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Als Moses auf die Straße trat, parkte eine Stretchlimousine in zweiter Reihe vor dem Haus. Die Luxuskarosse wirkte in der Umgebung ebenso deplatziert wie der Fahrer, der an der Kühlerhaube lehnte und an einer E-Zigarette sog. Er trug eine dunkelgrüne Livree samt Schirmmütze und weißen Handschuhen. Obwohl Moses das Gesicht nur von der Seite sehen konnte, glaubte er es zu erkennen. Er kam aber nicht darauf, woher.

Moses stieg in seinen Wagen und rief im Präsidium an. Viteri nahm sofort ab. »Gibt es Neuigkeiten?«, erkundigte sich Moses.

»Die gibt es«, sagte Viteri triumphierend. »Die Kollegen haben sich das Kleid und die anderen Sachen noch einmal vorgenommen. Und bingo: Sie haben ein fremdes Haar gefunden. Es muss aus irgendwelchen Gründen bislang übersehen worden sein.«

»Und es gehört sicher nicht dem Mädchen?«

»Die KTU sagt Nein.«

Immerhin. Moses fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Jetzt brauchte er nur noch einen Verdächtigen. Das Problem war allerdings, dass er nicht wusste, wie er ihn finden sollte. Und solange er ihn nicht hatte, nutzte ihm auch das Haar nichts.

»Außerdem hat die Gerichtsmedizin angerufen«, fuhr Viteri fort.

Moses horchte auf. »Und?«

»Dr. Kleinhues bittet um Rückruf.«

»Mehr hat er nicht gesagt?«

»Nein.«

Moses sah auf die Uhr. Siebzehn Uhr. Wahrscheinlich würde er Kleinhues noch in der Gerichtsmedizin antreffen. »Also schön«, sagte er. »Ist Helwig in der Nähe?«

»Sitzt an ihrem Platz. Sieht die alten Mordfälle durch.«

»Sagen Sie ihr, wir treffen uns in fünfzehn Minuten in der Gerichtsmedizin.«

Moses beendete das Gespräch. Er glaubte kaum, dass es Parallelen zu anderen Fällen gab. Deshalb war es besser, wenn sie ihn begleitete. Er manövrierte den Wagen aus der Parklücke und schaltete die Scheibenwischer ein. Es hatte erneut zu regnen begonnen. Über die Ringstraße nach Eppendorf war es nicht weit, und als er in Hoheluft-West an dem unscheinbaren Haus vorbeifuhr, in dessen Keller sich das Birdland vor dem Mainstream verbarg, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er schon lange keinen guten Livejazz mehr genossen hatte. In dem engen Kellerclub, in dem die schweren Holzmöbel Hamburger Musikgeschichte atmeten, hatte Juliane zum ersten Mal Bekanntschaft mit Jazz gemacht. Dass sie ebenso wie er für diese Musik entflammt war, ließ sich allerdings nicht gerade behaupten.

Er setzte den Blinker und bog in die Hoheluftchaussee. Nur wenige Minuten später hielt er auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin. Inzwischen trommelte der Regen einen wilden Rhythmus auf das Autodach, und bevor er ausstieg, schlug er den Kragen seines Mantels hoch. Die kurze Strecke bis zum Eingang der Rechtsmedizin legte er im Laufschritt zurück.

Im Foyer erwartete ihn eine Überraschung. Helwig war bereits da. Obwohl sie den kürzeren Weg gehabt hatte und er ihren rasanten Fahrstil kannte, fragte er sich dennoch, wie sie es so schnell aus dem Präsidium hierher geschafft hatte.

Helwig grinste nur.

Moses schüttelte die Regentropfen vom Mantel. »Haben Sie in den alten Fällen etwas finden können?«

»Nichts. Auch bei den Sexualstraftätern der Kollegen lässt sich nichts Ähnliches finden. Offenbar haben wir es mit einem Ersttäter zu tun.«

»Sie gehen also immer noch davon aus, dass es sich um Mord handelt?«

»Ein Selbstmord mit anschließender liebevoller Entsorgung durch die trauernden Angehörigen? Ach, kommen Sie! Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es kein Suizid war.« Sie sah ihn eindringlich an, und Moses konnte ihr nicht widersprechen. »Das war das Werk eines Psychopathen. Ich kann es fühlen.«

»Sie können es fühlen?«, fragte Moses mit einem süffisanten Lächeln.

