Читать книгу Sohn der Monde - OCIA - Patricia Rieger - Страница 8

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Die Sonne schien bereits hell in ihr Zimmer, als Hannah endlich erwachte. Genüsslich räkelte und streckte sie sich. Sie hatte tief und fest geschlafen, auch wenn sie irgendwann im Verlauf der Nacht diesen abscheulichen Albtraum gehabt hatte. Angewidert verzog Hannah das Gesicht.

Komisch, ich habe in der letzten Zeit doch weder einen Horrorfilm noch einen Science-Fiction angeschaut. Schon seltsam, was einem das Unterbewusstsein manchmal für Streiche spielt. Dabei hat sich der Schmerz im Arm richtig echt angefühlt.

Unwillkürlich fasste sie sich an den linken Arm und erstarrte.

Mist! Fassungslos betrachtete Hannah den seltsamen Verband, der ihren Unterarm bedeckte. Ihre Augen wanderten in hilflosem Entsetzen zu ihrer Zimmertür. Wenn der Verband echt ist, war der Rest auch kein Traum. Das bedeutet, im Nebenzimmer ist Hralfor!

Ihr Herz machte einen kleinen, erschrockenen Satz. Dann erinnerte sie sich an ihre gemeinsame, nächtliche Mahlzeit und Hannah sprang aufgeregt aus dem Bett. Ein Blick zur Uhr ließ sie erstarren. Es war schon nach zehn. Sie hatte über sechs Stunden geschlafen wie eine Tote.

Verdammt, ich hab ihm doch ein irisches Frühstück versprochen! Und Kilroy wird auch ganz schön sauer sein, dass ich ihn noch nicht hereingelassen habe.

Eilig lief sie zur Tür, holte noch einmal tief Luft und öffnete sie vorsichtig.

Er war noch da und stand wieder an seinem Lieblingsplatz am Fenster. Erleichtert atmete Hannah auf. Es waren also doch keine Hirngespinste gewesen, in ihrer Wohnung befand sich tatsächlich jemand aus einer fremden Welt.

Langsam drehte Hralfor sich zu Hannah um und konnte sich ein leises Grinsen nicht verkneifen. Sie wirkte so rührend verwirrt, wie sie dastand mit ihrem zerknitterten, bunten Hemd und dem völlig zerzausten Haar. Den strengen Zopf vom Vorabend konnte man nur noch erahnen und mehr als eine Haarsträhne kräuselte sich nun um ihr Gesicht. Doch die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden, wie er befriedigt bemerkte.

Er selbst hatte auf dem provisorischen Lager, das Hannah ihm so fürsorglich aufgeschlagen hatte, ebenfalls einige Stunden gut geruht.

Er deutete nach draußen. »Irgendein Tier streicht seit einiger Zeit um dieses Haus und möchte offensichtlich hereingelassen werden.«

Hannah stöhnte auf. »Kilroy! Der wird eine Stinklaune haben. Es ist zwei Stunden über seiner üblichen Frühstückszeit.«

Schnell rannte sie aus der Wohnung und riss die Eingangstür auf. Mit einem wütenden Grummeln schoss ein gewaltiger, orange-weißer Blitz ins Haus in Richtung Hannahs Wohnungstür und blieb dann wie erstarrt und mit gesträubtem Fell im Flur stehen. Hralfor war Hannah langsam gefolgt, um die Ursache ihrer Aufregung zu sehen und betrachtete völlig fasziniert das wütende Geschöpf, das fauchend vor ihm stand. Ganz langsam ging er in die Knie und gab dabei ein sanftes Knurren von sich.

Fassungslos beobachtete Hannah, wie Kilroys Fell sich lang-sam wieder glättete, während er vorsichtig auf den Fremden zuging. Als der Kater, der fremde Menschen normalerweise zutiefst verabscheute, auch noch zu schnurren begann und seinen Kopf an Hralfors Hand rieb, schüttelte sie ungläubig den Kopf. »Das gibt’s doch gar nicht. Das macht er sonst nie. Was hast du mit ihm angestellt? Zuerst dachte ich, er geht gleich auf dich los.«

Hralfor blickte zu ihr auf. »Mein Geruch hat ihn geängstigt. Ich habe ihm klargemacht, dass ich ihm nichts tun werde.«

»Aha.« Misstrauisch sah Hannah ihn an. »Du willst damit doch nicht etwa sagen, dass du mit Katzen sprechen kannst?«

Interessiert betrachtete Hralfor den Kater. Er schien nicht zu bemerken, wie seine Äußerung auf Hannah gewirkt hatte. »Also ist er tatsächlich eine Katze? Das ist seltsam. Die einzige Katze, die ich kenne, ist grau und viel kleiner. Allerdings hat sie einen ähnlichen Geruch wie dieser hier.«

Hannah seufzte auf, weil Hralfor ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Kilroy ist tatsächlich eine männliche Katze, obwohl ich das manchmal wirklich bezweifle. Er ist einfach viel zu fett. Aber du hast mir noch nicht geantwortet. Kannst du mit Tieren sprechen?«

