Читать книгу Sohn der Monde - OCIA - Patricia Rieger - Страница 11
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Heute trug Jacob einen hellgrauen Sommeranzug und ein roséfarbenes Hemd ohne Krawatte. Als Hannah ihm die Tür öffnete, sah er sie forschend an. »Hallo, kleine Lady. Keine gute Nacht gehabt, was? Hat der Große geschnarcht?«
Hannah funkelte ihn wütend an, zuckte dann jedoch mit den Schultern und ließ ihn eintreten.
Hralfor hatte inzwischen die Reste ihrer Mahlzeit weggeräumt und stand nun wie ein riesiger, finsterer Schatten in der Mitte des Raumes. Als er Jacob sah, nickte er ihm kurz zu, holte ein Glas Wasser und stellte es wortlos auf den kleinen Tisch. Dann wartete er, bis Hannah sich auf die Couch gesetzt hatte und nahm neben ihr Platz.
Jacob ließ sich dankbar stöhnend in den Sessel fallen und betrachtete die beiden eine Weile nachdenklich und mit leicht gerunzelter Stirn. Als keiner von beiden den Mund aufmachte, seufzte er und beugte sich zu ihnen. »Also, ich denke, ihr hattet jetzt ein wenig Zeit, euch mit meinem Angebot zu beschäftigen. Wie sieht’s aus, Großer, könnte es dich reizen?« Sein Blick lag gespannt auf Hralfors Gesicht.
»Es ist sicherlich sehr reizvoll«, begann Hralfor, »und ich habe mir dein Angebot sehr gut überlegt. Doch ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht alleine darüber entscheiden kann. Ich muss zunächst mit meinen derzeitigen Auftraggebern sprechen, denn schließlich besteht zwischen uns auch so etwas wie ein Vertrag, den ich nicht so einfach auflösen kann.«
»Und was bedeutet das genau?« Jacobs Blick bohrte sich prüfend in Hralfors Augen.
»Das bedeutet, dass ich zunächst wieder nach Vargor zurückkehren werde, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Hast du oder deine Organisation damit ein Problem?« Hralfor beugte sich zu Jacob hinunter und mit einem Mal lag prickelnde Spannung in der Luft.
Hannah hielt den Atem an. Nun würde sich entscheiden, ob Jacob die Wahrheit gesagt hatte und Hralfor, egal, wie seine Entscheidung ausfiel, wieder heimkehren konnte.
Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes. »Du wirst irgendwann vielleicht noch lernen, dass man uns vertrauen kann, Großer. Wir stehen zu unserem Wort. Das geht sicher auch einmal in deinen misstrauischen Vargéri-Schädel.«
Als er das wütende Zischen Hannahs hörte, blinzelte er ihr entschuldigend zu. »Nichts für ungut, Lady, aber die Vargéris sind nun einmal ein ganz besonders … vorsichtiges Volk.« Er wandte sich wieder an Hralfor. »Es bleibt dabei. Die Blockade ist bereits aufgehoben, du kannst uns jederzeit verlassen. Jetzt bleibt allerdings noch unsere Befürchtung, dass außer euch und den Verbannten auch andere Kenntnisse über die Durchführung von Weltensprüngen erhalten könnten. Kannst du mir vielleicht darüber noch etwas verraten?«
Hralfor sah Jacob eine Weile nachdenklich an, während er überlegte, wie viel er dem Mann anvertrauen konnte. Schließlich hatte er durchaus Verständnis für Jacobs Sorge. »Ich kann dir nur so viel sagen, dass die Weitergabe dieses Wissens ein absolut einmaliger und sehr unglückseliger Vorfall in der Vergangenheit war. Die Person, die dafür verantwortlich war, wurde vernichtet. Es wird keine anderen Welten mehr geben, die Zugang zu diesem Wissen erhalten werden. Und wie du am Einsatz der Wachenden sehen kannst, haben auch meine Auftraggeber ein großes Interesse daran, die Weltensprünge der Verbannten einzudämmen. Sie werden alles daransetzen, sie völlig abzustellen.«
