Читать книгу Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan - Страница 10

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Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Die Müllcontainer quollen über, Sperrmüll stapelte sich auf dem Gehweg, und an den Hauswänden wiederholten sich Tags, die unsichtbare Reviere absteckten. Moses stieg aus dem Wagen. Die vielen Bäume um ihn herum konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Straße im Norden Altonas zu den weniger bevorzugten Wohnadressen der Stadt zählte. Das galt insbesondere für die abgewirtschaftete Siebzigerjahre-Wohnanlage, die sich über den halben Block erstreckte.

Moses überquerte die Straße und betrat das Wohnhaus durch die verschmierte Glastür, die wie beim letzten Mal nicht verschlossen war. Die beiden Teenager, die in einer Ecke neben den Briefkästen die Köpfe zusammensteckten, waren sichtlich verblüfft, als plötzlich ein groß gewachsener und elegant gekleideter Schwarzer im Treppenhaus stand. Sie ließen die kleinen Plastiktütchen blitzschnell in ihren Hosentaschen verschwinden, dann machte der Größere einen Schritt auf Moses zu. Die dunklen Augen und pechschwarzen Haare verrieten seine arabischen Wurzeln. »Was willst du, Nigga?«, blaffte er Moses an, der fast einen Kopf größer war.

Moses blieb gelassen. Als Träger des schwarzen Gürtels wäre es ein Leichtes gewesen, sich den Burschen vom Leib zu halten. Selbst wenn der Junge das Messer zücken würde, das Moses in dessen Tasche vermutete. Aber er hatte Wichtigeres vor, als diesen Rotzlöffel übers Knie zu legen. »Ich rate dir, mir sofort aus dem Weg zu gehen«, sagte er in einem eindringlichen, ruhigen Ton. »Es sei denn, du legst Wert darauf, mich auf das Präsidium zu begleiten.«

Der Junge blickte sich irritiert nach seinem Freund um.

»Pass auf, Mann.« Sein blonder Kumpel zog ihn am Ärmel. »Das is n Cop!«

Der Dunkelhaarige musterte Moses von oben bis unten. »Das soll n Cop sein? Never!«

»Doch! Er gehört zu dem Typen im dritten Stock. Du weißt schon. Also mach keinen Stress.«

Moses hatte keine Ahnung, woher der Junge das wusste. Offenbar blieb in dieser Wohnanlage nichts unbeobachtet.

Der Blonde flüsterte seinem aufgeblasenen Freund etwas ins Ohr, woraufhin dieser Moses einen letzten, verächtlichen Blick zuwarf. Dann drängten sich die beiden an ihm vorbei auf die Straße.

Moses schüttelte den Kopf und starrte für einen Moment auf die zerbeulten Briefkästen, von denen gut die Hälfte offen standen. Die fremdländischen, mit Tesafilm aufgeklebten Namen daran ließen erahnen, dass in diesem Wohnblock praktisch die ganze Welt zu Hause war. Ein nach Urin und Reinigungsmitteln riechender Mikrokosmos. Voll von ethnischen und kulturellen Gräben und umgeben von einer unsichtbaren, kaum überwindbaren sozialen Mauer. Kein Wunder, dass die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, zu tickenden Zeitbomben heranwuchsen. Er dachte unweigerlich an Helwig, die in einer ähnlichen Umgebung aufgewachsen war. Es war erstaunlich, dass sie es geschafft hatte, diese Mauer zu überwinden.

Da er dem zerkratzten Fahrstuhl nicht traute, entschied sich Moses für die Treppe. Im ersten Stock wummerte irgendwo hinter den verschlossenen Türen der Sound eines Computerspiels. Maschinengewehrsalven und Detonationen verwandelten das Treppenhaus in ein imaginäres Schlachtfeld. Woran sich niemand zu stören schien. In der dritten Etage angekommen, bog er in den rechten Teil des Hausflurs und war schnell am Ziel.

Moses schlug mit der flachen Hand dreimal gegen die Wohnungstür. Nach einer kurzen Pause schlug er noch ein weiteres Mal dagegen. Während er wartete, schrie in dem Apartment gegenüber eine Frau in einer Sprache, die er nicht identifizieren konnte. Im Hintergrund lief offenbar der Fernseher, dann gab es plötzlich einen Rums, als wäre ein Schrank umgefallen. Sekunden später ging die Tür auf. Ein hohlwangiger Mann in einem gestreiften Pyjama kam aus der Wohnung und schlurfte wortlos an ihm vorbei. Moses fragte sich, ob der Mann ihn überhaupt bemerkt hatte. Er hob die Hand, um erneut gegen die Tür zu hämmern, als sie mit einem Mal aufgerissen wurde.

