Читать книгу Eine Lüge für die Freiheit - Patrice Parlon - Страница 3
Der Weg zum Untergang
ОглавлениеNach Wochen endlich der erste freie Tag. Coline genoss die Ruhe um sich herum und beobachtete das fleißige Schaffen ihrer Mitmenschen. Sie lehnte sich entspannt zurück, als es an der Tür klingelte. Sie wunderte sich darüber, denn um diese Uhrzeit kam sonst niemand. Vorsichtshalber sah sie aus dem Fenster und entdeckte eine rundliche Gestalt, deren Gesicht sich unter dem Vordach verbarg. Coline rätselte, wer das wohl sein könnte. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Trotzdem ging sie zur Tür und öffnete. Ihre Augen weiteten sich, als sie Johanna Köhler erblickte – ihre ehemalige Lehrerin. Sogleich drehte sie ihren Kopf zur Seite. Sie wollte sie nicht ansehen. Ihr Herz begann zu rasen und sie wollte die Tür zuschlagen. Doch ihre Glieder gehorchten nicht. Sie brachte auch kein Wort heraus. Nicht einen einzigen Laut. Johanna zog ein Buch hervor und hielt es ihr entgegen: „Weißt du noch, was das ist?“
Coline holte tief Luft. Sie sah auf den schwarzen Umschlag und fragte sich, was sie von ihr wollte. Als sie keine Antwort gab, machte Johanna ihrem Herzen Luft. „Gib zu, dass du es geschrieben hast! Du hast ja alles daran gesetzt, dass wir uns wiedersehen.“ Wie versteinert starrte Coline auf das Buch. Ihr Herz schlug immer schneller, es drohte förmlich herauszuspringen. Sie stammelte ein paar unverständliche Worte und erschrak, als Johanna energisch fragte, was sie murmelte. Coline sah nicht auf, beteuerte aber ihre Unschuld, wenn auch nur sehr leise. Johanna schrie: „Das wirst du bereuen, das verspreche ich dir! Du hast mich nicht umsonst Bestie genannt!“
Schockiert schloss Coline die Tür und ließ sie stehen. Johanna klingelte wieder und wieder, doch diesmal fand sie kein Gehör. Sie wusste, dass Coline noch immer hinter der Tür stand und schrie sie an: „Wie kannst du behaupten, dass ich Menschen verprügeln würde? Wieso stellst du mich als blutrünstige Furie hin?“ Wütend zählte sie all die Untaten auf, die sie laut Buch getan haben sollte. Erst als sie sich heißer geschrien hatte, zog sie ab. Coline zögerte keinen Moment. Hastig zwängte sie sich in ihre Jacke und stürmte zur Tür hinaus. Ziellos irrte sie durch den Wald und versuchte zu begreifen, was Johanna von ihr wollte. Plötzlich erinnerte sich Coline an endlos viele, furchtbare Albträume, in denen sie gegen Johanna kämpfen musste. Doch war sie stets unterlegen und wurde brutal misshandelt. Es kam auch immer ein Buch darin vor. Jahrelang schrieb sie diese Träume nieder, doch nur um sie zu verarbeiten. Niemals dachte sie daran, dieses Elend der Welt mitzuteilen. Gerade deshalb erdachte sie sich eine spezielle Geheimschrift. Keiner sollte davon erfahren. Aber irgendwann traute sie ihrer eigenen Schrift nicht mehr und vernichtete alles, was mit diesen Träumen zu tun hatte. Sie wollte endlich Ruhe haben. Sie konnte ja nicht ahnen, dass mehr dahinter steckte, als ein variierender Albtraum. Sie hatte nun die Wahl. Entweder lief sie davon oder sie stellte sich ihrer Angst. Sie wollte Johanna nicht noch einmal gegenüberstehen. Also wählte sie die Flucht, wie sooft in ihrem Leben. Sie verkroch sich im Wald, denn keiner vermutete sie dort, nicht einmal ihre Familie.
Die Tage vergingen wie im Flug. Coline ging weder arbeiten noch meldete sie sich zu Hause. Inzwischen machte Johanna ihre Drohung wahr und zeigte sie an. Erst als die Vorladung ins Haus flatterte, bemerkten sie Colines Verschwinden und augenblicklich begann eine große Suchaktion. Als sie entdeckt wurde wusste sie, dass eine weitere Flucht zwecklos war. Sie stellte sich und versuchte ihr Verhalten zu erklären. Sie erfand eine Geschichte vom Überlebenstraining im Wald. Keiner glaubte ihr diese Ausrede. Sie brachten sie zurück nach Hause und stellten zwei Polizisten ab, die sie bewachen sollten.
