Читать книгу Eine Lüge für die Freiheit - Patrice Parlon - Страница 7

Verrat

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Coline wartete, bis auch das letzte Licht verlosch. Sie schlich sich durch einen der vielen Nebeneingänge in die Wäschekammer und stahl einige Sachen. Dann holte sie sich noch etwas Wegzehrung und huschte wieder hinaus. Sie kam bis zum Tor, ohne gesehen zu werden. Auf einmal stand David vor ihr. Er verbarg sich im Schatten, so sah sie sein grimmiges Gesicht nicht. Doch sie spürte seinen Zorn. Schweigend zeigte er zurück zur Tür. Selbstbewusst trat Coline einen Schritt zur Seite und wollte an ihm vorbeigehen. Sein Arm schnellte vor ihre Brust. Coline stoppte. Noch hatte sie den Mut weiterzugehen, doch da hörte sie Johanna toben: „Was glaubst du, wer du bist? Du wirst diese Frechheit büßen und zwar noch heute!“

Coline rührte sich keinen Millimeter. Sie glaubte sonst, den ersten Schlag zu erhalten. Wieder brüllte Johanna durch die Dunkelheit. „Geh in den Saal! Ich werde dir schon noch Gehorsam beibringen!“ Diese Drohung gab ihr erneut Kraft zum Weitergehen. Sie schob Davids Arm zur Seite und machte den nächsten Schritt in die vermeintliche Freiheit. Johanna wiederholte energisch ihren Befehl, abermals ohne Erfolg. Coline ging weiter. Ihre Glieder zitterten, denn Johanna kam näher. Immer wieder befahl sie ihr stehen zu bleiben. Doch sie versuchte schneller zu gehen. Johanna hielt sich nicht mehr zurück und packte sie am Kragen. Derb zwang sie Coline in die Knie und keifte: „Du willst es ja nicht anders. David, mach deinen Job.“

Coline sprang auf und rannte los. Innerhalb von Sekunden wurde es zu einer Hatz über den Hof. Coline wusste genau, dass es in einer Sackgasse enden würde. Dennoch versuchte sie ihr Glück. Schnell stürmte sie zum See. David hinterher. Dann war es so weit. Es ging nicht mehr weiter. David wurde langsamer. Überlegen fasste er an seine Gürtelschnalle. „Du machst es dir unnötig schwer. Ich muss dir wohl eine ordentliche Lektion erteilen.“ Coline sah ihn verängstigt an. Was sollte sie jetzt tun? Zitternd ging sie Schritt für Schritt rückwärts, bis sie knietief im Wasser stand. Keinen Moment ließ sie ihn aus den Augen, da er immer näher rückte. Langsam öffnete er seinen Gürtel und zog ihn mit einem Ruck aus den Ösen. Er legte im Gehen beide Enden aufeinander und ließ ihn durch seine Hand gleiten. Abrupt zog er ihn straff, sodass der Knall ein Echo nach sich zog. Coline wusste, was ihr bevorstand und sprang ins Wasser. Sie schwamm bis zur Mitte des Sees, da entdeckte sie Johanna auf der anderen Seite. Andreas kam von rechts und Maxwell von links. Coline war umzingelt und paddelte auf der Stelle. Nun musste sich Coline entscheiden, auf welcher Seite sie aus dem See stieg. Sie schwamm auf Maxwell zu, denn er hatte sie bisher noch nicht gequält.

Als sie am Ufer ankam, standen alle Vier vor ihr. David näherte sich bis auf einen Meter und befahl: „Hose runter! Sofort!“ Coline schüttelte den Kopf. „Soll ich nachhelfen?“ fragte er boshaft. Wieder schüttelte sie den Kopf. Da packte David zu und beugte ihren Rücken! Er zog ihr die Hose runter. Coline erwartete voller Angst den ersten Hieb und da knallte es auch schon. Der Schmerz war kurz und heftig. Coline wusste nicht, ob sie schreien sollte. Diese Genugtuung wollte sie ihren Peinigern nicht geben. Schon traf sie der zweite Hieb.