Jacob hörte Hralfor mit gerunzelter Stirn zu. Es war ihm anzusehen, dass er gern mehr erfahren hätte, doch schließlich zuckte er mit den Achseln und nickte Hralfor zu. »Also gut, Großer, ich sehe, dass du mir im Moment nicht mehr sagen willst. Immerhin ist es schon eine gewisse Beruhigung zu wissen, dass es wohl keine zusätzlichen Gefährdungen geben wird. Aber ich hoffe nach wie vor, dass du, egal, wohin du dich jetzt begibst, doch noch die richtige Entscheidung treffen wirst. Denk einfach noch einmal über die ganzen Vorteile nach, die sich dir dann bieten würden.«
Sein Blick schweifte bedeutungsvoll zu Hannah und kehrte dann wieder zu Hralfor zurück. Er nickte dem Vargéri noch einmal verständnisvoll zu und wandte sich schließlich an Hannah. »Und wie steht’s mit dir, kleine Lady? Unser Angebot an dich ist nicht an eine Zusage deines Freundes gebunden. Wir würden uns freuen, wenn du bei uns anfangen wolltest, mit all den Möglichkeiten, die ich dir schon genannt habe.«
Hannah hatte sich in den letzten Tagen immer wieder mit Jacobs Angebot beschäftigt. Nachdem sie nun von der Existenz anderer bewohnter Welten wusste, würde ihr Leben nie wieder in den gleichen Bahnen verlaufen können wie bisher. Es reizte sie ungemein, mehr von dieser geheimnisvollen Organisation zu erfahren, für die Jacob arbeitete, doch irgendwie kam ihr alles ein wenig zu schnell. Vielleicht, wenn sie zunächst einmal ihre Schule beendete und dann ein Studium dort begann.
Außerdem wusste sie noch immer nicht, ob sie Jacob überhaupt mochte. Sie traute ihm nicht richtig, irgendetwas an ihm war ihr immer noch unheimlich. Und er brachte sie regelmäßig mit seiner Art, wie er über Hralfor redete, auf die Palme.
Jacob, der sie aufmerksam beobachtete, schien genau zu spüren, welchen inneren Kampf sie mit sich ausfocht. Er wartete geduldig auf ihre Antwort.
Schließlich seufzte sie und sah ihm offen in die Augen. »Es tut mir leid, Jacob, ich kann Ihnen ebenfalls noch keine endgültige Antwort geben. Ehrlich, Ihr Angebot reizt mich sehr, aber es geht mir alles einfach zu schnell. Wenn es nächstes Jahr auch noch gilt, nachdem ich das Abi gemacht habe, würde ich es mir, glaube ich, überlegen. Aber heute«, sie schüttelte den Kopf, »heute ist es noch zu früh.«
Jacob nickte nachdenklich. »Das habe ich mir beinahe schon gedacht. Selbstverständlich gilt das Angebot auch später noch. Du hast hoffentlich noch meine Karte, kleine Lady. Heb sie gut auf. Du kannst mich jederzeit erreichen, egal ob in einem Jahr oder in einer Woche. Ein Wort von dir und du bist dabei. Lass dir Zeit bei deiner endgültigen Entscheidung«, er blinzelte ihr vergnügt zu, »wir sind ja nicht aus der Welt.«
Überrascht hob er die Augenbrauen, als Hannah sein Lächeln spontan erwiderte. »Verdammt, kleine Lady, das war das erste Mal, dass du mich nicht angesehen hast, als ob du mich gleich fressen wolltest. Jetzt kann ich den Großen noch besser verstehen. Versuch doch, ihn zu überreden. Ihr würdet bei uns ein tolles Team abgeben, da bin ich mir sicher.«
Mit diesen Worten stand er auf und ging zur Tür. Dort wandte er sich mit ernstem Gesicht noch einmal an Hralfor. »Sprich mit deinen Leuten, Großer. Vielleicht können sie mit ihrer Geheimnistuerei ja aufhören. Ich bin sicher, dass wir alle friedlich zusammenarbeiten könnten. Das wäre ein großer Gewinn für alle Welten. Ich hoffe, ich höre wieder von euch.«
Damit ging er endgültig aus dem Haus und hinterließ eine nachdenkliche Stille.
Hannah nahm einen tiefen Atemzug. »Ob das mit der Blockade stimmt? Traust du ihm? Er hat sich heute eigentlich gar nicht so übel angehört.«
Hralfor blickte nachdenklich auf die Tür, durch die Jacob gerade verschwunden war. »Wir werden sehen. Aber ja, eigentlich traue ich ihm, was seine Arbeit angeht. Er will für alle das Beste, darin zumindest war er ehrlich.«
»Und wobei war er nicht ehrlich?«, hakte Hannah nach.
