Читать книгу Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan - Страница 4
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ОглавлениеMit jedem Schritt drang mehr feiner Sand in seine Segelschuhe. Moses versuchte das Scheuern zwischen den Zehen zu ignorieren und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. In der kurzen Zeit, die er vom Wedeler Jachthafen bis ins Naturschutzgebiet und zum Parkplatz am Rissener Ufer benötigt hatte, hatte es zu regnen begonnen. Schwere Tropfen klatschten ihm ins Gesicht und hinterließen in dem fast weißen Sand winzige Schlammfontänen. Missmutig stapfte er weiter. Seinen Alfa hatte er auf dem Parkplatz bei dem Einsatzfahrzeug der DLRG stehen lassen, und nun erkannte er, dass der Elbstrand an dieser Stelle viel breiter war, als er ihn in Erinnerung hatte. Am Ende des Strands, unterhalb des rot-weißen Leuchtturms, entdeckte er Katja Helwig sowie drei Kriminaltechniker, die unter einem Zeltdach um etwas herumwuselten, das nah am Wasser lag. Auf den Steinen unterhalb des Leuchtturms langweilten sich zwei Streifenbeamte. Vermutlich hatten sie ebenso wie ihre Kollegen auf dem Parkplatz die Aufgabe, Schaulustige fernzuhalten. Schaulustige, die es hier definitiv nicht gab, denn der Strand und die weit in den Fluss hineinragende Landungsbrücke waren menschenleer. Stattdessen bevölkerte ein Schwarm Seeschwalben den schwimmenden Schiffsanleger. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Rauschen der Baumkronen und dem Plätschern der Wellen, die sich an den aufgeschütteten Buhnen brachen. Am anderen Ende des Strands stolzierte ein Weißstorch durch das flache Uferwasser, und der Stückgutfrachter, der sich draußen auf der Elbe flussaufwärts schob, wirkte wie aus einer fernen Welt. Obwohl er in Blankenese aufgewachsen war, hatte Moses diesen Strandabschnitt selten besucht. Wenn man nicht in Richtung Hamburger Hafen sah, wähnte man sich fast in der freien Natur. Zumindest an diesem verregneten Herbstmorgen.
Als Helwig Moses erblickte, kam sie ihm über den Strand entgegen. Wie immer trug sie Lederjacke, Jeans und Schnürstiefel, um die er sie zum ersten Mal beneidete. Seine junge Kollegin trug ihre blonden Haare nicht mehr so kurz wie bei ihrem ersten Zusammentreffen vor wenigen Monaten, als Direktor Bonnekamp sie ohne Absprache in Moses’ Team abgeladen hatte. Helwigs schroffe und ungestüme Art, die sicher aus ihrer Zeit beim Mobilen Einsatzkommando stammte, hatte Moses zu Anfang einige Nerven gekostet. Und das tat sie noch heute. Aber dann hatte ein schwieriger Fall sie gemeinsam an ihre Grenzen gebracht, und seitdem hatte er zu Helwig in gewisser Weise Vertrauen gefasst.
»Ich dachte schon, Sie kommen nie!«, rief sie ihm von Weitem zu. Ihre feuchten Haare hingen in Strähnen wirr um ihr zierliches Gesicht, aus dem Moses große blaue Augen entgegenblickten.
Als Moses sie erreichte, musterte sie seine verschmutzten Segelschuhe und die Bordhose mit hochgezogenen Augenbrauen: »Waren Sie bei dem Schietwetter etwa segeln?«
»Ich hatte heute frei«, erwiderte Moses knapp und wandte den Blick ab, während er unbeirrt an ihr vorbeiging. »Bringen Sie mich einfach auf den Stand der Dinge.«
Helwig schloss zu ihm auf, ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
»Ist Ihnen nicht gut?« Moses hielt inne und musterte sie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Kollegin ungewöhnlich blass war.
»Doch, doch«, sagte Helwig hastig. »Alles okay.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Die SpuSi ist schon seit einer Stunde zugange«, sagte Helwig, während sie auf das provisorische Zelt zugingen. »Ich konnte die Kollegen schließlich nicht tatenlos rumstehen lassen, bis Sie auftauchen.«
Moses überging den Vorwurf. »Sind Sie allein hier?«
»Leitner ist drüben an der DLRG-Hütte.« Helwig deutete zu einem auf Stelzen gebauten Holzhaus hinüber, das seitlich der Landungsbrücke am Strand stand. »Er nimmt die Personalien der Zeugen auf. Da ist es natürlich schön trocken …«
»Es gibt Zeugen?«, fragte Moses sofort.
