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§ 211 II StGB
Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
Er saß in seinem Wohnzimmer, blätterte hastig in der Zeitung. Er fand, was er suchte: „Justiz tappt im Dunkeln“ Typisch Moabit. Er lehnte sich zurück und dachte, wenn er so seine Geschäfte führen würde, käme er zu nichts.
Im Berliner Sprachgebrauch nannte man das Kriminalgericht einfach Moabit, auch wenn mittlerweile Teile des Regierungsviertels dazu gehörten, Synonym der Berliner Strafjustiz. Der Ursprung des Namens umstritten, entweder biblischen Ursprungs, das Land der Moabiter, oder aus dem Slawischen, „Verfluchtes Land“.
Das Kriminalgericht ein ganzer Gebäudekomplex mit integrierter Untersuchungshaftanstalt, Gebäudeteile nach und nach angebaut, ein weiterer Eingang in der Wilsnacker Straße, das Kriminalgericht reichte für die Masse der Verfahren nicht mehr aus.
Bevor er am nächsten Morgen den Eingang in der Wilsnacker Straße durch den Neubau B betrat, dachte er, dass er endlich seine Wohnungssuche intensivieren müsste. Das Hotel war auf Dauer zu teuer und trostlos.
„Heute, nach Dienstschluss“, nahm er sich vor.
Erstaunlicherweise fand er an diesem Tag zum ersten Mal, ohne sich großartig zu verlaufen, den Weg zu „seinem“ Büro A 513. Der Übergang zum Altbau erschloss sich ihm zwar nicht gleich, aber, da er sich genau an der entgegengesetzten Ecke des Gebäudes befand, konnte er sich orientieren, ohne sich um die rätselhafte Nummerierung kümmern zu müssen. Man hatte ihm zwar schon mehrmals die Systematik der Raumanordnung erklärt. Verstanden, nein, trotz einer gewissen, aber absonderlichen Logik.
Zuckowski war nicht in seiner Dienststelle zu erreichen, auch nicht über Handy. Jörgensen wunderte sich, bat um Rückruf.
Er räumte seinen Schreibtisch auf, als ein Wachtmeister, ein etwas korpulenter Mann, Ende 50 und kurzem grauen Stoppelhaar, hereinkam und ihm ein paar Akten brachte. Der stellte sich als Eduard Lembke vor. „Ihr Start hier am Kriminalgericht war nicht so ganz einfach?", bemerkte dieser.
„Hinzu kommt, dass ich immer noch keine Wohnung habe, die Abläufe hier noch nicht kenne und die Mordsache am Hals habe", sprudelte es aus Jörgensen heraus, was er im nächsten Moment bereute. Lembke hörte nicht mehr auf von den alten Zeiten zu sprechen. Er war seit 30 Jahren am Kriminalgericht beschäftigt und hatte viel zu erzählen: „ Jetzt bin ich solange hier, aber glauben Sie mir, ich verlaufe mich immer noch. Na, und Ihr Oberstaatsanwalt ist ja auch nicht so ganz einfach.“ Er kannte Brühne seit dessen Referendarzeit.
„War der immer so?"
„Der hatte in seiner Zeit als Referendar ziemliche Schwierigkeiten, da er sich bei den Sitzungsvertretungen nie an die Absprachen hielt. Da gab es Ärger. Der Brühne ließ sich aber davon nicht beeindrucken und machte einfach so weiter. Der ist ein Kerl.“
Er war wieder allein und überlegte, ob er sich an Brühne wenden sollte, um…..
Im gleichen Moment rief der an und unterbrach Jörgensens Gedanken: „Kommen Sie umgehend in mein Büro“, schrie er hysterisch. „Umgehend!“ Jörgensen atmete kurz durch, schloss die Augen und ahnte nichts Gutes.
Mit Recht, musste er feststellen, als Brühne sofort auf ihn einredete, nachdem er dessen Dienstzimmer betreten hatte.
„Jörgensen, wir haben Schwierigkeiten.“
Brühne rannte mit hochrotem Kopf durch sein Dienstzimmer. Als Oberstaatsanwalt hatte er Anspruch auf ein Einzelzimmer. Als normaler kleiner Staatsanwalt, wie Jörgensen selbst, ein Dienstzimmer mit zwei oder mehr Kollegen. Ein Teil der Staatsanwaltschaft seit 12 Jahren in Baucontainern zwei Straßen weiter, im Sommer sollte das besonders unangenehm sein. Dieses Schicksal war Jörgensen erspart geblieben.
