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1.

§ 152 II StPO

Die Staatsanwaltschaft ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.

Der kalte schneelose Winter war noch nicht vorbei. Der hatte sein Leben verändert. Hätte Lina sich nicht von ihm getrennt, wäre alles so geblieben, wie es war. Eine Weile stellte er sich vor den Eingang, betrachtete ihn, verschränkte die Arme vor seinem Körper. Einige Männer kamen auf ihn zu, drängten ihn beiseite und gingen in das Gebäude. Er kam ins Straucheln, taumelte. Figuren in den eisernen Türrahmen geschmiedet, dunkel und beklemmend. Justitia, ihr schwarzes stählernes Gesicht mit der Augenbinde, mehr Batman oder Zorro. Links und rechts skurrile Fratzen, mittelalterliche Handschellen und Stahlketten. Die Figuren waren bisher wohl niemanden aufgefallen. Der eine oder andere hätte sich geweigert, das Gebäude zu betreten. Er ging die flachen Stufen hinauf, über ihm die Streitaxt. Sein erster Tag am Kriminalgericht Moabit.

Am Eingang eine Kontrollstelle, davor eine Schlange, daneben ein einfaches Drehkreuz. Dort versuchte er hindurch zu gelangen. „Halt! Haben Sie einen Dienstausweis, “ sprach ihn ein uniformierter Justizwachtmeister an. „Nein, ich bin Jörgensen, der neue Staatsanwalt.“ „Das kann ja jeder sagen. Sie brauchen einen Ausweis oder müssen durch die Kontrolle.“

Jörgensen stellte sich an, starrte auf seine Uhr, doch es war noch Zeit. Das wäre ihm früher in Lüneburg nicht passiert, aber das war Vergangenheit. Er musste sich einreihen und abwarten.

Langsam rückte er in der Warteschlange vorwärts. Er leerte seine Taschen, vergaß einen Schlüssel, Fiepen des Metalldetektors. Eigentlich hätte er ihn im Hotel lassen können. Nach einigem Suchen fand er ihn, zwängte sich dann durch die Sicherheitsschleuse, stand in der Eingangshalle, Barock, Gotik, Stilrichtungen vermischt wie in einem Cocktail. Von der Menschenschlange gelöst, war er unter der sich hoch über ihn wölbenden Kuppel fast allein dem Machtanspruch des wilhelminischen Gebäudes ausgeliefert, er klein, unbedeutend, ein Pixel im Bild.

Was erwartete ihn? Er versuchte, sich seine neuen Kollegen, seinen Arbeitsplatz vorzustellen, gab es allerdings im nächsten Moment wieder auf, da er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Er suchte Raum A 513, da er sich dort melden sollte. Das Gebäude hatte aber nur ein Erdgeschoss und 3 Etagen darüber. Es gab keinen 5. Stock.

Jörgensen ging einfach los, ohne sich weiter zu orientieren oder nachzufragen. Doch rechnete er hinter den wuchtigen Treppenaufgängen nicht mit dem Labyrinth von Fluren, Zwischengeschossen und Etagen. Sie schienen menschenleer. Alle waren plötzlich verschwunden, einfach vom Gebäude verschluckt.

Die Flure im Halbdunkel, die Wände, teilweise wie ein in die Jahre gekommenes Badezimmer blau gekachelt oder einfach weiß getüncht, häufig ausgebessert. Er krabbelte darin herum als wäre es ein Ameisenhaufen. Genauso ruhig, dunkel und die Ahnung, dass man doch nicht allein war, manchmal Rascheln, Stiche, die die Haut brennen ließen.

Irgendwann ein leicht süßlicher, unangenehmer Geruch. Er näherte sich einem Warteraum ohne Tür. Er war vollgestellt mit altem Mobiliar, dazwischen Bonbonpapier, zerfledderte Aktendeckel, überall Staubflocken- und –flusen, wie bei Lina unterm Bett.

Seine Neugier packte ihn. Zwischen Schreibtischen etwas mit einem Plastikmüllsack bedeckt. Er schob den beiseite, darunter ein lebloser Körper. Der Geruch verstärkte sich in diesem Moment, zwang ihn, sein Gesicht abzuwenden. Er richtete seinen Blick auf die Leiche, ein Mädchen, das Gesicht vom Todeskampf verzerrt, die Zunge weit herausgestreckt.

