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Reifer werden: Gegenseitige Präsenz

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Mit Präsenz zu beginnen ist ein mit der Zeit heranreifendes, vielfältiges Erleben. Entwickeln wir es in uns, scheint sein Licht auch auf die Existenz des anderen. Je mehr ich mich selbst spüre, desto mehr werde ich mir meines Gegenübers bewusst. Diese Beobachtung ist so grundlegend, dass wir sie mitunter ganz selbstverständlich nehmen: Beziehung heißt per Definition, dass wir zu zweit sind! Wirklich in einem Dialog zu sein bedeutet, dass wir die andere Person als ein eigenständiges Individuum betrachten, mitsamt ihren eigenen Hoffnungen, Ängsten, Träumen, Wünschen, Freuden und Sorgen.

Auf Zulu gibt es einen traditionellen Gruß: Sawubona (»Wir sehen dich«). Orland Bishop, Leiter der ShadeTree Multicultural Foundation, erläutert: »Diesen Gruß beantwortet man mit Yabo sawubona (›Ja, wir sehen dich ebenfalls‹). Wenn sich zwei Menschen mit der Sawubona-Geste begegnen, erkennen sie an: ›Wir sehen einander.‹ Es wird zu einer Übereinkunft. Es ist eine Einladung, am Leben des anderen Anteil zu nehmen.«15 Können wir diese einfache, tiefgreifende Anerkennung der Gegenwart des anderen in unsere Gespräche mit einbeziehen?

Wir alle haben es schon einmal erlebt, selbst nicht gesehen zu werden oder jemand anderen völlig zu übersehen. Es fühlt sich so an, als redete die andere Person »an einem vorbei« anstatt »mit einem« oder als spräche man selbst zu einer Wand. Mangel an Gegenseitigkeit bedeutet auch Abwesenheit von Präsenz; so wird der Dialog zum Monolog. Kennzeichen sind dieser leere Blick des Kassierers oder die mechanisch wirkende monotone Stimme der Frau vom Kundenservice.

Wir verlieren die Gegenseitigkeit aus vielen Gründen. Es kann ­passieren, wenn wir uns im Autopilotmodus befinden. Oder auch, wenn wir besonders leidenschaftlich für eine Sache brennen. Oder ängstlich, verärgert oder wütend sind. Tragischerweise verlieren wir die Gegenseitigkeit mit jenen Freunden und Angehörigen, die wir jeden Tag sehen. Sie werden uns so vertraut, dass wir sie nicht länger wahrnehmen.

Ohne gegenseitige Präsenz entsteht eine fundamentale Unverbundenheit. »Du« wird zu einem Objekt in Beziehung zu »mir«. Der andere wird zu einer mentalen Repräsentation aus der Vergangenheit, zu einem Mittel, wie ich das bekomme, was ich will, oder ein Hindernis auf meinem Weg. Wenn Menschen zu Objekten werden, statt Personen zu sein, gibt es nichts mehr, was wir nicht rechtfertigen könnten: von alltäglicher Geringschätzung bis hin zu den Gräueln von Sklaverei, illegalem Sexhandel und Völkermorden.

Präsenz hingegen öffnet die Tür zur Gegenseitigkeit. Wenn wir mit Präsenz beginnen, betreten wir ein Beziehungsfeld, in dem wir beide wichtig sind, einfach dadurch, dass wir existieren. Wir sehen den anderen dann nicht länger als ein Objekt, sondern vielmehr als ein Subjekt. Das ist der transformative Perspektivwechsel, den Martin Buber als die »Ich-Du-Beziehung« beschrieben hat: Alles wirkliche Leben sei Begegnung.16 Martin Buber war der Respekt für die Subjektivität, die dem Leben innewohnend, heilig.

Prinzip: Mit Präsenz zu beginnen hat mit Gegenseitigkeit zu tun, damit, die andere Person als eigenständiges Individuum zu erkennen, und mit Ungewissheit, also damit, das Unbekannte anzuerkennen und zu akzeptieren. Dadurch entstehen im Gespräch neue Möglichkeiten.

Wirkliche Lebendigkeit bedeutet, in diese Erfahrung von Gegenseitigkeit einzutreten, einander und das Mysterium des Daseins zu spüren. Präsenz in Beziehungen ist eine wahre Begegnung, in der ich dich sehe als die Person, die du bist, anstatt als die, die ich will oder brauche. Diese Gegenseitigkeit ist die Grundlage für wahren Dialog.

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