Erstaunt sah er zu ihr hoch, während Kilroy sich euphorisch schnurrend von ihm den Kopf kraulen ließ. »Ich kann nicht richtig mit ihnen sprechen, sondern mich in Gedanken ein wenig mit ihnen verständigen. Aber das tust du doch auch.«

»Nein, wie kommst du denn darauf?« Hannah schüttelte den Kopf. »Ich kann vielleicht durch meine Beobachtungen manchmal erraten, was ein Tier will, aber das würde ich nicht als richtige Verständigung ansehen.«

Nachdenklich stand Hralfor auf, was von Kilroy mit einem unwilligen Maunzen quittiert wurde. »Nun, es ist zumindest eine Art der Verständigung. Ich bin vielleicht etwas geschulter darin als du, da ein guter Freund von mir mich ein wenig darin unterwiesen hat. Er hat tatsächlich die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen. Das ist in meiner Heimatwelt ein häufig auftretendes Talent.«

Hannah sah Hralfor grübelnd an. »Ich habe dir heute Nacht fast meine ganze Lebensgeschichte erzählt. Ich finde, jetzt bist du dran, mir etwas über dich und deine Welt zu verraten, meinst du nicht auch?«

Ein vorsichtiges Lächeln erschien in den schmalen Augen. »Ich werde versuchen, dir deine Fragen so gut wie möglich zu beantworten, solange niemandem daraus ein Schaden entsteht.«

Hannah nickte zustimmend. Fürs Erste würde sie sich damit zufriedengeben, auch wenn er offensichtlich irgendeinen geheimnisvollen Aspekt seines Lebens für sich behalten wollte. Vielleicht würde er ihr irgendwann einmal so vertrauen, dass er ganz offen zu ihr war.

»Also gut. Aber zuerst bekommst du das versprochene Frühstück, und Kilroy auch, sonst lässt er dich gar nicht mehr in Ruhe.« Hannah zögerte kurz, dann sah sie Hralfor neugierig an. »Was hast du vorhin damit gemeint, dass ihn dein Geruch geängstigt hat?«

»Es ist ein ähnlicher Geruch, wie er seinen natürlichen Feinden anhaftet«, erklärte Hralfor.

»Ich verstehe.« Nachdenklich schaute sie zu Boden. Dann richtete sie sich auf und blickte ihm geradewegs in die Augen. »Heute Nacht habe ich diesen Geruch an den drei Fremden auch wahrgenommen, aber bei dir ist es völlig anders. Woran liegt das?«

»Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist die Art der Ernährung.« Er blickte sie besorgt an. Wie würde sie seine weitere Erläuterung aufnehmen? Würde sie auch ihn danach nur noch mit Abscheu betrachten können? »Diese Vargéris waren Verbannte und ernährten sich ausschließlich von dem rohen Fleisch ihrer frisch gerissenen Beute …«

Hannah wurde bei seinen Worten kreidebleich. »War es das, was sie mit mir vorhatten?«

Unsicher fuhr Hralfor sich mit beiden Händen durch seine schwarze Haarmähne. »Nein, ich fürchte, dir hat ein schlimmeres Schicksal geblüht. Sie hätten dich in ihre Welt entführt und missbraucht, bevor sie dich schließlich irgendwann … getötet hätten.«

Hannah schloss entsetzt die Augen. Ihr war speiübel. Hralfor beobachtete besorgt, wie sie ins Schwanken geriet, doch nach diesen Eröffnungen wagte er zunächst nicht, sie zu be-rühren. Als er jedoch befürchten musste, dass sie bewusstlos wurde, fasste er sie vorsichtig an den Schultern.

Dankbar lehnte Hannah sich gegen seine Brust und spürte erleichtert, wie das Schwindelgefühl langsam abebbte, während seine Wärme sie umfing und das entsetzliche Kältegefühl beseitigte, das sie bei seinen Worten befallen hatte.

Verstohlen nahm sie einen Atemzug. Sein Geruch war tatsächlich anders als der dieser Bestien. Es war dennoch kein menschlicher Geruch. Er hatte etwas Wildes und Ursprüngliches an sich, das Hannah das Gefühl gab, in Sicherheit und gut behütet zu sein.

Als Hralfor spürte, wie Hannah sich in seinen Armen langsam entspannte, schloss er erleichtert die Augen. Seine Worte hatten nicht, wie befürchtet, neue Ängste in ihr geweckt. Er atmete ihren Duft ein und lauschte dem Schlag ihres Herzens, der sich allmählich wieder beruhigte.

Als Hannah schließlich den Kopf hob und ihn ansah, hatten ihre Augen die Farbe einer Gewitterwolke. »Ich glaube nicht, dass ich dir schon ausreichend für meine Rettung gedankt habe. Aber nachdem ich das alles jetzt weiß, glaube ich, dass kein Dank jemals groß genug sein könnte.«

Hralfor drückte sanft ihre Schultern, bevor er sie losließ und einen Schritt zurücktrat. Sein Lachen wirkte erleichtert und unbeschwert. »Das werde ich entscheiden, wenn ich endlich von diesem Frühstück gekostet habe, das du mir ständig ankündigst.«

»Einverstanden.« Hannah nickte. »Und dann erzählst du mir so viel wie möglich aus deinem Leben. Nach dem, was ich gerade eben erfahren habe, kann es wohl kaum noch schlimmer kommen.«

Eilig lief sie in die kleine Küche. Sie bemerkte nicht den gequälten Ausdruck, der bei ihren Worten auf Hralfors Gesicht erschienen war. Grübelnd sah er Hannah hinterher. Sie hatte ja keine Ahnung.

