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Nele zitterte am ganzen Körper. Das alles konnte nur ein wahnwitziger Albtraum sein. Aber es war kein Traum, denn aus Träumen wachte man irgendwann auf. Sie musste der Realität ins Gesicht blicken: Sie war entführt worden. Sie befand sich in der Gewalt eines Verrückten.

Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Was sie jetzt brauchte, war ein klarer Kopf. Sie durfte sich nicht von der Panik verschlingen lassen, die wie eine monströse Welle über sie hereinzubrechen drohte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. So wie es ihre Mutter immer tat, wenn sie im Wohnzimmer auf ihrer Yogamatte saß. So wie sie selbst es vor jedem Auftritt tat, um die eigene Mitte wiederzufinden. Aber es gelang nicht. Ihr Herz pumpte wie wild. Dann krampfte sich plötzlich der Magen zusammen, und sie verspürte eine unbeschreibliche Übelkeit. Nur mit Mühe schaffte sie es noch rechtzeitig in die Badezimmernische, wo sie sich in die Kindertoilette erbrach.

Die Bauchkrämpfe ließen nach, Nele sank erschöpft zu Boden. »Bitte …«, stammelte sie schwach. »Lassen Sie mich gehen. Bitte …«

Sie wusste nicht, ob der Entführer sie beobachtete, denn sie erhielt keine Antwort. Auch die mit einer Plexiglaskuppel geschützte Kamera an der Decke bewegte sich nicht. Als sie schon zu hoffen begann, nicht beobachtet zu werden, erfüllte erneut die unheimliche Stimme den Raum.

»Bitte zieh das Kleid an!«

Allein der vertrauliche Ton der Stimme versetzte Nele einen glühenden Stich. »Niemals!«, schrie sie mit dünner Stimme. Dann übergab sie sich erneut.

Sie hatte das Kleid bereits bemerkt. Es war eines der ersten Dinge gewesen, die sie wahrgenommen hatte, als sie auf dem Kinderbett aufgewacht war. Es hing auf einem Mickey-Mouse-Kleiderbügel an dem Spiegelschrank und war zartgelb mit Rüschen aus weißer Spitze.

»Das ziehe ich nicht an«, stieß Nele erneut hervor und wischte sich mit zitternder Hand den Mund ab. Vor diesem Wahnsinnigen würde sie sich nicht ausziehen. Sie spürte den Blick der Kamera im Nacken.

»Du bist böse, Claire.«

»Und Sie sind verrückt«, rief Nele mit dröhnendem Kopf. »Ich heiße nicht Claire!«

Plötzlich war ein hoher Ton zu hören. Zuerst war er kaum wahrzunehmen, aber dann schwoll er immer weiter an. Er wurde so laut und schrill, dass Nele glaubte, ihre Schädeldecke würde zerspringen. Sie presste die Fäuste gegen die Schläfen und krümmte sich vor Schmerz auf dem kalten Fliesenboden. Der grelle Pfeifton wurde immer lauter. Unerbittlich. Wie eine glühende Nadel bohrte er sich immer tiefer in ihr Hirn. »Aufhören!«, wimmerte sie. »Bitte …!«

Plötzlich brach der Ton ab, zurück blieben rasende Schmerzen in Neles Ohren. Die Stimme des Unsichtbaren nahm sie wie durch Watte wahr.

»Du musst tun, was ich dir sage, Claire. Nur dann kann ich auf dich aufpassen. Ich will uns doch nur glücklich machen. So glücklich wie früher.«

Jetzt konnte Nele sich nicht länger zurückhalten. Sie begann hemmungslos zu weinen.

Moses und das Mädchen im Koffer

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