»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, brummte Helwig. »Sie predigen doch immer, dass man ein Gespür entwickeln muss.«

Sie hatte ihn kalt erwischt. Moses nickte langsam. »Ich glaube auch, dass wir es mit einem Mord zu tun haben. Gehen wir. Mal sehen, was die Obduktion ergeben hat.«

Nach ein paar Metern bemerkte Moses, dass Helwig ihm nur widerstrebend folgte. »Was ist?«

Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Ich … kann ich nicht hier warten?«

»Sie wollen doch sonst immer dabei sein. Was glauben Sie, weshalb ich Sie hergebeten habe?«

Helwig holte tief Luft. Dann deutete sie mit dem Kinn den Gang entlang. »Das da drinnen muss ich nicht sehen. Die Vorstellung reicht.«

Moses sah sie verdutzt an. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Soll das heißen, Sie waren noch nie in der Rechtsmedizin?«

»Nur in der Ausbildung. Aber das ist ewig her. Und war auch kein besonders schönes Erlebnis.«

Moses erinnerte sich daran, wie sich Helwig am Strand übergeben hatte. Offenbar war sie doch nicht so abgebrüht, wie sie sich nach außen hin gab. Was er irgendwie auch beruhigend fand. Dennoch wurde es für sie höchste Zeit, über ihren Schatten zu springen.

»Ich fürchte, das gehört zu Ihrem Job dazu.« Moses ging weiter den Gang entlang. »Aber keine Sorge. Es riecht gar nicht so schlimm, wie immer behauptet wird. Nach ein paar Minuten hat man sich an alles gewöhnt.«

»Und was ist bis dahin?«, erwiderte Helwig, die ihm mit vor der Brust verschränkten Armen folgte.

»Sie werden es schon schaffen.«

Als sie die Leichenhalle durchquerten, in der die Toten in deckenhohen Kühlschränken gestapelt auf ihr weiteres Schicksal warteten, richtete Helwig ihren Blick starr auf den Schritt ihrer Springerstiefel. Moses wurde bewusst, wie vertraut ihm dieser Ort mittlerweile war. Im Grunde war es absurd: Als Kind war er nur knapp dem Tod entronnen. Er war auf einem Schiff nach Deutschland gekommen, und das Grauen, das er in seiner frühen Kindheit erlebt haben musste, geisterte noch immer in Splittern durch seinen Kopf. Ihm war mit seiner Ankunft in Hamburg ein neues Leben geschenkt worden, und doch war ihm nichts Besseres in den Sinn gekommen, als ausgerechnet diesen Ort der Toten zu einer Art zweitem Wohnzimmer zu machen. Aber vielleicht war er auch genau deswegen bei der Mordkommission. Weil er überlebt hatte.

Als Moses schließlich die Tür zum Obduktionssaal aufstieß, sog Helwig hörbar die Luft ein.

Moses hielt ihr die Tür auf. »Sehen Sie, alles halb so wild.«

Moses sah sich um. Der blitzsaubere Saal glich eher einer aufgeräumten Krankenstation als einer blutigen Schlachtbank, was es Helwig etwas leichter machen dürfte. Außerdem war er leer. Es waren weder Leichen noch ein Arzt zu sehen.

»Vermutlich ist Dr. Kleinhues in seinem Büro«, sagte Moses. Er hoffte, dass sein Freund nicht schon früher Feierabend gemacht hatte. »Kommen Sie.«

Als sie auf dem Flur einem Institutsangestellten in einem Kittel begegneten, hielt Moses ihn an. »Ist Dr. Kleinhues noch da?«

Der junge Mann deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Der ist in seinem Gruselkabinett.« Gelangweilt ging er weiter.

»Was meint er denn mit Gruselkabinett?«, fragte Helwig vorsichtig, nachdem der Mann um die Ecke verschwunden war.

Moses lächelte. Im Grunde fand er die unerwartete Seite, die seine toughe junge Kommissarin an den Tag legte, sehr sympathisch. Es machte sie zugänglicher und, wie er sich eingestehen musste, auch irgendwie femininer.

»Sagen wir mal so«, setzte Moses an. »Der Herr Doktor verfügt über einen etwas eigenwilligen Geschmack. Sie werden es gleich selbst sehen.«

Helwig machte ein Gesicht, als hätte man ihr soeben einen Zahn gezogen.