Hralfor wandte sich ihr wieder zu. »Er hat uns nicht die Wahrheit über seine eigene Person gesagt. Er ist kein Mensch.«
Hannah wurde blass. »Woher weißt du das?«
Sie dachte an die seltsam fließenden Augen Jacobs.
Hralfor zuckte leicht mit den Achseln. »Es ist sein Geruch. Er riecht nicht wie ein Mensch. Er versucht, das durch irgendein Duftwasser zu überdecken und hat mich damit zuerst auch etwas durcheinandergebracht. Aber jetzt bin ich mir sicher. Jacob kommt nicht aus dieser Welt.«
Hannah sah eine Weile grübelnd zu Boden, dann hob sie den Kopf. »Ja, mir kam er von Anfang an auch irgendwie eigenartig vor. Seine Augen sind so seltsam und beunruhigend. Und er kann offensichtlich nicht schwitzen, obwohl er so unter der Hitze leidet. Aber eigentlich spielt es keine Rolle, was er wirklich ist. Im Gegenteil, wenn er kein Mensch ist, scheint seine Geschichte mit den Parallelweltlern ja zu stimmen. Mir wird er dadurch weder sympathischer noch unsympathischer.«
»Es macht dir wirklich keine Angst, nicht wahr?« Hralfor trat zu ihr und strich ihr liebevoll über die Wange. »Dir ist es völlig egal, was wir sind, du entscheidest einfach mit dem Herzen, ob du jemanden magst, völlig unabhängig davon, wer oder was er ist. Du bist wirklich außergewöhnlich. Jacob tut gut daran, dich für seine Organisation gewinnen zu wollen. Ich an seiner Stelle würde dasselbe tun. Ich würde alles in Bewegung setzen, damit du dich meiner Organisation anschließt.«
Hannah stand vor ihm und verlor sich in den neongrünen Augen, die sie so zärtlich ansahen. Die Wärme seiner Hand strömte durch ihre Wange in ihren ganzen Körper und brachte das Eis darin langsam zum Schmelzen.
Wenn sich die Zeit doch nur anhalten ließe, sie würde glücklich bis in alle Ewigkeit so bei ihm stehen wollen, bis auch das letzte Eis geschmolzen war und sie nie wieder frieren müsste.
»Wirst du jetzt noch einmal für mich musizieren? Bitte.«
Der Klang seiner heiseren Stimme brachte Hannah wieder in die kalte und trostlose Wirklichkeit zurück.
Sie wusste nicht, ob sie es ertragen konnte, Geige für ihn zu spielen. Immer wenn sie spielte, verlor sie sich in ihren eigenen Gefühlen. Und sie fühlte in sich eine so große Traurigkeit, dass sie fürchtete, beim Musizieren darin zu ertrinken. Aber sie hatte es ihm versprochen und er sah sie so bittend an. Also nickte Hannah Hralfor zu und lief in ihr Zimmer, um die Geige zu holen.
Sie begann mit einem traditionellen irischen Lied, das eine leichte, beschwingte Melodie hatte, um sich etwas abzulenken.
Wie immer gab sie sich bald vollkommen der Musik hin und irgendwann driftete die Melodie in das Klagelied eines Soldaten für seine verlorene Liebste ab. Als sie es bemerkte, versuchte sie, sich erneut auf eine nicht ganz so tragische Melodie einzustimmen, doch immer wieder machten sich ihr Herz und ihre Hände selbstständig, bis sie schließlich aufgab. Sie spielte von verlorenen Schlachten, hoffnungsloser Liebe und dem Verlust des Geliebten, während ihr die Tränen lautlos über die Wangen strömten.
Hralfor saß auf der Kante des Sofas und beugte seinen Oberkörper weit in ihre Richtung. Er ließ ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Seine Hände waren so fest geballt, dass die Knöchel weiß hervorstachen.
Die Musik gab seine eigenen Gefühle genauer wieder, als er sie je selbst hätte ausdrücken können. Der brennende Schmerz, der in ihm tobte, wurde um ein Vielfaches verstärkt, als ihm klar wurde, dass Hannah dieselbe Qual verspürte.
Als sie schließlich ihr Spiel mit einem schrillen Missklang beendete und die Geige weglegte, war es mit seiner Beherrschung vorbei. Mit zwei geschmeidigen Sprüngen war er bei Hannah und schloss sie fest in seine Arme. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an ihn, während ihr ganzer Körper bebte.
