Читать книгу Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan - Страница 3
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ОглавлениеMoses musterte den Horizont. Was er sah, gefiel ihm nicht. Anders als vorhergesagt, schob sich von See her eine dunkle Wolkenwand heran, und sie hielten genau darauf zu. Noch bevor sie die Elbmündung erreichten und Segel setzten, würde es vermutlich eine Sturmwarnung geben.
Der Wind hatte bereits merklich aufgefrischt.
»Sieht so aus, als könnte unser Törn ungemütlich werden«, rief ihm Juliane vom Bug aus zu.
Sie hantierte an der Persenning des Focksegels. Ihre geöffnete weiße Jacke blähte sich im Wind und die halblangen dunkelblonden Locken umtanzten ihr Gesicht. Sie drehte sich um und musterte konzentriert den Himmel.
Wieder einmal fielen Moses ihre feinen Gesichtszüge und die Anmutigkeit ihrer Bewegungen auf. »Willst du lieber umkehren?«, rief Moses über das Motorengeräusch hinweg. Er drehte am Steuerrad der Katharina, um mehr Abstand zum Ufer zu gewinnen.
»Nein, auf keinen Fall!«, erwiderte Juliane. »Vielleicht haben wir Glück, und es zieht vorüber.« Sie zurrte den Knoten fest, dann balancierte sie über das Deck und sprang leichtfüßig zu ihm in das tiefer liegende Heck. Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie die Stirn wieder in Falten legte. »Ich will nicht schon wieder zurück in die Stadt, ich brauche mal einen Tag ohne Studenten, die einem Löcher in den Bauch fragen und trotzdem alles besser wissen.«
»Ich dachte, dir gefällt dein Job an der Uni«, erwiderte Moses, ohne das gewaltige Containerschiff aus den Augen zu lassen, das ihnen auf der Elbe entgegenkam. »Immerhin bringen dich deine Sprachforschungen um die halbe Welt. Dann hättest du nicht Linguistin werden dürfen.«
»Ich beschwer mich ja gar nicht, aber …« Juliane fasste mit den Händen ihre fliegenden Haare zusammen und band sie mit einem Haarband zu einem Pferdeschwanz. »Jeder braucht mal eine Pause zum Durchatmen. Das gilt übrigens auch für dich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihm die Wollmütze ins Gesicht. »Deswegen mache ich uns jetzt einen Kaffee. Es wird Zeit für ein Frühstück.«
Moses schob die Mütze wieder hoch. Nachdem Juliane in die Kajüte hinabgestiegen war, warf er einen Blick über die Schulter, ohne das entgegenkommende Containerschiff aus den Augen zu verlieren. Seitdem sie die Jacht im Morgengrauen startklar gemacht hatten, verbarg sich die Sonne hinter einem milchigen Schleier. Dabei hatte der Wetterbericht gestern noch einen strahlenden Herbsttag vorhergesagt, perfektes Segelwetter also. Und nun versprach ihr lange geplanter Ausflug zu einer ziemlich nassen Angelegenheit zu werden. Nicht gerade ideale Bedingungen, um die neue Ruderanlage zu testen. Sie hatte Moses eine ganze Stange Geld gekostet, und nicht zum ersten Mal hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Boot zu verkaufen. Er musste sich eingestehen, dass die Arbeit bei der Mordkommission ihm kaum Zeit fürs Segeln ließ. Trotzdem brachte er es einfach nicht übers Herz, die Katharina zu verkaufen. Nicht nur, weil die dreißig Jahre alte, von Sparkman & Stephens entworfene Jacht eine echte Rarität war, die obendrein über herausragende Segeleigenschaften verfügte. An ihr hingen einfach zu viele Erinnerungen. Auf ihr hatten sein Bruder Henning und er die ersten Segelhandgriffe gelernt. Moses musste unwillkürlich lächeln, wenn er daran zurückdachte. Bei den gemeinsamen Ausflügen mit ihrem Vater hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, endlich angekommen zu sein, vergessen zu können, dass ihr Vater eigentlich nur Hennings leiblicher Vater war, ihre Mutter nur Hennings leibliche Mutter, Henning weiß war, er schwarz, Henning in Hamburg geboren war und er irgendwo in Afrika. Obwohl Moses’ Adoptiveltern immer versucht hatten, ihn den Unterschied zwischen seinem Bruder und ihm nicht spüren zu lassen, gab es Momente, in denen er trotzdem offensichtlich war. Beim Segeln hatte Moses all das ausblenden können. Die Weite des Wassers hatte ihn vieles vergessen lassen.