»Spaziergänger. Ein Rentnerpaar, das hier in der Nähe wohnt, und noch ein Hundebesitzer. Sie haben das Ding aus dem Wasser gezogen und aufgemacht.«
Moses verzichtete auf weitere Fragen und beschleunigte seinen Schritt, denn der Regen wurde immer heftiger. Je schneller er die Sache hinter sich brachte, desto besser. Also bereitete er sich innerlich auf das vor, was ihm bevorstand. Auch wenn er es rational nicht erklären konnte, die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass der erste Eindruck entscheidend war. Umso mehr wurmte ihn, dass er diesmal viel zu spät am Tatort eintraf. Auch wenn dies vermutlich gar nicht der Tatort war, wie er beim Näherkommen erkannte. Denn jetzt konnte er sehen, was sich zu Füßen der Kriminaltechniker unter dem Zeltdach befand: ein riesiger, antik anmutender Koffer.
Moses trat unter das Zeltdach. Der Deckel des alten, mit Holzleisten und Messingbändern beschlagenen Überseekoffers war geschlossen. Den immer noch leicht erkennbaren Schleifspuren am Ufer nach zu urteilen, musste der truhenähnliche Koffer ein Stück weit auf den Strand gezogen worden sein. Neben ihm lagen eine Eisenkette und ein geöffnetes Vorhängeschloss. Wie Moses annahm, war die Kette um den Koffer gewickelt gewesen. Im gleichen Atemzug stellte er fest, dass die Kriminaltechniker ihre Arbeit offenbar bereits beendet hatten. Auch Janssen, der Leiter des Teams, stand auf und zog sich bereits die Latexhandschuhe von den Fingern.
»Ah, der Herr Kommissar!«, begrüßte er Moses. Der Regen prasselte auf die Zeltplane dicht über ihren Köpfen. »Sie kommen diesmal reichlich spät. Wir sind hier so gut wie fertig. Alle weiteren Untersuchungen machen wir lieber im Trockenen.« Er hatte die Kapuze seines weißen Overalls tief ins Gesicht gezogen und machte wie seine beiden Kollegen den Eindruck, als habe er es eilig, die Arbeit nach drinnen zu verlegen.
Moses starrte auf den geschlossenen Koffer. Er wusste natürlich längst, was sich darin befand, und deshalb versuchte er sich innerlich für den Anblick zu wappnen. Dennoch kostete es ihn Überwindung, Janssen um das Öffnen des Koffers zu bitten. Wie jeder Polizist fürchtete er sich vor den Bildern, die man nicht mehr loswurde. Und in seinem Kopf gab es bereits genug davon.
»Diesmal ist es wirklich, äh, ungewöhnlich«, sagte Janssen. »Also machen Sie sich auf etwas gefasst!« Er streifte sich neue Latexhandschuhe über und öffnete den Koffer.
Moses atmete tief ein. Auf diesen Anblick hätte ihn nichts und niemand vorbereiten können.
In dem mit wasserdichter Teichfolie ausgekleideten Koffer lag ein etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre altes Mädchen mit zwei geflochtenen blonden Zöpfen. Es war auf rote Samtkissen gebettet und hielt einen Stoffhasen im seinem verdrehten Arm. Das Mädchen trug ein weißes Rüschenkleid mit Goldsternmuster. Seine Fuß- und Fingernägel waren rot lackiert, das Gesicht dick mit Make-up überzogen. Der noch kindliche Mund war mit blutrotem Lippenstift bemalt. Man konnte die Leiche fast für eine lebensgroße Puppe halten.
Moses fuhr sich über das nasse Gesicht. In über siebzehn Jahren bei der Mordkommission war ihm nichts Vergleichbares begegnet. Und wie immer, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen waren, verspürte er tiefe Wut in sich aufsteigen, gepaart mit schrecklicher Hilflosigkeit.
Er ließ sich von Janssen einen Overall und Latexhandschuhe reichen. Nachdem er beides übergezogen hatte, näherte er sich dem Koffer, um die Leiche näher in Augenschein zu nehmen. Dank der wasserdichten Folie war die Leiche trocken, das dicke Make-up nicht verwischt. Äußere Verletzungen konnte er nicht erkennen. Auch keine Fesselspuren an den Handgelenken. An einem Handgelenk trug sie nur ein feines goldenes Armband. Als er erst den einen, dann den anderen nackten Arm vorsichtig anstieß, stellte er fest, dass sich die Leichenstarre bereits zu lösen begonnen hatte. Demnach musste der Tod vor mindestens achtundvierzig Stunden eingetreten sein. Dass die Unbekannte dem Drogen- oder Prostituiertenmilieu angehörte, hielt er für unwahrscheinlich. Der sportliche Körperbau, die makellose Haut und die weißen Zähne ließen auf eine gesunde Lebensweise schließen. So sah niemand aus, der im Elend lebte. Was ihn ebenfalls irritierte, war das übertriebene Make-up in dem kindlichen Gesicht der Toten. Jemand hatte großen Aufwand darauf verwendet. Mit einem Mal stutzte er. Er beugte sich näher über die Leiche und drehte mit zwei Fingern ihren Kopf leicht zur Seite. Eine Schnittwunde zog sich quer über die linke Wange und war sorgfältig genäht worden.