David setzte die Bestrafung bis zum zehnten Schlag fort. Weder schrie noch jammerte Coline. Stur stieß sie wilde Flüche aus. Es spornte David jedoch nur an. Er schimpfte: „Es scheint dir wohl noch nicht zu reichen. Du brauchst also eine richtige Abreibung.“ Schon schwang er wieder seinen Gürtel. Nach dem zwanzigsten Hieb brach Coline in Tränen aus. Sie schrie den Schmerz heraus und flehte ihn an aufzuhören. Doch David hörte nicht auf! Immer wieder sauste der Riemen durch die Luft und erst nach dem Vierzigsten Schlag war es vorbei. Coline fühlte dieses Brennen und Stechen auf ihrem Leib. Unfähig die Hose anzuziehen, sank sie vor ihm auf die Knie. Verheult sah sie sich um. Sie suchte nach Johanna, konnte sie aber nicht entdecken. David griff nach ihr, da schrie sie um Hilfe und wurde erhört. Arantino stürmte heran und attackierte David. Coline nutzte die Gelegenheit und lief davon.

Davids ohrenbetäubendes Geschrei, lockte Johanna an. Als sie ihn endlich erreichte, lag er blutend am Treppenabsatz. Sofort lief Johanna zu Andreas und schickte ihn zu David. Sie selbst rannte zu ihrem Auto und verfolgte die Flüchtige. Als Andreas David am Boden liegen sah, musste er schnell handeln. Er versuchte, die Blutungen durch Abbinden zu stoppen. Doch es gelang ihm nicht. Er ließ David zurück und rief einen Notarzt. Es dauerte viel zu lange und endlich, als das Telefonat beendet war, rannte er wieder in die Eingangshalle. Doch David lag nicht mehr da. Nur eine große Blutlache bedeckte den Boden. Verzweifelt suchte er nach seinem Kollegen. Er rief ihn, bekam aber keine Antwort. Er suchte nach Spuren, fand aber nichts. Nun musste er warten, bis die Sanitäter eintrafen. Was sollte er ihnen sagen? Wie sollte er das erklären?

Unvermittelt spürte er einen heißen Luftzug im Genick. Er drehte sich um und erstarrte. Arantino stand schnaubend hinter ihm. Seine scharfen Reißzähne blitzten Andreas entgegen, als er nach ihm schnappte. Andreas rannte schreiend davon, dicht gefolgt von der wütenden Bestie.

Durch den furchtbaren Schrei erwachte das halbe Haus. Insassen und Aufseher drängten sich die Treppen hinunter und in all dem Durcheinander tauchte Martin auf. Schlaftrunken wankte er zwischen den verwirrten Menschen umher. Wie in Trance lief er dem Ausgang entgegen und wurde nicht beachtet. Er lief weiter über den Hof und näherte sich der knorrigen Eiche an der Außenmauer. Oben auf einem dicken Ast hockte Andreas und zitterte. Unter ihm wütete Arantino. Mit seinen Pranken kratzte er schon tiefe Furchen in den Baum. Er traf Andreas auch einige Male.

Martin näherte sich dem Ungetüm. Andreas rief, dass er verschwinden sollte, doch er hörte ihn nicht. Schweigend stand der Knabe vor der Bestie und streckte seine Hand nach ihm aus. Arantino drehte sich zu ihm um. Er riss sein mächtiges Maul auf, schnappte zu und der schmächtige Leib verschwand in seinem Rachen. Andreas dachte, nun wäre es um den Knaben geschehen und schrie das Untier an: „Spuck ihn aus!“ Doch wagte er sich nicht herunter, um dem Jungen zu helfen. Arantino warf ihm einen bösen Blick zu und trottete mit seinem Happen davon. Langsam dämmerte Andreas, was seinem Kollegen passiert sein musste.

