Читать книгу Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan - Страница 2
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ОглавлениеStille. Nirgendwo gab es ein Fenster. Nur eine Tür aus grauem Stahl. Sie schrie und hämmerte panisch dagegen. Niemand antwortete. Dabei hätte sie schwören können, dass sie jemanden atmen hörte. Verwirrt blickte sie sich um. Der gut ausgeleuchtete Raum bot kein Versteck, das man nicht hätte einsehen können. Weder hinter den rosa lackierten Holzmöbeln noch unter dem schlichten weißen Kinderbett. Auch in der gekachelten, mit Bärchenstickern verzierten Waschecke und hinter der durch eine halbhohe Wand abgetrennten Kindertoilette konnte sich niemand verbergen.
Sie sah nach oben. An der Zimmerdecke aus nacktem Beton hing eine Kamera, die auf sie gerichtet war. »Machen Sie die Tür auf! Sofort!«
Sie hämmerte erneut dagegen. Plötzlich vernahm sie ein leises Kichern. Es klang wie das Glucksen eines fröhlichen Kindes.
»Hallo, Claire. Wie geht es dir?«
Sie erschrak. Es war die Stimme eines Fremden, sie klang jedoch weich und liebevoll. Es musste einen versteckten Lautsprecher geben.
Sie ließ ihren Blick über die mit Tierpostern und Kinderzeichnungen beklebten Wände wandern. Aber sie konnte ihn nicht sehen.
»Was wollen Sie von mir?«, stieß sie zitternd hervor. »Wer … wer sind Sie?«
»Du weißt doch, wer ich bin.«
Für einen Moment vergaß sie ihre Angst: Sie war einfach nur wütend. »Ich bin nicht Claire! Und ich kenne auch keine Claire«, schrie sie zornig. »Machen Sie die Tür auf! Ich will nach Hause!«
»Du bist zu Hause, Claire.«
»Mein Name ist nicht Claire!«, brüllte sie aus Leibeskräften. Sie rannte hinüber zum Bett und warf sich auf die weiche Federbettdecke.
Als sie den Kopf wieder hob, bemerkte sie entsetzt, dass ihr das Auge der Deckenkamera gefolgt war. Wieder erklang das Kichern.
»Natürlich ist er das. Und es ist ein sehr schöner Name.«
Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie stand auf, riss einen Plüschpinguin aus dem Regal neben dem Bett und schleuderte ihn in Richtung Kamera. »Sie sind ja komplett irre! Was wollen Sie überhaupt von mir?«
»Ich will dein Glück, Claire. Und dass dir niemals etwas passiert.«
Sie trat gegen die Stahltür. So fest, dass ihr Fuß zu schmerzen begann. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Lassen Sie mich raus«, flehte sie. »Meine Eltern haben bestimmt schon längst die Polizei gerufen.«
Der Unsichtbare lachte. »Möchtest du singen, Claire?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit sanfter Stimme zu singen. Die Melodie kam ihr bekannt vor, es war ein Kinderlied:
Wohl ein einsam Röslein stand
Welk und matt am Wege
Von des Sommers Glut verbrannt
Armes Röslein unbekannt
Ohne Lieb und Pflege
Sie presste sich die Hände auf die Ohren und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte, dass es aufhörte. Sofort!
Aber das tat es nicht.