Er wischte sich einen Sprühstoß aufgepeitschten Elbwassers aus dem Gesicht und umfasste wieder das Steuerrad. Er konnte spüren, wie das Boot gegen die vom Meer her einlaufende Flut ankämpfte. Bis sie den Nord-Ostsee-Kanal passiert hatten und das offene Meer erreichten, würde es noch dauern. Sie hatten gerade einmal den Bishorster Sand hinter sich gelassen. Moses korrigierte ein wenig den Kurs, um dem Schlepper mehr Raum zu geben, der den unter chinesischer Flagge fahrenden Containerriesen auf seinem Weg in den Hamburger Hafen begleitete.
In dem Niedergang zu seinen Füßen erschien Julianes Kopf. Statt eines dampfenden Bechers Kaffee streckte sie ihm sein klingelndes Handy entgegen.
»Wer ist denn dran?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon an ihrer finsteren Miene ablesen konnte.
»Wer wohl«, sagte sie grimmig.
»Das können die nicht ernst meinen, ich habe heute frei!«
»Offenbar hast du vergessen, das deinen Kollegen mitzuteilen …«
Moses schüttelte energisch den Kopf. »Der Urlaubstag ist offiziell beantragt und genehmigt.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Lass es klingeln.«
Juliane sah ihn ungläubig an.
Moses wich ihrem Blick aus. »Was macht der Kaffee?«
»Der ist gleich so weit«, sagte Juliane. Sie schüttelte den Kopf und verschwand wieder unter Deck – nur um wenige Minuten später erneut aufzutauchen. »Es klingelt schon wieder«, schimpfte sie. »Kann ich es ausstellen?«
Moses stieß einen Fluch aus. Heute vor zwei Jahren hatten Juliane und er sich kennengelernt. Er hatte ihr diesen Segeltörn versprochen.
»Was ist denn jetzt? Es klingelt immer noch!«, rief Juliane. Sie kam die Leiter herauf und drückte ihm das Handy in die Hand. Ihr Blick sagte alles.
Moses fluchte erneut. »Kannst du mal übernehmen? Nur ganz kurz.«
Ohne sie anzusehen, übergab er Juliane das Steuerrad und sah auf das Handydisplay. Kurz entschlossen nahm Moses das Gespräch entgegen. »Ich habe Urlaub«, sagte er bestimmt.
»Mann! … Warum … nicht ans Telefon?«
Wegen des starken Windes war sein Chef kaum zu verstehen. Moses hielt sich das andere Ohr zu. »Ich habe frei«, wiederholte er und brüllte dabei fast.
»Jetzt nicht mehr. Ich brauche Sie. Und zwar sofort!«
»Das wird kaum möglich sein. Ich bin auf einem Boot in Richtung Deutsche Bucht unterwegs.«
»Dann drehen Sie verdammt noch mal um! Ich brauche Sie hier vor Ort!«
»Was ist passiert?« Moses drückte das Handy fester ans Ohr und hörte konzentriert zu. »… In einem Koffer? Wo?«
In dem Moment dröhnte das Schiffshorn des vorbeifahrenden Containerschiffs. Moses warf Juliane einen genervten Blick zu. »Bin gleich wieder da«, sagte er. Dann stieg er in die windgeschützte Kajüte hinab.