Einige Zeit später beobachtete Hannah erfreut, wie herz-haft Hralfor ihrem Frühstück zusprach. Sie hatte recht behalten und ganz offensichtlich seinen Geschmack getroffen. Allerdings schmeckte es ihr heute ebenfalls besonders gut, was wohl hauptsächlich mit ihrer interessanten Gesellschaft zusammenhing.

Sie ließ ihn zunächst einmal in Ruhe essen, ohne ihn gleich mit all den bohrenden Fragen zu bombardieren, die ihr auf der Zunge lagen. Schließlich war Hannah ja nicht umsonst in einem Haushalt mit vier Männern im unterschiedlichsten Alter aufgewachsen – da lernte man sehr schnell, dass ein hungriger Mann ein sehr schlechter Unterhalter war.

Als sie jedoch sah, dass sein größter Hunger gestillt war, konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Gespannt beugte sie sich vor und eröffnete die Fragerunde. »Erzähl mir etwas von deiner Familie!«

Das schien ihr zunächst die unverfänglichste Frage zu sein. Umso erstaunter war sie, als ein gehetzter Ausdruck in seinem Gesicht erschien. Besorgt sah Hannah ihn an. Sie wollte ihn um nichts in der Welt verletzen. »Oder, wenn dir das lieber ist, erzähl etwas von deiner Heimatwelt, aus der du stammst.«

Jetzt verzog sich sein Mund zu einem rätselhaften Lächeln. Amüsiert blickte er auf sie hinunter. »Du musst dich jetzt schon entscheiden, von welcher Welt ich dir erzählen soll.«

Hannah runzelte die Stirn. »Ich versteh dich nicht.«

»Nun«, grinste Hralfor, »möchtest du etwas aus meiner Heimatwelt hören, oder lieber etwas aus der Welt, aus der ich stamme?«

Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Ich dachte … ich meine, du hast doch gesagt, dass du aus Vargor kommst?«

»Das ist richtig.« Er nickte. »Heute Nacht bin ich aus Vargor in deine Welt gewechselt. Aber Vargor ist nicht das, was ich als meine Heimat bezeichne. Es ist die Welt, aus der mein Vater stammte, und in der ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe.«

Bei der Erwähnung seines Vaters zuckte Hannah unwillkürlich vor dem unversöhnlichen Hass zurück, der dabei aus seinem Blick und seiner Stimme sprach. Sie wusste zunächst nicht, wie sie sich auf seine Reaktion hin verhalten sollte, doch dann fasste sie sich ein Herz und legte sanft eine Hand auf seine geballte Faust. »Was war mit deinem Vater?«

Finster starrte er auf Hannahs Hand, die sich hell gegen seine dunkle Faust abhob. Hannah wartete geduldig, bis er seine Entscheidung getroffen hatte. Ihr Herz klopfte, als er schließlich seinen eindringlichen Blick auf ihr Gesicht heftete. Im hellen Tageslicht leuchteten seine Augen neongrün, und seine Stimme war so rau, dass sie mehr denn je einem wilden Knurren glich.

»Mein Vater war ebenfalls ein Verbannter, genau wie die drei Vargéris, die dich heute Nacht überfallen haben. Doch ihm ist damals geglückt, was gestern misslungen ist.« Seine Brust hob sich und sein verzweifelter Blick traf Hannah mitten ins Herz. »Er hat eine junge Frau aus deiner Welt nach Vargor verschleppt – meine Mutter.«

Hannahs Finger krampften sich um seine Faust. Doch sie ließ nicht los. Sie wusste nicht, wie sie ihm sonst Trost spenden konnte. Eine grauenhafte Vorahnung erfüllte sie und ihre Stimme war nur ein leises Flüstern. »Was ist mit ihr geschehen?«

Seine Augen verdunkelten sich, und Hannah benötigte keine weitere Antwort. Sie dachte entsetzt an seine vorigen Worte und schloss aufstöhnend die Augen. »Oh nein!«

Das gequälte Schweigen währte unerträglich lange, doch endlich entspannte sich Hralfors Faust in Hannahs Händen und er erwiderte sanft ihren Händedruck. Hannah betrachtete ihn mitfühlend, während er fortfuhr.

