Читать книгу Eine Lüge für die Freiheit - Patrice Parlon - Страница 5
Die ersten Qualen
ОглавлениеErst nach einer Woche ging Johanna auf den Hof. In ihren Händen hielt sie ein Brett, einen Hammer und einige Nägel. Damit wollte sie das Guckloch vernageln. Coline sollte nicht mehr wissen, ob es Tag oder Nacht war. Als sie das Loch erreichte, schaute sie neugierig hinein, doch sah sie ihre Gefangene nicht. Aus lauter Gehässigkeit griff Johanna nach einem Klumpen Dreck und warf ihn durch die Gitterstäbe. Coline bekam die Ladung ab und fluchte, worauf Johanna in heißes Gelächter ausbrach. Sie genoss Colines Hilflosigkeit. Rasch erinnerte sie sich wieder an die Schmach, die sie ihr bereitete und schon verstummte das Lachen. Die blanke Wut stieg in ihr auf. Mit harten Schlägen vernagelte sie das Fensterchen.
Coline zwang sich, durchzuhalten. Aber jeder Moment, der etwas Schlaf zuließ, endete in einem Desaster. Coline träumte schlechter denn je. Immer sah sie sich vor Johanna in Ketten liegend. Schmerzen durchzogen ihren Leib. Blut breitete sich ringsherum aus. Schweißgebadet schreckte sie hoch, jedes Mal. Die zweite Woche verging ohne eine Veränderung. Coline saß noch immer in ihrer Zelle. Inzwischen stank es noch bestialischer als zuvor. Ihre Toilette, bestehend aus besagtem Fallrohr, war schwer zu treffen und verströmte diesen widerlichen Gestank. Selbst als sie ihre Decke als Pfropfen opferte, ließ es nicht nach.
Einige Stunden nach der letzten Essensausgabe öffnete sich endlich die Tür. Ein grelles Licht blendete Coline. Sie vernahm Johannas Stimme. „Steh auf und folge mir in die Küche. Hörst du schlecht? Steh auf!“ Aber sie blieb stur sitzen. Johanna konnte kaum noch an sich halten. Stetig stieg ihr Zorn. Sie packte Coline und zerrte sie aus der Zelle. Coline schrie sie an und wehrte sich mit aller Kraft. Sie wollte einfach nicht mitgehen. Doch Johanna trieb sie gnadenlos durch die dunklen Gänge, bis zu einer Treppe. Sie führte weiter unter die Erde. Stufe um Stufe stolperte Coline hinunter und prallte gegen eine Tür. Johanna hämmerte dagegen und sie ging auf. Mit einem gezielten Schlag in die Nieren beförderte sie Coline durch den engen Eingang. Sie stürzte haltlos zu Boden und schlug sich den Kopf an. Johanna hatte nur ein Paar harte Worte für sie. „Ich bin es leid, dass du mich ärgerst. Das ist deine allerletzte Chance. Du wirst mir gehorchen und eines sollte dir klar sein, wenn du dich weigerst, dann werde ich zu anderen Mitteln greifen.“
Sie ließ sich nicht einschüchtern. Trotz ihrer Angst, kehrte sie ihr den Rücken. Gekränkt hielt ihr Johanna einen Rohrstock unter die Nase und warnte nachdrücklich: „Treib es nicht zu weit. Zwing mich nicht, davon Gebrauch zu machen.“ Coline grinste zynisch. Sie erwartete diese Drohung, dachte aber nicht ernsthaft daran, dass sie ihn zu spüren bekäme.