Es kam zur Verhandlung. Mit Polizeieskorte brachten sie Coline zum Gerichtsgebäude, denn es bestand erhöhte Fluchtgefahr. So stand sie vor Gericht und musste ihre Unschuld beweisen. Sie betrat erhobenen Hauptes den Saal. Ihre Blicke wanderten durch die Reihen. Plötzlich entdeckte sie Johanna, neben dem Staatsanwalt. Ihr Herz schlug wieder schneller. Schweigend ging sie vorbei und nahm Platz. Sie kontrollierten ihre Personalien und schließlich stellte Staatsanwalt Kunzo die ersten Fragen. „Haben Sie dieses Buch schon einmal gesehen?“ Coline sah ihn verwirrt an. „Ja sicher!“ Sofort schrie Johanna dazwischen: „Sehn Sie, sie gibt es sogar zu!“ Richter Morgan rief sie zur Ordnung und gab dem Staatsanwalt wieder das Wort. Er fragte weiter: „Wo haben Sie es gesehen?“ Coline ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie zeigte auf Johanna. „Diese Person hatte es bei sich, als sie mich bedroht hat.“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie Johanna Köhler unter Druck setzte?“ hakte Staatsanwalt Kunzo nach. „Ja. Sie unterstellt mir, dass ich dieses Buch geschrieben hätte, aber das war ich nicht.“ „Sie lügt!“ schrie Johanna dazwischen. Richter Morgan verwarnte sie mit Nachdruck und der Staatsanwalt machte weiter. „Wie kommt sie auf die Idee?“ „Ich weiß es nicht. Sie tauchte einfach auf und unterstellte mir, dass ich ihr Leben zerstört hätte“, erwiderte Coline.
„Kennen Sie den Inhalt des Buches?“, fragte Richter Morgan, worauf Coline antwortete: „Nur das, was sie mir zugebrüllt hat.“ „Was war das? Geben Sie uns ein Beispiel.“ forderte der Staatsanwalt. Coline rang nach Worten. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Sie beschrieb mir, wie sie eine Frau mit einer Peitsche zerfetzt hat.“ Staatsanwalt Kunzo sah sie ungläubig an. „Wie kommt es, dass nur Sie unter Verdacht stehen?“ Coline erwiderte: „Das weiß ich wirklich nicht.“
Sie durfte den Zeugenstand verlassen und Johanna nahm Platz. Sie kochte vor Wut, denn sie verlangte Gerechtigkeit. Colines Verteidiger setzte die Befragung fort. „Frau Köhler, wie kommen Sie darauf, dass die hier Angeklagte Coline Trappar dieses Buch geschrieben hat?“ Gelassen kam die Antwort: „Sie hat sich selbst verraten. Wochenlang stand sie täglich mit einem Notizbuch in meiner Nähe und sie verfolgte mich überall hin. Als ich sie ansprechen wollte, lief sie weg.“ Er hakte nach. „Wann war das?“ „Vor elf Jahren!“ antwortete Johanna. Colines Verteidiger Wandolf schmunzelte ein wenig und meinte: „Sie glauben wirklich, dass sie elf Jahre wartet, um Ihnen Ihr Leben zu zerstören?“ Johanna fauchte: „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es!“ Er begriff das nicht und fragte: „Was macht Sie so sicher?“
„Zwei Dinge, die nur sie hat. Das Zeichen auf dem Einband trägt sie als Tätowierung auf ihrer rechten Schulter. Ich hab es gesehen, als sie provokant an mir vorbei gegangen ist. Das Zweite ist ein Kreuzworträtsel, das im Einband des Buches steckte. Es bezieht sich ausschließlich auf das Buch und die Lösung ergibt ihren Namen.“ Das genügte ihm aber nicht. „Was ist mit dem eigentlichen Autor, einem gewissen Rainer C'loppta?“ Johanna wurde langsam nervös. Sie knurrte: „Dieser Mann existiert nicht! Es ist ein Pseudonym, das ebenfalls ihren Namen ergibt, wenn man die Buchstaben umstellt.“ Wandolf tat nachdenklich. „Kann das nicht eine Intrige gegen sie Beide sein?“ Johanna keifte: „Nein! Wer hätte denn etwas davon? Sie ist die Einzige, die es sein kann.“
Colines Verteidiger suchte nach einer anderen Erklärung. „Gehen wir einmal davon aus, dass es Notizen gab. Kann es nicht sein, dass sie irgendjemand gefunden hat und dieses Buch daraus gemacht hat? Derjenige hat sicher nicht über die Namen nachgedacht. Sie waren da, also kein Grund zur Änderung. Es ist auch keine Hürde, Anagramme daraus zu erfinden. Und was das Bild angeht. Das hätte der wahre Autor doch durch Zufall auf der Schulter meiner Mandantin gesehen haben können. Immerhin hat sie diese Tätowierung schon mehr als zehn Jahre. Eine lange Zeit.“ Johanna schnappt aufgeregt nach Luft. „Und wenn schon. Dieses Buch könnte auch fünf Jahre alt sein. Woher soll ich denn wissen, wann sie es geschrieben hat? Schreiben und mir zuschicken muss nicht unmittelbar hintereinander geschehen sein!“