Im Türrahmen stand ein Hüne mit schulterlanger, platinblonder Dauerwelle und der Figur eines gealterten Boxers, der nicht mehr trainierte. Sein roter Bademantel hing offen über der stark behaarten Brust, zu Moses’ Erleichterung trug er immerhin eine Jogginghose. Das breite Gesicht des Mannes war komplett mit einer weißen Paste beschmiert.

»Shit!«, entfuhr es Reimann, als er Moses erkannte. Dann drehte er sich um und verschwand in der Wohnung. Moses folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Das kleine Apartment hatte sich nicht verändert. Es war sauber und aufgeräumt, die Einrichtung noch immer gewöhnungsbedürftig. Die Leopardenkissen auf dem lachsfarbenen Sofa und das viele Gold trafen nicht unbedingt Moses’ Geschmack. Ebenso wenig wie das gerahmte Poster der New Yorker Skyline, das es irgendwie in dieses Zeitalter geschafft hatte.

»Was wollen Sie?«, rief ihm Reimann aus dem angrenzenden Badezimmer zu, wo er den Wasserhahn aufdrehte. »Ich habe keine Zeit. Ich kann meine Kunden nicht warten lassen.«

Bernd Reimann, auch »Bulle« genannt, war in Kiez-Kreisen eine lebende Legende. Seinen Spitznamen hatte er sich in jungen Jahren im Boxring der Ritze verdient, und es gab Zeiten, in denen er unter anderem ein Bordell am Hans-Albers-Platz besessen hatte. Heute bot der in die Jahre gekommene Exzuhälter zahlungskräftigen Touristen private Führungen über die Reeperbahn an. Von soft bis hart, je nach Wunsch und Geldbeutel.

»Sie haben Kunden?«, fragte Moses, während er die beachtliche Glasfigurensammlung auf dem Sideboard begutachtete. »Um diese Tageszeit?«

Dem Plätschern nach zu urteilen, wusch sich Reimann das Gesicht. »Vorher gibt es noch eine Stadtrundfahrt«, rief er dann. »Und anschließend ein Candle-Light-Dinner! Ich …«, seine Stimme verlor sich kurz im Handtuch, »… neu im Extrapaket!«

Reimann kam aus dem Bad und grinste breit. »Die Konkurrenz schläft nicht. Ein Unternehmer wie ich muss innovativ sein.« Sein gerötetes Gesicht glänzte, was die vielen Falten nur noch tiefer erscheinen ließ. Das Nachtleben, gelegentliche Gefängnisaufenthalte und unzählige Stunden im Solarium hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Was seiner Eitelkeit jedoch keinen Abbruch zu tun schien. Er rauschte an Moses vorbei und hüllte ihn in eine Wolke diverser Duftwässerchen. »Also, was wollen Sie? Ich schulde Ihnen nichts mehr!« Er stemmte die Fäuste in die Seite und sah Moses grimmig an.

»Ich weiß, dass wir quitt sind«, sagte Moses. »Trotzdem können Sie mir vielleicht helfen. Sagen wir, um der alten Zeiten willen.«

Vor Jahren hatte er Reimann vor einer unrechtmäßigen Mordanklage bewahrt. Seine Freundin, eine Prostituierte, war erstochen aufgefunden worden, und sowohl die Indizien als auch der Staatsanwalt hatten gegen Reimann gesprochen. Für Moses, der damals gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte, war es einer seiner ersten Fälle gewesen. Es war ihm gelungen, eine Kollegin der Toten als wahre Täterin zu überführen. Seitdem gehörte der ehemalige Bordellkönig zu Moses’ persönlichem Kontakt-Netzwerk, das er selbst vor seinen Kollegen geheim hielt.

»Ich soll Ihnen einen Gefallen tun?«, stöhnte Reimann. »Das bringt mir doch wieder nichts als Ärger.« Er ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Moses überlegte, sich auf das lachsfarbene Sofa zu setzen, blieb dann aber doch stehen. »Wer betreibt im Moment das Geschäft mit den Minderjährigen?«, fragte er laut.

»Keine Ahnung«, kam es aus dem Schlafzimmer zurück.

»Ach kommen Sie! Wer zieht da momentan die Fäden?«

Moses widerstrebte es zutiefst, an diese dunkle Seite seiner Heimatstadt auch nur zu denken. Die Kinderprostitution war wie ein bösartiges Krebsgeschwür. Sie ließ sich allenfalls eindämmen, ausmerzen ließ sie sich nie. Es war schwer, sich damit abzufinden. Moses trat an das Sideboard und nahm einen kitschigen Kristallbären in die Hand. Unweigerlich hatte er wieder das tote Mädchen vor Augen, die lebensgroße Puppe in dem Koffer.