„Wir haben ein Problem und zwar ein internes Problem.“ Brühne wiederholte sich. Die Empörung und die Wärme des Raumes trieben Schweißtropfen auf seine Stirn.
„Bisher konnte man davon ausgehen, dass der Täter ein externer war, ein Prozessbeteiligter, ein Zuschauer oder irgendwer. Das Haus ist ja jeden Tag voll genug.“
Brühnes Stimme wurde immer höher, quietschte fast. Jörgensen hätte nie erwartet, dass dieser Mann so aus der Ruhe zu bringen war.
„Aber keine Täter aus der Justiz. Wer ist denn so bescheuert, im Kriminalgericht jemanden umzubringen, dazu noch ein junges Mädchen und das ohne ersichtlichen Grund. Es gibt Hinweise auf einen Richter, der …“
Jörgensen unterbrach ihn, „Wie bitte…, ein Richter soll….“
„Nicht direkt als Mordverdächtiger“, unterbrach ihn Brühne. „ Lassen Sie mich erklären. Es geht um den Richter Wenzel, Arno Wenzel. Durch Zufall wurden auf seinem Dienstcomputer Fotos mit Kindern in eindeutigen Stellungen entdeckt.“
„Na und, vielleicht hat er in einem solchen Verfahren mit Kinderpornografie zu entscheiden. Da ist man gezwungen, sich so etwas anzusehen.“
„Nein, nein! Wenzel ist seit 30 Jahren Richter am Amtsgericht Tiergarten, hat aber in den letzten 10 Jahren ausschließlich Verkehrssachen verhandelt, Bußgelder und wenn es hochkam mal eine Trunkenheitsfahrt mit fahrlässiger Tötung. Mit Kinderpornografie hat der dienstlich nie etwas zu tun gehabt.“
Brühne hielt kurz inne: „Aber das ist noch nicht das Schlimmste.“
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sagte in dienstlichem Ton: „Bei der Durchsicht der mehr als 500 Lichtbilder wurden vier Fotos entdeckt, auf der das Mordopfer, wie hieß sie noch?“ „Becker.“„-als Neun- oder Zehnjährige eindeutig identifiziert werden konnte. Eklige Fotos!“
Jörgensen setzte sich und fragte: „Und was sagt er dazu?“
„Nichts. Das Ganze ist gestern am späten Nachmittag passiert. Eine Justizsekretärin hatte die Fotos zufällig entdeckt und auch, dass das Opfer abgebildet war. Ihr Foto ist ja durch die ganze Presse gegangen.“
Brühne atmete durch: „Sie hat mich informiert. Die Angelegenheit ist ja Hauptgesprächsthema im Haus. Ich habe Wenzel befragen wollen. Er hat eine Art Nervenzusammenbruch, einen Infarkt oder so was gehabt. Auf jeden Fall hat er nichts gesagt. Nichts. Er ist jetzt im Krankenhaus. Gehen Sie mal hin, führen Sie aber keine Vernehmung durch, sondern befragen ihn nur ganz informell.“
Jörgensen schwieg kurz und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er richtete seinen Blick auf Brühne. „Ist Zuckowski schon darüber informiert?“
„Das sollten Sie tun.“
Brühne machte eine Handbewegung, aus der zu schließen war, dass das Gespräch beendet war.
Immer noch kein Dienstausweis, zum Raum A 214. Dort saß ein Justizwachtmeister. „Ich bin der neue Staatsanwalt Jörgensen und benötige einen Dienstausweis“
„Brühne hat Sie bereits angekündigt. Nun setzen Sie sich mal dahin.“
Ein kleiner Hocker, wie sie früher in Automaten für Passfotos standen, wo man Fotos machte, wenn man einen neuen Ausweis brauchte oder betrunken war. Der Wachtmeister schoss mit einer altertümlichen Kamera ein Foto und entließ Jörgensen mit dem Bemerken: „Ihren Ausweis bekommen Sie in den nächsten Tagen.“
Jörgensen erreichte Zuckowski. Ohne den Disput vom vorherigen Tag anzusprechen, verabredeten sie sich zum Nachmittag. Er hatte in der Zeitung eine günstige Wohnung entdeckt, um 18:30 Uhr Termin mit dem Makler.
Zuckowski erschien in Jörgensens Dienstzimmer in Begleitung einer Frau. Diese stellte sich als Luisa Freudenreich vor. Sie war nicht sonderlich groß, gute Figur. Mit ihren dunkelbraunen Augen lächelte sie ihn an.