»Es tut mir leid, es tut mir so leid! Ich wollte etwas Schönes spielen, etwas, das dich fröhlich macht, aber es geht einfach nicht.«
»Aber es war wunderschön, traurig, aber wunderschön.« Hralfors Stimme klang heiserer denn je und seine Lippen strichen sacht über ihre Schläfe. »Du bist eine Künstlerin und kannst nur spielen, was du wirklich fühlst. Aber es zerreißt mir das Herz, dass du eine so große Traurigkeit empfindest.«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah sie besorgt an. Dann strich er die Tränen, die unaufhörlich aus ihren geschlossenen Augen quollen, zart fort. »Du weinst, weil ich fortgehe. Es tut mir so leid. Du warst so unglaublich tapfer. Du hast in den letzten Tagen so viel Schreckliches und Verwirrendes erlebt, und die ganze Zeit warst du so tapfer.«
Er nahm sie wieder fest in die Arme, das Gesicht tief in ihren Haaren vergraben. »Und jetzt weinst du, weil ich fortgehe. Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll. Ich werde jeden Tag meines Lebens an dich denken und verfluchen, was ich bin. Ich kann hier in deiner Welt nicht leben, ohne meine eigene Welt zu gefährden und du bist in deiner Welt viel zu sehr verwurzelt. Ohne sie würdest du zugrunde gehen. Und trotzdem bin ich dankbar dafür, dass ich dir begegnet bin. Du hast mir eine neue Welt eröffnet und mir mein eigenes Herz gezeigt.«
Lange hielt er Hannah umschlungen, bis ihre Tränen versiegten und das Zittern nachließ. In der Wohnung war es schon seit einiger Zeit stockdunkel, als Hannah sich langsam aus seinen Armen löste. Sie konnte seine hohe, dunkle Gestalt kaum noch erkennen. Doch sie spürte seine Wärme und sah seine Augen, die wie zwei kleine, neongrüne Lichter auf sie gerichtet waren.
»Du musst jetzt bald aufbrechen, nicht wahr?«, flüsterte sie.
Hannah spürte sein zögerndes Nicken mehr, als dass sie es sah.
»Ja, aber lass mich vorher noch einmal deinen Verband wechseln.«
Hannah lachte humorlos auf. »Ja, natürlich, damit ich das in all der Aufregung nicht doch noch vergesse, nicht wahr?«
Sie wollte sich schon wegdrehen, um das Licht anzuschalten, als Hralfor sie mit einem für ihn ungewöhnlich unsanften Griff zurückhielt. Seine Stimme klang gepresst. »Es ist wichtig, ich dachte, ich hätte es erklärt. Du darfst es unter keinen Umständen vergessen!«
Hannah seufzte auf. »Ja, klar. Tut mir leid, du hast natürlich recht.«
Bedrückt setzte sie sich auf das Sofa, während Hralfor die Paste holte. Sie wollte nicht daran denken, dass es nun wirklich das allerletzte Mal war, dass er ihr diesen Freundschaftsdienst erwies. Beinahe wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen, als sie seine warmen Finger auf ihrem Arm spürte.
Hralfor verstrich die Paste diesmal besonders sorgfältig, als wolle er den Moment, in dem er sie loslassen musste, so lange wie möglich hinauszögern. Als er ihr schließlich den Verband anlegen wollte, erwachte Hannah aus ihrem angenehmen Dämmerzustand, in den sie bei seiner Behandlung immer verfiel.
»Warte! Solltest du den Verband nicht lieber wieder mitnehmen? Er ist schließlich aus deiner Heimatwelt und du möchtest doch so wenig Spuren wie möglich hinterlassen. Ich komm schon ohne ihn klar, die Verletzung ist ja kaum noch sichtbar.«
Hralfor sah sie bei diesen Worten nachdenklich an und nickte schließlich. »Du hast recht. Ich hätte selbst daran denken müssen. Ich danke dir.«
Als er den Verband in eine Tasche steckte, konnte Hannah sich ein leichtes Seufzen nicht verkneifen. Hralfor blickte sofort auf. »Was ist, hast du doch noch Schmerzen?«
Hannah schüttelte beruhigend den Kopf und wurde ein wenig rot. Vielleicht würde er sie ja auslachen, aber das war ihr jetzt auch egal. »Es ist nur so, dass ich jetzt gar nichts mehr habe, was mich an dich erinnert, wenn du weg bist. Ich weiß, das ist albern, also vergiss es einfach.«
Hralfors Blick wurde weich. Er fuhr ihr sanft mit einem Finger über die Wange und stand dann schnell auf, um zu seinem Lager zu gleiten, wo er seinen Umhang und sein Schwert aufbewahrt hatte. Als er sich wieder zu Hannah umwandte, hielt er eine der schmalen, dolchartigen Waffen in der Hand, die auch die Verbannten bei sich getragen hatten.