»Ich habe die ersten Jahre meines Lebens unter den Verbannten auf Vargor verbracht, auf dem sogenannten Kontinent der Verbannten. Dieser Kontinent wird von den Vargéris wie ein riesiges Gefängnis genutzt. Dorthin verbannen sie diejenigen, die sich besonders scheußlicher Verbrechen schuldig gemacht haben. Der Kontinent ist durch einen gewaltigen, sturmgepeitschten und nahezu unüberwindlichen Ozean vom Rest Vargors vollkommen abgeschnitten. Er ist karg, sehr kalt und bietet so gut wie keine Rohstoffe. Um überleben zu können, müssen die Verbannten in die primitivsten Verhaltensweisen zurückfallen. Sie leben dort völlig isoliert in kleinen Rudeln und unter Umständen, deren Schilderung ich dir lieber ersparen werde. Ich vermeide es so gut wie möglich, an diese Jahre zurückzudenken, doch sie sind der Grund, warum ich Vargor nie als meine Heimat ansehen werde.«

Hannah hatte bei seiner Erzählung entsetzt die Luft angehalten. Als sich die Anspannung auf seinem Gesicht langsam löste und einem beinahe sanften Ausdruck Platz machte, atmete sie erleichtert auf.

»Dann wurde ein sehr mächtiger Mann auf die Verbannten aufmerksam«, fuhr er leise fort. »Er brachte einige von ihnen – darunter meinen Vater – in eine andere Welt, wo sie in seinem Auftrag Verbrechen begehen sollten. Ich musste sie begleiten, was sich letztendlich als mein größtes Glück erwies.« Ganz in Gedanken hob Hralfor seine freie Hand und strich Hannah die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dort habe ich sie dann getroffen, die erste Menschenfrau, die ich je gesehen habe. Viviane hat mich sofort fasziniert, ich habe mich ständig gefragt, ob meine Mutter wohl so ähnlich gewesen ist. Viviane hatte nie Angst vor mir, sondern hat mich von Anfang an geliebt.« Er schüttelte den Kopf, als könne er dieses Wunder bis heute noch nicht ganz begreifen. »Sie war eine Gefangene, eine Geißel, die dabei helfen sollte, eine andere Welt ins Verderben zu stürzen. Sie war unglaublich tapfer.«

Sein Blick, der bei seiner Erzählung tief in der Vergangenheit geweilt hatte, kehrte langsam wieder in die Realität zurück und blieb auf Hannah haften, die ihm atemlos lauschte. »Du erinnerst mich sehr an sie. Ihr Menschenfrauen scheint alle besonders tapfer zu sein.«

Hannah schüttelte abwehrend den Kopf, aber sie wollte jetzt nicht mit ihm streiten. Sie brannte darauf, seine Ge-schichte zu Ende zu hören. »Was ist mit dieser Frau geschehen?« Ängstlich sah sie Hralfor an. Sie wollte nicht noch einmal von Tod und Verderben hören. Doch diesmal erschien wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Sie konnte befreit werden und die bedrohte Welt wurde auf magische Weise gerettet. Sie entschied sich, dortzubleiben und mich bei sich aufzunehmen und ist mir seither eine Mutter. Damals hat mein wirkliches Leben erst richtig begonnen. Ich habe in dieser Welt eine Familie und Freunde gefunden, deshalb ist sie meine wahre Heimatwelt.«

Hannah atmete bei seinen Worten befreit auf. »Und jetzt, in diesem Moment, sitzt deine Mutter vermutlich gerade in deiner Heimatwelt und macht sich furchtbare Sorgen um ihren Sohn.«

»Nein.« Hralfor schüttelte entschieden den Kopf. »Sie weiß noch nichts von meinem Verschwinden. Sie glaubt, ich befinde mich noch in Vargor.«

»Was hast du überhaupt in Vargor gemacht, wenn du doch eigentlich in einer ganz anderen Welt lebst?«

Hannah musste plötzlich auflachen, als sie sich ihre eigenen Worte noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Auf Hralfors fragenden Blick hin, versuchte sie ihre Reaktion zu erklären. »Es ist einfach zu komisch, wie selbstverständlich ich hier sitze und über fremde Welten spreche, als hätte ich das schon in der Grundschule gelernt. Verstehst du, bis gestern war die Erde für mich der einzige bewohnte Planet im ganzen Universum und heute sitzt du vor mir und erzählst mir, dass du locker zwischen drei Welten hin und her pendelst. Und das Erschreckendste dabei ist, dass ich das alles so problemlos glauben kann. Eigentlich müsste ich vollkommen an meinem Verstand zweifeln und sofort zu einem Psychiater rennen. Vielleicht bin ich ja wirklich total übergeschnappt, oder habe mich mit irgendeinem Virus infiziert, der das Gehirn angreift.«

Als sie diese Möglichkeit in Betracht zog, wurde Hannah vor Schreck ganz bleich und umklammerte Hralfors Hand noch fester. Der Gedanke, dass es ihn vielleicht gar nicht wirklich gab, erschien ihr plötzlich unerträglich.