Er wurde aus seinen Betrachtungen gerissen: „Eh, was machen Sie denn da? Hier haben Sie nischt zu suchen.“ Der Justizwachtmeister hatte ihn von einem Treppenabsatz aus beobachtet. Als Jörgensen sich umdrehte, gab er den Blick auf die Tote frei.

„Ich suche Raum A 513.“

„Da sind Sie hier falsch.“

„Ich bin der neue Staatsanwalt.“

„Aha!“

„Heute ist mein erster Arbeitstag.“

„Aha!“

„Ich soll mich in Raum A 513 melden. Tja, - und dann fand ich hier die Leiche.“

Der Justizwachtmeister deutete auf den Müllsack. „Das erklärt das aber nicht.“

„Liegen hier noch mehr Leichen herum?“

„Na, nun werden Sie man nicht anzüglich. Ich treffe hier nicht jeden Tag angeblich neue Staatsanwälte, die hier nach Leichen suchen.“

Der Justizwachtmeister ließ ihn mit den Worten: „Sie warten hier!“ stehen.

Nach einer Weile stand Oberstaatsanwalt Brühne vor ihm, ein großer stämmiger Mann. Seine Glatze glänzte trotz des matten Lichts. „Sind Sie dieser Jörgensen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er seine Rede fort. „Sie kommen aus Lüneburg, wollen jetzt zur Staatsanwaltschaft Kap.?“ Bei dem Wort Lüneburg zog er die Brauen hoch und schaute leicht verächtlich. „Sie hatten dort wohl hauptsächlich mit Gleishockern, Ökos und Viehdieben zu tun. Ach, Sie wollen mal richtige Verbrechen bearbeiten. Naja, da gehört ein bisschen mehr zu. Die Leichen finden Sie ja schon, oder haben Sie die gleich mitgebracht?“

Jörgensen schwieg.

Der Flur füllte sich. Neugierige versuchten, einen Blick in den Warteraum zu werfen.

Mit festem Schritt ging ein Mann auf Brühne zu, der auf Jörgensen zeigte: „Der neue Staatsanwalt aus Lüneburg.“

„Jan Zuckowski, Hauptkommissar.“

Zuckowski, kräftige Statur, der Typ Macher, mit Outdoor-Funktionsjacke, eher Abenteurer im Busch als Hauptkommissar in Berlin. Jörgensen überragte ihn um einen Kopf. Mit dem neuen Kaschmirmantel, feinstes Tuch aus der Mongolei, fühlte der sich am Kriminalgericht und neben Zuckowski fehl am Platze.

„Bearbeiten Sie den Fall?“ fragte Zuckowski und wandte sich dabei Jörgensen zu, der sich über sein kurzes graues Haar strich und seine Brille zurechtrückte.

„Nei….“, er konnte nicht antworten. Brühne unterbrach ihn. „Keine schlechte Idee. Die Presse wird sich auf die Sache stürzen, vermuten, dass die gesamte Berliner Justiz in den Fall verstrickt ist. Sie sind hier noch ein ungeschriebenes Buch. Sie können in noch nichts verwickelt sein.“

„Am Hals befinden sich zirkulär verlaufende Striemen aus vertrocknetem, braunem Blut und weitere tiefrote Verfärbungen, wahrscheinlich erdrosselt.“

„Ach, jetzt ist der Jörgensen noch Rechtsmediziner.“

Warum war er nur nach Berlin gegangen? Er hatte sich das anders vorgestellt und mit einer Leiche am ersten Tag sowieso nicht gerechnet. Das Getuschel der Kollegen, als sich seine Frau Lina von ihm getrennt hatte, war für ihn unerträglich geworden. Deshalb die Idee wegzugehen.

