Читать книгу Eine Lüge für die Freiheit - Patrice Parlon - Страница 4

Eingliederung

Оглавление

Coline gewöhnte sich an die Ruhe. Johanna tyrannisierte sie schon seit Monaten nicht mehr. So fand sie in ihren alten Rhythmus zurück. Irgendwann spürte sie das Verlangen nach frischen Brötchen und machte sich auf den Weg zum Bäcker. Als sie dort ankam, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Da stand ihr schlimmster Albtraum, ganz allein am Straßenrand. Johanna hielt das Buch in ihrer Hand, das Coline so viel Ärger bereitete. Sie kehrte um und floh mit schnellen Schritten. Doch schon hinter der ersten Kurve bremste ein wildfremder Mann ihre Flucht. Groß und breit wie ein Schrank stand er da. Dieser Anblick jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Erschrocken bat sie um Entschuldigung, aber er reagierte nicht. Sie trat einen Schritt zur Seite und wollte an ihm vorbei gehen. Erneut stellte er sich in den Weg. Sie fragte ihn, was das sollte und er zeigte schweigend in die Richtung, aus der sie kam. Coline drehte sich um.

Da stand sie wieder! Kreidebleich wich Coline zurück. Sie stieß an den Fremden und endlich begriff sie, dass die Beiden zusammengehörten. Johanna machte einen großen Schritt in ihre Richtung. „Es ist so weit. Dir werd ich zeigen, was boshaften Gören passiert!“ Starr vor Angst presste sich Coline gegen den Fremden und schob ihn zurück. Johanna kam näher und forderte ein Geständnis, doch Coline wich ihr immer wieder aus. Sie wagte nicht einmal, ihr ins Gesicht zu sehen. In ihrem Kopf spukte nur noch der unbändige Wille auszureißen. Mit einem Mal wagte sie die Flucht nach vorn. Bevor er reagieren konnte, rammte sie Johanna die Faust ins Gesicht und stürmte los. Sofort nahm er die Verfolgung auf. Er packte Coline am Kragen und zerrte sie an sich heran. Kaum brachte er sie zurück, befahl Johanna: „Bring sie zum Auto. Andreas wartet schon.“ Coline quollen die Tränen aus den Augen. Doch Johanna ließ es kalt. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen.“ knurrte sie.

Als Coline in Johannas Auto saß, gab es kein Zurück mehr. Nach kurzem Wortwechsel zwischen den Entführern ging es los. Coline zitterte am ganzen Leib. Verzweifelt versuchte sie zu fliehen. Sie wollte die Tür aufmachen, vergebens. Sie wollte das Fenster herunter kurbeln, vergebens. Es bestand kein Zweifel, Johanna hatte sich bestens vorbereitet. Coline redete sich ein, dass alles nur eine Illusion wäre, und dass ihre Albträume nicht wahr würden. Sie verfluchte den Tag, an dem ihr der Erste die Nacht zur Hölle machte.

Sie fuhren in den Wald, bis zu einer Hütte. Dort wartete ein weiterer Mann. Plötzlich sagte Johanna: „Ich brauche dir die Beiden bestimmt nicht vorzustellen. Du hast sie ja bis ins Detail beschrieben. Aber ich frische deine Erinnerungen gerne auf. Wie du sicher weißt, dieses Kraftpaket ist David und der andere Herr heißt Andreas!“ Die Namen hallten wie ein böses Omen durch Colines Ohren. Irgendwie verband sie schreckliche Angst mit diesen Namen. David griff nach ihr. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und stieß gegen Johanna. Angewidert machte sie wieder einen Schritt in seine Richtung.

