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EINE DÜNNE ROTE LINIE

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Es war ein Tag wie viele andere und die gewaltige Scheibe der Sonne färbte den Himmel rot. Die Regenzeit verspätete sich in jenem Januar des Jahres 2005, und wir konnten nichts tun, als zum Himmel zu schauen und zu warten. Die ersten Monate des Jahres sind hart in Malawi und werden nicht umsonst die »Jahreszeit des Hungers« genannt. Die Vorräte gehen zur Neige, wenn sie nicht schon aufgebraucht sind, und den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und auf die neue Ernte zu warten. Auch wenn wir Mais anbauen, wo es nur geht – Mais ist das Hauptnahrungsmittel des Landes : Wir bereiten daraus einen weißen Brei zu, die Nsima, die wir fast täglich essen ; dazu gibt es Trockenfisch, Gemüse, Ziegenfleisch oder, an Festtagen, Rind oder Hühnchen –, haben wir doch nie genug. Tag für Tag werden die Portionen kleiner und die Teller leerer.

An jenem Morgen war ich früh aufgewacht, und weil die Sonne schien, hatte ich beschlossen zu waschen. Mein Mann war zur Arbeit in Salima und würde die ganze Woche dort bleiben, und weil die Schulen geschlossen waren, war Maupo, mein Ältester, bei meinem Bruder in Kasungu.

Ich hatte eine lange und unruhige Nacht hinter mir. Die x-te. Seit etwa drei Monaten, seit Melindas Geburt, war mein Kopf mit Ängsten und Sorgen angefüllt, die in der Dunkelheit noch tückischer wurden. Eine Mutter spürt, wenn etwas nicht stimmt, und mit Melinda stimmte etwas nicht, da war ich mir sicher. Sie fieberte oft und nahm einfach nicht zu. Seit ihrer Geburt wurde sie in immer kürzeren Abständen von Erbrechen und Durchfall geplagt. Mit Maupo, der inzwischen sechs Jahre alt war, hatte es nie solche Probleme gegeben.

Ich war gerade auf dem Weg, um das Waschwasser zu holen, als mein Entschluss mit einem Mal feststand. Ich hatte schon länger darüber nachgedacht, aber nun würde ich es wirklich tun. Ich setzte die Schüssel mit der schmutzigen Wäsche ab, ging wieder ins Haus und wühlte in meinen Sachen. Ich steckte die wenigen Münzen ein, die ich beiseitegelegt hatte, nahm die Chitenge, ein langes Tuch aus buntem Stoff, und band mir Melinda auf den Rücken.

Meine Schwägerin, die in der Nähe der Tür ein paar Töpfe sortierte, fragte mich : »Wohin willst du denn so eilig ?«

»Zu meiner Familie, nach Lilongwe«, antwortete ich und ging rasch weiter.

An der Minibus-Haltestelle in Mponela stieg ich in den ersten Kleinbus, den ich fand. Er war überfüllt, wie immer. Die Busse, die in Malawi für den öffentlichen Verkehr eingesetzt werden, haben neun Sitzplätze, befördern aber manchmal bis zu 27 Personen. Die Polizei weiß das, aber sie drückt ein Auge zu. Sonst könnten die Fahrgäste die Fahrt nicht bezahlen und die Fahrzeughalter und Fahrer nichts verdienen. Alle Kleinbusse aus dem Norden des Landes, die in die Hauptstadt Lilongwe fahren, kommen über Mponela. Sie sind nur in den seltensten Fällen leer, zumal sie in der Regel nicht abfahren, ehe sie so viele Fahrgäste eingesammelt haben, dass wenigstens die Benzinkosten gedeckt sind.

Während der Fahrt drängten sich die Gedanken in meinem Kopf genauso dicht wie die Menschen in dem klapprigen Kleinbus, doch tief in meinem Inneren spürte ich, dass ich das Richtige tat. Endlich hatte ich auch ohne die Zustimmung meines Mannes den Mut gefunden, etwas zu tun, mich dem Problem zu stellen und die Antwort auf eine Frage zu suchen, die mich seit Monaten quälte.