Plötzlich ertönten Sirenen und im Dämmerlicht tauchten Scheinwerfer auf. Das waren die Sanitäter, doch sie kamen zu spät. Sie konnten nur noch seine Wunden versorgen. Im gleichen Moment kam Johanna mit Coline zurück. Sie sah die fremden Männer auf dem Hof und traute sich nicht, die Ausreißerin aus dem Wagen zu holen. Sie stieg aus und fragte hämisch, was geschehen wäre. Unbemerkt schob sich Coline durchs Fenster aus dem Auto und eilte davon. Bevor sie um die Ecke biegen konnte, entdeckte sie einer der Sanitäter und rief ihr nach: „He Sie da! Hey!“ Coline beeilte sich wegzukommen, so rannte er hinterher. Er folgte ihr ums Haus herum, doch plötzlich war sie verschwunden.

Johanna stampfte zornig mit dem Fuß auf den Boden und fluchte. Unterdessen tauchte Martin wieder auf. Er war völlig durchnässt und dreckig. Doch schien er hellwach. Der zweite Sanitäter versuchte den Knaben trocken zu legen und zog ihn aus. Johanna erschrak, denn er trug Colines Zeichen auf der Schulter. Auch Andreas sah es und ihm wurde klar, dass das Kind besessen war. Besessen mit Colines Geist. Keiner außer ihr, vermochte die Bestie zu stoppen. Plötzlich fiel Martin in Ohnmacht. Der Sanitäter hob ihn auf und legte ihn in den Krankenwagen. Dann rief er seinen Kollegen. Johanna sah fassungslos mit an, wie sie das Kind auf die Trage banden. Sie warf einen letzten Blick auf Martin und stellte fest, dass das Symbol verschwunden war.

Gleich, nachdem der Krankenwagen im Dickicht verschwand, blies Johanna zur Jagd. Coline war die Beute und Johanna einer der Bluthunde. Andreas machte sich auf die Suche nach David, der nur im Labyrinth sein konnte. Er folgte instinktiv dem Gang mit Davids Symbol. Immer enger wurde der Schacht und immer stickiger die Luft. Plötzlich versagte seine Taschenlampe. Kreidebleich starrte Andreas in die Finsternis. Seine kräftigen Hände tasteten die Wände ab, auf der Suche nach einem Ausweg. Auf einmal ertönte ein gehässiges Lachen. Es näherte sich und Andreas schrie: „Verschwinde! Egal wer du bist. Verschwinde!“ „Ohne mich findest du hier nie wieder raus.“ schallte es ihm entgegen. Andreas stammelte: „Coline? Was machst du hier? Ich dachte du wärest für immer auf und davon.“ „Ich habe noch eine offene Rechnung mit der Ratte.“ „Ratte? Was für eine Ratte?“ „Die Ratte Köhler meine ich!“

Coline griff seine Hand und zerrte ihn zielsicher hinaus. Er verlangte immer wieder eine Erklärung für diese Beschimpfung, doch Coline schwieg. Endlich kamen sie draußen an. Ein Wort des Dankes erwartete sie nicht und versuchte schnell zu verschwinden. Doch so hörig wie er war, packte er sie und wollte sie zurückbringen. Coline schaffte es nicht sich loszureißen, denn schon erschien die sogenannte Ratte. Johanna starrte Coline reglos an. Sie verschränkte die Arme und verzog ihr Gesicht. „Das wird dir alles noch sehr, sehr leid tun. Ich warte im großen Saal auf dich.“ Mit diesen Worten ließ sie die Beiden stehen. Andreas spürte Colines Angst. Doch was sollte er tun? Auch er war ihrer Willkür unterworfen. Er konnte Coline nur nahe legen, um Gnade zu betteln. Coline spuckte ihn an und nannte ihn Verräter. Sofort packte er zu und schob sie vor sich her in die Katakomben. Coline wusste, dass eine Flucht in diesem Moment der einzige Ausweg war. Endlich gab sie sich einen Ruck und riss sich von Andreas los. Sie rannte direkt zu Johannas Auto, denn im Eifer des Gefechts blieb der Schlüssel stecken. Diese Chance konnte sie nicht ungenutzt lassen. Sie stahl das Auto und fuhr los. Vor dem großen Tor drückte sie einen kleinen Schalter und es öffnete sich. Keiner achtete auf sie, denn alle konzentrierten sich gänzlich auf die Bestrafung. Zu spät schlug Andreas Alarm.