Beruhigend strich er über ihren Arm. »Du bist bestimmt nicht verrückt. Ich bin tatsächlich hier. Und dass ich nicht aus deiner Welt stamme, kannst du mir doch deutlich ansehen. Also muss auch der Rest der Geschichte stimmen.«

Und um Hannah von ihren Befürchtungen abzulenken, beantwortete er schnell ihre vorige Frage. »Ich war bis gestern in Vargor, weil ich dort meine Bestimmung als Wachender ausgeübt habe. Das heißt, ich überwache die Weltengrenzen, um solche Überfälle wie heute Nacht zu verhindern. Es gab in der Vergangenheit unselige Entwicklungen, die bis in diese Zeit reichen. Sie sind die Ursache dafür, dass sich die Übergänge der vargérischen Verbannten in deine Welt so häufen. Das ist vor allem das Verschulden dieses Mannes, von dem ich dir erzählt habe. Er stammte ursprünglich aus meiner Heimatwelt. Aus diesem Grund schickt meine Heimatwelt regelmäßig im Wechsel einige ihrer Wachenden nach Vargor, um weiteres Unheil zu vermeiden. Es ist so eine Art Wiedergutmachung. Und in den vergangenen Dekaden war eben ich einer der Wachenden, die für diese Aufgabe eingeteilt waren. Dass ich zur Hälfte Vargéri bin, war reiner Zufall.«

Langsam begann Hannah, die verwirrenden Zusammenhänge annähernd zu verstehen.

»Dann bist du also so eine Art Austauschpolizist, der aufpasst, dass jeder in seiner eigenen Welt bleibt?«

Hralfor begann bei dieser Beschreibung seiner Bestimmung breit zu grinsen. Sie hörte sich faszinierend menschlich an. »So ungefähr könnte man es vielleicht erklären.«

Er wünschte sich, seine Mutter könnte bei diesem Gespräch dabei sein. Wenn er zurückkehrte, musste er es ihr Wort für Wort wiedergeben.

»Erzähl mir mehr über deine Familie und deine Freunde in deiner Heimatwelt«, bohrte Hannah weiter nach.

»Nun«, kam er ihrer Aufforderung nach. »Ich habe dort zwei Schwestern, Meriel und Brina, die etwas älter sind als ich. Sie sind Vivianes leibliche Töchter und stammen beide wie auch meine Pflegemutter ursprünglich aus der Alten Welt – so nennt man deine Welt bei uns.« Er hob leicht die Schultern. »Und da Meriel, meine ältere Schwester und ihr Partner Farandil einen Sohn haben, bin ich wohl auch das, was ihr hier einen Onkel nennt.«

Bei dieser Vorstellung prustete Hannah laut los. Als sie Hralfors empörten Blick bemerkte, musste sie noch mehr kichern. »Es tut mir leid, aber du siehst überhaupt nicht so aus, wie ich mir einen Onkel vorstelle. Ein Onkel muss rund und gemütlich und älter sein.«

Er beugte sein Gesicht sehr nah zu Hannah hinunter und setzte eine beleidigte Miene auf. »Ich kann sehr wohl gemütlich sein. Das wirst du schon noch merken, wenn ich hier den ganzen Tag nur herumsitze und dich die Arbeit machen lasse.«

Daraufhin begann sie noch stärker zu lachen und es benötigte einige Zeit, bis sie wieder sprechen konnte. »Ja, darauf bin ich schon sehr gespannt.« Dann wurde Hannah wieder ernst. »Ich fürchte, du wirst in der nächsten Zeit eine Menge Gemütlichkeit brauchen, wenn du hier so eingesperrt leben musst. Ich wette, du warst in deinem bisherigen Leben noch nie lange untätig.« Sie sah ihn besorgt an. »Wirst du das überhaupt aushalten?«

Er zuckte leicht mit den Achseln. »Das werden wir ja sehen. Außerdem muss ich irgendeinen Weg finden, wie ich wieder zurückkomme. Ich werde es heute Nacht noch einmal auf die herkömmliche Weise versuchen. Vermutlich hat es sich ja nur um eine vorübergehende Blockade gehandelt.«

Bei der Vorstellung, dass er morgen vielleicht nicht mehr da war, spürte Hannah einen eisigen Klumpen in ihrem Magen. Sie würde diesen fremdartigen Mann, der ihr anfangs noch so unheimlich gewesen war, schrecklich vermissen.

Und als ob er ihre aufkommende Traurigkeit spürte, strich Hralfor ihr noch einmal vorsichtig die widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Du hast heute Nacht erzählt, dass du Musik machst. Würdest du mir etwas vorspielen?«

»Ja, klar, wenn du dir das wirklich antun willst.« Sie lachte. »Lass mich davor nur etwas aufräumen und dann einkaufen gehen. Für den Fall, dass es heute mit deiner Rückkehr doch nicht klappt. Außerdem brauchen wir heute Abend auch noch etwas zu Essen.« Sie sah ihn prüfend an. »Ich glaube, es gibt Spaghetti mit einer Hackfleischsoße. Das schmeckt so gut wie jedem.«

In Windeseile machte Hannah sich an ihre häuslichen Arbeiten. Sie wollte keine Minute der kostbaren Zeit, die ihr noch mit Hralfor verblieb, verschwenden. Die Reste des gemeinsamen Frühstücks waren schnell weggeräumt und der Abwasch erledigte sich mit Hralfors Hilfe wie von alleine.

Hannah kam ins Grübeln, als sie sah, wie selbstverständlich er ihr bei den meisten Dingen zur Hand ging. Offensichtlich waren die grundlegenden Arbeiten in jeder Welt sehr ähnlich, sofern ihre Bewohner dieselben Bedürfnisse wie Essen, Schlafen und Gemeinschaft hatten. Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches und ließ ihr Hralfor noch weniger fremd erscheinen.