Johanna befahl ihr, in die Hütte zu gehen und sich zu setzen. Stur weigerte sie sich, aber David half nach. Kaum saß sie auf einem Stuhl, kam Johanna mit dem Buch. Sie fragte offen: „Was hast du dir dabei gedacht? Habe ich so etwas verdient? Wie kannst du mir so etwas unterstellen?“ Coline hörte ihr nicht zu. Sie sah sich jeden Winkel der Hütte an und suchte nach einem Ausweg. Plötzlich packte Johanna nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf herum. Sofort kniff Coline die Lider zusammen. Angewidert hielt sie mit aller Kraft dagegen und verzog ihr Gesicht zu einer schmerzerfüllten Fratze. Johanna redete weiter auf sie ein. „Sieh mich an! Hörst du nicht? Sieh mich an! Was hast du dir dabei gedacht? Hast du geglaubt, ich würde tatenlos mit ansehen, wie du mir mein Leben zerstörst? Antworte mir!“ Doch Coline erwiderte nichts. Johanna wurde zorniger. „Verdammt noch mal! Ich lass mich nicht von dir verarschen! Gib zu, dass du das Buch geschrieben hast. Ich habe dich gesehen, als du es in meinen Briefkasten geworfen hast.“ Coline fragte frech: „Wie hätte ich das anstellen sollen? Die Nachbarschaft hätte mich doch gesehen.“

Johanna forderte sofort eine aufrichtige Entschuldigung und eine Wiedergutmachung. Coline verstummte abermals. Sie gab nichts zu und reagierte auch nicht auf Strafandrohungen. Plötzlich schlug Johanna auf den Tisch. „Dir ist hoffentlich klar, dass du deine Familie niemals wieder sehen wirst!“ Coline erschrak, sie war gefangen. Bevor sie etwas erwidern konnte, verließ Johanna die Hütte. David trat näher und legte ihr Fesseln an. Dann ließ er sie allein.

Draußen wartete Johanna. David ging an ihr vorbei und setzte sich auf einen Baumstamm. Er stütze seine Ellenbogen auf die Knie und legte seine Finger aufeinander. Nachdenklich senkte er seinen Kopf auf die Fingerspitzen und schielte zu Johanna hin. „Sind Sie sich absolut sicher, dass das der richtige Weg ist?“ Johanna warf ihn einen bösen Blick zu, nahm das Buch und ging wieder zu Coline. Sie redete weiter auf sie ein: „Ich will von dir wissen, was das soll. Ich begreife einfach nicht, wieso du mir so etwas unterstellst. Was habe ich dir getan? Warum tust du mir so etwas an?“

Coline starrte stur an die Wand und sobald Johanna in ihren Blickwinkel trat, schloss sie die Augen oder drehte den Kopf weg. Zornig packte Johanna Colines Kinn und bohrte ihr die Finger in die Wangen. Ihre Worte klangen endgültig: „Dir werd ich Gehorsam beibringen. Ich gebe dir eine Bedenkzeit und dann werden wir sehen, wofür du dich entscheidest.“ Wenig später, setzten sie ihre Reise fort. Coline sah keinen anderen Ausweg, als die Autoscheibe einzutreten und Andreas hatte Mühe sie davon abzuhalten. Notgedrungen hielten sie am Straßenrand an. Aber statt einer Chance zur Flucht, erhielt Coline Hand- und Fußfesseln. Johanna fauchte sie an: „Du weißt wohl nicht, was du dir damit antust? Soll ich dir erklären, was ich meine? Gestehe oder mach dich auf was gefasst.“ Coline erwiderte barsch. „Das habe ich schon längst.“ Johanna glaubte nicht richtig zu hören. „Du gibst also zu, dass du dieses verdammte Buch geschrieben hast.“ Sie sah erwartungsvoll auf Coline herab, die höhnisch antwortete: „Warum sollte ich? Ich schreibe nicht über so widerliche Bestien.“ Johanna musste ihren Zorn zügeln. Sie wollte nicht zuschlagen. Noch nicht!