Inzwischen erschien David. Er stand nur da und nickte Johanna zu. Johanna lehnte sich nah an sein Ohr und flüsterte: „Du wirst sie erst arbeiten lassen und sie danach in ihre neue Zelle stecken. Du weißt welche ich meine? Du wirst sie auch neu einkleiden.“ David befolgte Johannas Anweisungen. Er befahl Coline, in der alten Küche Ordnung zu schaffen. Doch sie nahm auch ihn nicht ernst. Er wiederholte seinen Befehl drei Mal. Coline zeigte ihm aber nur die kalte Schulter. Das reizte ihn so sehr, dass er sie hinter sich her zog. Er stieß sie einen schmalen Gang entlang, in ein weiteres Zimmer. Dort befahl er ihr wieder, sich vollkommen auszuziehen. Coline starrte aber nur trotzig die Wand an. David fackelte nicht lange. Hart packte er sie und riss ihr die Wäsche vom Leib. Wieder stand sie nackt vor ihm, doch dieses Mal störte sie sich nicht daran. Ihr böser Blick traf den großen Mann. Er sah ihren Zorn und erwartete jeden Moment einen Gefühlsausbruch, doch sie starrte ihm nur tief in die Augen. Für einen winzigen Augenblick verunsichert, streckte er ihr einen weißen Stofffetzen entgegen. Coline rührte sich nicht und David musste ihr das Hemd gewaltsam überziehen. Was sich als schwierig erwies, denn sie machte sich steif und gab nicht nach.
Langsam reichte es ihm. Er holte aus und ohrfeigte sie so heftig, dass sie gegen die Wand schleuderte und in die Knie ging. David interessierte das nicht. Er schleifte sie sofort in ihre neue Unterkunft. Erst eine halbe Stunde später erwachte Coline und erschrak. Um sie herum war es absolut dunkel. Kein einziger Lichtstrahl drang zu ihr. Plötzlich kroch ihr ein beißender Gestank in die Nase. Es stank penetrant nach Fäkalien und modrigem Fleisch. Angewidert suchte sie nach der Ursache. Vorsichtig schob sie sich an der feuchten Wand empor und tastete sich voran. Mit einem Mal fühlte sie eine weiche Masse unter ihren nackten Füßen. Ihr stieg wieder der ekelerregende Geruch in die Nase. Sie fand, wonach sie suchte. Angeekelt schüttelte sie sich. Schnell versuchte sie die stinkende Masse von ihren Füßen zu streifen, leider erfolglos. Coline konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. In den hintersten Winkel der Zelle gezwängt, weinte sie sich in den Schlaf.
Erst am nächsten Morgen kam David und brachte Coline in den Raum neben der Kammer. Dort wartete Johanna. Sie ging auf Coline zu und reichte ihr freundschaftlich die Hand. Aber Coline wandte sich ab. Johanna kränkte ihr Verhalten und sie machte ihrem Ärger durch eine weitere Ohrfeige Luft. Ihr Schwung war nicht halb so kraftvoll wie Davids. Coline spürte aber alle fünf Finger. Wieder quollen Tränen aus ihren Augen, dennoch schwieg sie. Kein Jammern und kein Fluchen verließ ihre Kehle.
Johanna bemerkte nicht, wie sich Colines Hände langsam zu Fäusten ballten. Von Zorn erfüllt glänzten ihre Augen. Blitzschnell packte sie nach Johannas dickem Hals und drückte brutal zu. Entsetzt griff David ein, um ihr das Leben zu retten. Im letzten Moment riss er sie voneinander und bog Coline sogleich die Arme nach hinten. Johanna hustete und rang nach Luft. David wollte nicht warten, bis sie sich wieder erholte, und zerrte Coline zu einem Tisch, der am Ende des Raumes stand. Mit viel Schwung beförderte er das ungehorsame Weibsbild bäuchlings auf die eisige Metallplatte. Sofort band er sie fest, damit sie nicht weglaufen konnte. Erst dann kümmerte er sich um Johanna, die noch immer nach Atem rang. Von Wut gepackt lechzte sie nach Vergeltung und trat an Coline heran. „Das war dein letzter Fehler! Ich werde dir diese Frechheiten austreiben, egal wie.“
David stellte sich neben Johanna und erwartete einen Befehl. Sie nickte ihm nur kurz zu und setzte sich keuchend auf einen Stuhl in der Ecke. Er trat an den Tisch heran und zog seinen Gürtel aus der Hose. Coline sah erschrocken zu ihm hin. Ängstlich zischte sie: „Das wagst du nicht!“ Er legte seine Hand auf Colines Schenkel, glitt daran entlang und schob das Hemd von ihrem Gesäß. Dann trat er einen Schritt zurück, straffte den Riemen und holte schwungvoll aus. Mit einem surrenden Geräusch sauste sein Gürtel durch die Luft und schlug auf. Coline schrie, denn das hatte sie noch nie zuvor gefühlt. Niemals kam ihr in den Sinn, wie schmerzhaft ein solcher Hieb sein konnte. Sie schrie ihn an, dass er aufhören sollte. Doch David hörte gar nicht zu. Immer wieder drosch er den Gürtel auf ihren Leib und brachte Colines Sitzfleisch zum Glühen. Schnell füllten ihre Schreie den Raum. Doch war es kein Jammern. Sie fluchte und schimpfte über Johanna.