Überhaupt war Hralfor in ihren Gedanken ständig präsent. Beim Einkauf versuchte sie, sich unaufhörlich in ihn hineinzuversetzen, was er wohl mögen würde und was nicht, und auf dem Heimweg überlegte sie schon, welches Stück sie für ihn auf ihrer Geige spielen wollte. Es sollte etwas Fröhliches sein. Vielleicht eines ihrer Lieblingslieder aus der Heimat ihrer Mutter. Das kam ihr irgendwie passend vor. Schließlich hatte ihn auch das irische Frühstück begeistert.

Sie würde versuchen, ihm seinen erzwungenen Aufenthalt in dieser Welt so angenehm wie möglich zu gestalten. Er sollte alles in bester Erinnerung behalten, wenn er wieder in seiner Heimat war. Entschlossen schluckte sie den dicken Kloß, der ihr bei diesem Gedanken im Hals stecken bleiben wollte, hinunter.

Ich muss endlich aufhören, so egoistisch zu sein. Natürlich ist es für ihn am besten, wieder nach Hause zu kommen. Nur weil ich mich so unglaublich schnell an ihn gewöhnt habe, bedeutet das nicht, dass er hier nicht mehr in tödlicher Gefahr schwebt. Jeder Fremde, der ihn sieht, würde nach wie vor die Polizei rufen.

Sie begann, darüber nachzugrübeln, weshalb sie ihre Scheu vor ihm so schnell verloren hatte.

Er macht es einem einfach leicht, ihn zu mögen. Er wirkt trotz der Schwierigkeiten, in denen er steckt, so gelassen und gut gelaunt. Er ist nie beleidigt und unheimlich feinfühlig. Bestimmt, weil er in seiner Kindheit so schreckliche Dinge miterleben musste. Wenn man nur eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbringt, bemerkt man gar nicht mehr, dass er so anders aussieht. Obwohl, so ganz stimmt das auch nicht. Man bemerkt es schon, aber es stört überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil. Ich habe noch nie Augen gesehen, die mich so fasziniert haben – ich werde ihn echt vermissen. Aber jetzt ist er ja noch da. Wer weiß, wie lange es dauert, bis er einen Weg gefunden hat, zurückzukehren.

Als Hannah mit ihren Einkäufen endlich wieder daheim ankam, hatte sie ihre trübe Stimmung erfolgreich bekämpft und freute sich nur noch auf den freien Nachmittag und Abend, den sie gemeinsam mit einem guten Freund verbringen durfte.

Hralfor erwartete sie bereits und nahm ihr die schweren Taschen ab, sobald sie das Haus betrat. Sie konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. Was war er doch für ein einzigartiger Freund mit seinen glühenden Wolfsaugen und dem Benehmen eines edlen Ritters.

Sobald Hannah die Einkäufe weggepackt hatte, bemerkte sie seinen erwartungsvollen Blick. Verschmitzt lachte sie ihn an. »Wenn ich dir vorspielen soll, musst du es dir aber auch wirklich gemütlich machen. Doch ich warne dich, ich habe schon eine Weile nicht mehr richtig geübt und muss die Geige zuerst etwas einspielen. Das könnte für deine Ohren ziemlich grauenvoll werden. Am besten, du ziehst dir ein Kissen über den Kopf, während ich mich im Nebenzimmer warm fidle.«

Offensichtlich konnte ihn auch das nicht abschrecken, denn als Hannah mit der eingespielten Geige in den Wohnraum zurückkam, saß er bereits bequem auf dem schmalen Sofa und blickte ihr auffordernd entgegen.

Sie begann mit einem fröhlichen Jig und beobachtete dabei gespannt seine Reaktion. Diese Musik war nicht jedermanns Sache und Hannah hatte auch keine Vorstellung davon, wie empfindlich seine Ohren auf die hohen Töne der Fiedel reagierten. Doch als sie ein anerkennendes Aufblitzen in seinen Augen wahrnahm, entspannte sie sich und gab sich ganz der Musik hin.

Wie immer, wenn sie spielte, vergaß Hannah in kürzester Zeit ihre Umgebung und ging völlig in den Melodien auf. Sie hatte schon viel zu lange nicht mehr musiziert. Die munteren Klänge des Jigs verwandelten sich plötzlich in die langsamere, fast schon bedrohliche Melodie eines alten, irischen Seefahrer-liedes und gingen schließlich wieder in einen wilden Reel über.

Hannah spielte und spielte und vergaß völlig die Zeit, während Hralfor beinahe atemlos ihrem Spiel lauschte. Bereits die ersten Töne erinnerten ihn auf geradezu unheimliche Weise an die Musik seiner Heimatwelt. Die Melodien waren teilweise so ähnlich, dass er sie hätte mitsummen können.

Vor seinem inneren Auge erschienen die grünen Wiesen und Wälder seiner Heimat und er erlebte noch einmal alle Feiern mit, an denen er dort teilgenommen hatte. Dabei war eine sehr ähnliche Musik gespielt worden.

