Читать книгу Eine Zukunft für meine Kinder - Pacem Kawonga - Страница 7
DER TANZ DER NGONI
ОглавлениеIn Malawi leben viele ethnische Gruppen friedlich beieinander. Die größte von ihnen sind die Chewa, deren Sprache, das Chichewa, unsere Landessprache ist ; daneben gibt es die Yao, die Lomwe, die Sena, die Tumbuka, die Ngoni und andere. Jede Ethnie hat ihre Traditionen und ihre Wurzeln, doch Umsiedlungen und die zunehmend häufigen Mischehen haben die Unterschiede verwischt. Ich bin eine Tumbuka wie mein Vater, weil sich bei uns – anders als bei den Chewa oder den Lomwe, die in den südlichen Regionen leben – die ethnische Zugehörigkeit über den Vater vererbt. Auch Mzimba, das Dorf meiner Mutter, ist größtenteils von Tumbuka bewohnt, doch dort leben auch viele Ngoni. Meine Großmutter zum Beispiel. Sie war nicht nur eine Ngoni, sondern außerdem Mitglied einer traditionellen Tanzgruppe, die den Präsidenten auf seinen Reisen begleitete.
Hastings Kamuzu Banda wurde der erste Präsident von Malawi, als das Land nach Jahren der englischen Herrschaft 1964 unabhängig wurde. Banda hatte in den Vereinigten Staaten Medizin studiert und in Großbritannien und Ghana gearbeitet. Als er 1958, nach über 40 Jahren, zurückkehrte, wurde er zunächst Vorsitzender des Nyasaland African Congress (NAC) und danach der Malawi Congress Party (MCP). Der Präsident betrachtete sich als Vater der Nation und ließ sich feiern wie ein Familienoberhaupt. Insbesondere die Frauen und die Kinder mussten ihn ehren und ihm zujubeln, und der Tanz, der einen festen Bestandteil unserer Kultur und unseres Alltags darstellte, war eine Möglichkeit, ihm diese Ergebenheit zu zeigen. Für Banda zu tanzen wurde zu einer Pflicht. Jedes Mal, wenn er von einem Auslandsbesuch zurückkam, wurden die Leute in den Dörfern abgeholt und auf Lastwagen zum Empfang ihres Präsidenten und Vaters gebracht. Meine Großmutter gehörte einer Gruppe von etwa 20 Tänzerinnen an und hatte so die Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen. Und mit Mama Kadzamira zu sprechen, seiner Krankenschwester und Mitarbeiterin, die, weil sie ihm nie von der Seite wich, im Grunde so etwas wie eine First Lady in pectore war. Als wir nach dem Tod meiner Großmutter ihre Sachen durchsahen, fanden wir unzählige Stoffe und Chitenges, die anlässlich der jeweiligen Feiern mit Bandas Bild bedruckt worden waren. Es waren so viele, dass wir sie an unsere Freunde im Dorf und an Verwandte verteilten. Auch ich habe den Präsidenten einmal gesehen und zu seinen Ehren getanzt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Nach Schulschluss ließen unsere Lehrerinnen uns auf einen großen Lastwagen aufsteigen und brachten uns zu seiner Residenz im Distrikt 3 von Lilongwe. Nach der Vorführung kam Banda, um uns einzeln zu begrüßen. Er tätschelte mir den Kopf, und ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Mein Vater sprach nicht gerne über seine Kindheit. Ich wusste nur, dass er aus Chitipa stammte, einem Dorf im Norden, fast an der Grenze zu Tansania ; dass seine Eltern sehr arm gewesen waren und dass er hatte kämpfen müssen, um ein Auskommen zu haben und etwas zu lernen. Er hatte einen starken und entschlossenen Charakter, und das hatte ihm geholfen, so weit zu kommen : aus einem elenden und vergessenen Dorf bis in die Hauptstadt, wo er für die Regierung arbeitete. Manchmal, wenn wir abends zuhause saßen, entspannte er sich und erzählte oder dachte laut nach. Er ermahnte uns und erinnerte uns daran, wie sehr er sich hatte anstrengen müssen, um seine Lage zu verbessern : »Als ich jung war«, sagte er dann, »trug ich nie Schuhe an den Füßen, aber ich habe hart gearbeitet, ich habe mich angestrengt und viel gelernt, und ich bin weit gekommen. Heute«, sagte er zufrieden, »kann ich für euch alle sorgen.« Ich glaube, dass seine Vergangenheit sehr hart gewesen ist. Wie die vieler Menschen, die – manchmal auch heute noch – geboren werden, leben und sterben, ohne jemals ein Paar Schuhe an den Füßen getragen zu haben.