Sofort versuchte Johanna eine Spur von Coline zu finden und entdeckte den Diebstahl. Sie holte sich ihren Zweitschlüssel und den für Maxwells Auto. Dann nahm sie die Verfolgung auf. Sie folgte der Straße kilometerweit, aber nirgendwo fand sich auch nur die kleinste Spur und so hielt sie an. Johanna dachte intensiv nach, wie sie Coline zurück bekam. Ungeduldig stand sie am Straßenrand und überlegte, wo sie sein könnte. Plötzlich trat sie aufs Gas. Sie folgte einem inneren Drang. Dann in der nächsten Stadt die große Entdeckung. Vor einem Bankgebäude stand ihr Auto. Sie beobachtete es eine Weile und stellte Maxwells Wagen ab. Sie stieg in ihren und versteckte sich auf dem Rücksitz.

Coline kam aus dem Haus. Sie sah ängstlich in jede Richtung, denn sie spürte die Gefahr. Sie stieg besorgt ein und startete. Keine hundert Meter weiter schnellte Johanna hoch und erschreckte Coline dermaßen, dass sie gegen eine Mauer fuhr. Coline prallte gegen das Lenkrad. Johanna konnte sich gerade noch rechtzeitig abstützen. Sie legte ihre Hand um Colines Kinn und zog ihren Kopf nach hinten. Immer heftiger drückte sie Coline gegen die Lehne und drohte: „Das war dein letzter Fehler. Ein für alle Mal!“ Sogleich legte sie ihr Fesseln an und knebelte die junge Frau. Coline hatte keine Chance. Johannas Hass wuchs beständig, er verlieh ihr enorme Kraft. Sie zwang Coline auf den Beifahrersitz. Dann fuhren sie zurück. Coline zappelte, wollte fliehen, doch vergebens.

Näher und näher rückte der große Saal. Nur ein Trost blieb ihr. David war nicht fähig zu foltern und Johanna selbst zu schwach. Doch da gab es ja noch andere, die in Frage kamen. Auch wenn ihnen Johanna nichts zutraute. Vielleicht bewiesen sie ihr Können. Als sie den Hof erreichten, hupte Johanna, damit Andreas kam. Er brachte auch gleich eine dicke Eisenkette mit. Er führte Coline in eine Kammer und nahm ihr alles, inklusive ihrer Ringe.

Je mehr sie sich wehrte, desto ungeduldiger wurde er. Coline reizte ihn so sehr, dass er ihr eine Ohrfeige verpasste. Sie schwankte durch seinen kräftigen Schlag, prallte gegen die Wand und sackte nackt zu Boden. Er gab ihr keine Gelegenheit sich zu erholen und trieb sie durch die Gänge, direkt in ihre alte Zelle. Coline schrie aus vollem Hals: „Ihr elenden Verbrecher! Ihr seit doch wahnsinnig!“ Andreas schlug die Türe zu und verriegelte sie sorgfältig. Frierend kauerte Coline in der Mitte ihrer Zelle. Nicht einmal eine Decke ließen sie ihr. Sie rief nach Arantino, doch er gehorchte nicht. War er nun auch gegen sie? Sie verlangte ja nicht befreit zu werden, sie wollte nur etwas Wärme.

