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Das Lagerfeuer der Nation

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Ab den 60er Jahren nahm das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert im Leben der Menschen ein. Dies wurde auch dadurch deutlich, dass die Möbel im Wohnzimmer um das schwere und klobige Fernsehgerät herum angeordnet wurden. Für viele bestimmte das Programm zudem den abendlichen Tagesablauf. Es zwang die Zuschauer, wenn sie zum Beispiel die Nachrichten verfolgen wollten, zu einem vom Sender festgelegten Zeitpunkt einzuschalten. »Freizeit« bedeutete also nicht mehr, frei über die Zeit bestimmen zu können.

Als im Januar 1962 Das Halstuch, die Verfilmung eines Krimis des englischen Autors Francis Durbridge als Miniserie lief, waren die Straßen leer, Theater und Kinos spielten vor kaum besetzten Rängen und die Zuschauerquote lag bei 89% aller Haushalte mit einem Fernsehgerät. Im Deutschen wird dieses Phänomen als »Straßenfeger« und in den USA als »Watercooler« bezeichnet. Der Ausdruck verweist darauf, dass Angestellte in ihren Pausen zu dem im Flur stehenden Wasserbehältern gehen und sich dort ein gekühltes Mineralwasser holen. Kommt ein Kollege vorbei, so folgt eine zwanglose Unterhaltung. Das Thema, über das dabei gesprochen wird, besitzt den »Watercooler Effect«. Und viele Fernsehsendungen ab den 60er Jahren besaßen die Eigenschaft, die Nation zu stimulieren, sodass sie am nächsten Tag mit den Freunden darüber kommunizierten.

Anfang 1962 konnte sich niemand der Frage entziehen, wer denn der Täter in Das Halstuch sei. Es ging ein Aufschrei durch die gesamte Bevölkerung, als am Tag vor der letzten Folge ein bekannter Kabarettist in einer Berliner Zeitung per Werbeanzeige verriet, wer der Mörder ist.

Aber nicht nur mit diesen herausragenden Ereignissen, insgesamt entwickelte sich das Fernsehen, als in den meisten Haushalten ein Empfangsgerät stand, zum »Lagerfeuer der Nation«. Neben Sportveranstaltungen und anderen wichtigen Events waren es vor allem Filme und Serien, die die Bevölkerung vor den Apparaten versammelten. Das Heimkino erzeugte damit Momente, wie sie das Radio bisher nur in wenigen Ausnahmen hergestellt hatte. Über Schichten und Milieus hinweg wurde eine Nation durch eine fiktionale Erzählung miteinander verbunden. Der einfache Arbeiter und der Millionär, alle verfolgten die Durbridge-Verfilmungen oder die Serie Die Firma Hesselbach. Die Erlebnisse rund um die gleichnamige Familie und ihr kleines Unternehmen sahen bis zu 94 Prozent der Fernsehzuschauer.

Es entstand eine nationale Kultur, wie sie zuvor nur die Literatur ermöglichte. Beim Fernsehen handelte es sich jedoch um ein Massenphänomen, denn verglichen damit, waren die Auflagen von literarischen Bestsellern verschwindend gering. Auch sorgte der Umstand, dass die Sendungen von allen zeitgleich konsumiert wurden, zu einer neuen Qualität. In jenen Ländern mit einem starken Fernsehprogramm bildeten sich eigenständige nationale Fernsehkulturen. In Deutschland gab es dazu noch die Besonderheit, dass die westlichen Programme fast überall in der DDR geschaut werden konnten. Obwohl nicht erwünscht, nutzten viele Bürger des Ostens diese Möglichkeit, durften allerdings nicht am nächsten Tag mit den Kolleginnen und Kollegen offen darüber reden. So riss trotz des Mauerbaus die kulturelle Gemeinsamkeit durch das Fernsehen nie ganz ab.

Der kanadische Philosoph und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hatte Anfang der 60er Jahre das »globale Dorf« vorhergesagt. Die elektronischen Medien würden, so hatte er postuliert, die Menschheit zu einem Dorf vereinigen. Seine These war, dass wie die Trommeln eines Stammes über die Geschehnisse in der nahen Umgebung unterrichten, verteilen sich die Nachrichten allen voran durch das TV über den gesamten Globus.

Tatsächlich hat das klassische Fernsehen eher das »nationale Dorf« erschaffen, denn die Fernsehspiele, Serien, Shows und die Nachrichten vereinten die jeweiligen Nationen.

Die Netflix-Revolution

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