Nach der Heirat und einer ersten Anstellung bei Air Malawi in Lilongwe wurde mein Vater Untersekretär im Außenministerium. Er war viel auf Reisen. Er war wochen- und manchmal sogar monatelang unterwegs und besuchte im Rahmen seiner Arbeit viele fremde Länder. Er kannte den Präsidenten persönlich und arbeitete eng mit Aleke Banda, einem seiner wichtigsten Vertrauten, zusammen. Er war ein zurückhaltender Mann und bestrebt, Arbeit und Privatleben auseinanderzuhalten. Wenn er zum Beispiel im Gottesdienst zufällig einem Kollegen begegnete, grüßte er ihn nur förmlich. Vater redete nicht viel und war stets verschlossen. Wenn wir ihn ansprachen, meine beiden Brüder und ich, waren wir immer ein wenig befangen. Doch als er krank wurde, änderte er sich von Grund auf, und kurz vor seinem Tod wurde mir klar, wie gern er uns hatte.
Dass meine Mutter die Schule besuchen konnte, verdankte sie einem Onkel, der für die ADMARC arbeitete, eine malawische Institution, die für Produktion, Verkauf und Ausfuhr der landwirtschaftlichen Erzeugnisse zuständig war. Bei uns im Land war es Sitte, dass jeder, der ein Gehalt bezog oder über anderweitige finanzielle Mittel verfügte, den übrigen Familienmitgliedern half. Der Onkel bezahlte ihr die weiterführende Schule und danach auch das Teachers Training College.
Ich weiß nicht genau, wann die beiden einander begegnet und wann sie endgültig in die Hauptstadt gezogen sind. Ich weiß nur, dass sie sich in dem Kleinbus kennengelernt haben, der sie zu ihrer jeweiligen Schule brachte, und dass ihre Eltern ihre Verbindung befürworteten und unterstützten, sobald sie davon erfuhren. Sie heirateten 1976, der erste Sohn wurde 1977 geboren, ich, das einzige Mädchen, kam 1978 und der jüngste Sohn 1984 zur Welt. Eigentlich bekamen sie nach mir noch eine weitere Tochter, doch sie starb gleich nach der Geburt. Obwohl ich damals noch klein war, erinnere ich mich, dass meine Mama geweint hat und dass es ihr schlecht ging. Doch sie kam wieder auf die Beine, wie so viele afrikanische Frauen. Meinen Namen, Pacem, hat mein Vater ausgesucht. Er ist einzigartig : Mir ist in meinem ganzen bisherigen Leben kein zweiter Mensch begegnet, der diesen Namen trägt. Einmal habe ich ihn gefragt, was mein Name bedeute, und er hat mir geantwortet, es sei der Titel eines lateinischen Texts, den er vor meiner Geburt gelesen habe ; später habe ich mir gedacht, dass es sich wohl um die Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. gehandelt hatte.
Lilongwe, das Präsident Banda 1975 zu seiner Hauptstadt gemacht hatte, war in 50 Viertel unterteilt, die Bezirke genannt wurden. Anfangs, als meine Mutter noch an den weiterführenden Schulen unterrichtete, wohnten wir in Bezirk 15. Danach zogen wir in Bezirk 11, und 1984, als mein Vater die Stelle im Außenministerium bekam, übersiedelten wir in den zehnten Bezirk, einen der schönsten und exklusivsten der Stadt, der mitten im Grünen lag und von Regierungsmitgliedern und Diplomaten bewohnt war.
Mein Vater war häufig auf Reisen und blieb lange fort. Er war in den Vereinigten Staaten, in Deutschland, in Äthiopien. Jedes Mal, wenn er zurückkam, brachte er uns Geschenke mit ; oft war es etwas zum Anziehen. Am Tag seiner Ankunft holten wir ihn in einem Wagen mit Fahrer, den sein Büro zur Verfügung gestellt hatte, am Flugplatz ab. Das war immer ein Fest, und wir genossen die wenigen Minuten, die wir mit ihm hatten. Zuhause sahen wir ihn wenig oder gar nicht. Wenn er in der Stadt war, kam er spät heim, manchmal erst nach Mitternacht. Er sagte dann, dass er im Büro aufgehalten worden sei, dass er so viel zu tun habe. Meine Mutter sagte nichts. Sie vertraute ihm. Wir vertrauten ihm.