Читать книгу Ein Jahr aus irgendeinem Leben - Pat Oliver - Страница 9

6 – Manfred

Оглавление

„Party im Parterre“. Manfred hat Geburtstag und alle möglichen Leute eingeladen. Er fand den Titel wohl unglaublich witzig und deshalb laufen jetzt hier nur die Nasen herum. Die Abstinenzler und Lebensverweigerer. Einer trinkt sogar ein richtiges Bier. Die anderen begnügen sich mit dem alkoholfreien. Ich habe zum Glück niemanden von meinen Freuden mitgebracht. Die würden den Laden kurzerhand auseinander nehmen.

Manfred ist einer meiner Nachbarn und war mal in einem Seminar mit mir. Er hat sich mir sozusagen aufgedrängt. Anfangs hatte ich nichts gegen ihn, bis ich gemerkt habe, dass er zu den Leuten gehört, die einem aus dem Lexikon vorlesen. Da war’s dann wohl aber schon zu spät.

Im CD-Player laufen alle Chartsplatzierungen der letzten 24 Monate rauf und runter, mit spezieller Würdigung an sämtliche Mallorca-Ballermann-Hits. Sogar Jürgen Drews ist dabei.

Mir kribbelt es in den Beinen. Sie wollen rennen. Meine Leber schreit förmlich nach sämtlichen auffindbaren Ressourcen gedächtnislöschender Flüssigsubstanz und meine Hände ballen sich zwischenzeitlich zu Fäusten und verlangen Rache an den Lautsprechern, aber ich beherrsche mich, so gut es geht und suche nach einem nicht ganz so anstrengenden Gesprächspartner.

„Ja, mein Computer hatte das auch mal, ich gebe dir am besten mal den Link, wo du den Bugfix runterladen kannst. Dann sollte das eigentlich gehen...“

„Nein, ich glaube kaum, dass man Goethe in diesem Zusammenhang einfach so mit Heinrich Mann vergleichen kann...“

„Mein Elf ist jetzt Level 14. Also noch nicht so weit, aber ich habe letzte Woche ein Abenteuer gespielt...“

Okay, es reicht. Hier gibt es nichts und niemanden, der auch nur die leiseste Ahnung davon hat, was Party machen bedeutet. Ein paar von den Leuten haben sich jetzt sogar hingesetzt und spielen Monopoly. Ich beschließe kurzerhand, mich mal eben um die Musik zu kümmern. CDs habe ich natürlich nicht dabei, aber bei jeder Plattensammlung ist Erfahrungsgemäß mindestens eine dabei, die man auflegen kann, ohne zu kotzen.

Ich schmeiße nach und nach alles durcheinander, wühle in Bravo Hits und Kuschelrock, finde Britney Spears- und Christina Aguilera-Alben und schließlich doch eine Tote Hosen-CD. „Bis zum bitteren Ende – Live“. Okay, nicht das gelbe vom Ei, aber zumindest auch nicht mehr ganz Eiweiß. Ich lege ein und spiele „Das Wort zum Sonntag“, setze mich in eine Ecke und lausche den ersten Zeilen.

Früher war alles besser

Früher war alles gut

Da hielten alle noch zusammen

Die Bewegung hatte noch Wut...

Mir ist gerade so. Ich brauche das jetzt. Melancholie und Trübsal in Tateinheit mit pessimistischer Zwangsneurose. Früher war wirklich mal alles besser. Früher wäre ich nicht hier gewesen. Früher hätte ich Manfred ausgelacht. Stattdessen überlege ich gerade, ob sie mich vielleicht noch mitspielen lassen, am Monopoly-Tisch, wenn ich höflich frage.

Es nutzt einfach nichts. Plötzlich ist man zweiundzwanzig und hat immer noch das Gefühl irgendwas Wichtiges zu verpassen. Irgendwo in dieser gottverdammten Stadt werden gerade das erste Mal Drogen ausprobiert, wird gerade das erste mal ein Bier geöffnet und das erste Mal gevögelt, während andere Leute dabei zusehen und ich bin nicht mehr dabei. Ich habe ausgedient. Die Menschen werden immer langweiliger und trinken immer weniger. Sie tanzen nicht mehr auf den Tischen und empfinden zweiundzwanzig Uhr als angemessene Schlafenszeit.

Solange Johnny Thunders lebt

So lange bleib ich ein Punk

Nun, der ist auch schon tot. Und Campino hat sich dran gehalten. Ist ja jetzt Pop-Musiker. Liegt wohl auch wieder am Alter. Böse Zungen behaupten ja, dass man nie zu alt ist um Punk zu sein, aber so richtig? So mit Bullenschweine-Propaganda, demonstrieren gehen und Dosenbier saufen? Kann sich ja heute auch niemand mehr leisten.

Das ist alles irgendwie nicht mehr ganz das Wahre. Zum Glück war ich nie Punk, ich würde mir sonst kein Wort glauben. Das wäre ja dann vollkommen gegen meine Ethik.