Ich stieg in der Nähe der Klinik von Mtenga Wa Ntengha aus, die etwa zehn Kilometer von meinem Dorf entfernt lag. Doch noch während ich durch die Marktstände im Eingangsbereich hindurchschritt, löste sich die Sicherheit, die ich auf der Fahrt gespürt hatte, plötzlich in Nichts auf. Das VCT, die ehrenamtlich betriebene Ambulanz, wo man den HIV-Test machen kann, befand sich gleich hinter dem Haupteingang. Ich war fast da, doch ich konnte diesen letzten Schritt nicht tun. Wollte ich den Test wirklich machen ?

Ich wusste nicht viel über Aids. Ich hatte gehört, dass es Medikamente gab, aber ich war davon überzeugt, dass jemand, der infiziert war, nur noch ein oder zwei Jahre zu leben hatte. Ich hatte so viele Menschen krank werden und sterben sehen : Männer, junge Mädchen und Kinder, die noch ein paar Wochen zuvor scheinbar kerngesund gewesen waren und dann innerhalb weniger Tage dahingerafft wurden. Sonntagnachmittags gab es auf 2FM eine Radiosendung, Der Wind der Hoffnung. Alle meine Informationen stammten von dort. Die Kranken erzählten ihre Geschichte und berichteten von ihren schwierigen Lebenserfahrungen. Ich hörte zu und staunte : »Wenn sie krank sind und überlebt haben, dann gibt es auch für mich noch Hoffnung, wenn ich positiv getestet werde. Ich muss nur den Test machen«, so sagte ich mir, »und diese Bürde hinter mich bringen. Es ist sinnlos, noch länger zu warten.«

Ich ging zwischen den Marktständen und dem Hof der Ambulanz hin und her, ohne auf meine Umgebung zu achten. Ich nahm mir Zeit. Ich traf einige Bekannte, die mich begrüßten. Eine Nachbarin, die ihre Schwester besuchte, fragte mich : »Was tust du hier ?«

Ich erfand eine Ausrede. »Ich habe Melinda hergebracht, zu einer Kontrolluntersuchung«, improvisierte ich.

Ich fühlte mich beobachtet, als ob alle Augen auf mich und mein kleines Mädchen gerichtet waren.

Ich näherte mich der Tagesklinik. Jemand vom Reinigungspersonal bemerkte mich : »Mama«, sprach er mich an, »musst du den Test machen ?«

»Nein …«, antwortete ich zögernd. Und nahm meine Runde zwischen Hof und Eingang wieder auf, bis ich mich schließlich immer weiter von der Ambulanz entfernt hatte.

Ich war ratlos. Mein Mann wollte nicht, dass wir uns untersuchen ließen, er sagte, das sei nicht nötig. Er hatte immer versucht mich zu beruhigen. Doch irgendetwas stimmte nicht mit mir. Ich brauchte Gewissheit, ganz gleich, wie das Ergebnis ausfallen würde. Ich wandte mich um, holte tief Luft und trat mit entschlossenem Schritt durch die Tür. »Ich darf nicht länger davonlaufen«, sagte ich mir, »ich muss die Wahrheit wissen.« Ich ging hinein. Niemand war im Raum, nur ich und mein kleines Mädchen, das ich auf dem Rücken trug. Ich wollte schon wieder umkehren, doch es war zu spät : Eine Krankenschwester kam auf mich zu und bat mich hinein.

»Einen Moment«, sagte ich. Ich spürte, dass ich noch nicht bereit, dass ich nicht überzeugt war. Woher sollte ich den Mut nehmen, weiterzugehen ?

Die Frau kam näher und sagte freundlich : »Mach dir keine Gedanken, wenn dir nicht danach ist, kannst du ein andermal wiederkommen …«

»Nein«, sagte ich, »es hat keinen Zweck, länger zu warten. Ich will den Test machen. Jetzt.«

Sie bat mich in ein kleines Zimmer mit sauberen weißen Wänden und ließ mich Platz nehmen. Dann fragte sie mich : »Warum bist du gekommen ?«

Ich wusste nicht, ob ich mich ihr anvertrauen, ob ich ihr eine ehrliche Antwort geben und mit ihr über meine tiefsten Ängste sprechen sollte. Doch wenn ich ihr nicht die Wahrheit sagte, würde sie mir vielleicht nicht alles erklären, was ich wissen musste.