Nachdem er aufgelegt hatte, kehrte er schlecht gelaunt zurück an Deck.
»Was ist los?«, fragte Juliane. »Du machst ein Gesicht, als würdest du gleich über Bord springen.«
»Manchmal ist mir auch danach zumute«, erwiderte Moses tonlos, während er wieder das Steuer übernahm. »Das war der Direktor persönlich.«
»Und was wollte er?«
»Das willst du nicht wissen …«
»In diesem Fall schon.« Juliane sah ihn eindringlich an. »Immerhin ist heute nicht irgendein Tag. Und ich wüsste gern, was uns gerade diesen besonderen Tag versaut.«
Moses seufzte. Julianes Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. »Sie haben ein Mädchen gefunden«, begann er zögerlich. »Es wurde …«
»Stopp!« Juliane hob abwehrend die Hände. »Ich will es doch nicht wissen. Ich will nicht auch noch Albträume haben. Deine reichen mir.«
Moses schwieg. Er musterte erneut die sich nähernde Wolkenbank am Horizont. Sie war noch dunkler geworden und würde definitiv nicht vorüberziehen.
»Du bist doch nicht der Einzige bei der Polizei«, sagte Juliane, während sie seinem Blick folgte und den Reißverschluss ihrer Jacke hochzog. »Was ist denn mit deinen Kollegen? Warum kann nicht einer von denen einspringen?«
»Weil Bonnekamp der Meinung ist, dass ich für diesen Fall der Richtige bin.«
Juliane ließ seinen Blick nicht los. »Und? Bist du das?«
Moses blickte schweigend aufs Wasser, wo eine Autofähre die Spitze von Rhinplate passierte.
»Und was hast du Bonnekamp gesagt?« Julianes Ton ließ erahnen, dass sie die Antwort bereits kannte.
»Dass ich erst morgen wieder da bin«, sagte Moses und fixierte weiter die Fähre.
Eine Weile standen sie wortlos beieinander. Dann schüttelte Juliane langsam den Kopf. »Lass uns umkehren.«
Moses sah sie überrascht an. Er wollte etwas entgegnen, aber Juliane schnitt ihm das Wort ab. »Ich kenn dich doch«, sagte sie seufzend. »Du hast jetzt sowieso nur noch diesen neuen Fall im Kopf. Dann können wir auch gleich zurückfahren. Unser Törn ist ohnehin schon ins Wasser gefallen.« Sie reckte ihr Kinn in Richtung der dunklen Wolken. »Vielleicht schaffen wir es ja noch zurück, ohne nass zu werden.«
Moses war für einen Moment sprachlos. Natürlich hatte Juliane recht. Seine Neugier war längst geweckt, sein Ermittlerinstinkt angesprungen – was Bonnekamp am Telefon gesagt hatte, klang verstörend und nahezu unglaublich. »Also gut«, entschied er. »Aber gib mir nicht die Schuld.«
»Natürlich tue ich das!« Juliane lachte bitter. »Aber ganz unschuldig bin ich auch nicht. Das hätte ich wissen müssen, als ich mich mit einem Bullen einließ, der glaubt, ohne ihn würde das Böse die Welt regieren.«
Moses schluckte bei dem Wort Bulle. Juliane war die Einzige, der er das ungestraft durchgehen ließ. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Danke, dass du das verstehst.« Der Dank kam von Herzen. Gleichzeitig beschlich ihn ein beunruhigendes Gefühl. War er wirklich so leicht zu durchschauen? Sie waren seit zwei Jahren ein Paar, aber über seinen Beruf und sein Arbeitsethos hatte er mit Juliane kaum gesprochen.
Moses wirbelte das Steuerrad herum, um die Jacht zu wenden. Dann steuerte er zurück nach Hamburg. Mit der auflaufenden Flut und dem Wind im Rücken kamen sie schnell voran. Nach nicht einmal einer halben Stunde kam der Wedeler Jachthafen in Sicht. Seit dem Umdrehen hatten sie geschwiegen, jeder hatte seinen eigenen Gedanken nachgehangen.