Fasziniert beobachtete er Hannah bei ihrem Spiel. Sie hatte die Augen geschlossen und schien förmlich mit ihrem Instrument zu verschmelzen. Hannah hatte ihre Haare heute Morgen mit einem Band zusammengebunden und wie üblich hatte sich wieder eine Haarsträhne daraus gelöst und fiel ihr ins Gesicht.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er völlig verzaubert der Musik lauschte, die tief in ihm etwas anrührte. Er ließ kein Auge von dem Mädchen und eine verzweifelte Sehnsucht erfüllte ihn, die sich nicht nur mit dem aufkommenden Heimweh erklären ließ.

Als Hannah ihr Spiel schließlich beendete, herrschte lange Zeit völlige Stille in dem kleinen Zimmer. Vor dem Fenster zog bereits die Dämmerung herauf und eine Amsel sang ihr melancholisches Abendlied. Langsam kehrte Hannah wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihre Augen wirkten riesig, als tobte darin ein heftiger Sturm.

Hralfor wagte nicht, sich zu bewegen. Er fühlte sich so aufgewühlt, dass er sich seiner eigenen Reaktionen nicht mehr sicher war. Als er schließlich glaubte, zumindest seine Stimme wieder in der Gewalt zu haben, räusperte er sich.

»Das war wunderschön, Hannah. Danke.«

Hannah lächelte ihn verlegen an. Sie war selbst noch völlig gefangen von der Musik, doch das erklärte nicht ihr heftig pochendes Herz. Es war der Ausdruck seiner Augen, der sie bis in ihr tiefstes Inneres getroffen hatte.

Vorsichtig legte sie die Geige zur Seite und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dabei fiel ihr Blick auf die Wanduhr. »Um Himmels willen! Hast du gemerkt, wie spät es schon ist? Ich habe dich ja ewig eingedudelt. Das tut mir leid. Du hättest mich einfach unterbrechen sollen. Wenn ich spiele, vergesse ich immer, dass ich nicht alleine bin. Jetzt werde ich mich aber schnell um das Essen kümmern.«

Als sie sich zu Hralfor umdrehte, sah sie, dass er inzwischen aufgestanden und lautlos hinter sie getreten war. Verwirrt blickte sie zu ihm hoch.

In einer seltsam altmodischen Bewegung nahm er sanft ihre Hand und legte sie an seine Brust. Seine Augen sahen sie eindringlich an und seine Stimme klang weicher, als Hannah es je zuvor gehört hatte.

»Ich habe jeden Augenblick deines Spiels aus tiefstem Herzen genossen und ich hätte dir gern auch noch länger gelauscht. Wusstest du, dass du mit deiner Musik Magie schaffst? Du malst damit Bilder und erzählst Geschichten. Das ist eine große Gabe. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich es mich gemacht hat, daran teilzuhaben.«

Hannah wurde bei seinen Worten knallrot. Sie schnappte nach Luft und schüttelte verwirrt den Kopf. Sie wusste, dass sie ganz gut spielte, aber ein so großes Kompliment war ihr noch nie gemacht worden. Und es machte sie ungemein glücklich, dass dieses Lob gerade von Hralfor kam. Ohne zu überlegen, legte sie ihm auch die andere Hand an die Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. »Danke. So etwas Nettes hat mir noch nie jemand gesagt. Dafür bekommst du jetzt auch eine Riesenportion Spaghetti. Die hast du dir wirklich verdient.«

Erleichtert sah sie, dass der feierliche Ernst in seinen Augen, der sie so unsicher gemacht hatte, verschwand und seinem jungenhaften Grinsen wich.

»Wie kann ich dir helfen, damit es schneller geht?«, fragte er amüsiert. »Ich komme um vor Hunger.«

Hinterlistig lächelte sie ihn an. »Du kannst Zwiebeln schneiden.«

Das Kochen machte Hannah heute besonders viel Spaß. Erstaunt bemerkte sie, dass Hralfors Augen offensichtlich keine Tränen produzierten. Ungerührt schnitt er die Zwiebeln nach ihren Anweisungen und verzog dabei nur angewidert das Gesicht. Hannah beeilte sich lachend, ihm zu versichern, dass ihm dieses Gemüse in gekochtem Zustand sicher schmecken würde. Und als die Hackfleischsoße auf dem Herd leise zu kochen begann, entspannte sich seine Miene tatsächlich wieder.

Während Hannah die Spaghetti in eine Schüssel füllte, stellte Hralfor das Geschirr auf die Theke. Hannah sah ihm erstaunt dabei zu, wie zielstrebig und sicher er sich in der kleinen Küche bewegte. Er musste ein äußerst gutes Gedächtnis haben. All seine Bewegungen waren unglaublich fließend und zeugten von einer vollendeten Körperbeherrschung. Selbst eine so simple Tätigkeit wie Tisch decken wirkte bei ihm wie ein fremdartiges Tanzritual. Hannah hätte ihm stundenlang zusehen können und kam sich neben ihm ungeschickt vor wie ein Trampel.