Tagelang fuhren sie weiter. Wieder führte der Weg in einen Wald. Nach einer großen Lichtung sah Coline eine vier Meter hohe Mauer mit einer Krone aus Stacheldraht. Dahinter befand sich die Besserungsanstalt. Das stählerne Tor öffnete sich, sie fuhren hinein und sofort schloss es sich wieder. Auf einem Hof aus Beton und Teer verteilten sich kleine Grüppchen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Viele nicht älter als zwanzig Jahre. Sie tuschelten und Coline wusste, dass es um sie ging. Als Johanna aus dem Auto stieg, verstummten alle. Wie scheue Rehe wichen sie zurück und beobachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Johanna grinste überlegen und sagte zu Coline: „Nimm dir ein Beispiel an denen.“ Coline reagierte nicht. Sie achtete nur auf das Verhalten der Insassen. Dabei bemerkte sie nicht, wie Johanna im Haus verschwand. Plötzlich wurde wieder geflüstert und gemunkelt. Gebannt saß Coline da und übersah David, der darauf wartete, dass sie endlich ausstieg. Schließlich zog er sie heraus und stieß sie vorwärts.

Erschrocken fuhr Coline herum und holte ungewollt dabei aus. Sie traf ihn mitten ins Gesicht. Er zuckte nicht einmal, aber er wurde wütend. Mit enormer Kraft gab er die Ohrfeige zurück. Sein Schlag war so heftig, dass Coline stürzte. Noch ehe sie sich aufraffen konnte, packte er sie am Zopf und zerrte sie ins Gebäude. Erst drinnen hatte sie die Chance, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Sofort riss sie sich los und stürmte zum Ausgang. Als sie auf die Tür zu rannte, streckte Andreas gelassen den Arm aus und stoppte sie. Verzweifelt schlug sie auf ihn ein. Sie versuchte sich vorbei zu zwängen, doch er schwankte nicht einmal. Geduldig nahm er ihren Wutausbruch hin. Dann schob er sie in die Aula.

Coline sah sich nervös um, denn diese fremde und zugleich vertraute Umgebung weckte böse Erinnerungen. Plötzlich schlug eine Tür zu. Für einen Moment waren alle abgelenkt. Diese Chance wollte Coline nutzen, doch als sie den Rückzug antrat, tauchte David auf. Wie verabredet stellten sich weitere Männer in jeden erdenklichen Fluchtweg. Coline erstarrte. Jetzt würde sich ihr schlimmster Albtraum erfüllen. Da betrat Johanna den Saal. Coline wich unwillkürlich zurück. Johanna genoss das und drängte Coline immer weiter in die Enge. Coline hielt es nicht mehr aus und schlug zu. Johanna schwankte nach der Ohrfeige. Benommen schüttelte sie ihren Kopf und fluchte.

Wütend zwang sie Coline auf den Stuhl, mitten im Raum. Johanna verließ die Aula, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Rundherum warteten die restlichen Angestellten. Richter Morgan trat ein und nahm Platz. „So sieht man sich wieder. Ich möchte, dass du mir jetzt genau zuhörst.“ Coline sah ihn ratlos an. Dann fragte sie, seit wann vor Gericht geduzt wurde. Doch er stellte gleich klar: „Wir sind hier kein alltägliches Gericht. Du weißt sicherlich, warum wir hier sind. Oder muss ich dich daran erinnern?“ Sie stellte sich dumm.

„Ich möchte dich fragen, ob du dir deiner Schuld bewusst bist? Oder muss ich dein Gedächtnis etwas auffrischen?“ Das war wohl nötig, denn noch immer leugnete Coline, etwas mit dem Buch zu tun zu haben. Sie entschloss sich aufzustehen und zu gehen. Richter Morgan fragte: „Wo willst du hin? Wir haben doch noch nicht einmal angefangen.“ Er drehte sich zu David: „Meister Worka, begleite sie wieder zu ihrem Stuhl.“ David hob den Finger und drohte ihr wortlos, als hätte er ein kleines Kind vor sich. Dann drehte er Coline um und schob sie zurück. Da rief sie: „Was wollt ihr eigentlich von mir?“