Bei den Worten „Wenn ich wirklich einmal anders bin, ist mir das heute doch scheißegal“ reißt die Musik ab. Manfred wechselt die CD und meint: „Ich muss die Scheibe wirklich mal entsorgen.“

Ich biete mich an, das für ihn zu erledigen und sage, dass ich da nur mal reinhören wollte, weil mir das Cover so gefiel. In Wahrheit habe ich dieses Werk natürlich selbst schon zuhause und werde sie wohl irgendwem geben, der ein Recht darauf hat, das Zeug mal zu hören.

Ich frage Manfred: „Sag mal, kommen noch Leute oder sind das jetzt alle? Ich kenn’ hier ja niemanden so richtig und irgendwie sind die auch alle nicht so meine Liga, also wenn jetzt keiner mehr kommt, dann würde ich dann mal meine Sachen packen, wenn du verstehst.“

„Ja, klar, versteh ich, aber bleib noch ’ne Viertelstunde sitzen, Tom und Marlene kommen noch, die solltest du schon noch kennen lernen, die sind ziemlich schwer in Ordnung. Sind beides BWL-Studenten und die bringen immer die gute Laune mit.“

Oh Scheiße! BWL-Studenten mit guter Laune. Mein Gehirn sucht verzweifelt nach einem Ausweg. Irgendeinem Strohhalm, an den ich mich klammern kann. Weil mir nichts Klügeres einfällt verschwinde ich auf die Toilette, lasse dort mein Handy klingeln und führe ein Selbstgespräch mit dem Ergebnis, dass ich ganz dringend weg muss, weil Steffi sich gerade von ihrem Freund getrennt hat und jetzt dringend Beistand braucht.

Als ich das Klo verlasse steht Manfred schon im Flur und reicht mir meine Jacke. Ich habe extra laut gesprochen, damit es auch jeder hören kann. Er sagt: „Ich weiß wie das ist. Halt dich nicht länger mit uns auf. Deine Freundin ist jetzt wichtiger. Hättest du auch gleich sagen können, dann wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, dich hier länger fest zu halten.“

Sehr einfühlsam von ihm. Das muss man schon sagen. Ein bisschen tut mir meine Show sogar leid. Na ja, zumindest bis Celine Dion aus der Anlage schallt.

Auf der Straße vor dem Haus steht etwas abseits ein alter Ford, aus dem gerade zwei Menschen aussteigen, Marlene und Tom wohl. An ihnen vorbei zu gehen ohne „Hallo“ gesagt zu haben erscheint mir plötzlich unhöflich, zumal sie ja gesehen haben müssen, dass ich gerade aus dem Haus gekommen bin.

Ich muss schließlich sowieso in die Richtung, aus der die beiden kommen, also gehe ich entschlossen auf sie zu und stelle mich kurz vor. Die BWL-Studenten sind etwas verdutzt, sagen aber, dass es sie wohl freut, mich kennen zu lernen und da es mir angemessen erscheint, erkläre ich den beiden gerade noch die Stimmung da drin, dass Monopoly hoch im Kurs steht und dass die Musik einfach Spitze ist.

„Na ja, wir sind das schon von Manfred gewohnt. Er ist nicht gerade der aufregendste Mensch, nicht wahr?“, meint Tom, der sich jetzt wahrscheinlich richtig unterhalten möchte.

„Wir bleiben auch nicht lange. Wir trinken vielleicht ein Bier oder ein Glas Wein, bevor wir in irgendeine Bar verschwinden. Ist ja auch nicht auszuhalten“, wirft Marlene ein.

Irgendwie werden mir die beiden gerade sympathisch, wahrscheinlich hat das auch was mit Mitleid zu tun.

Ich sage ihnen, dass ich um die Ecke wohne, und dass sie gerne noch einmal bei mir klingeln können, wenn sie es geschafft haben. Ein Bierchen könnte ich auch anbieten. Mein Abend würde jetzt sowieso nur noch aus Fernsehen und Computerspielen bestehen.

Sie sagen, dass sie wahrscheinlich noch drauf zurückkommen werden und ich sage, dass ich mich freue. Eigentlich will ich gar nicht wirklich, dass sie noch vorbeikommen, aber nach dem melancholischen Anfall von vorhin muss ich mir da mal in den Arsch treten.

Warum denn auch nicht mal ein paar neue Leute kennen lernen? Okay, warum ausgerechnet BWL-Studenten? Na, ist ja auch egal. Das macht mich nicht zu einem schlechteren Menschen. Ich darf halt niemandem davon erzählen. Sonst rutsche ich wahrscheinlich automatisch auf der Freundeskreisleiter eine Stufe nach unten.

Um halb elf klingelt es schließlich an meiner Tür. Ich bin gerade dabei eine feindliche MIG abzuschießen, schrecke hoch und werde tödlich getroffen. Der Computer spielt ein bisschen Trauermusik, während mein Grabstein im Hintergrund erscheint. Ich drücke den Türsummer und warte, bis Marlene und Tom die zwei Stockwerke überwunden haben.