Als das Essen schließlich fertig war, setzten sie sich an die kleine Theke und Hannah lud großzügig Spaghetti auf Hralfors Teller. Diesmal war sie sich vollkommen sicher, dass sie seinen Geschmack getroffen hatte. Und sie behielt recht. Mit Vergnügen beobachtete sie, wie er vorsichtig von dem Essen probierte und sich ein genießerischer Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete.

»Das ist noch besser als dein Frühstück. Hannah, du bist wirklich eine Künstlerin.«

Hannah verschluckte sich fast vor Lachen. »Ich wusste, dass du es magst. Das ist ein Gericht, das man auch noch den verwöhntesten Kindern vorsetzen kann. Es passt immer.«

Hralfor grinste sie an. »Ich bin für dich also so etwas wie ein verwöhntes Kind.«

Hannah kicherte los. Es tat so gut, mit jemandem zusammen zu sein, der denselben Sinn für Humor hatte, selbst wenn er aus einer ganz fremden Welt stammte. Sie konnte mittlerweile nicht mehr verstehen, dass sie noch vor wenigen Stunden ständig Angst gehabt hatte, ihn durch eine unbedachte Bemerkung zu beleidigen. Es war wirklich verblüffend, wie schnell er ihr vertraut geworden war. Es kam ihr so vor, als kannte sie Hralfor schon ihr ganzes Leben lang.

Als er vor ihr saß und Berge von Spaghetti verschlang, erinnerte er sie an ihre beiden älteren Brüder, die einen ähnlich großen Appetit entwickeln konnten. Das brachte Hannah auf eine Frage, die sie schon lange stellen wollte. »Wie alt bist du eigentlich?«

Hralfor sah kurz von seinem Teller auf, den er sich eben zum dritten Mal gefüllt hatte, und runzelte die Stirn. »Ich kann es dir nicht genau sagen. Auf Vargor achtet man nicht auf das Alter. Ich habe wohl ungefähr eine Centone bei den Verbannten gelebt.«

Als er ihren fragenden Blick bemerkte, grinste er Hannah entschuldigend an. »Eine Centone bedeutet zehn eurer Jahre. In Aelskalador habe ich dann ebenfalls etwas über eine Centone gelebt.«

Hannah sah ihn verwirrt an, als er plötzlich scharf die Luft einsog und bleich unter seiner dunklen Haut wurde. Dann wurde ihr bewusst, dass er gerade den Namen seiner Heimatwelt preisgegeben hatte, den er bisher so hartnäckig verschwiegen hatte. Beruhigend berührte sie ihn am Arm. »Was ist so schlimm daran, dass ich diesen Namen jetzt kenne? Ich werde ihn nicht weitersagen. Du kannst mir vertrauen.«

Hralfors angespannte Miene wurde sanft, als er ihren ernsten Blick sah. »Ich vertraue dir, Hannah. Viel zu sehr, deshalb gebe ich kaum noch auf meine Worte Acht. Ich vertraue dir gerade in diesem Augenblick mein Leben an, das weißt du. Aber ich habe nicht das Recht, dasselbe mit dem Leben anderer zu tun.«

Eindringlich sah er ihr in die Augen, bis sie sich in dem grünlichen Leuchten beinahe verlor. Seine raue Stimme zog sie wieder in die Wirklichkeit. »Namen haben Macht, große Macht. Besonders in der Welt, die meine Heimat ist. Ich bitte dich inständig, daran zu denken und diesen Namen für dich zu behalten. Meine Welt ist schon einmal nur knapp ihrem Untergang entronnen.«

Hannah biss sich auf die Lippe und nickte. Sie war bei seinen Worten ganz blass geworden. Sie wusste, dass sie deren ganze Bedeutung nicht verstehen konnte, da sie so gut wie nichts über diese geheimnisvolle Welt wusste. Aber sie spürte den tödlichen Ernst hinter seinen Worten. Dadurch, dass ihr nun der Name dieser Welt bekannt war, hatte sie eine große Verantwortung übernommen, deren Ausmaß ihr nicht einmal bekannt war. Hannah wünschte in diesem Moment, dass sie den Namen nie gehört hätte.

Als Hralfor ihre angespannte Miene sah, strich er ihr beruhigend über die Wange. »Schau nicht so erschrocken. Es ist ja nichts geschehen. Vermutlich wirst du alles vergessen, wenn ich erst einmal verschwunden bin. Du wirst nie in die Situation geraten, den Namen auszusprechen. Außerdem habe ich wirklich vollstes Vertrauen in dich.« Freundschaftlich tippte er Hannah auf die Nasenspitze. »So klein du auch bist, verfügst du doch über unglaublich viel Mut und Stärke. Und außerdem«, Hralfor blickte schmunzelnd auf seinen halb vollen Teller, »bist du auch noch eine hervorragende Köchin.«

Hannah lachte erleichtert auf und ging freudig auf seinen neckenden Tonfall ein.

Sie beendeten die Mahlzeit in kameradschaftlicher Stimmung. Hannah begann gerade, die Teller zusammenzustellen, als die angenehme Ruhe von dem schrillen Klingelton der Hausglocke durchbrochen wurde.

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