Richter Morgan mischte sich wieder ein. „Welchen Beweis haben Sie noch vorzubringen? Abgesehen von dem Text und einer Tätowierung, die jeder als Vorlage hätte nehmen können?“ Erneut versuchte sie ihre Beweise zu untermauern. „Das Bild auf ihrer Haut befindet sich auf vielen Dingen in ihrem Besitz. Selbst in ihrem Auto ist es zu finden.“ Colines Verteidiger schimpfte: „Wie kommen Sie denn darauf? Meine Mandantin hat seit Jahren kein Auto mehr. Selbst wenn! Woher wollen Sie wissen, dass das Symbol dort auftaucht? Haben Sie drin gesessen? Selbst wenn Sie Recht haben, so hätte es der wahre Autor doch wesentlich einfacher. Er konnte dann das Bild ohne Probleme kopieren. Das ist kein Beweis. Sie suchen doch nur einen Sündenbock.“
Plötzlich erkannte Johanna ihre missliche Lage und beharrte auf ihren dürftigen Beweisen. „Ich weiß, dass sie es war. Warum sollte sie sonst Notizen machen?“ Richter Morgen tat verwundert. „Sie reden immer wieder von Notizen. Wir haben bei ihr nicht ein Blatt Papier gefunden, das sich mit Ihnen beschäftigt. Wie kommt das?“ Johannas Ärger stieg. Sie fauchte: „Sie hat eben alles vernichtet oder weggegeben, um nicht verdächtigt zu werden.“ Verteidiger Wandolf entgegnete: „Sie verdächtigen sie doch aber. Was macht Sie so sicher, dass Coline Trappar dieses Buch geschrieben hat?“ Johanna war es leid. Patzig antwortete sie: „Ich weiß es einfach.“
Nach langem Hin und Her kamen sie nicht weiter, als bis zum Verdacht. Es gab keinen eindeutigen Beweis für Colines Schuld. Auf dem Buch befanden sich nicht einmal ihre Fingerabdrücke. Johanna konnte nicht gewinnen. Doch aufgeben wollte sie auch nicht. Bevor sie auseinander gingen, warf sie Coline noch ein paar bittere Worte an den Kopf. „So jung und schon das Leben weggeworfen.“ Coline wusste nicht, was sie damit meinte, aber sie erfuhr es schneller als ihr lieb war.
Mit dem Freispruch plagte Johanna die Wut. Sie wollte Gerechtigkeit. Coline sollte ihre Missetat mehr als bereuen. Fortan blieb ihr keine freie Minute mehr. Jeden Tag stand Johanna vor ihrer Tür und verlangte einen öffentlichen Widerruf. Sie wollte auch eine aufrichtige Entschuldigung. Außerdem sollte das teuflische Buch vom Markt verschwinden. Da sich Coline aber auf nichts einließ, plante Johanna weiter. Sie wollte ihr dermaßen Angst machen, dass sie freiwillig gestand. Das Buch bot die beste Chance dazu. Wenn Coline die Autorin war, dann wusste sie, was sie erwartete. Johanna wollte ihr die wortwörtliche Umsetzung der Geschichte androhen.
Sofort begann sie mit den Vorbereitungen. Sie wählte den passenden Ort und fand ihn in einer Besserungsanstalt, die sich mitten im Nirgendwo befand. Sie bestand aus einem Backsteinbau und den Resten eines uralten, zerfallenen Klosters. Dort gab es unzählige Möglichkeiten, um Coline in die Knie zu zwingen. Johanna verlor keine Zeit. Sie kehrte allem den Rücken und fuhr in ihr neues Reich. Kaum stand sie vor dem wuchtigen Gebäude, fühlte sie ihre Überlegenheit. Das große Haus verdeckte die halb zerfallenen Bogengänge eines alten Klosters. Die Grünanlagen waren verwildert. Doch allein die Lage sprach für diesen Ort. Niemand würde Coline dort schreien hören!
Als Johanna nun den Flur entlang ging, kamen ihr ein paar Knaben entgegen. Jene lachten über ihre pummlige Erscheinung. Sie war zwar nicht groß, aber immer noch kräftig genug, um es mit den jungen Burschen aufzunehmen. Sie stellte sich dem Direktor vor, bot ihm gefälschte Referenzen an und erwartete eine Anstellung. Er meinte nur, dass sie erst eine Probewoche absolvieren müsste. Sie bestand und durfte bleiben. Es dauerte nicht lange und Johanna kannte sich bestens aus. Sie hatte einfach jeden Winkel erforscht. Nun war es an der Zeit, Coline in ihr Verderben zu treiben.
Inzwischen war es Anfang November. Johanna wusste, dass Coline bald Geburtstag hatte. Mit Freude sorgte sie dafür, dass dieser besondere Tag in dieser Anstalt endete. Sie hatte auch schon einige Verbündete. Ein kräftiger Kerl sollte für sie die Drecksarbeit erledigen. Sie zog auch noch einen Mediziner auf ihre Seite, damit Coline auch lange genug am Leben blieb. Selbst den Direktor konnte sie zu ihrem Untergebenen machen.
Ein letztes Mal, vor ihrer Abreise betrat Johanna die Aula. Die großen Fenster erhellten den fast leeren Raum. Mitten auf dem hölzernen Parkett stand ein vereinsamter Stuhl. An der Stirnseite gegenüber der Tür befand sich eine lange Tafel mit dem Richterstuhl in der Mitte. Alles war bereit. Fehlte nur noch Coline.