»Wie alt war sie?«, fragte Juliane kurz vor der Einfahrt in den Hafen.
Moses stutzte, dann verstand er. »Das weiß ich noch nicht. Warum willst du das wissen?«
Juliane überging seine Frage. »Und wo hat man sie gefunden?«
»Gar nicht weit von hier«, sagte Moses und deutete flussaufwärts. »Am Rissener Elbstrand. Offenbar direkt am Leuchtturm.«
Juliane kniff die Augen zusammen, ihr Blick folgte dem Fluss hoch Richtung Stadt, den rot-weißen Leuchtturm konnte man von hier aber noch nicht erkennen. »Schon irgendwie komisch …«, sagte sie.
»Was?«
»Na ja, allein der Gedanke, dass gar nicht weit von uns eine Leiche im Wasser schwamm. Oder dass vielleicht sogar der Mord ganz in der Nähe passiert ist.«
Moses sah sie erstaunt an. »Warum denkst du, dass es Mord war?«
»Sonst hätte dich dein Chef sicher nicht persönlich angerufen.« Juliane wandte sich ab, um erste Vorbereitungen zum Anlegen zu treffen. Mit etwas mehr Schwung als nötig warf sie den ersten Fender über die Reling. »Die holen dich doch immer, wenn es besonders schlimm ist.«
Moses hätte ihr gern widersprochen und sie dann wenigstens auf ein gemeinsames Abendessen vertröstet, aber er musste zugeben, dass sie richtiglag. Sollte sich bewahrheiten, was er bereits ahnte, war es tatsächlich wieder »besonders schlimm«. Nachdenklich sah er Juliane nach, die sich weiter nach vorne in den Bug begab, um auch dort die Plastikpuffer auszuwerfen. Dann drosselte er die Geschwindigkeit, und die Katharina glitt durch die Hafeneinfahrt in einen Wald aus Stegen und dicht an dicht liegenden Segeljachten. Als sie den Liegeplatz erreichten, der sich seit einer halben Ewigkeit im Besitz der Familie Moses befand, ließ er die Schiffsschraube rückwärtslaufen, um Fahrt herauszunehmen. Dummerweise tat er das zu spät. Das Boot hatte viel zu viel Schwung und rammte den Steg. Der Aufprall war so heftig, dass Juliane stolperte und gegen den Mast knallte. Sie stieß einen schrillen Schrei aus.
Moses stellte sofort den Motor ab, eilte herüber und half ihr wieder auf die Beine. Besorgt sah er sie an. »Tut mir leid. Bist du verletzt?«
Juliane hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die linke Schulter. »Weiß nicht, aber es tut verdammt weh.« Sie biss die Zähne zusammen. »Vielleicht gehts ja gleich wieder.«
»In Rissen gibts eine Klinik«, sagte Moses. »Am besten fahre ich dich sofort dahin. Sicher ist sicher.«
»Das schaffe ich schon noch«, erwiderte Juliane schnaufend und betastete vorsichtig ihre Schulter. »Ich komm schon klar.«
»Vielleicht ist ja etwas gebrochen«, wandte Moses ein.
»Wenn es nicht gleich besser wird, fahre ich ins Krankenhaus. Ich muss ja sowieso ein Taxi nehmen.«
Sie klang verärgert, und Moses wusste, dass er bei ihr bleiben sollte. Gleichzeitig zählte bei diesem neuen Fall womöglich jede Minute. »Okay«, sagte er. »Dann mache ich noch das Boot fest und warte mit dir aufs Taxi. Aber wenns schlimmer wird, rufst du mich an, versprochen?«
»Versprochen«, murmelte Juliane. Sie setzte sich auf das Deck und blickte zu ihm hoch. »Aber dann verschwinde und kümmere dich um das Mädchen. Finde den, der das getan hat!«