Langsam kam er zurück und ging vor Hannah in die Hocke. »Nimm dieses Hrakan. Es stammt aus Vargor und nicht aus meiner Heimatwelt. Jacobs Organisation kennt diese Waffe mit Sicherheit von anderen Angriffen der Verbannten. Wenn er es bei dir findet, stellt das für meine Heimatwelt keine Gefahr dar. Außerdem ist mir etwas wohler, wenn ich weiß, dass du bei deinen zukünftigen, nächtlichen Ausflügen eine Waffe bei dir trägst.«
Hannah sah wie betäubt auf die Waffe in den langen, schlanken Fingern. Es war eine ähnliche Waffe wie die, mit der sie ihren Angreifer verletzt hatte. Bei der Erinnerung daran schauderte es sie. Mit einem Mal wusste sie auch, dass es dieselbe Waffe war, mit der Hralfor den schwer verletzten Verbannten getötet hatte.
Hralfor, der ihre Gedanken erriet, bekam einen bekümmerten Gesichtsausdruck. »Ich habe es inzwischen gereinigt. Aber vielleicht finde ich auch etwas anderes, das ich dir hierlassen kann, wenn du es überhaupt noch möchtest.«
Hannah sah ihn verdutzt an. Dann verstand sie. Hralfor befürchtete, dass sie ihn wegen der Erinnerung an seine Tat erneut als eine Art Monster ansehen würde. Empört funkelte sie ihn an.
»Nein, ich möchte nichts anderes, ich möchte dieses – wie hast du es genannt – Hrakan? Und wenn du glaubst, ich bekomme gleich einen Anfall, weil ich mich daran erinnere, dass du einem miesen Mistkerl gegeben hast, was er verdient hat, dann hast du mich in den letzten Tagen wirklich über-haupt nicht richtig kennengelernt. Also sei nicht immer gleich so empfindlich, das hast du überhaupt nicht nötig! Du bist kein Monster, und nichts auf der Welt wird mich je dazu bringen können, so etwas von dir zu glauben.«
Und damit riss sie ihm das Hrakan aus der Hand und sah ihn böse an.
Bei ihren Worten erschien ein fasziniertes Lächeln auf Hralfors Gesicht. Doch als sie ihm die Waffe abnahm, zuckte er kurz zusammen. »Vorsicht! Es ist ziemlich scharf. Du brauchst noch eine Scheide dafür.«
Kopfschüttelnd erhob er sich, um nun auch noch die Hrakanscheide zu suchen. Dieses Mädchen hatte manchmal entschieden zu viel Temperament. Was würde er dafür geben, Hannah seiner Mutter vorstellen zu können. Sie neigte ebenfalls zu Temperamentsausbrüchen, vor allem, wenn es um Ungerechtigkeiten ging. Sie hätte Hannah geliebt wie eine eigene Tochter, da war er sich sicher.
Bei dem Gedanken an seine baldige Heimreise kehrte die Leere in seinem Inneren zurück. Es blieb nun nicht mehr viel Zeit.
Als er mit der Scheide wieder zu Hannah zurückkam, sah sie in seinen Augen, dass der Zeitpunkt des Abschieds nun endgültig gekommen war. Schnell schluckte sie den eisigen Kloß in ihrer Kehle herunter und stand langsam auf. »Wie kommst du aus dem Haus? Du wirst wohl nicht einfach nur aus der Haustür marschieren, oder?«
Hralfor schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an die kleine Tür, die im Schatten des Gartens liegt.«
Hannah nickte. »Die Tür, die von der Garage in den Garten führt. Du hast recht, sie liegt völlig im Dunkeln. Wenn sie nicht irgendwelche Infrarotkameras benutzen, könnte es klappen.«
»Was ist das?«, fragte Hralfor und sah sie beunruhigt an.
