zeitgleich im Mai 1928 erfolgte Gründung des »Kampfbundes für deutsche Kultur«, dem auch Schirachs Vater und die Bruckmanns als Proponenten angehörten. Tempel versuchte Schirach loszuwerden und enthob ihn seines Amtes. Längst hatte dieser aber nicht nur die Unterstützung Hitlers, sondern auch jene von Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels und ließ sich im Juli 1928 zum neuen Reichsführer des NSDStB wählen.133 Da die Fraktionen in sich total zersplittert waren, entschied Schirach die Wahl mit sechs von 17 Stimmen nur knapp für sich, vier Delegierte votierten für den Dresdner Hochschulgruppenführer Herbert Knabe. Hitler hatte angeblich bei dieser Wahl den Kieler Vertreter Dr. Joachim Haupt forciert und Schirach nur als Stellvertreter gesehen, doch Haupt bekam nur drei Stimmen.134 Tempel selbst hatte zu sehr die Positionen des linken Otto-Strasser-Flügels vertreten, die der Münchner Parteizentrale, aber auch Goebbels in Berlin ein Dorn im Auge waren. Das eigentliche Ziel Hitlers zu diesem Zeitpunkt war bereits die Machtergreifung auf möglichst breiter sozialer Basis und unter Einschluss bürgerlicher Kreise.

Neben der Hinwendung der Studentenbewegung zu konservativ-bürgerlichen Schichten versuchte Schirach, der selbst keiner schlagenden Studentenverbindung (Korporation) angehörte, den NSDStB in Richtung traditioneller Korporationen zu öffnen.

Trotz des sehr glücklichen und knappen Erfolges in der Wahl zum Studentenführer nahm Schirach 1928 eine kurze Auszeit von der Politik, um mit seiner Mutter in die USA zu reisen und sie bei Verwandtenbesuchen in Philadelphia und New York zu begleiten. Dort erhielt er sogar von seinem Onkel Alfred E. Norris ein Angebot, in dessen Bank in Manhattan einzusteigen.135 Schirach hatte jedoch längst Gefallen an der Politik gefunden und war trotz des schwachen Wahlergebnisses der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 – die NSDAP erreichte nur 2,6 Prozent und zwölf Mandate – nach wie vor ein Anhänger Adolf Hitlers.

Insgesamt gesehen agierte der NSDStB unter Schirachs Führung als Mitgliederorganisation vorerst nicht besonders erfolgreich: 1933 waren nur 4,8 Prozent der Studenten beim Bund organisiert.136 Bei einigen Wahlen konnte der NSDSTB aber durchaus größere Stimmenzuwächse verzeichnen – etwa an den Universitäten in Greifswald und Erlangen im Wintersemester 1929/30 mit mehr als 50 Prozent, in Kiel erlangte der NSDStB beachtliche 33 Prozent.137

Doch Schirach war, das sollte sich bald zeigen, an klassischer Hochschulpolitik nicht wirklich interessiert, sondern versuchte, die Studenten als Wählergruppe insgesamt für die NSDAP zu erobern. So organisierte er eine Großveranstaltung, um Adolf Hitler in das akademische Milieu einzuführen. Inzwischen hatte er auch selbst schon einige Erfahrung als Redner gesammelt und inszenierte sich durchaus bereits als »Diva«: So gab es bei manchen Veranstaltungen sogenannte »Bedingungen für Schirach-Versammlungen«: »Es ist dafür zu sorgen, daß Pg. von Schirach nach der Rede nicht von jedem Pg., der hierzu Lust verspürt, befragt werden kann […] Pg. von Schirach ist stets in einem Hotel unterzubringen. Unterkunft im Privatquartier bedarf ausdrücklicher vorheriger Zustimmung.«138

Trotz der ideologischen Nähe blieben viele »Alte Herren« in den Korporationen, die den politischen Parteien im Allgemeinen grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden, auf Distanz zur NSDAP-Führung. Auch mit Schirach gab es immer wieder Konflikte, da er selbst keiner Verbindung angehörte. Schirach gelang es aber trotzdem, immer mehr junge Korporierte auf die Seite der NSDAP zu ziehen, 1929 hatte der NSDStB bereits in 170 Verbindungen Mitglieder. In den Jahren 1930/31 eroberte der NSDStB an elf Universitäten die absolute Mehrheit und wurde an zehn Hochschulen stärkste Fraktion.

Im Zeitraum Herbst 1930 bis Frühjahr 1931 gab es dann einen massiven Konflikt in München zwischen dem »Münchner Studenten-Convent« und Schirach, aber auch der NSDAP-Reichsleitung: Wilhelm von Holzschuher, der Sekretär des Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses der NSDAP, war Mitglied der schlagenden Burschenschaft »Corps Franconia« und lehnte die Duellforderung eines anderen Mitglieds in diesem Corps ab. Schirach wurde – nach eigenen Angaben139 – ebenfalls zum Duell gefordert, da er das Corps kritisiert hatte. Angeblich nahm Schirach die Forderung an, bestand aber auf Pistolen.