Plötzlich verstummte sie und reagierte auf gar nichts mehr. David griff sogleich nach einem Eimer mit eisigem Wasser. Den hob er über ihren Kopf und schüttete ihn aus. Entsetzt schnappte sie nach Luft, denn sie glaubte zu ertrinken. Grinsend stand er da und wartete nur darauf, seine abscheuliche Tat fortzusetzen. Indem trat Johanna an sie heran. Sie sah Coline auf dem Tisch liegen und erschrak. Doch währte der Schreck nicht lange. Sie fragte ihn, wie viele Schläge er vollstreckt hatte und stolz sagte er: „25!“ Johanna schien nicht sehr begeistert von den wenigen Hieben. Sie verlangte mehr. Gleichgültig, was es bewirkte. Sie wandte sich ab und ging. Den Rest überließ sie David. Kaum war er wieder allein mit Coline, kam ihm eine abstoßende Idee. Er machte sich ihre missliche Lage zunutze und gab seinen Gelüsten nach. Er berührte ihren Körper an vielen Stellen. Mit einem Mal drang er in sie ein und sie konnte nichts dagegen tun. Er verging sich auf die brutalste Weise an ihr, sodass sie erneut die Pein aus sich heraus schrie.
Da kam Johanna zurück und sah, was er ihr antat. Augenblicklich griff sie nach seinem Gürtel und schlug brüllend auf ihn ein. „Verschwinde! Sofort! Ich glaub, ich sehe nicht richtig.“ Sie löste Colines Fesseln, in der Gewissheit, dass sie nicht angreifen würde. Noch voller Wut packte sie zu und zerrte sie in ihre Zelle. Johanna schlug die Tür zu und verschwand. Wieder weinte sich Coline in den Schlaf.
Eine ganze Woche verging. Dann endlich öffnete sich die Tür. Johanna trat ein und stöhnte angewidert. Coline hockte blutüberströmt in der hintersten Ecke. Das weiße Hemd trug nun eine tiefrote, fast schwarze Färbung. Schuld daran war Davids Vergewaltigung und die Launen der Natur. Johanna versuchte höflich zu bleiben und bat sie mitzukommen. Coline schob sich mühevoll an der Wand empor und stützte sich an selbiger ab. Sie schleppte sich den Gang entlang, bis zu einer Kammer. Dort sollte sie ein neues Kleidungsstück erhalten. Als sie den Raum betrat, sah sie es auf dem Tisch liegen. Es ähnelte einem Stringtanga. Allerdings war dieser Lederfetzen an den Nähten mit Stacheln besetzt, um viele Schmerzen zu bereiten und das Entfernen zu erschweren. Selbst die Körperöffnungen waren gespickt, aber wenigstens nach außen. Nur damit sich David nicht noch einmal an Coline verging. Also war es ein besonderer Keuschheitsgürtel!
Johanna stieß sie vorwärts und befahl, dass sie den Gürtel selbst anlegte. Coline verlor das letzte bisschen Farbe aus ihrem Gesicht und wollte weglaufen. Noch einmal forderte Johanna Gehorsam. Aus lauter Verzweiflung versuchte Coline zuzuschlagen, doch Johanna ahnte es und duckte sich im letzten Moment. Coline drehte sich um 180 Grad und traf David, der still und heimlich hinter ihr auftauchte. Er zuckte nicht einmal. Es war, als schlug sie gegen eine Wand. Er packte sie und zog sie an sich heran. Dann warf er sie auf den Tisch und legte sie in Ketten. Diesmal bekam sie auch Fesseln um die Knie. Coline wusste, dass es diese Fesseln nicht allein wegen dem Gürtel gab. Johanna wollte sich das Elend nicht ansehen und verschwand mit einem letzten Befehl. „Wenn du fertig bist, kommst du zu mir.“
David hatte diesmal keine Lust, sich an der hilflosen Frau zu vergehen, denn der blutige Anblick schreckte ihn ab. Schnell schob er ihr den Gürtel unter den Leib und zog die Enden zusammen. Sofort schallten jämmerliche Schreie durch den Raum. Die Stacheln bohrten sich in ihr Fleisch und schmerzten fürchterlich. Nachdem er ihr dieses Folterinstrument angelegt hatte, löste er die Fesseln. Coline versuchte sich dieses schmerzhafte Ding vom Leibe zu reißen, schaffte es aber nicht. Stattdessen stieg die Pein. Also musste sie sich irgendwie damit abfinden.