„Wir? Wir wollen gar nichts.“ sagte Richter Morgan. „Wir sind nur hier, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Du erinnerst dich doch sicher noch an Johanna Köhler? Das ist die Frau, deren Leben du zerstört hast.“ Weil sie nicht reagierte, fragte er noch einmal und Coline brüllte ein verzweifeltes „Nein“ heraus. Plötzlich hörte sie diese rhythmischen Schritte, die nur zu einer ganz bestimmten Person passten. Sie sah, wie die Türklinke nachgab. Da stand sie wieder! Ein flüchtiger Blick in ihre Richtung verriet ihre Rachsucht. Johanna kam langsam schaukelnd näher. Sofort kniff Coline die Augen zu und drehte sich angewidert fort. Je näher sie kam, desto größer wurde Colines Angst. Sie konnte den Gedanken nicht mehr ertragen, dass sie sie ansprechen würde und sprang auf. Da befahl Johanna: „Bleib sofort stehen!“

Nichts hätte Coline in diesem Augenblick gestoppt. Sie rannte der Tür entgegen, rammte David die Faust in den Magen und verschaffte sich frei Bahn. Doch noch ehe sie die Haustür erreichte, holte er sie ein. Er packte sie im Nacken und zwang sie in die Aula zurück. Coline sah flüchtig zu Johanna hin. Sie stand ungeduldig am Fenster und hielt die Arme verschränkt. Ihre Finger trommelten verärgert auf die Oberarme. Schnell drehte sich Coline von ihr weg, was sie nur noch zorniger machte. „Setz dich!“ knurrte sie. Coline war der Ernst der Lage bewusst, und doch sträubte sie sich zu gehorchen. Sie versuchte nochmals zu entkommen, bis es Johanna satt hatte. Sie stapfte ihr entgegen und langte nach ihr. Coline wich aus, immer und immer wieder. Plötzlich spürte sie Johannas Hand am Arm. Mit roher Gewalt zwang sie Coline auf den Stuhl und legte die Hände auf ihre Schultern.

Richter Morgan ließ das ganze Durcheinander kalt. Er begann die Anklageschrift zu verlesen. Dann forderte er Coline auf, Stellung zu nehmen. Doch sie konnte ihm nicht antworten, da sie nur noch an Flucht dachte. Johanna wartete auf eine Antwort und schrie Coline an: „Du sollst sagen, warum du mir mein Leben zerstörst. Was habe ich dir getan?“ Ihre Worte hallten in Coline wieder. Was meinte sie? Es war doch eher umgekehrt. Jede verdammte Minute dachte Coline an Johanna. Wenn sie sie auch nur für einen Moment vergaß, tauchte sie vor ihr auf. Johanna riss der Geduldsfaden. Sie packte Colines Kinn, drehte ihren Kopf gewaltsam in ihre Richtung und stellte wieder die gleiche Frage. Plötzlich überkam Coline ein widerliches Ekelgefühl. Ihr Magen rebellierte. Sie konnte den Brechreiz kaum noch unterdrücken und schon passierte es. Sie würgte unwillkürlich, doch kam nichts heraus. Johanna ließ sie angewidert los. Sie fluchte und versprach, dass Coline diese Tat bitter bereuen würde. Coline glaubte ihr nicht ein Wort.

Richter Morgan machte es kurz. Er wartete nicht länger auf irgendwelche Ausflüchte. „Coline Trappar, du wirst der schweren Verleumdung für schuldig gesprochen und du bleibst fünf Jahre in dieser Besserungsanstalt. Hier werden dir Werte vermittelt, die du offensichtlich nicht kennst. Du wirst lernen, was Recht und Unrecht ist und du wirst zu einem gesellschaftsfähigen Menschen erzogen. Johanna Köhler wird dafür sorgen, dass du ein anständiger Mensch wirst. Wie sie ihr Ziel erreicht, bleibt ihr überlassen. Aber ich werde die Fortschritte prüfen.“ Coline riss die Augen auf. „Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich kein anständiger Mensch wäre?“ Richter Morgan fragte: „Willst du behaupten, nichts mit den Verleumdungen gegen Johanna Köhler zu tun zu haben? Wir haben einige Beweise.“ Coline schimpfte: „Welche sollen das sein? Alles aus der letzten Verhandlung wurde zurückgewiesen, wie Sie sicher noch wissen.“ Da hakte der Richter ein: „Wir haben alles noch einmal genau geprüft. Das Buch mit deinem Zeichen auf dem Einband ist jetzt Beweis genug.“ Coline wehrte sich entschieden. „Es ist doch eindeutig bewiesen worden, dass jeder dieses Bild haben kann.“