In diesem Augenblick drehte sich Zuckowski zu Jörgensen und sagte: „Freud, wir nennen sie einfach Freud. Sie hat`s mit Psychologie.“ Freud errötete.
„Jan hat mich bereits über die vorläufigen Ermittlungsergebnisse informiert. Ich habe noch ein paar Fragen. Was ist mit diesem Ozmo und dem Richter?“
„Ich habe gestern mit dem Ozmo gesprochen. Ich fand seine Erkenntnisse verblüffend.“
„Jan meinte, dass es eine Sekte ist.“
„So, jetzt sollten wir losgehen, sonst schaffen wir heute gar nichts“, unterbrach sie Zuckowski.
Im Gehen sagte Freud: „Wir müssen doch mal die Ermittlungsergebnisse zusammenfassen.“
„Da gibt es nichts zusammenzufassen“, Zuckowski leicht genervt.
„Irgendwer muss sich wohl mal um die KTU und den Tatortbefundbericht kümmern. Es bringt nichts, sich über irgendwelche Ozmos zu streiten“
Enttäuscht blickte Jörgensen ihr hinterher. Er wäre am liebsten mitgegangen, hätte mit ihr Akten durchgearbeitet. Mit Zuckowski ins Krankenhaus zu Wenzel.
Wenzel hatte die Augen geschlossen, als Zuckowski und Jörgensen das Krankenzimmer betraten. Er öffnete sie aber, als er sie herein kommen hörte.
Wenzel schwach, ein Greis, auf dem Nachttisch ein Kruzifix und eine aufgeschlagene Bibel.
„Guten Tag, Herr Wenzel, ich bin der neue Staatsanwalt. Mein Name ist Jörgensen und das ist Hauptkommissar Zuckowski. Wir kommen nicht in offizieller Funktion. Wir brauchen nur ein paar Informationen. Ich hoffe, Sie sind in der Verfassung, mit uns zu sprechen.“
Wenzel atmete schwer durch.
„Es geht nur am Rande um die Fotos auf Ihrem Dienstcomputer. Wir ermitteln wegen dem Mädchen, das im Kriminalgericht tot aufgefunden wurde. Sie haben davon gehört?“
Wenzel atmete sagte mit leiser Stimme etwas Merkwürdiges: „Ich konnte Ihr nicht helfen.“
„Kannten Sie sie?“
„Nein, natürlich nicht.“
Jörgensen hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte.
„Auf mehreren der Fotos auf Ihrem Computer ist das Mädchen als Kind in eindeutig pornografischen Darstellungen zu sehen.“
Wenzel richtete sich auf und sprach mit entschiedener Stimme: „Jetzt wird es endgültig absurd. Erst werfen Sie mir pädophile Neigungen vor und jetzt auch noch Mord an einem Kind? Ich weiß von nichts. Da muss jemand meinen Computer manipuliert haben. Ich kenne die Fotos nicht und niemanden, der dort abgebildet ist. Eine Manipulation ist im Kriminalgericht doch leicht möglich, bei dem Chaos, das da herrscht.“
„Beruhigen Sie sich", sagte Jörgensen, wollte ihn an der Schulter berühren, tat es aber nicht.
Wenzels Stimme wurde leiser: „Sie wissen doch selbst, was so ein Vorwurf für einen Menschen bedeutet, besonders für einen Richter. Und jetzt auch noch Mord! Ich weiß von nichts. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen“
Wenzel wirkte verständnislos. Er schien sich nicht vorstellen zu können, wie man ihn mit solchen Vorwürfen konfrontieren konnte. Er beherrschte sich, zwang sich nicht weiter zu reden.
Jörgensen setzte zu einer weiteren Frage an: „Was können Sie…“
Zuckowski schüttelte den Kopf und deutete, Jörgensen zu gehen.
„Ich glaube, wir gehen jetzt besser. Herr Wenzel, wir melden uns. Gute Besserung.“
Sie verließen das Krankenzimmer. In diesem Moment klingelte Jörgensens Handy. Die Obduktion an Ozma Marie Becker sollte stattfinden. Er unterbrach das Gespräch, in dem er das Handy vom Ohr nahm und Zuckowski fragte: „Wollen Sie bei der Sektion anwesend sein?“
„Nein, habe keine Zeit, ich werde Freud informieren. Die wird in einer Stunde dorthin kommen. Ich muss weg.“
Normalerweise vermied Jörgensen, bei Obduktionen anwesend zu sein. Mit Schaudern erinnerte er sich an eine gerichtsmedizinische Leichenschau während seines Studiums: Ein Bagger war damals über den Kopf des Opfers gefahren. Danach hatte er nie mehr an einer solchen Vorlesung teilgenommen. In diesem Fall wollte er sich ein Bild vom Opfer machen.