»Stammt vermutlich von einem nicht sehr scharfen Gegenstand«, bemerkte Janssen, der Moses’ Tun mit dem Unbehagen eines Kriminaltechnikers verfolgte. »Vielleicht eine Scherbe oder ein Stück Metall. Aber das weiß die Gerichtsmedizin besser.«
Nach Moses’ Empfinden passte die Narbe nicht ins Bild. Sie störte das perfekte Antlitz des Mädchens. Gleichzeitig deutete sie auf eine Moses noch unbekannte Geschichte, die längst nicht zu Ende war.
»Was habt ihr sonst noch gefunden?«, fragte er über die Schulter hinweg und merkte, dass Helwig reglos hinter ihm stand.
»Auf den ersten Blick nichts«, erwiderte Janssen. »Falls es Spuren an der Leiche oder dem Koffer gibt, finden wir die vermutlich erst im Labor. Am besten transportieren wir den Koffer, so wie er ist, in die Gerichtsmedizin. Und zwar so schnell wie möglich!« Er reckte das unrasierte Kinn nach oben, wo sich das Zeltdach unter der Last des Regenwassers bereits gefährlich durchbog.
»Ich bin gespannt, was die Obduktion ergibt«, sagte Moses gedankenverloren. Er ließ den Kopf des Mädchens behutsam in seine ursprüngliche Lage zurücksinken.
»Von so einem bizarren Mord habe ich noch nie gehört«, sagte Helwig tonlos. Sie starrte auf die Leiche. »Wer tötet bloß ein kleines Mädchen, richtet es so her und schmeißt es dann in einem Koffer ins Wasser?«
Moses schloss den Kofferdeckel und stand auf. »Am besten warten wir erst einmal die Obduktion ab. Wenn wir die Todesursache kennen, wissen wir vielleicht mehr. Alles andere ist im Moment reine Spekulation.«
Insgeheim stimmte er seiner jungen Kollegin jedoch zu. Auch er vermutete, dass sie es mit einem Verbrechen zu tun hatten. Obgleich mit einem sehr befremdlichen. Der gewöhnliche Mörder bettete sein Opfer nicht auf Samtkissen und legte Kuscheltiere dazu. Und gewalttätige Psychopathen, die ihre Taten inszenierten, wollten in der Regel, dass ihr abscheuliches »Werk« Beachtung fand. In diesem Fall deutete jedoch einiges darauf hin, dass die versenkte Leiche nur deshalb wieder an die Oberfläche gekommen war, weil die Beschwerung für den abgedichteten Koffer nicht ausgereicht hatte. Zumindest ging Moses im Moment davon aus. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte offenbar den Auftrieb des hölzernen Koffers und der darin eingeschlossenen Luft unterschätzt, denn die schwere Eisenkette hatte zweifellos dafür sorgen sollen, dass der Koffer für alle Zeiten auf dem Grund der Elbe blieb. Das Ganze erinnerte ihn an ein ebenso liebevolles wie makabres Begräbnis.
»Kann ich mich jetzt um den Abtransport kümmern?«, erkundigte sich Janssen ungeduldig.
»Ja, tun Sie das«, sagte Moses. »Und bestellen Sie Dr. Kleinhues einen Gruß von mir: Ich will so schnell wie möglich die Todesursache wissen. Das gilt übrigens auch für Sie und Ihre Kollegen: Wenn Sie im Labor etwas finden, das auch nur im Geringsten nach einem Hinweis aussieht, will ich das nicht erst im Abschlussbericht lesen!«
»Schon klar.« Janssen drehte sich zu seinen Kollegen, die sich ebenfalls unter das Zeltdach quetschten, und gab ein paar Anweisungen. Moses wandte sich an Helwig. »Sie bleiben bitte hier, bis die Leiche verladen ist. Ich werde mal mit den Leuten reden, die den Koffer gefunden haben.«
Helwigs Gesichtsfarbe hatte immer noch keinen gesunden Farbton angenommen.
»Aber ich …« Helwig hielt eine Hand vor den Mund und fuhr herum. Sie rannte zum Wasser und übergab sich an den Rand der Buhnensteine.
»Ihre junge Kollegin ist wohl noch nicht lange dabei«, sagte Janssen, der die Szene beobachtet hatte. Er warf Helwig einen mitfühlenden Blick zu. »Vielleicht wäre sie bei der Sitte besser aufgehoben. Unser Job ist wirklich nichts für so eine zarte Deern …«
»Sie muss es nur ein paar Mal mitmachen«, sagte Moses, »dann wird sie sich daran gewöhnen. So wie wir alle.« Er wandte den Blick ab und versuchte das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren, das seine Lüge enttarnte. Das Mädchen war praktisch noch ein Kind gewesen. Sie hatte ihr Leben gerade erst zu leben begonnen, und jetzt lag sie tot in einem Koffer. Ausstaffiert wie ein Püppchen.
Es gab Dinge, an die gewöhnte man sich nie.