Johanna rief dazwischen: „Ja! Den Spruch kenne ich. Da ist nur eine winzige Kleinigkeit, die nirgendwo anders zu finden ist. Nur zwei Symbole sind absolut gleich. Das ist deine Tätowierung und das Bild auf meinem Buch.“ Coline schüttelte sich bei dem Gedanken, dass Johanna ihr Leben bestimmen sollte. Kurz entschlossen sprang sie auf und stürmte dem Ausgang entgegen. Sie stieß ihre Faust abermals in Davids Unterleib und zwängte sich vorbei. Coline rannte um ihr Leben. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Albträume wahr wurden. Obwohl sie wusste, dass es schon längst zu spät war, versuchte sie ihr Glück. Sie floh ziellos durch das Gebäude, versteckte sich in einer Nische und hoffte unentdeckt zu bleiben. Leider entkam sie Davids wachsamen Blicken nicht. Hart packte er sie und brachte sie in die Aula.

Richter Morgan forderte Johanna auf, den Beweis für Colines Schuld zu untermauern. Johanna schaukelte ihr entgegen und gab ihr voller Wonne die Ohrfeige zurück. Sie wandte sich grinsend dem Richter zu. „Hier ist der eindeutige Beweis, dass nur sie als Autor in Frage kommt.“ Derb drehte sie Coline um und riss ihr den Pullover von der rechten Schulter. Coline versuchte sich noch herauszureden: „Das hat gar nichts zu sagen. Das hätte jeder nachmachen können.“ Johanna wies nochmals auf ein winziges Detail hin. „Keiner hätte gewusst, dass dieser kleine Strich in jedem anderen Bild doppelt ist. Außer der, der sie tätowiert hat. Nur auf meinem Buch und auf ihr ist es eine Linie.“

Das überzeugte den Richter und er fragte Coline: „Willst du irgendetwas dazu sagen? Dir ist hoffentlich klar, dass du die nächsten fünf Jahre in dieser Anstalt bei Johanna Köhler verbringst. Es gibt keine Bewährung, keine Strafminderung, keinen Freispruch. Du musst gehorchen und alle Aufgaben sorgfältig ausführen. Solltest du dich weigern, wird die Strafe verschärft. Wie das geschieht, liegt im Ermessen von Johanna Köhler.“ Coline kam es einem Todesurteil gleich. Sie war nicht bereit ihrer Ex-Lehrerin zu gehorchen und wehrte sich energisch gegen das Urteil. Aber aller Aufstand half nichts. Sie merkte schnell, dass Schweigen gesünder war.

Johanna machte sich sofort daran, alle Regeln und Verbote vorzutragen. Sie zog einen dicken Papierstapel hervor und begann zu lesen. Sie vertiefte sich so in ihr Referat, dass sie nicht merkte, wie Colines Lider immer schwerer wurden. Sie nickte ein. Sogleich riss sie David unsanft aus dem Schlaf. Coline erschrak und schrie unwillkürlich auf. Johanna fragte: „Hast du alles verstanden?“ Herablassend kam die Antwort: „Was geht’s mich an.“ Johanna verbiss sich das Schreien und befahl: „Schaff sie mir aus den Augen. Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen.“ Spontan fiel Coline „dito“ ein, und als sie es aussprach, stürmte Johanna auf sie los. Sie holte aus und ohrfeigte Coline so heftig, dass sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Coline wollte nicht dulden, dass sie von ihr geschlagen wurde und versuchte einen Gegenangriff. Doch sie verfehlte ihr Ziel. Sofort griff David ein und hielt Coline fest. Sie wollte sich losreißen, aber er ließ ihr keine Chance.