In Gedanken an das Gespräch mit Wenzel erblickte er, als er durch die Treppenhalle des Kriminalgerichts ging, die „Lüge“, diese Figur mit der heruntergezogenen Kappe und der Hand vor dem Mund. Wenzels Aussage war von vorne bis hinten gelogen. Was meinte er nur damit -Ich konnte ihr nicht helfen?-
Sein Blick rutschte auf die „Religion“, diese Figur, die über dem Eingangsbereich mit einem großen Kreuz in der Hand kämpferisch saß. Dieser Mann log, Bibel und Kruzifix auf seinem Nachttisch. Wenn er diese Statuen betrachtete, fühlte er sich wie in ein Zwiegespräch versunken, als würden sie ihn auf die Spur des Täters führen.
Das Institut für forensische Medizin war nur wenige Minuten vom Kriminalgericht entfernt. Jörgensen trat in den Obduktionssaal, Luisa Freudenreich war schon da, stand mit der Gerichtsmedizinerin Frau Dr. Sommer am Obduktionstisch. Jörgensen stellte sich kurz vor.
Dr. Sommer nickte höflich und fuhr fort: „Wie ich bereits Ihrer Kollegin gesagt habe, Tod durch Erdrosseln. Es kam zu leichtem Nasenbluten. Wir haben Petechien in Binde-, Gesichts- und Lidhäuten festgestellt. Damit ist in ca. 60 % aller Erdrosselungsfälle zu rechnen. Außerdem zeigten sich am Kopf Dunsungen und das Gesicht wies eine Zyanose, also eine violette Färbung, auf.“
Jörgensen schaute fragend: „Petechien?“
„Hierbei handelt es sich um stecknadelkopfgroße Blutungen“, sagte Freud.
Dr. Sommer zeigte auf die Augen des Opfers; „Sehen Sie.“ Dabei hob sie das Lid der Toten an. Daran und auf der Bindehaut konnte Jörgensen diese merkwürdigen roten fast runden stecknadelkopfgroßen Flecken erkennen.
„Weitere Merkmale stumpfer oder anderer Gewalteinwirkung gab es nicht. Hier finden Sie die Drosselmarke.“
Sie zeigte auf die rund um den Hals verlaufene Wunde, die aber weniger stark ausgeprägt war, als Jörgensen sich dies in Erinnerung hatte.
„Der Täter muss erhebliche Gewalt ausgeübt haben. Es gibt keine Kampfspuren oder Abwehrverletzungen. Interessant hierbei ist, welches Tatwerkzeug verwandt wurde. Das Drosselmal ist zwar nicht besonders auffällig, aber sehr breit, und gucken Sie hier die Dunsungen und Rötungen am Hals, wahrscheinlich von einem Ledergürtel, einem normalen Hosengürtel. Hierdurch wurde der Kehlkopf gebrochen, was bei einem so jungen Menschen eher selten ist, da die Knorpelanteile noch elastisch sind. Der Tod ist am Freitag zwischen 12.00 Uhr und 18.00 Uhr eingetreten. Das Gericht ist ja überhitzt. Deshalb gab es an der Leiche auch bereits Geruchsbildung.“
„Liegen Anzeichen für sexuellen Missbrauch vor?“, fragte Jörgensen.
„Nein, die gab es im Zusammenhang mit Ihrer Tötung nicht, allerdings sind alte vernarbte Dammrisse vorhanden, die auf früheren Missbrauch schließen lassen.“
Das passt zu den Fotos dachte Jörgensen, schaute Freud an, die ihm zustimmend zunickte.
„Sonst noch irgendwelche Auffälligkeiten?“, fragte Zuckowski.
„Nein, aber ich bin immer noch auf der Suche nach brauchbaren DNS-Spuren. Allerdings war der Auffindeort so verdreckt, dass es fast unmöglich ist, eine eindeutige Spur zu finden. Übrigens Auffinde- und Tatort stimmen wahrscheinlich nicht überein. Wir haben Druckstellen und Totenflecken gefunden, wonach das Opfer postmortal noch geschleppt oder gezogen worden sein muss. Dabei ist es zu weiteren Verschmutzungen gekommen. Wir haben wahrscheinlich DNS-Spuren von jeder Person, die sich je im Kriminalgericht aufgehalten hat. Die müssen allerdings noch genauer bei der KTU untersucht werden. Vielleicht können die doch noch was rausfinden.“ Sie gingen wortlos.