Die Kälte zehrte an ihren Reserven und sie schlief ein. Arantino kam kurz darauf und half seiner Herrin. Er wärmte sie mit seinem dichten Fell. Niemand bemerkte ihn, denn er war ein Meister im Einbrechen. Er hinterließ keine Spuren. Im Morgengrauen verschwand Arantino so unbemerkt, wie er kam. Coline erwachte wenige Minuten später, da es plötzlich wieder kalt wurde. Im gleichen Moment öffnete sich der Essensschacht am unteren Ende der Zellentür. Sie bekam ein dürftiges Mal vorgesetzt, das die Dunkelheit gleich darauf verschluckte. Coline musste ertasten, was es war. Doch sie erkannte es nicht. Auch der Geruch war ihr fremd. Allein deswegen rührte sie ihre Henkersmahlzeit nicht an. Sie stand auf, streckte sich und sank zurück auf den Boden. Es vergingen Stunden und Coline plagte der Hunger, doch sie wagte sich nicht an den Teller heran. Sicher hatte Johanna irgendeine Gemeinheit vor. Vielleicht ein Abführmittel oder Ähnliches.

Gegen Mittag drangen Motorengeräusche an ihr Ohr. Das kleine Loch in der Mauer gab ihr kaum Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren. Sie hörte nur Autotüren knallen und eine Männerstimme, die sagte: „Ich bin Inspektor Georg Van Dörren und möchte zur Anstaltsleitung. Es geht um eine Coline Trappar.“ Nun wurde Johanna auf eine harte Probe gestellt. Sie durfte kein falsches Wort sagen. Blitzschnell legte sie eine andere Miene auf und lief den beiden Männern in den dunklen Anzügen freudestrahlend entgegen. Aufgeregt schüttelte sie ihnen die Hände. Doch der gewünschte Effekt blieb aus. Unbeeindruckt zog einer den Brief eines anonymen Informanten aus der Tasche und überreichte ihn Johanna. Sie sah ihn skeptisch an und faltete das Blatt auseinander. Ihre Blicke überflogen die Zeilen und sie murmelte den Text. „Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe in einer Erziehungsanstalt fürchterliche Zustände vorgefunden. Dort werden die Schützlinge körperlich und seelisch gefoltert und sie tragen viele Wunden davon. Vor allem eine junge Frau leidet unter diesen Misshandlungen. Sie wird täglich grundlos verprügelt. Das geht so weit, dass sie bewusstlos und blutüberströmt zurückgelassen wird. Ich bitte Sie inständig, diese Unmenschen festzunehmen. Glauben Sie mir! Der Name des Hauptopfers ist Coline...“ Johanna wurde blass. Sie sah sich schon hinter Gittern und versuchte sich herauszureden. „Was soll das bedeuten? Ich kenne keine Coline.“ Misstrauisch trat der eine an sie heran. „Das wird sich zeigen. Wir möchten uns hier genauer umsehen. Wo finden wir den Verantwortlichen?“ Johanna suchte nach einer Ausrede. „Der Direktor hat zurzeit eine Besprechung.“ „Könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass er sich ein wenig beeilen möchte.“ Johanna atmete tief durch. „Ich sehe mal, was ich tun kann.“

Kaum war sie gegangen, diskutierten die Inspektoren miteinander. „Sag mal, ist dir aufgefallen, wie nervös diese Frau ist? Ich möchte gar zu gern wissen, von wem die Information stammt. Kannst du dir vorstellen, dass es hier Leute gibt, die jemanden foltern?“ „Gibt es irgendwelche Beweise?“ fragte sein Kollege. „Noch nicht, aber ich werde diesen Fall weiterverfolgen.“