David trieb Coline durch die Gänge zurück in die Küche. Er stieß sie durch den schmalen Türspalt und rief ihr „Aufräumen!“ zu. Er verriegelte die Tür und ging. Mutterseelenallein stand Coline in der kalten Küche. Sie sah sich um. In beinahe jeder Ecke stand irgendwelches schmutziges Geschirr und allerhand Essenreste lagen faulend herum. Es schien, als wäre dort noch nie sauber gemacht worden. Coline sank auf die Knie und stützte ihr Kinn auf die geballten Fäuste. Ohne ein Wort zu sagen, konzentrierte sie sich auf den Dämon ihrer Albträume. Sie glaubte, er würde ihr nun zur Flucht verhelfen, doch weit gefehlt. Für ihn war es noch nicht soweit. Statt seiner tauchte eine vermummte Gestalt auf. Coline erschrak und wich zurück. „Wer bist du?“ Eine tiefe Männerstimme sagte: „Unwichtig! Aber ich habe das, was du so sehnlichst erwartest. Hol ihn dir, wenn du bereit bist!“ Coline machte nur einen Wimpernschlag und der Fremde war wieder verschwunden. Plötzlich flog die Tür auf. Johanna stürmte herein und packte Coline an den Haaren. Wutschnaubend starrte sie ihr ins Gesicht. Der erste Blickkontakt seit Jahren! Dieser eine Blick jagte grauenhafte Erinnerungen durch Colines Hirn.
Johanna schrie wie eine Furie: „Du elendes Miststück, was hast du getan?“ Coline begriff nicht, worum es eigentlich ging. Da stolperte David atemlos zur Tür herein. Er versuchte Johanna von Coline loszureißen, doch ihre Finger bohrten sich so fest in ihren Hals, dass es ihm unmöglich war. Coline keuchte: „Was hab ich denn gemacht?“ Da kehrte ihr Johanna den Rücken. Coline erschrak, denn Johanna blutete aus Wunden, die nur ein ganz bestimmtes Tier verursachen konnte. Somit stand fest, dass es den Dämon gab, und ebenso alles andere aus ihren zahllosen Albträumen.