Kurz darauf betraten sie Kleinhues’ Büro. Es war mehr eine Asservatenkammer mit Schreibtisch und Aktenschrank, denn den meisten Platz nahm ein Regal mit Glasgefäßen ein, in denen menschliche Organe schwammen. Von zerschnittenen Augenpaaren über zerschossene Herzmuskel bis hin zu einer von Quecksilber zerfressenen Leber – Kleinhues sammelte nicht nur E-Gitarren, sondern auch gerichtsmedizinische Kuriositäten. Moses hatte sich längst an das exzentrische Hobby seines Freundes gewöhnt, beziehungsweise er sah so gut es ging darüber hinweg. Seiner jungen Kollegin hingegen stockte beim Anblick der makabren Sammlung offenbar der Atem. Zuerst riss sie ungläubig die Augen auf, dann sah sie hastig in Richtung Fenster.

Kleinhues, der in einem grünen Kittel vor dem Computer saß, drehte sich um. »Sieh mal einer an«, begrüßte er Helwig sichtlich erfreut. Moses erinnerte sich, dass sich die beiden bereits von einem Gerichtstermin kannten. »Schön, dass Sie mich mal besuchen!«

Helwig lächelte den schlaksigen Endvierziger tapfer an.

Wie immer hatte er tiefe Ringe unter den Augen, die entweder von seinen Nachtschichten in der Rechtsmedizin oder von seinen Auftritten als Frontmann der polizeieignen Heavy-Metal-Band stammten.

Zu Moses sagte er: »Bin gleich fertig. Ich schließe nur schnell den Bericht ab …«

Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Helwig und Moses blieben stehen, denn Sitzplätze gab es nicht.

»Du wolltest mich sprechen«, sagte Moses nach ein paar Minuten ungeduldig. »Den Bericht kannst du auch später schreiben. Also, was hast du für uns?«

Dass Kleinhues ihn angerufen hatte, bevor er den Obduktionsbericht freigab, bedeutete, dass er reden wollte. Über Dinge, die er nicht unbedingt im Bericht zu erwähnen beabsichtigte.

Moses lag richtig.

»Da sind ein paar Sachen, die mir Kopfschmerzen bereiten«, sagte Kleinhues und tippte weiter. Dann drehte er sich wieder um. Er machte ein ernstes Gesicht und seufzte. »Da ist zum einen die …«

Weiter kam er nicht, denn plötzlich platzte ein Mitarbeiter herein. In der Hand balancierte er einen Pizzakarton. »Die hast du bestellt, oder?«

»Endlich!« Kleinhues stieß sich vom Schreibtischstuhl ab und nahm die Schachtel entgegen. »Danke, Lars. Ich sterbe vor Hunger.«

»Das war das letzte Mal«, sagte sein Kollege missmutig. »Das nächste Mal kannst du selbst zum Empfang latschen.«

Nachdem sein Kollege gegangen war, zuckte Kleinhues entschuldigend mit den Schultern. »Die Lieferboten weigern sich regelmäßig, das Haus zu betreten. Weiter als bis zum Empfang trauen sie sich nicht.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Helwig.

»Wollt ihr ein Stück?«, fragte Kleinhues und zwinkerte Helwig zu. »Pizza Napoli. Mit Sardellen.«

»Nein danke«, sagte Moses bestimmt. »Was wir wollen, sind Informationen.«

Kleinhues rollte zurück an seinen Schreibtisch. Er schob die Computertastatur beiseite, platzierte den Pizzakarton vor sich und klappte ihn auf. Schlagartig roch es nach heißem Öl und Fisch.

Moses blieb nicht verborgen, dass Helwig wieder nur durch den Mund atmete.

Kleinhues nahm ein Skalpell aus der Schublade. »Ich hoffe, es stört euch nicht. Ich hatte heute keine Zeit zum Mittagessen.« Dann begann er damit, die Pizza in mundgerechte Stücke zu schneiden und sie mit dem Finger in den Mund zu schieben. »Wollt ihr nicht wenigstens mal probieren?«, fragte er schmatzend. »Ist exzellent, der neue Laden drüben in der Erikastraße.«

Moses verdrehte die Augen. »Jetzt spann uns nicht auf die Folter. Sag uns wenigstens die Todesursache. Woran ist das Mädchen gestorben?«

»Sie ist friedlich eingeschlafen«, erklärte Kleinhues lapidar. »Vor etwa achtundvierzig Stunden. Vielleicht auch ein wenig früher.«

»Demnach war es also ein Suizid?«, fragte Moses skeptisch.