„Hallo, hast du schon geschlafen?“, fragt Marlene mit Blick auf meine zerzausten Haare.

„Nee, Russen getötet“, entgegne ich.

Tom reicht mir ein Sixpack Bier.

„Wir waren eben noch an der Tankstelle. Praktisch, so was direkt vor dem Haus zu haben.“

Wir setzen uns in mein Wohnzimmer und ich biete ein paar Mini-Salamis an, die ich noch im Kühlschrank gefunden habe.

„Und? Wie war die Party noch?“, frage ich, als kein Gesprächsthema aufkommen will.

Tom sagt: „Also, Manfred wird immer schlimmer. Meine Güte, was da für Leute waren.“

„Ja, und wie die alle drauf waren…“, wirft Marlene ein.

„Nächstes Mal haben wir aber bitte was vor, wenn er fragt“, meint Tom. „Sag mal, wo ist denn hier die Toilette?“

Ich verweise auf die zweite Tür, die es in der Wohnung gibt und sitze jetzt alleine mit Marlene im Zimmer.

„Du studierst also BWL, hm? Wie weit bist du denn?“

„Sechstes Semester. Ich hab bald wieder Prüfungen. Was machst du denn so?“

„Na ja, offiziell bin ich wohl auch Student. Aber eher interdisziplinär. Jedes Semester mal was Neues. Ich kann mich da nicht so festlegen.“

„Hm, okay.“

Dann folgt Schweigen. Unangenehmes Schweigen. Diese Art von Stille, die einen immer dazu verleitet, schneller zu trinken. Ich schaue mir Marlene ein bisschen genauer an. Körbchengröße C wahrscheinlich, relativ schlank, mittellange braune Haare mit Strähnchen, Stupsnase. Nicht mehr wirklich Mittelmaß, aber auch nicht die höchste Stufe der Schönheit. Jetzt sollte ich wohl fragen. Könnte aber auch falsch verstanden werden. Aber na ja, ich kenne die beiden ja nicht. „Also, du und Tom...?“

Sie unterbricht mich: „Ich und Tom wohnen in einer WG.“

Ich nicke verständig, aber es juckt mir unter den Fingern.

„Und ihr beide seid...?“

„Na ja, kein Paar, wenn du das meinst. Also nicht im eigentlichen Sinne.“

„Wie soll ich das denn verstehen?“

„Manchmal schlafen wir miteinander, aber nur wenn wir in keiner Beziehung sind.“

„Einfach so?“

„Einfach so. Im Moment ist er aber ganz glücklich vergeben. Wieso erzähl ich dir so was überhaupt?“

„Keine Ahnung.“

„Wie auch immer. Ist ja auch egal. Also, eigentlich sind wir nur gute Freunde.“

„Okay, aber geht das denn? Ich meine, ich würde bei so was vielleicht schon Gefühle entwickeln. Oder wenigstens ein bisschen eifersüchtig werden.“

„Hm...“

Marlene überlegt wahrscheinlich gerade, wann sie das letzte Mal mit ihm geschlafen hat und ob es so gut war, dass sie es vermissen könnte. Ich hingegen bin vollkommen verwirrt, in Anbetracht der Tatsache, dass sich da gerade neue Welten auftun. Ich werde ein bisschen eifersüchtig auf Tom und wünsche mir, dass ich mein Leben mit ihm tauschen könnte.

„Und weiß Toms Freundin das mit euch?“, frage ich. Einen Haken muss die Sache ja wohl haben.

„Nein, natürlich nicht. Wenn mein Freund so etwas getan hätte oder überhaupt nur daran denken könnte, dann wäre da aber die Kacke am dampfen. Ich weiß es ist unfair, aber he, die Regeln sind ja klar.“

Wusste ich’s doch. Einen Haken hat die Sache immer

„Und du bist wirklich nicht eifersüchtig?“

„Nein. Na ja, ein bisschen vielleicht, manchmal.“

Damit ist das Gespräch über Liebe, Sex und Zärtlichkeiten erst einmal durch. Tom kommt vom Klo wieder und wir unterhalten uns noch etwas über Belangloses.

Am Ende des Abends tauschen wir Telefonnummern aus und verabschieden uns herzlich. Marlene drückt mich, als ob wir uns ewig kennen würden und ich sehe ihrem Hintern hinterher. Ein schöner Hintern. Kein Weltklasse-Arsch, aber doch sehr ansehnlich.

Dann setze ich mich auf den Balkon und gucke in den Himmel. Ich zünde mir eine Zigarette an, lasse den Abend Revue passieren und danke Manfred leise für alles. Für alkoholfreies Bier, für Kuschelrock, für Monopoly und für gut gelaunte BWL-Studenten.

Dann schreibe ich eine SMS an Marlene. Nach einer Viertelstunde kommt ihre Antwort: Werde es mir überlegen. Schöne Träume.

Ein Jahr aus irgendeinem Leben

Подняться наверх