»Damit kann man die Körperwärme erkennen und ein Lebewesen auch in der Dunkelheit sehen«, erwiderte Hannah.
»Verdammt, das funktioniert dann genauso wie vargérische Augen. Dann habe ich keine Chance, unbemerkt zu verschwinden.« Düster starrte Hralfor vor sich hin.
Hannah sah ihn grübelnd an und kaute auf ihrer Unterlippe. »Vielleicht können wir sie austricksen. Was, wenn ich mich in einen Umhang werfe und als Erste das Haus verlasse? Vielleicht fallen sie ja darauf rein und folgen mir. Dann kannst du etwas später rausschlüpfen.«
Hralfor hob den Kopf und sah sie liebevoll an. »Du bist einmalig. Es könnte klappen. Auf jeden Fall wird es nichts schaden.«
Er hielt sie bei den Schultern und sah aus wie ihr kleiner Bruder, wenn er sich gerade einen Streich ausgedacht hatte. Bei seinem Anblick wurde ihr das Herz noch schwerer. Sie schniefte leise. »Ich glaube aber nicht, dass ich deine Art, dich zu bewegen, auch nur annähernd nachmachen kann. Die müssten blind sein, um nichts zu merken.«
»Du hältst dich einfach geduckt und bleibst immer zwischen den Sträuchern«, schlug er vor. »Das lenkt sie vielleicht etwas ab. Wie gesagt, es kann zumindest nichts schaden.«
»Also gut.« Hannah seufzte. »Dann durchsuche ich mal die Klamotten meiner Verwandtschaft nach irgendeinem Umhang. Ich glaube, im Keller habe ich eine Kiste mit Faschingssachen gesehen. Einer der Jungs war sicher mal Batman oder irgend so was.«
Als Hannah die Kiste durchwühlte, überkam sie ein nervöses Kichern. Es gab tatsächlich einen Umhang. Ganz offensichtlich hatte ihn der Mann ihrer Cousine getragen.
Hannah verschluckte sich beinahe vor Lachen, als sie sich vorzustellen versuchte, wie er mit seinem dicken Bauch wohl in diesem Zorro-Kostüm ausgesehen haben musste. Aber für ihre Zwecke war er genau richtig. Sie würde ihre dunkle Kapuzenjacke darunter tragen und den Kopf unter der Kapuze verstecken. Als Hannah sich mit ihrer Beute wieder zu Hralfor begab, stand er bereits vor der Tür, die zur Garage führte. Er trug wieder den Umhang, den er bei ihrer ersten Begegnung umgehabt hatte und wirkte auf einmal fremd und bedrohlich.
Das war nicht mehr ihr vertrauter Freund, mit dem sie gemeinsam Spaghetti gekocht hatte. Es versetzte ihr einen leisen Stich. Er konnte es wohl gar nicht mehr erwarten, sie zu verlassen. Doch dann ärgerte sie sich über ihre eigenen Gedanken. Durch ihr Ablenkungsmanöver würde es sowieso schon später als geplant werden. Kein Wunder, dass er es hinter sich bringen wollte.
Schnell lief sie in ihre Wohnung, zog sich die Jacke und ihre Schuhe mit den dicksten Sohlen an, um wenigstens etwas größer zu wirken, steckte den Hausschlüssel und das Hrakan ein und lief zurück zu Hralfor in die Garage.
»Also, ich schleiche dann mal zuerst raus und du wartest so lange, bis du glaubst, dass es sicher ist. Ich gehe in die Richtung des näher gelegenen Waldstücks, das ist glaubwürdiger. Du musst dann eben den längeren Weg in Kauf nehmen. Erinnerst du dich noch an die Karte?« Sie sah ihn besorgt an. Es beunruhigte sie, dass er seine Pläne so kurzfristig ändern musste, weil sie die dumme Idee mit der Infrarotkamera gehabt hatte. Höchstwahrscheinlich half es sowieso nichts, weil Jacob über ganz andere Technologien verfügte.
Zärtlich schob Hralfor ihr die Haarsträhne unter die Kapuze – und da erkannte sie ihn wieder, ihren liebsten Freund. »Du weißt doch, ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant … Ich werde den Wald finden.« Sein Blick wurde intensiver. Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Brust. »Wie kann ich dir nur für alles danken?« Dann führte er ihre Handfläche an seine Lippen. Es war wie ein Hauch, den sie mit der Hand auffing. Schnell schloss er ihre Finger darum. »Ich lasse hier etwas von meinem Herzen bei dir, Hannah, es ist der beste Teil davon.«
Schnell nahm er sie noch einmal in den Arm, dann schob er sie aus der kleinen Tür ins Freie.