»Moment!« Kleinhues schluckte und wischte sich über den Mund. »Das habe ich nicht gesagt.«

Moses trat von einem Bein auf das andere. »Dann drücke dich bitte präziser aus!«

»NaP«, erklärte Kleinhues. »Genauer gesagt: Natrium-Pentobarbital.«

Moses warf Helwig einen Blick zu. »Das sagt uns nichts.«

Kleinhues biss erneut in die Pizza. »NaP ist ein Betäubungsmittel aus der Familie der Barbiturate. Wird in der Tiermedizin zum Einschläfern benutzt. Bei den Sterbeselbsthilfegruppen in der Schweiz und den Niederlanden ist das Medikament ebenfalls erste Wahl. In den USA wird es sogar für Hinrichtungen genutzt.«

»Und wie genau wirkt dieses Natrium-Pentobarbirat?«, fragte Moses.

»Barbital!«, korrigierte ihn Kleinhues. »Bei einer Überdosis fällt man in einen tiefen Schlaf. Sehr tief sogar. Der geht dann durch einen Herz- und Atemstillstand schleichend in den Tod über.«

»Einfach so?« Helwig sah ihn ungläubig an. »Man spürt gar nichts?«

Kleinhues nickte. »Es treten weder Schmerzen noch körpereigene Reflexe auf. Die Maschine schaltet sich einfach von selbst ab. Klick!«

»Wie nimmt man das Mittel denn zu sich?«

»Für gewöhnlich wird es in Wasser aufgelöst getrunken«, erklärte Kleinhues. Er klappte den Pizzakarton zu und schob ihn beiseite. »NaP war lange Zeit ein weitverbreitetes Schlafmittel, bis man die Risiken einer Überdosierung erkannte. Außerdem macht es abhängig. Deshalb wird es heutzutage nur noch bei extremen Schlafstörungen eingesetzt. Man könnte den Wirkstoff natürlich auch intravenös spritzen. Allerdings habe ich in dem vorliegenden Fall keinerlei Einstiche gefunden.«

Also hatte das Mädchen das todbringende Mittel getrunken, folgerte Moses. Es blieb herauszufinden, ob sie jemand dazu gebracht oder gar gezwungen hatte.

»Und wo bekommt man dieses Teufelszeug her?«, fragte Helwig. Sie hatte sich noch immer nicht von der Stelle bewegt.

Kleinhues nahm einen Schluck aus der neben dem Computerbildschirm stehenden Mineralwasserflasche, bevor er antwortete. »Medikamente dieser Art unterliegen selbstverständlich einer strengen Kontrolle. Die gibt es eigentlich nur auf Rezept.«

»Dann muss ein Arzt involviert gewesen sein«, sagte Helwig und drehte sich zu Moses. »Das ist zumindest eine Spur!«

»Sie vergessen den Schwarzmarkt«, sagte Kleinhues. »Im Darknet gibt es mittlerweile jedes verschreibungspflichtige Medikament zu kaufen und der Zugang wird immer leichter. Oder jemand hat es aus dem Ausland mitgebracht. Der Mörder muss also nicht automatisch ein Arzt sein!«

Moses überlegte. »Du gehst also auch von Mord aus?«

Kleinhues rollte mit dem Stuhl dicht an die Schreibtischkante und zog die Computertastatur zu sich. »Auf den ersten Blick dachte ich das genaue Gegenteil«, sagte er. »Schließlich gibt es weder Spuren einer körperlichen Misshandlung oder einer Vergewaltigung. Sie war sogar noch Jungfrau. Aber etwas hat mich stutzig gemacht. Genau genommen sind es sogar mehrere Dinge …« Er klickte eine Bilddatei an. Auf dem Monitor erschien die Hand der Toten in einer Nahaufnahme.

»Sie hatte doch lackierte Fingernägel«, bemerkte Moses überrascht.

»Es waren falsche Fingernägel«, sagte Kleinhues. »Und nachdem ich sie entfernt habe, ist mir Folgendes aufgefallen …« Er zoomte die Fingerspitzen heran. »Seht ihr, was ich meine?«

Moses und Helwig beugten sich über seine Schulter.

»Die Nägel sind völlig kaputt«, sagte Helwig.

Kleinhues nickte. »Sie sind völlig abgerissen. Das Mädchen muss sehr intensiv an etwas sehr Hartem gekratzt haben. Das Nagelbett ist völlig wund. Jemand hat sich große Mühe gegeben, die Verletzungen mit den falschen Nägeln zu verbergen.«

Moses und das Mädchen im Koffer

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