„Lassen Sie uns noch einen Kaffee trinken gehen.“, sagte Jörgensen.
Ein schäbiges Café, in dem sie nebeneinander saßen. Der Kaffee schlecht, zwei Spielautomaten klingelten und ratterten in unregelmäßigen Abständen.
„Nach dem, was wir von der Gerichtsmedizin gehört haben, handelt es sich um Mord und nicht nur um Totschlag. Der Täter ist von hinten an die Marie Becker herangegangen und hat die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt. Hier haben wir das Mordmerkmal“, triumphierte Jörgensen.
„Jan würde jetzt Ludwig Thoma zitieren: Er war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande.“ Dabei lachte Freud und Jörgensen lächelte zurück.
„Ihr Kollege hat was gegen Staatsanwälte?“
„Die hat ihm mal einen Fall vermasselt.“
„Ja, sowas hat er erzählt. Zurück zum Fall, ich werde ermitteln, wer am Tattag im Gericht war.“
„Das ist doch unmöglich bei so vielen Menschen, Polizisten, Justizbeamten, Zeugen, Zuschauern und Kriminellen, die dort täglich sind“, warf Freud ein.
„Ich werde es trotzdem versuchen“, entgegnete Jörgensen trotzig.
Ihm fielen ihre schmalen feingliedrigen Hände auf. Als Kind hatte sie bestimmt komplizierte Scherenschnitte gebastelt, dachte er, und wollte sie danach fragen, ließ es aber.
Stattdessen sagte er: „Ganz exakt werden wir das nicht ermitteln können. Vielleicht ergeben sich Anhaltspunkte.“
Freud schüttelte den Kopf. „Ihr Wort in Jans Gehörgang.“
Mit schnellen, ausladenden Schritten ging er die Straßenfront des Kriminalgerichts entlang, stoppte, ließ das Gebäude auf sich wirken und dachte, dass er sich endlich um eine Wohnung kümmern müsste. Die Nächte im Hotel waren unendlich trostlos.
Die Präsidentin des Landgerichts hatte eine Sitzung im Konferenzsaal 2 einberufen. Jörgensen betrat den Saal, der mit vier Personen besetzt war. Einige der Anwesenden kannte er: Brühne, der ihm die Hand gab und sich zu den Anwesenden wandte.
„Das ist Staatsanwalt Jörgensen.“
Er deutete auf eine grauhaarige, um die 60 Jahre alte Frau, die am Ende des langen Konferenztisches saß.
„Das ist Frau Dr. Kraut, die Direktorin des Kriminalgerichts, Herr Moltke von der Verwaltung des Hauses, Frau Dr. Storch von der Richtervereinigung.“
Alle setzten sich, Frau Dr. Kraut erhob die Stimme: „Meine Damen und Herren, ich habe Sie heute her gebeten, um über einige notwendige Verbesserungen im Hause zu sprechen, die am Rande auch mit dem Mordfall zu tun haben. Wie Ihnen allen bekannt ist, fehlt es in Teilen des Hauses an Sauberkeit und Ordnung, um nicht zu sagen, es ist chaotisch. Die Leiche des Mädchens wurde in einem der alten Warteräume abgelegt, die seit geraumer Zeit mit Unrat und weiteren Möbeln vollgestellt sind. Es war gleichsam ein Glücksfall, dass die Leiche so schnell gefunden wurde.
Und es gibt noch mehr Ecken im Haus, die so aussehen. Das Gericht repräsentiert den Zustand der Justiz. Hier wird gute Arbeit geleistet, doch so werden wir den Respekt draußen verlieren.
Ich denke, Sie haben gestern den Artikel in der Zeitung gesehen. Ich will nicht mehr lesen, Chaos und Mord im Kraut- und Rübengericht Moabit.“
Man sah Frau Dr. Kraut, die sonst abgeklärt wirkende Direktorin, an, dass sie von dem Zeitungsartikel persönlich betroffen war. Das Namensspiel in der Zeitung ärgerte sie.
Jörgensen hätte den Presseberichten Glauben schenken sollen, alt ehrwürdiges Gericht, eher schmuddeliges Etablissement mit Justizsklaven, immer am Rande des Skandals.
