Читать книгу Ein Jahr aus irgendeinem Leben - Pat Oliver - Страница 4

1 – Lisa

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Der Film beginnt. Standard-Intro. Die Kamera zoomt ganz nah auf ein Gesicht. Natürlich, der Hauptdarsteller. Die gepeinigte Person, die sich immer in ausgerechnet die Mädchen verknallt, die unerreichbar sind. Und natürlich wird er am Ende des Filmes das Mädchen bekommen. Es ist immer das Gleiche. Im richtigen Leben hat er ein großes Haus und alle halbe Jahr mal eine andere Kollegin als Freundin. Er hat zwei Kinder aus zwei verschiedenen Ehen, ein dickes Bankkonto und einen Porsche vor der Tür.

Wie ich Hollywoodfilme hasse. Immer der gleiche Scheiß! Trotzdem bin ich natürlich rein gegangen. Nicht wegen dem Film. Der liegt sowieso schon sicher verstaut auf irgendeiner der vielen Video-CDs, die sich bei mir im Regal finden. Dank meiner neuen DSL-Anbindung gehen die Downloads jetzt noch schneller. Allerdings habe ich mir dieses cineastische Meisterwerk auch noch nicht angesehen, weiß aber trotzdem, wie es ungefähr ablaufen wird. Es ist reine Sammlerfreude, solche Filme zu besitzen. Zumal ich sie meistens schon eine Woche vor Filmstart beruhigt ins Regal legen kann.

Der Großteil der Filme findet sich bei mir allerdings in der englischen Originalfassung, was dazu führt, dass ich jedes Mal aufs Neue überrascht bin, wenn ich dann ein Kino betrete und die Synchronisation bewundere, die immer so nette Umschreibungen wie „böser Bube“ für das simple Wort „Motherfucker“ oder andere Skurrilität bietet.

Das hier ist allerdings äußerst brutal. Es ist eine dieser Fließband-Liebes-Komödien, die jeden Monat auftauchen. Man hört dann etwa ein Jahr lang nichts mehr davon. Irgendwann läuft das Ganze schließlich auf RTL oder Pro Sieben. Ein Jahr später auf Kabel 1 oder RTL II und dann nie wieder.

Der Grund, den ich habe, um mir diesen Film hier anzugucken, ist das Mädchen, das gerade neben mir an ihrer überteuerten Cola schlürft und gleich zum Popcorn greift. Sie heißt Lisa.

20 Jahre, erstes Semester Soziologie, blond, braune Augen, mittelmäßige Figur, mittelmäßige Kleidung, Mittelmaß. So wie ich. Wir würden vielleicht zusammen passen, wenn sie kluge Filme mögen, gute Bücher lesen würde oder sonst irgendwie interessant wäre. Sie könnte ja in einer Band spielen, oder eine tolle Malerin sein, aber das ist Lisa nicht. Sie ist gesundes Mittelmaß und die einzige Motivation, die ich im Moment habe, diesen Film zu sehen, ist die Option auf lange ersehnten Sex.

Ich stelle mir vor, wie Lisa wohl nackt aussieht und bin froh, dass ich keine romantische Beleuchtung zuhause habe, geschweige denn Kerzen. Ich gebe ihr eine Woche Zeit, sich die Sache zu überlegen, falls denn wenigstens so etwas wie ein Kuss heute Abend herausspringen sollte. Natürlich sage ich ihr das nicht. Das würde mich in ein schlechtes Licht rücken. Meine Chancen wären gleich null. Natürlich ist das hinterhältig, ja sogar gemein, aber ich werde mich deswegen nicht schlecht fühlen. Ich werde Sex haben und sie wird Sex haben und dann werde ich ihr erklären, dass ich sie nicht liebe und dass ich das eben erst so richtig begriffen habe.

Wir werden keinen Sex haben. Lisa ist so langweilig. Hin und wieder mache ich eine scherzhafte Andeutung, die sie nicht versteht, während sie bei den schlechtesten Slapstick-Einlagen in schallendes Gelächter ausbricht. Ich erkläre ihr, warum der Film einfach nur schlecht ist und sie schüttelt den Kopf. Ich zeige ihr das im Bild hängende Mikrofon und sie sieht es nicht einmal. Ich werde sie nach dem Kino nachhause fahren und ihr sagen, dass es ein schöner Abend war, ich allerdings morgen nach China auswandere. Sie wird sich darüber freuen, denn ich habe sie wirklich sehr gelangweilt, mit meinen Sprüchen und Weisheiten.

Jetzt heult sie. Hauptdarstellerinnen heulen immer in diesen Filmen, kurz bevor sie ihm seine Briefe zurückgeben und die Kassette und den ganzen anderen Plunder. Dann zerreißen sie die Fotos und tun so, als ob sie von einer sehr schweren Last befreit wurden, obwohl sie ganz genau wissen, dass der Mann jetzt alles daran setzen wird, sie wieder zu kriegen. Ihre Freundinnen sagen ihr, dass das jetzt genau das Richtige sei, was sie tut und dass der Kerl sowieso ein Arschloch war. Er wiederum macht natürlich alles, was sie will. Er schickt ihr Blumen und schreibt wieder Briefe und lässt sich später etwas atemberaubend Schönes einfallen, was sie aber trotzdem nicht dazu bringen wird, ihn zurück zu wollen. Im Gegenteil. Sie entfernt sich immer mehr von ihm. Irgendwann passiert dann etwas richtig Schlimmes und er rettet sie vor irgendetwas. Ein Kuss. Ein Happy End. So läuft das immer. Insgeheim glaube ich, diese Filme sind der Grund dafür, dass die Emanzipation der Frau niemals in den Köpfen der weiblichen Bevölkerung dieses Planeten Einzug halten wird. Es rührt sie zu Tränen zu sehen, wie der Hauptdarsteller seine Liebe zurückerobert. Eine Frau hat so etwas auf der Leinwand noch nie getan. Nie.