Johanna grinste nur. Ihre Schadenfreude steigerte Colines Abscheu dermaßen, dass sie auf sie spuckte. Sofort verzog sich ihr Grinsen zu einer verbissenen Fratze. Sie zeigte zur Tür und brüllte: „Raus mit ihr, bevor ich mich vergesse!“ Mit Gewalt beförderte er Coline nach draußen und schob sie über den Gang zu einer Treppe in den zweiten Stock. Oben angekommen nahm er sie mit in eine Wäschekammer. David forderte sie auf: „Zieh dich aus!“ Coline legte ihre Jacke auf den Boden und wartete. David fauchte: „Du sollst alles ausziehen!“ Coline sah ihn ungläubig an und fragte: „Wieso sollte ich?“ Seine Ungeduld wuchs. „Beeil dich, bevor ich nachhelfe.“ Coline zog alles bis auf die Unterwäsche aus und stand reglos vor ihm. David schrie: „Ich sagte alles!“ und riss ihr die Wäsche vom Leib. Entblößt starrte sie ihn an und fragte: „Bist du jetzt glücklich?“ David knurrte nur und warf ihr ein Bündel zu. Es prallte gegen ihre Brust und fiel zu Boden.

„Zieh das an! Ich warte höchstens zwei Minuten, dann kommst du mit, wie du bist.“ Coline hatte keine Wahl. Sie folgte seiner Anweisung und dachte dabei nur an Flucht. Sie wurde in den Keller gebracht. David sperrte sie in eine schalldichte Kammer, in der wirklich nur eine Person Platz fand. Diese Zelle maß gerade einen mal zwei Meter. Dafür war sie drei Meter hoch. Ziemlich weit oben befand sich ein kleines Loch ohne Glas aber vergittert. Eisige Kälte kam dort hinein. Der schwache Lichtschein aus dem Loch verriet nur wenig vom eigentlichen Aussehen der Kammer. Als Bett dienten eine alte, von Ratten zerfressene Matratze und eine ebensolche Decke. Links neben der Tür ragte ein altes Tonrohr aus dem Boden, welches David lachend kommentierte. „Das da ist deine Toilette. Ich hoffe, dieses Zimmer ist dir genehm, denn es ist das Einzige für dich!“ Krachend fiel die Tür ins Schloss und hüllte Coline in Dunkelheit. Sie wusste, dass es so kommen musste. Sie sah es immer wieder. In ihren Albträumen! Ihr blieb nur noch eine Chance, das Elend zu ertragen. Sie musste alles noch einmal durchdenken.

Nach langem Überlegen erinnerte sich Coline an einen goldenen Ring. Ihren Albträumen nach, nahm er jeglichen Schmerz von ihr und verhalf ihr zur Flucht. Doch gab es ihn wirklich? Wenn ja, wie sollte sie ihn finden? Sie saß fest. Außerdem konnte er überall sein. Andererseits konnte es auch ein Irrglaube sein, dass ihr ein Stück Edelmetall das Leben rettete. Aber es erfüllte sich schon so viel von den Träumen, dass der Ring keine Lüge sein konnte. Wenigstens besaß sie noch einen Silbernen, der zwar nicht verflucht, aber trotzdem hilfreich war. Er verstärkte die Wirkung des Goldenen. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, wie viel Wahres in den Träumen steckte. Sie musste es darauf ankommen lassen.

Die Sonne schob sich vor das winzige Loch. Coline starrte in das grelle Licht und fragte sich, wie sie auf den nächsten Kontakt reagieren würde. Es dauerte nicht lange und David kam Coline holen. Sie schenkte ihm aber nicht die geringste Aufmerksamkeit. Stur starrte sie die Wand an. Er zog wieder ab und schon bald dröhnte Johannas Geschrei durch die Zelle: „Komm mit und höre dir deinen Tagesablauf an.“ Keine Reaktion! „Hörst du schlecht? Zwing mich nicht, dich aus der Zelle zu zerren.“ Trotzdem blieb Coline sitzen. Sie dachte sich, es könne nicht so schlimm werden. Auch wenn sie Johanna allerhand zutraute, so würde es doch nie geschehen?