Coline beteuerte ihre Unschuld, doch Johanna gab nicht nach. Sie schleuderte Coline in Davids Arme, der sie durch die Gänge in die Folterkammer zerrte und auf den Tisch fesselte. Mit dem Rücken nach oben. In voller Rage griff Johanna nach einer ganz besonderen Peitsche. Nach der NSDK! Diese Abkürzung bedeutete so viel wie NeunSchwänzige DornenKatze. Da Johanna fest daran glaubte, dass Coline das Buch geschrieben hatte, sollte sie genau diese Peitsche spüren. Denn sie entsprang der Fantasie des Autors. Es war eine Peitsche mit neun bleistiftdicken Strängen und jeder Einzelne mit einhundert Dornen bestückt. Damit wollte sich Johanna abreagieren. Sie holte aus und schlug zu. Coline schrie so laut, dass sich David die Ohren zuhalten musste. Johanna wollte zum nächsten Schlag ausholen, doch die Peitsche hing fest. Die vielen Dornen krallten sich regelrecht in sie hinein. Johanna rupfte die NSDK aus der Haut ihres Opfers und Coline brüllte aus voller Kehle. Sofort quoll das Blut aus der zerfetzten Haut. Jedoch schreckte es Johanna nicht ab. Sie machte blindwütig weiter. Immer wieder sausten die Bänder nieder und rissen Coline das Fleisch vom Leib. Schnell verlor sie das Bewusstsein und glaubte dem Fremden zu begegnen, der ihr eine Frage stellte. „Bist du bereit, ihn dir zu holen?“
Endlich ging David dazwischen und entriss der wilden Furie die NSDK. Zornig stieß er sie gegen die Wand. „Es reicht! Sie zuckt nicht mal mehr. Vielleicht ist sie sogar tot.“ Erst da besann sich Johanna auf ihre Tat. Doch bereuen wollte sie keinesfalls. Mürrisch verschwand sie. David prüfte, ob Coline noch lebte. Er suchte nach ihrem Puls. Ganz schwach klopfte es unter ihrer Haut. Plötzlich riss ihn jemand weg. Er versuchte sich dem Angreifer zuzuwenden, doch es gelang ihm nicht. Er zerrte ihn aus der Kammer, ließ ihn fallen und verschwand ehe er den Blick wenden konnte. Sogleich schlug die Tür zu und wurde von innen verriegelt. David versuchte hineinzugelangen. Er erkannte, dass er allein nichts ausrichten konnte. Also brauchte er seine Kollegen.
In der Kammer vollzog sich ein Akt der Auferstehung. Der Eindringling hieß Arantino und war Colines lang ersehnter Dämon. Auch der seltsame Fremde tauchte wieder auf. Er trat an sie heran und strich ihr durchs Haar. „Du musst dich entscheiden. Einmal zugesagt heißt, diese Schmerzen kaum noch zu spüren.“ Coline kam nur langsam zu sich und wollte mehr über ihn erfahren. „Wer bist du?“ „Ich? Ich bin seit der Entstehung des Lebens da und werde als Letzter gehen.“ Coline sah in ratlos an. „Was soll das heißen? Was willst du von mir?“ Er reichte ihr die Hand. „Komm mit mir und ich werde dich vor Johanna beschützen.“ Coline traute ihm nicht über den Weg. Doch welche Alternative blieb ihr? Sie musste sein Angebot annehmen. Also fragte sie ihn, was er verlangte. „Du gibst mir das, was noch dein Eigen ist. Deinen Tod! Dafür nehme ich alle Schmerzen von dir, bis du dich zu sterben traust.“ Ihre Verwirrung stieg, denn seine Worte bedeuteten, dass sie um ihre Gefangenschaft keinesfalls herumkam. Dennoch schlug sie ein und er verriet ihr die Geheimnisse des alten Klosters. Auch überreichte er ihr den goldenen Ring, der den Fluch ihrer steten Albträume in sich trug. Nun lag es an Coline, den letzten Schritt zu tun und den Fluch zu besiegeln. Dazu brauchte sie den Ring nur noch an den richtigen Finger zu stecken und der Rest ergab sich von ganz allein. Coline wagte es und augenblicklich durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Sekundenschnell war er vorbei und die Peitschenhiebe waren vergessen. Nun trat Arantino in Aktion. Er wollte seiner Herrin helfen und sie von den Schmerzen befreien. Sanft leckte er ihre Wunden, die unverzüglich zu heilen begannen. Er durchschnitt mit seinen messerscharfen Zähnen die Ketten und verschleppte Coline in das Labyrinth unter dem Kloster.