Polizisten sperrten den Flur ab, die Spurensicherung nahm ihre Arbeit auf. Jörgensen war in Gedanken, als Zuckowski ihn ansprach: „Haben Sie am Tatort irgendetwas verändert?“

„Ja, ich habe den Müllsack beiseitegeschoben.“

„Sie sollten eine DNS-Probe abgeben. Sonst ermitteln wir Sie als Täter.“

Mit Akribie untersuchte ein Polizeibeamter die Leiche, jedes Kleidungsstück, jede Wunde, Augen und Mundöffnung. Er schien jedes Detail des Opfers, des Fundortes und des Zustandes der Leiche auf sein Diktiergerät zu bannen. Der Polizist drückte auf den Brustkorb des Opfers, beugte sich zum Mund, um den entweichenden Geruch wahrzunehmen.

Der Beamte hob die Leiche an, zerbrechlich lag der junge Körper in seinen Armen. Jörgensen erblasste „Wer tötet so ein Wesen?“

Ein Ermittler kam auf Zuckowski zu: „Wir haben eine Ladung gefunden. Ausweis hatte sie auch dabei. Es handelt sich wohl um eine Ozma Marie Becker. Die Adresse haben wir.“

„Schicken Sie die Leute weg. Prüfen Sie die Personalien. Wir können hier kein Publikum brauchen. Ich erwarte Ihren Bericht. Wo bleibt eigentlich Freud?“

„Die hat Urlaub.“

Brühne drehte sich zu Jörgensen: „So jetzt kommen Sie mal mit. Ihre neue Kollegin wartet schon.“

Jörgensen stolperte ihm hinterher. Nach einigen Treppen und Ecken standen sie vor A 513. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Ohne zu klopfen, riss Brühne die Tür zu einem kleinen, schmalen Raum auf. Eine hagere Frau saß im Zwielicht des Zimmers am Schreibtisch umgeben von Akten, einige am Boden. Der ihr gegenüberliegende Schreibtisch war leer. Jörgensen wunderte sich, nicht ein Computer.

Das Mobiliar wie das Gebäude unter Denkmalschutz, alte hölzerne Regale, die Schreibtische mit Plastikfurnier in Holzoptik.

Mit schwungvoller Bewegung zeigte Brühne auf die Frau: „Das ist Ihre Kollegin Morgenroth und das“, dann deutete er auf den leeren Schreibtisch, „ist Ihrer. Mit diesem Mord haben Sie einiges zu tun. Deshalb werden Sie zunächst nur ein allgemeines Dezernat übernehmen. Kümmern Sie sich um einen Dienstausweis. Melden Sie sich dafür in Raum A 214. Sie kommen ja jetzt alleine zurecht.“

Die Tür knallte zu. Jörgensen setzte sich. Morgenroth hatte ihren Blick wieder in ihre Akten versenkt. Sie blieb wortlos.

„Ich heiße Jörgensen.“ Ohne aufzusehen, brummte sie: „Ich weiß.“

„Wie läuft das mit der Arbeit?“ „Kommt schon.“

Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür und ein Justizwachtmeister erschien mit einem Aktenwagen. Wortlos packte er diese auf Jörgensens Schreibtisch. Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn, hinterließ einen Fleck auf einem Aktendeckel. Das Telefon läutete. Jörgensen zögerte abzuheben.

„Wie lange wollen Sie das noch klingeln lassen?“ Morgenroth richtete ihren Blick nicht auf.

Zuckowski meldete sich. „Das Opfer lebte in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft. Die hatten eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Morgen ist Gruppensitzung. Ich habe einen Termin mit dem Leiter gemacht.“

„Ich komme mit. Holen Sie mich vor dem Kriminalgericht ab.“

Jörgensen hatte kein Auto, weil es Lina bei der Scheidung behalten hatte. Eigentlich hatte sie alles bekommen.

Den Abend verbrachte Jörgensen im Hotel, da er noch keine Wohnung gefunden hatte, das Zimmer kalt und steril. Nur seine Bücher, die im Zimmer verstreut herumlagen. Er griff sich eines, drückte es wie eine Geliebte. Lesen, eine Leidenschaft, auch über das Kriminalgericht, eine Justiz kurz vor dem Kollaps. Desto trotz hatte er auf Chancen und neue Erfahrungen gehofft, nun war er mittendrin, das Gefühl war anders.

Es war eine schlaflose Nacht. Dieser Fall, und er sollte ermitteln. Bisher hatte er Anklageschriften verfasst, „Ermittlungen“, die eine oder andere Zeugenvernehmung mehr nicht.

Heimtücke

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