Keine Minute später kam Johanna zurück. Sie schien noch nervöser als zuvor. „Der Direktor ist bereit, Sie zu empfangen.“ In Maxwells Büro herrschte eine angespannte Stille. Man sah ihm an, dass er etwas zu verbergen hatte. Allerdings versuchte er davon abzulenken. Die zwei Beamten traten näher. Maxwell kam ihnen gleich entgegen. „Guten Tag! Ich bin Maxwell Zorgett, der Leiter dieser Einrichtung. Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Name ist Georg Van Dörren. Darf ich ihnen meinen Kollegen Frederic Hansen vorstellen? Aber genug der Förmlichkeiten. Sie wissen, warum wir hier sind? Ihnen ist doch sicher bekannt, dass Sie angezeigt wurden, oder nicht? Haben Sie von den Vorwürfen gehört?“ Maxwell versuchte Ruhe zu bewahren. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Hansen schob die Augenbrauen zusammen. „Hören Sie, wir sind nicht hier, um uns veralbern zu lassen.“ Maxwell stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er sah zu Johanna rüber. Sie warf ihm aber nur einen strengen Blick zu und schüttelte drohend den Kopf. Maxwell wandte sich den Inspektoren zu. „Könnten Sie mir endlich sagen, worum es hier eigentlich geht? Ich kann nicht den ganzen Tag mit Rätsel raten verbringen.“ Van Dörren sagte grimmig: „Sie können mir nicht weismachen, dass Sie unseren Brief nicht erhalten hätten. Aber offensichtlich wollen Sie es einfach nicht zugeben. Also dann! Uns wurde mitgeteilt, dass einer ihrer Schützlinge stark misshandelt wird. Angeblich foltern Sie ihre Insassen! Was haben Sie dazu zu sagen?“ „Wer behauptet so etwas?“ konterte Maxwell. Van Dörren wurde langsam böse. „Das ist doch jetzt völlig egal! Vielleicht sollte ich für eine Weile hier bleiben. Dann kann ich genau prüfen, ob die Anschuldigungen stimmen.“

Maxwell versuchte alles, um die Beiden wieder loszuwerden. „Ich weiß nicht, was das soll. Warum sollte ich Sie hier einquartieren? Glauben Sie allen Ernstes, dass wir Menschen foltern? Ich halte das für einen üblen Scherz.“ Van Dörren gab aber nicht nach. „Wenn das so ist, dann haben Sie doch nichts zu befürchten. Ich werde ja auch nicht lange bleiben. Vielleicht eine Woche.“ Maxwell konnte ihn nicht umstimmen. Also ließ er ein Zimmer im obersten Stock herrichten. Die beiden Männer packten ihre Sachen aus und Van Dörren ging wieder zurück zu Maxwell. Dicht gefolgt von Johanna. Sie wollte ihn keine Minute aus den Augen lassen.

Zurück im Büro verlor Van Dörren keine Zeit. „Ich möchte alle Akten sehen. Vielleicht finde ja das sogenannte Opfer. Oder sagen Sie mir gleich, wo Coline ist?“ Johanna platzte fast der Kragen. „Hören Sie nicht zu? Wir haben hier niemanden, der so heißt.“ Van Dörren sah ihr tief in die Augen und für einen Moment fühlte sich Johanna entlarvt. Nochmals forderte er, Coline zu sehen. Johanna beteuerte, dass es keine Coline und auch keine Opfer in diesem Haus gab. Da tauchte die nicht Existierende plötzlich im Hof auf. Ein schauderhafter Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Inspektoren auf sie.

Van Dörren verzog sein Gesicht zu einer vorwurfsvollen Miene. „Wer ist das da unten und warum läuft sie so krumm?“ Johanna sah aus dem Fenster und wurde immer farbloser. Sie rätselte, wie es möglich war, dass Coline dort unten stand. Sie war sich sicher, dass alle Schlösser der Zelle verriegelt waren. Sie schaute nervös in das Gesicht des Inspektors und dann gleich wieder zurück. Plötzlich war Coline verschwunden. Langsam zweifelte Johanna an ihrem Verstand. Dann tat sie verwundert. „Wen meinen Sie? Ich sehe niemanden.“ Inspektor Van Dörren schaute noch einmal hinaus. „Da unten stand eben noch eine Frau, auf die Colines Beschreibung passt.“ Johanna zuckte unwissend mit den Schultern. Sie ließ die Männer allein, um kein falsches Wort zu sagen.