Wie in Trance glitt Hannah in den Garten. Es fiel ihr nicht schwer, wie ein Geist zwischen den Sträuchern zu verschwinden, denn genauso kam sie sich vor. Ein Geist, aus dem jeder Funken Leben gewichen war und der nichts als eisige Kälte in sich spürte.
Sie wusste nicht, wie lange sie zwischen Hecken und Büschen herumschlich. Irgendwann schlug sie einen weiten Bogen und kehrte genauso heimlich in das Haus zurück, wie sie es auch verlassen hatte. Sie streifte den Umhang ab und ließ ihn achtlos zu Boden fallen, während sie eilig durch das verlassene und dunkle Haus rannte, um auf den obersten Balkon zu gelangen. Von hier aus hatte man einen guten Blick in die Richtung, in der das von Hralfor angestrebte Waldstück lag.
Sie wusste nicht, ob sie irgendetwas von seinem Weltenwechsel mitbekommen konnte, aber er hatte gesagt, die Erschütterung wäre so heftig, dass die Nachbarn darauf aufmerksam werden könnten. Also stand sie einfach nur da und starrte zu dem Wald, bis ihr die Augen tränten. Und die ganze Zeit über hielt sie die Hand, in die Hralfor einen Teil seines Herzens gelegt hatte, fest geschlossen an ihre Brust gepresst.
Dann, ganz plötzlich sah sie eine kurze Lichtveränderung über dem Wald – wie ein dunkles Wetterleuchten – und sie glaubte, einen leichten Druck in ihren Ohren zu spüren, wie bei dem Start in einem Flugzeug.
Zunächst überkam Hannah große Erleichterung. Hralfor hatte es geschafft. Er befand sich nicht mehr in Gefahr, in dieser fremden Welt entdeckt zu werden. Er war wieder auf dem Weg nach Hause zu seiner Mutter, seinen Schwestern und seinen Freunden.
Doch dann wurde sie von einer Welle der Verzweiflung überrollt. Sie fühlte eine Leere und Verlassenheit in sich, wie sie es nie für möglich gehalten hatte. Vor Panik knickten ihre Beine unter ihr weg und Hannah kam unsanft auf dem Boden auf. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, während sie von unkontrollierten Schluchzern geschüttelt würde. Ihre bisher so fest verschlossene Hand presste sich auf ihren Mund, während sie gleichzeitig versuchte, Luft zu holen. Dann erstarrte sie. Ein hysterisches Kichern überkam sie.
Jetzt habe ich es verschluckt! Ich habe Hralfors Herz verschluckt!
Und ihre ganze Anspannung löste sich in einer Flut aus Tränen, die unaufhörlich aus ihr herausströmte, während sie zusammengekrümmt auf den Fliesen des Balkons lag und die eisige Kälte ihr Innerstes erstarren ließ.
Hannah konnte nicht sagen, wie lange sie so gelegen hatte. Doch als sie langsam aus dieser Starre erwachte, zog bereits die Morgendämmerung herauf und die ersten Vögel begrüßten den neuen Tag.
Kalt und steif wie eine alte Frau erhob sie sich und schleppte sich mühsam die Treppe in ihre Wohnung hinunter. Nachlässig streifte sie die Schuhe von ihren Füßen, zog die Jacke aus und taumelte dann mit letzter Kraft in ihr Bett.
Sie fühlte sich halb erfroren und wickelte sich in ihre Decken, doch nichts konnte die Eiseskälte vertreiben. Da erinnerte sie sich, dass im Nebenzimmer noch Hralfors Lager aufgebaut war. Schnell sprang Hannah hoch, rannte zu seinem Schlafplatz und raffte alle seine Decken zusammen, um sie auf ihrem eigenen Bett zu verteilen. Sie hüllte sich von Kopf bis Fuß darin ein, und da war er endlich wieder, Hralfors beruhigender, vertrauter Geruch.
Hannahs Herz klopfte zum Zerspringen, als sie ihre Nase tief in den Stoff steckte. Und schon kamen neue Tränen, doch sein Geruch schenkte ihr Trost, sodass sie endlich völlig erschöpft einschlafen konnte.