»Ich bin schon lange raus«, sagte Reimann laut. »Außerdem habe ich nie mit Kindern zu tun gehabt. Bei mir war immer alles legal. Das wissen Sie doch.«

»Ich behaupte ja gar nichts anderes«, sagte Moses. Er stellte die Glasfigur an ihren Platz zurück. »Aber Sie sind immer noch auf dem Kiez unterwegs. Sie kennen die Leute, hören Gerüchte …«

Reimann kam fertig angezogen aus dem Zimmer. Er sah aus wie ein Relikt aus den Achtzigerjahren. Er trug mit Strass besetzte Cowboystiefel, eine knallenge Bluejeans und ein halb zugeknöpftes gelbes Hemd, das den Blick auf seine Brustbehaarung freigab. »Seitdem die Albaner den Kiez übernommen haben, ist es anders als früher«, sagte er. Er entnahm einer Schatulle eine Goldkette und legte sie an. »Ich halte meinen Arsch lieber raus. Dat is’ gesünder.«

Moses zog ein Foto des toten Mädchens hervor und hielt es Reimann unter die Nase. »Vielleicht ist Ihnen die junge Frau hier ja trotzdem schon mal zufällig begegnet. Auf einer Ihrer Touren vielleicht. Sie sind immerhin jede Nacht unterwegs.«

Reimann warf einen schnellen Blick auf das Foto. Er verzog das Gesicht. »Wie alt ist die Lütte?«

»Vierzehn oder fünfzehn. Haben Sie das Mädchen schon mal gesehen?«

Reimann schüttelte den Kopf. »Wo wurde sie gefunden?«

»Am Elbstrand. In einem alten, mit roten Kissen und Plüschtier ausstaffierten Überseekoffer.«

Reimann nahm seine Rolex vom Tisch und schloss das Armband um sein Handgelenk.

»Rote Kissen und Plüschtier?« Er lachte trocken. »Dann hat es ganz sicher nicht mit dem Kiez zu tun. Wenn da etwas mit einem Freier schiefgelaufen ist, betten sie die Mädchen nicht auf Kissen. Die werfen die Kleine weg und besorgen sich Nachschub. Die Zeiten sind nicht mehr wie früher, wo die Tillen Kapital waren, das betüdelt werden musste.«

»Das Mädchen war ausstaffiert wie eine Puppe«, sagte Moses. »Vielleicht bringt Sie das ja auf eine Idee. Denken Sie nach: Wer könnte so was im Angebot haben?«

»Ich weiß es wirklich nicht!«, sagte Reimann abwehrend.

»Aber Sie könnten sich für mich ein wenig umhören, oder nicht? Dann hätten Sie was gut bei mir …«

Reimann fuhr sich mit den Fingern durch die Dauerwelle. »Ich hab schon ziemlich viel gut bei Ihnen …«

Moses steckte das Foto wieder ein. »Ich will nur wissen, wer das getan hat. Und für Sie ist es ein Leichtes, Ihre Kontakte zu nutzen. Vielleicht gibt es ja einen neuen Player in der Szene.«

Reimann warf einen nervösen Blick auf seine goldene Armbanduhr. »Okay, okay! Wenn es Sie glücklich macht, höre ich mich um. Aber jetzt muss ich los. Die Stretchlimo wartet unten, und die alten Muddern stehen garantiert schon vorm Hotel.«

Moses lachte auf. »Alte Muddern?«

»Ein Kaffeekränzchen vom Land.« Reimann zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, ist eine von denen Witwe geworden. Dat wollen die heute feiern.«

Moses hob die Augenbrauen. Mitunter trieb die Liebe seltsame Blüten. Er hoffte sehr, dass sie nie an den Punkt kommen würden, an dem Juliane oder er ein Freudenfest veranstalteten, wenn dem anderen etwas zustieß.

Er verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Im Grunde hatte er sich nur eine Bestätigung holen wollen, und die hatte er bekommen. Sein Gefühl hatte ihm von Anfang an gesagt, dass die Tote nicht zu den vielen jungen Mädchen aus Osteuropa gehörte, die tagtäglich den Versprechen der skrupellosen Schlepper Glauben schenkten und inmitten des vermeintlichen Paradieses im Elend der Prostitution landeten. Also würde er außerhalb des Milieus nach der Lösung dieses bizarren Falls suchen müssen. Was wiederum, wie er sich eingestehen musste, die Aufgabe nicht leichter machte. Hamburg war eine Millionenmetropole, und irgendwo da draußen gab es jemanden, den er finden musste.

Jemand, der ein junges Mädchen als Puppe verkleidete, sie in eine Kiste steckte und dann in die Elbe schmiss.

Moses und das Mädchen im Koffer

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