Sogleich führte Maxwell die Inspektoren zu den Akten. Ungern ließ er sie unbeaufsichtigt, aber er musste seinen Pflichten nachkommen. Van Dörren begann unverzüglich, die zahllosen Ordner zu wälzen. Währenddessen stürmte Johanna in ihren Überwachungsraum und sah nach Coline. Doch ihre Kamera versagte. Johanna holte die Schlüssel und versuchte so schnell wie möglich in die Katakomben zu gelangen. Sie nahm gleich mehrere Treppenstufen auf einmal und stand augenblicklich vor der Zellentür. Verzweifelt versuchte sie alle Schlösser zu öffnen. In ihrer Hast erschien es ihr wie Stunden, bis das Erste aufsprang. Sie stocherte in jedem herum und endlich klickte auch das Letzte. Sie riss die Tür auf und leuchte mit einer Taschenlampe in die Dunkelheit.

Coline lag leichenblass, ganz ausgestreckt auf dem Bauch und rührte sich nicht. Johanna fragte sich, ob sie tot war. Mit einem kräftigen Tritt gegen den Fuß ihres Opfers, verschaffte sie sich Gewissheit, dass Coline noch lebte. Ein kurzes Brummen ertönte und sie zuckte ein wenig. Johanna schlug die Tür wieder zu, indem tippte ihr jemand auf die Schulter. Entsetzt drehte sie sich um und leuchtete ihrem Gegenüber ins Gesicht. Verblendet kniff Andreas die Augen zu. „Sie werden langsam ungeduldig. Gehen Sie wieder hoch, sonst kommen die hier runter.“ Johanna fauchte zornig und vergaß abzusperren. Auch Andreas achtete nicht darauf, denn Coline war nicht in der Verfassung zu fliehen. Dennoch spielte sie mit dem Gedanken auszubrechen. Kurz darauf stemmte sie ihren geschundenen Leib nach oben. Sie fühlte sich tonnenschwer, obwohl sie nur noch Haut und Knochen war. Mit letzter Kraft schleppte sie sich aus der Zelle und schob sich die Gänge entlang.

Johanna dachte nicht im Traum daran, dass Coline ihre Zelle verlassen könnte. Doch Coline gelang das schier Unmögliche. Sie schwankte zwar, aber sie entkam den Katakomben. Immer heftiger wurden die Schmerzen beim Gehen. Coline blieb stehen und krümmte sich leicht nach vorne. Ihr quollen die Tränen aus den Augen und sie brach zusammen. Im gleichen Augenblick trat Andreas an sie heran. „Wo willst du hin? Du bleibst schön hier.“ Coline nahm allen Mut zusammen. „Ihr werdet nicht damit durchkommen. Niemals!“ Er grinste sie hämisch an und schob sie zurück in ihre Zelle. Er stieß sie hinein und warf die Tür zu. Dann sorgte er dafür, dass sie keine weitere Chance zur Flucht bekam.

Indes stattete Johanna den Inspektoren einen Besuch ab. Beinahe gleichgültig bat sie die Herren mitzukommen. Sie führte sie aus dem Gebäude, dann einen schmalen Pfad entlang, bis zu einem Felsvorsprung. Sie zeigte ihnen ein verwildertes Grab, dessen Kreuz als Inschrift den Namen Coline trug. Demnach lag sie schon ein halbes Jahrhundert dort. Van Dörren runzelte die Stirn, denn er wollte einfach nicht glauben, dass der Brief eine Täuschung war. Am Abend verschwanden die beiden Inspektoren in ihrem Zimmer. Van Dörren wünschte Johanna ironisch eine gute Nacht, wohlwissend, dass sie keine Ruhe fand.


Eine Lüge für die Freiheit

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