Auch Lisa ist im Moment zu Tränen gerührt und ich tue so, als ob ich die letzte Viertelstunde vergessen habe. Ich sitze da und frage mich, warum diese Frau auf der Leinwand heult. Ich denke mir, dass sie Krebs haben muss und dass der Typ auf den Bildern, die sie gerade zerreißt, daran schuld ist. Das wäre zumindest eine Variante, die ich verstehen könnte.

Lisa sieht mich an und hält kurz meine Hand, weil sie denkt, ich fände es auch traurig, dass dieses perfekte Liebespaar so auseinander gehen musste. Dabei findet in meinem Kopf gerade eine wilde Schießerei statt, die daraus resultiert, dass der Vater der heulenden Frau ein finsterer Mafia-Boss ist, der den Hauptdarsteller soeben erschossen hat. Solche Szenen lassen mich wohl immer etwas bedächtig erscheinen.

Ich sehe Lisa kurz, aber entschlossen in die Augen und sage: „Schade um die zwei, findest du nicht?“

Sie sagt „ja“ und dreht sich wieder der Leinwand zu. Kurz darauf lässt sie meine Hand wieder los. Sie hatte das nicht erwartet. Sie wollte nicht den einfühlsamen Kerl, der gleich anfängt zu weinen. Keine Frau will das. Sie wollen alle nur diese Typen, die statt „Schade um die zwei“ zu sagen, aufrichtig gegähnt hätten. Sie wollen, dass man ihnen sagt, dass das ein Film für Mädchen ist und dass das nächste Mal bitte wieder in einen Horrorfilm gegangen wird. Klar, ich hätte das tun können, aber irgendwie bin ich nicht mehr scharf auf Sex mit Lisa. Ich will nicht mal mehr einen Kuss von ihr. Ich will, dass dieser Abend schnellstmöglich vorbei ist, damit ich nach China auswandern kann.

Jetzt folgt der Anflug einer Spannungsspitze. Die Protagonistin läuft nach einem Streit auf die Straße. Er springt ihr hinterher und wirft sie zu Boden, bevor der Bus sie überfahren konnte... Wieso müssen es eigentlich immer Busse sein? Fast immer versuchen irgendwelche Busse die Protagonistinnen zu überfahren. Das ist ganz schön seltsam, vor allem dann, wenn man „Speed“ gesehen hat. Ich glaube, es gibt tatsächlich einen Bus, den sie ursprünglich für den Dreh von „Speed“ benutzt haben, der aber aufgrund einer Fehlplanung jetzt immer ständig im Kreis auf Hollywoods Straßen fahren muss und aus Nostalgiegründen ab und an mal für einen Film eingesetzt wird.

Lisa ist jetzt ganz und gar gefesselt von dem Film. Es ist geradezu schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sie sich in den Kinosessel krallt. Sie ist sichtlich beeindruckt von der Einstellung. Sie wünscht sich, dass jemand auch einmal so etwas für sie tut.

Die Ballade setzt ein. Die zentrale Ballade des Films. Jetzt wird’s wirklich schmalzig. Sie sehen sich tief in die Augen und jeder weiß, was gleich kommt. Ich hoffe immer noch, dass etwas anderes passieren wird. Vielleicht steht im Drehbuch ja, dass John die Schlampe jetzt erwürgt. Natürlich steht das nicht da. Da steht: Kuss. Closeup. Happy End.

Und so passiert es auch. Lisa schaut mich hoffnungsvoll an, so als müsste ich jetzt etwas wundervoll Geistreiches sagen. Ich sage: „Und? Was machen wir jetzt?“, gucke dabei so desinteressiert wie möglich und reiße sie aus ihrer romantischen Vorstellung. Sie braucht einen Moment, um sich daran zu gewöhnen, dass ich auf einmal herzlos geworden bin und meint: „Wie wär’s mit was zum Essen?“

Ich sehe immer noch keinen Sinn darin, dass man, wenn man sich schon den ganzen Abend lang mit Popcorn und Nachos den Magen verdorben hat, noch mal etwas essen geht und frage deswegen, ob wir nicht lieber noch etwas trinken gehen wollen.

Ob trinken oder essen ist für Lisa egal. Hauptsache ist, dass wir noch etwas unternehmen, damit sie mich richtig kennen lernen kann. Sie spielt wohl immer noch mit dem Gedanken an Romantik und Liebe. Mit dem Thema bin ich allerdings durch. Und das mit dem Trinken gehen ist auch nur ein Vorwand, um mich nach allen Regeln der Kunst zu besaufen. Das werde ich jetzt brauchen. Außerdem weiß ich von einer Party, auf die ich jetzt gehen werde. Ob es ihr gefallen wird, ist mir egal. Vielleicht betrinkt sie sich auch und einer meiner Freunde wird es mit ihr treiben. Scheißegal. Sie ist nicht mein Typ. Sie ist nur jemand, der seit langer Zeit mal wieder mit mir ausgegangen ist. Gesundes Mittelmaß.

Ein Jahr aus irgendeinem Leben

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