Johanna stürmte auf Coline los, packte sie am Zopf und zerrte sie mit aller Kraft zur Tür hinaus. Coline schrie aus voller Kehle. Sie dachte, sie würde ihr die Haare ausreißen. Rücksichtslos beförderte Johanna ihr Opfer in einen kleinen Saal. Dort zwang sie Coline auf einen harten Holzstuhl. Dann tauchte David auf. Sein dunkles kurzes Haar fiel locker über seine Stirn, als er sich nach unten beugte und sie am Stuhl fesselte. Danach stellte er sich hinter sie.

Johanna ging auf und ab, senkte den Kopf und tat nachdenklich. „Willst du mich wirklich so sehr reizen, dass ich dich bestrafen muss?“ Stur überhörte Coline jedes Wort. Johanna kochte innerlich, denn sie duldete keine Ignoranz. Sie wiederholte ihre Frage, wieder und wieder. Trotzdem bekam sie keine Antwort. Nach endlos vielen Versuchen drohte sie ihr. „Jedes Mal, wenn du dich gegen mich stellst, werde ich eine deiner Lügen wahr machen. Überlege dir genau, ob du das riskieren willst.“ Coline schwieg eisern und musste augenblicklich zurück in ihre Zelle. Sie sollte durch Einsamkeit lernen, wie man sich seinem Vorgesetzten gegenüber zu benehmen hatte. Allerdings störte sich Coline wenig daran. Sie war es gewohnt, allein zu sein. Sie genoss es sogar.

Irgendwann mitten in der Nacht stand sie auf und starrte durch das winzige Loch in den Himmel. Der Mond wanderte gerade vorüber, als sie leise vor sich hinmurmelte. Coline malte Zeichen in die Luft. Sie kniff die Augen zu und streckte ihre Hand den Gitterstäben entgegen. Immer lauter wurden ihre Worte. „So bring mir das, was ich begehr, bring es mir, hierher.“ Es verstrichen einige Minuten und nichts geschah. Coline sah gebannt nach oben. Sie war sich so sicher, dass es nun endlich so weit sein musste. Sie erwartete, dass der Diener des Ringes erschien und ihr das verfluchte Kleinod brachte. Noch einmal sprach sie ihre Formel, aber wieder passierte nichts. Plötzlich glaubte Coline, dass sie ihre Träume völlig falsch deutete und Johannas Willkür schutzlos ausgeliefert war. Wie sollte sie fünf Jahre unter ihrer Herrschaft überstehen? Für Coline gab es doch nur den Beistand der Ringe und einer dämonischen Bestie. Sie sank nachdenklich auf den Boden, als es zu donnern begann. Harter Regen prasselte auf die Erde und schwemmte den Staub der letzten Wochen durch die kleine Öffnung in ihre Zelle.

Mit der Morgendämmerung hörte der Regen auf und die Anstalt erwachte zum Leben. David holte Coline aus ihrer Zelle und brachte sie in den zweiten Stock. Dort lernte sie weitere Insassen kennen. Sie alle glichen Automaten. Keiner zeigte auch nur einen Funken eigenen Willen. Sie liefen in Reih und Glied durch die Gänge, von Zimmer zu Zimmer. Sie senkten die Köpfe, als müssten sie sich für etwas schämen. Keiner sagte ein Wort.