Gleichzeitig versuchte seine spätere Frau Henny Hoffmann durch direkte Intervention bei Hitler, dieses Duell zu verhindern. Schirach wiederum stoppte die Publikation des Duellverbots durch Hitler im Völkischen Beobachter, dem Zentralorgan der NSDAP, um in den Kreisen der waffentragenden Corps sein Gesicht zu wahren. Letztlich wurde diese Auseinandersetzung aber auf höchster Ebene und durch das Einschreiten von Hitler und seinem Stellvertreter Rudolf Heß niedergeschlagen.140 Schirach wurde aber zu einer bedingten Strafe von sechs Monaten Festungshaft verurteilt, da er gegen § 201 des Strafgesetzbuches »Annahme einer Herausforderung zum Zweikampf mit tödlichen Waffen« verstoßen hatte. Diese heute absurd klingende Duell-Geschichte und die Reaktion des Staates darauf sind ein anschauliches Beispiel für die rückwärtsgewandten Diskussionen in der Weimarer Republik, die letztlich von den eigentlichen Problemen und den Zielsetzungen der NSDAP in Richtung totaler Machtergreifung ablenkten. Gleichzeitig symbolisieren sie den Versuch, die traditionellen Eliten wie die Corps für den Nationalsozialismus zu gewinnen.


Kultstätte: Der Ehrensaal der SA mit der »Blutfahne« in der Geschäftsstelle der NSDAP in der Münchner Schellingstraße 50. Foto: Heinrich Hoffmann.


Eva Braun im »Photohaus Hoffmann« 1930. Braun war seit 1929 bei Hoffmann angestellt und lernte über ihn Hitler kennen. Offiziell blieb sie bis 1945 Angestellte des Unternehmens Hoffmann. Foto: Heinrich Hoffmann.

Zwar gab es durchaus noch starke interne Widerstände, die sogar in einer von 31 Gruppen unterzeichneten Denkschrift endeten, in der Schirachs charakterliche und organisatorische Fähigkeiten massiv bezweifelt wurden. Diese Intrige organisierte sein Stellvertreter Reinhard Sunkel (1900–1945), der Reichsorganisationsleiter des NSDStB. Hitler schätzte aber Schirachs Fähigkeit, neue bürgerliche Wählerschichten anzuziehen und unter den Studenten Unterstützung zu finden. Daher stellte sich Adolf Hitler ostentativ und mit klaren Worten bei der Versammlung von Studentenführern hinter Baldur von Schirach: »Seit Pg. von Schirach die Führung des Studentenbundes hat, hat er in diesem Sinne unschätzbare Dienste dadurch geleistet, daß in Zeiten allgemeiner Depression und Stagnation immer dieser große Antrieb hineinkam: Es geht vorwärts!

Wenn der Theoretiker sagt, die NSDAP sei eine oberflächliche Partei, dann kann ich ihm nur antworten: Sie sind eben nur ein Theoretiker. Es handelt sich um eine Feldschlacht und nicht um das Betreiben kriegswirtschaftlicher Studien. Wir haben keine Zeit, Führer zu erziehen, die geistig hoch gebildet sind, denn wir befinden uns in einem Riesenschwung … Pg. von Schirach hat verstanden, auf was es ankommt: ausschließlich auf die grandiose Massenbewegung … Herr Sunkel141, ich bin jetzt das alte Frontschwein, das für seinen Kameraden eintritt und ihn auf Hieb und Stich deckt!«142

Nach dieser Rede bei der 5. Führerringsitzung am 2. Mai 1931143 brach die Berliner Kritik, die Reinhard Sunkel forciert hatte, endgültig zusammen, der »Rebell« Sunkel wurde aus dem NSDStB ausgeschlossen.

Schirach hatte nicht nur Sunkel kaltgestellt und durch die Ernennung zum Organisationsleiter neutralisiert, sondern reklamierte auch den Erfolg seines zweiten Gegners, des aus Hamburg stammenden Diplomlandwirts Walter Lienau (1906–1941), für sich. Lienau war – obwohl NSDStB-Funktionär – in Graz beim 14. Deutschen Studententag zum Vorsitzenden gewählt worden. Schirach meldete Hitler diesen Erfolg, der angeblich nur deswegen zustande kam, weil er verzichtet hatte, selbst anzutreten. Schirach hätte aber gar keine Chance gehabt, gewählt zu werden, da er kein Corps-Student war. Lienau hingegen war zeitweise aktives Mitglied beim Kösener Corps Isaria München gewesen.144 Zwar hatte der NSDStB damals nur viertausend Mitglieder, aber bereits 60.000 Wähler unter den rund 120.000 Anhängern der Deutschen Studentenschaft.145 Lienau seinerseits versuchte aber aus Konkurrenzgründen dennoch, Schirach loszuwerden, beschwerte sich bei Heß und stellte am 22. Oktober 1931 sogar einen Ausschlussantrag145, zog sich dann aber aus der Hochschularbeit zurück. So verwirrend waren damals die diversen internen Intrigen in der nationalsozialistischen Studentenorganisation, die Schirach aber geschickt für sich ausnützen konnte.146

Schirach

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