Frau Dr. Kraut fuhr fort: „Besonders unerfreulich ist dies auch, nachdem ein Angeklagter, der in Untersuchungshaft gesessen hatte, im letzten Jahr aus einem Hauptverhandlungsaal entwichen ist und das auch durch die Presse ging. Wir sind wohl alle einer Meinung, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Der Ruf und der Respekt vor diesem Gericht und der ganzen Strafjustiz stehen auf dem Spiel.“
Alle nickten.
„Ich habe daher mit Herrn Moltke einige Sofortmaßnahmen beschlossen, die umgehend umgesetzt werden müssen. Wir haben dies auch in einem Rundschreiben nochmals ausgeführt, das wir in den nächsten Tagen an alle Beschäftigten verteilen werden.“
Obwohl Jörgensen noch nicht lange hier arbeitete, war ihm von Anfang an aufgefallen, dass einiges durchaus zu verbessern war. Das hundertjährige Jubiläum des Kriminalgerichts war ein Jahr her. Das hatte man bisher nicht zum Anlass genommen, den Modernisierungsrückstand aufzuholen oder zu entrümpeln, hundert Jahre einbalsamiert.
Moltke räusperte sich und sagte: „Wir haben aus diesen Gründen auch mit unseren Raumpflegern gesprochen. Es muss doch möglich sein, dass 43 Leute in der Lage sind, das Haus einigermaßen sauber zu halten.“
Dr. Storch unterbrach ihn unwirsch: „Die Zustände sind doch nicht erst seit vorgestern bekannt. Mal wurde was gemacht, aber nach ein paar Wochen sah es wieder so aus oder noch schlimmer.“
„Bisher hatten wir auch noch keine Leiche, die hier herumlag.“
„In Absprache mit der Justizsenatorin werden jetzt die Maßnahmen konsequent durchgesetzt.“ sagte Frau Dr. Kraut und erhob sich.
„Wenn es keine Frage mehr gibt, beende ich hier die Besprechung.“
Sie schaute sich in der Runde um.
Keiner machte Anstalten, etwas zu sagen. Nacheinander standen alle auf. Auch Jörgensen wollte zur Tür gehen, als er von Frau Dr. Kraut angesprochen wurde, die Moltke herbei winkte.
„Herr Jörgensen, Sie hatten doch bei der Verwaltung angefragt, wie viele Personen und eventuell welche davon sich zum Tatzeitpunkt im Gebäude aufgehalten haben.“
Moltke in zackigem Ton: „Können wir nicht sagen .Zwar ist an einem Freitagnachmittag nicht so viel los wie an den anderen Tagen, aber wer und wie viele Personen im Haus waren, lässt sich nur schätzen.
Inklusive Justizmitarbeitern, Besuchern, Prozessbeteiligten usw. sind an durchschnittlichen Tagen bis zu 1500 Besucher im Haus, dazu kommen nochmals ungefähr 1500 Justizmitarbeiter mal den Krankenstand nicht heraus gerechnet. Normalerweise 300 Hauptverhandlungen pro Tag beim …….“
So genau wollte es Jörgensen eigentlich nicht wissen.
„Es reicht mir, wenn Sie mir sagen, wie viele Termine zum Tatzeitpunkt am Freitag noch stattgefunden haben.“
„Insgesamt am Freitagnachmittag nach 13:00 Uhr noch vier Termine, davon drei im Altbau.“
Obwohl er genug hatte, fragte er: „Werden die Besucher registriert? Gibt es Überwachungskameras?“
„Registriert wird hier niemand. Ja, und die Überwachungskameras, vereinzelt gibt es im Hause welche, aber nicht dort, wo das Tötungsdelikt stattgefunden hat. Wegen des Datenschutzes werden die Aufnahmen nicht gespeichert.“
Moltke ging in Richtung Fenster, an dem ein alter Rollwagen mit Akten stand. Es existierten viele Typen solcher Vehikel. Doch die im Kriminalgericht waren von ganz eigener Art, entweder von Heimwerkern aus Sperrmüll zusammengezimmert oder aus den Anfangsjahren des Kriminalgerichts. Sobald sie bewegt wurden, hörte man das Bollern schon von weitem. Moltke griff sich einen Stapel Akten und drückte sie Jörgensen in die Hand.
Alle Teilnehmer der Besprechung waren in den langen Gängen des Gerichts verschwunden.
Es war bereits 18:00 Uhr. Er musste die Wohnungsbesichtigung um 18:30 Uhr absagen.