David führte Coline einen langen Gang entlang. Er brachte sie in das hinterste Zimmer. Als er die Tür öffnete, saßen da zwanzig Leute mit gesenkten Köpfen. Sie saßen wie zum Gebet. David schob sie hinein. Als sie den Kopf drehte, erblickte sie Johanna. David befahl: „Geh und setz dich auf deinen Platz.” Doch Coline gehorchte nicht. Weil sie nicht mitging, zog er sie hinein. Mit viel Mühe brachte er sie bis zu einem Platz in der ersten Reihe, gleich vor dem Lehrerpult. Johanna nahm ein dickes Buch und knallte es Coline auf den Tisch. Sie gab ihr einen Block und einen Bleistift. „Du wirst dieses Buch lesen und eine genaue Inhaltsangabe machen. Ich rate dir, es ordentlich zu machen, sonst blüht dir was.“ Coline war nicht bereit, Schularbeiten zu machen. Sie war inzwischen erwachsen. Also weigerte sie sich, auch nur einen Buchstaben zu lesen. David versuchte ihr klar zu machen, was passieren würde, wenn sie nicht tat, was Johanna verlangte. Coline ignorierte seine Warnungen. Sie war nicht mehr geduldig genug, um still da zu sitzen. Ihr reichte es und sie stand auf. Johanna drohte sofort: „Wage dir ja nicht zu gehen. Wenn du diesen Raum verlässt, wird das Konsequenzen haben. Hörst du mich?”

Coline hörte sie, doch schenkte sie ihr keine Beachtung. Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Erst da stürmte Johanna hinterher. Sie schrie durch den Gang: „Du kommst hier sowieso nicht weg! Bewege deinen Hintern sofort zurück oder ich vergesse mich!“ Coline ließ einen Zettel fallen und lief einfach weiter. Plötzlich rannte Johanna. Coline hörte ihre Absätze auf den Fliesen klappern und rannte auch los. Innerhalb von Sekunden wurde es zu einer Hetzjagd durch das Gebäude. Coline wusste nicht wohin und versuchte, sich in jeder Nische zu verstecken. Nicht eine bot genügend Schutz. Wie von Sinnen rannte sie dem Ausgang entgegen, vorbei an vielen bleichen Gesichtern zur Treppe. Voller Angst schwang sie sich die Stufen hinunter und nahm gleich drei auf einmal. Plötzlich versperrte ihr David den Weg. Hinter ihr nahte Johanna. Jetzt musste sie sich schnell entscheiden. Coline wagte die Flucht nach vorn. Sie stürmte auf David los, der lässig einen Schritt zur Seite machte und Coline ein Bein stellte. Im hohen Bogen flog sie auf die steinernen Platten der Eingangshalle. Benommen blieb sie liegen und schaffte es nicht rechtzeitig aufzustehen, um weiter zu flüchten.

Johanna packte ihren Arm und versuchte sie hochzuziehen. Coline riss sich angewidert los und kroch dem Ausgang entgegen. Verdutzt schaute ihr Johanna nach und warnte sie nochmals. Coline raffte sich auf und rannte hinaus. Dicht gefolgt von Johanna. Doch hatte sie nicht die Kondition, um sie noch einmal einzuholen. Johanna stoppte, denn sie wusste, dass sie nicht weit kam, da ihre Handlanger tagsüber Runden über das Gelände drehten. Also nahm sie erst einmal den Zettel und las unzählige Beleidigungen. Coline hatte die wenigen Minuten genutzt, um Johanna schriftlich niederzumachen. Das ärgerte sie so sehr, dass sie es kaum erwarten konnte, dieses ungehorsame Frauenzimmer in die Finger zu bekommen.

Inzwischen fand David die Ausreißerin und brachte sie zurück in ihre Zelle, dann berichtete er es Johanna. Sie nahm es wortlos zu Kenntnis und ging böse grinsend in ihr Zimmer. Noch war sie nicht bereit, ihre Drohungen wahr zu machen. Sie wusste nicht, wie sie mit Coline umgehen sollte. Irgendetwas hielt sie zurück. War es Angst, Zweifel oder gar Mitleid? Nichts dergleichen. Johanna konnte sich einfach nicht entscheiden, ob die Strafen aus dem Buch angemessen waren. Also beschloss sie, ihren Schützling erst einmal in der Zelle zu belassen.


Eine Lüge für die Freiheit

Подняться наверх