Mit dem Moment, als sie verschwanden, entriegelte sich die Tür. David stürmte mit seinen Kollegen hinein und erstarrte. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als zu Johanna zu gehen und zu beichten. Zaghaft überbrachte er die Botschaft. Doch statt mit ohrenbetäubenden Kreischen, reagierte Johanna mit einem gleichgültigem Schulterzucken. David verstand die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Stunden hätte sich Johanna maßlos über Colines Verschwinden aufgeregt und nun ließ es sie völlig kalt. Im nächsten Moment donnerte etwas gegen die Tür. Maxwell, der Direktor stand da. Wütend trat er gegen das massive Holz. „Wenn ihr schon solchen Mist verzapft, dann behaltet es wenigstens für euch. Ich dulde nicht, dass dieses Weib alle anderen in Angst und Schrecken versetzt.“ Johanna wusste nicht, was er meinte und fragte nach. Maxwells Arm schnellte nach vorne und wies auf den Ausgang. „Geh und guck dir an, was ich meine.“ Coline lag halb entblößt auf dem Hof. Um sie herum versammelten sich viele der Insassen und begafften den geschundenen Leib. Keiner wagte es, sie zu berühren. Schon brüllte Johanna aus dem Fenster: „Verschwindet! Hört ihr nicht? Verschwindet in eure Klassenräume!“ Sofort löste sich die Menge auf, denn keiner wollte an Colines Stelle liegen. Als die Schaulustigen endlich verschwunden waren, ging Johanna zu ihrem Opfer. Hart packte sie zu und zerrte Coline in die Höhe. Schon sah sie den goldenen Ring aufblitzen. „Seit wann hast du den? Gib ihn her! Du brauchst keinen Schmuck.“ So schnell verlor Coline ihren Schutz.
Gnadenlos scheuchte Johanna Coline über den Hof, eine kleine Böschung hinunter zum See hinter dem Hauptgebäude. Dort wartete David in einem Boot. Gemeinsam schipperten sie zum anderen Ufer, wo eine Überraschung auf sie wartete. Coline überkam eine panische Angst, als der Kahn am Ufer ankam. David griff nach Coline und schleuderte sie auf den Kies. Schnell zog er sie wieder hoch. Mit Schlägen trieb er sie in eine Höhle. Darin gab es viele Wege und ein beinahe undurchdringliches Labyrinth. Coline betrat diese Gänge nie zuvor und trotzdem kannte sie sich so gut aus, als lebte sie nie woanders. In einem achtlosen Moment riss sie sich los und verschwand im Gewirr der Gänge. Johanna fluchte. Sie glaubte Coline nun nie wieder zu sehen, denn wer einmal einen anderen Weg einschlug, musste ihn bis zum Ende gehen, wenn er nicht unendlich leiden wollte. Die beiden Peiniger gingen ihren Weg weiter und warteten geduldig auf Coline. Wenn sie strikt einem Pfad folgte, kam sie zum selben Ort. Auch Coline wusste das, und da sie blind durch die Dunkelheit stolperte, musste sie sich mehr denn je auf ihr Gefühl verlassen. Es gab nur eine Chance, ohne weitere Schmerzen durch das Labyrinth zu kommen. Diese nannte sich Arantino. Er musste ihr helfen und zwar schnell. Coline rief ihn so laut sie konnte und er kam. Sie schob sich mühevoll auf seinen Rücken, im Glauben, dass er sie herausbringen würde. Doch er trug sie dorthin, wo Johanna schon sehnsüchtig wartete.
Arantino stoppte in einer Sackgasse. Coline tastete sich an der Wand entlang bis zu einem steinernen Gebilde, das sich als kleines Kreuz entpuppte. Es hatte eine Vertiefung in der Mitte, den Mechanismus zum Türöffnen. Doch Coline brauchte den goldenen Ring dazu. Nun stand sie da und wusste nicht mehr weiter. Arantino konnte ihr diesmal nicht helfen. Zurück gehen konnte sie auch nicht, denn sie hatte ihr Ziel noch nicht erreicht. Was nun? Plötzlich schoss ihr ein schrecklicher Gedanken durch den Kopf. Selbst wenn sie die Tür passieren konnte, so musste sie trotzdem leiden. Ob sie nun von Johanna gepeinigt würde oder von irgendetwas anderem wäre egal. So fasste sie sich ein Herz und versuchte wieder hinauszukommen. Nur wie? Sie sah ja nichts. Wie sollte sie den Weg finden? Coline lief einfach los. Sie würde schon irgendwo ankommen.
Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang und an jeder Kreuzung lief sie eine Runde. Auf diese Weise erkannte sie den richtigen Weg, denn vor jedem Torbogen befand sich eine tiefe Gravur im Boden. Je ein bestimmtes Symbol zeigte das Ziel. Sie musste sich eines auswählen und diesem bis zum Ende folgen. Leichter gesagt als getan. Schritt für Schritt schob sie sich weiter und siehe da, es funktionierte. Langsam erhellte sich der Schacht und Coline erreichte den Ausgang. Doch bei all der Freude übersah sie eine winzige Kleinigkeit. Johanna, die ungeduldig mit dem Fuß wippte! Ihr Arme hielt sie verschränkt und die Fäuste geballt. Coline versuchte erst gar nicht wegzulaufen. Sie wusste, es wäre zwecklos. Schon packte David zu. Mit grober Hand quetschte er ihre Oberarme und zerrte sie einen schmalen Pfad entlang. Johanna folgte ihnen gedankenversunken, denn sie überlegte intensiv, wie sie Coline bestrafen konnte. Ihr fiel nur nicht das Richtige ein. Da sie sich nicht entscheiden konnte, musste Coline zurück in ihre Zelle. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Coline brach in Tränen aus. Sie wollte nicht mehr leben. Immer heftiger wurde der Drang nach Selbstmord, doch letzten Endes fehlte ihr ein Funke Mut. Verzweifelt schrie sie nach Hilfe, aber niemand erhörte ihr Flehen.
Nur wenige Stunden später entriegelte sich die Tür. Sofort kroch Coline in die hintersten Ecke. Johanna trat näher und schwellte die Brust. „Bist du bereit zu arbeiten?“ Coline reagierte nur mit einem kurzen Zucken. Johanna fragte ein zweites Mal, und als wieder keine ernsthafte Zustimmung erfolgte, drehte sie sich um und schlug die Türe zu. In diesem Moment vergaß sie abzuschließen. Etwas später raffte sich Coline auf. Mit letzter Kraft schleppte sie sich aus den Gewölben, um ihre Ringe zurückholen. Allein der Wille trieb sie voran. Unvermittelt hörte sie ein leises Wimmern. Am Ende der Kellertreppe kauerte Martin, ein kleiner Junge, der gerade erst in diese Anstalt abgeschoben wurde. Coline bückte sich und strich sanft über seine Hand. Er hob den Kopf und erschrak. Ihre bleiche Gestalt erschreckte ihn so sehr, dass er schreien wollte. Schnell hielt sie ihm die Hand vor den Mund, um unentdeckt zu bleiben. Coline hielt sich ihren Finger an die Lippen und flüsterte: „Psst! Du weckst sonst alle auf. Komm mit, wir suchen uns was zu essen.“ Der Kleine nickte und folgte ihr. Er stützte Coline so gut er konnte und sie schlichen durch die dunklen Gänge, in denen nur die Notleuchten brannten. Mit etwas Mühe erreichten sie die eigentliche Küche und Coline fiel über die Essensreste vom Abend her. Nach dieser Stärkung schaffte sie die Treppen etwas leichter.
Immer näher kam sie Johannas Büro. Sie ließ sich von ihrem Gefühl leiten und fand den richtigen Raum. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Abgeschlossen! Coline brach einen Stachel aus ihrem Gürtel und benutzte ihn als Dietrich. Nach einigen Fehlschlägen machte es endlich Klick und die Tür war auf. Nun musste sie nur noch ihre Ringe finden. In der Finsternis aber gar nicht so einfach. Einzig das schwache Mondlicht bot etwas Sicht. Sie entdeckte eine Schmuckschatulle und kramte darin. Da blitzte ihr das Gold des einen und auch gleich das Silber des anderen entgegen. Schnell nahm sie beide Ringe an sich und vergaß das Kästchen zu schließen. Sie wollte nur noch weg. Mit schnellen wackligen Schritten eilte sie den Katakomben entgegen. Sie wollte in die Zelle zurück. Dabei verirrte sie sich. Coline betrat einen ungenutzten Teil des alten Klosters. Sie öffnete eine Tür zu einem tiefen Schacht, der viele Meter nach unten reichte. Ihn durchzogen Brücken aus rot lackiertem Stahl, verbunden durch steile Treppen und schmalen Leitern. Sie führten zu vielen verschiedenen Gängen. Coline wagte sich auf das wacklige Gerüst. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass dies auch ein Labyrinth sein musste. Aber nur in der Tiefe hatte sie eine Chance auf ein gutes Versteck. Zumindest so lange, bis ihr ein geeigneter Fluchtplan einfiel.