Statt einer Antwort fragte ich sie : »Wie viele von den Leuten, die herkommen, um den Test zu machen, sind positiv ?«

»Warum willst du das wissen ?«

»Ich will es eben wissen. Wie viele ?«

»Viele. In der Regel machen sie den Test, weil sie schon erste Symptome haben oder glauben, sie hätten sich infiziert …«

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sagte mir : »Wenn sich so viele Kranke ihrer Krankheit stellen, kann ich das auch.« Doch gleichzeitig dachte ich, dass es dumm sei, sich zu ängstigen. »Ich kann nicht HIV-positiv sein, James hat immer gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, er hätte kein Aids, der Husten würde schon wieder weggehen, das sei noch von der Tuberkulose …«

Dann brach ich zusammen, verlor die Beherrschung. Ich schüttete mein Herz aus und erzählte ihr, dass ich gekommen sei, weil ich so viel Gerede über meinen Mann gehört hätte. Anfangs hätte ich noch gedacht, das sei nur böser Tratsch, doch dann hätten mich mehrere Frauen angerufen, die gesagt hätten, sie seien mit meinem Mann verlobt, und ich hätte es mit der Angst bekommen. Und dann hätte ich mich entschieden : »Wenn das Ergebnis negativ ist, gehe ich nach Hause, nehme meine Sachen und meine Kinder und verschwinde für immer.«

»Warum willst du gehen, wenn du nicht krank bist ?«, fragte sie erstaunt.

»Weil ich sicher bin, dass ich die Kraft habe, ein neues Leben anzufangen, und dass ich auf mich selbst und meine Kinder aufpassen kann. Doch wenn ich positiv bin, dann wird mein Mann sich um uns kümmern müssen.«

Die Frau ließ mich reden und hörte mir zu, während ich meinen Gefühlen Luft machte. Als ich beinahe atemlos zum Ende kam, erklärte sie mir einfach nur, wie der Test funktionierte. Sie würde mir mit einer Lanzette in den Finger stechen, Blut abnehmen und einen Tropfen davon auf jeden der beiden Teststreifen geben, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Dann würde sie einen Tropfen Reagenzflüssigkeit hinzufügen, und nach einigen Minuten hätten wir die Antwort. Wenn eine dünne rote Linie erscheine, sei das Ergebnis negativ, bei einem positiven Ergebnis seien es zwei Linien. Meine Zukunft und die Zukunft meiner Kinder hingen von einer einzigen farbigen Linie ab.

Nach der Blutabnahme ging ich zurück ins Wartezimmer. Es war leer, Melinda und ich waren allein. In diesem Augenblick der Anspannung betete ich mit aller Kraft. Ich war aufgewühlt, ich hatte Angst. Mein Herz klopfte laut, es gelang mir nicht, stillzusitzen. Melinda schlief zum Glück ahnungslos in ihrem Tuch. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand die Krankenschwester wieder in der Tür und rief mich beim Namen. »Pacem«, sagte sie, »komm.«

Ich ging hinein und setzte mich auf den Stuhl.

Sie fragte : »Was hast du für ein Gefühl ?«

Plötzlich wollte ich weglaufen und wünschte mir von ganzem Herzen, ich wäre niemals durch diese Tür gegangen. »Ich will es nicht mehr wissen«, antwortete ich.

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie lächelte. Sie sagte mir, ich solle ruhig sein, es sei ja nun geschehen. Sie nahm den Teststreifen und blickte darauf. Sie hob den Blick. Dann senkte sie ihn wieder. Ich konnte nicht mehr, ich hielt es nicht mehr aus : »Los, sag schon !«

»Was hast du für ein Gefühl ?«, fragte sie wieder.

»Das ist mir egal, aber mach schnell. Ich werde es akzeptieren, ganz gleich, wie es ausgeht.«

Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe ; tief in meinem Herzen war es nicht wahr, und doch sagte ich es : »Ich werde es akzeptieren, ganz gleich, wie es ausgeht.«

Eine Zukunft für meine Kinder

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