Читать книгу Sohn der Monde - OCIA - Patricia Rieger - Страница 13

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Er hatte tatsächlich vergessen, wie kalt und dunkel es hier war. Ein eisiger Wind fegte über die unwirtliche Kältewüste, die unter einer dicken Schneedecke lag. Es würde noch einige Monate dauern, bevor sich der lange, extrem kalte Winter ganz langsam dem Ende zuneigte. Wenn dann der kurze, kühle Sommer begann, würde es für knapp zwei Monate ein wenig heller werden, doch die lebensfeindlichen Umweltbedingungen würden sich kaum ändern. Beinahe der gesamte Kontinent der Verbannten war durch Permafrost gekennzeichnet und bot nichts als zerklüftete Gebirgszüge, Vulkane, Tundren und sturmgepeitschte Küstenregionen.

Hralfor zog schaudernd die Schultern hoch. Er hatte gehofft, nie wieder einen Fuß auf dieses verhasste Land setzen zu müssen. Dennoch war er nun hier, aus freien Stücken, und die mühsam verdrängten Erinnerungen an die qualvollste Zeit seines Lebens überrollten ihn mit unerwarteter Heftigkeit.

Doch er bereute seinen Entschluss nicht eine Sekunde lang. Er hatte ihn im selben Augenblick gefasst, in dem er den entsetzten Ausdruck in Hannahs Augen gesehen hatte – in jener Nacht, in der sie beinahe in diese Welt entführt worden war.

Schon da hatte er sich geschworen, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, damit nie wieder eine Frau einer so grauenhaften Gefahr ausgesetzt war. Er würde die Quelle ausfindig machen, mit deren Hilfe die Verbannten ihre Welt verlassen konnten, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Er würde sie finden und mit aller Macht versuchen, sie endgültig zu zerstören. Und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben vollbrachte.

Aus diesem Grund war er gleich nach seiner Ankunft auf Vargor zu den obersten Vertreterinnen der Vargéris, den Weiserinnen, gegangen und hatte sie von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er benötigte ihre Erlaubnis, um den Kontinent der Verbannten zu betreten, da ein Verstoß gegen das absolute Isolationsgebot dieses Kontinents mit der Todesstrafe geahndet wurde.

Sein Anliegen hatte zu einigem Aufruhr geführt, doch schließlich war ihm die Genehmigung erteilt worden. Die Übergriffe der Verbannten auf andere Welten hatten sich in den letzten Jahren so gehäuft, dass es durchaus im Interesse der Weiserinnen lag, diesem Treiben ein Ende zu setzen.

Zum Glück besaß er noch den Übergangsstein seines Vaters, sodass er keinen der Verbanntentransporte abwarten musste, um auf den Kontinent zu gelangen.

Da die Verbannung nur bei schwersten Verbrechen ausgesprochen wurde, dauerte es manchmal Jahre, bis wieder ein Verbanntentransport zusammengestellt wurde. Er war jedes Mal mit hohen Risiken verbunden, da der Ozean, der den Kontinent umgab, von heftigen Stürmen gepeitscht wurde und nur mit einem ganz besonders ausgestatteten Schiff in den Sommermonaten befahren werden konnte.

Doch der Übergangsstein ermöglichte es Hralfor, wie bei einem Weltenwechsel direkt auf den Kontinent zu gelangen. Und so war er nun hierher gewechselt und versuchte, sich nach den langen Jahren seiner Abwesenheit neu zu orientieren.

Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo sich der Ort befinden musste, an dem die Übergänge stattfanden. Schließlich hatte man ihn als Kind einmal dorthin gebracht, um in eine andere Welt zu wechseln – und laut Hannah hatte er ja ein Gedächtnis wie ein Elefant.

Bei diesem Gedanken trat ein zärtlicher Ausdruck in seine gegen den Wind fest zusammengekniffenen Augen. Was Hannah in diesem Moment wohl gerade tat?

Seit er sie verlassen hatte, fühlte er sich unvollständig und verloren. Sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich. Ihre ausdruckstarken, grauen Augen, die winzigen Punkte auf ihrer Nase und ihr spontanes Lächeln, das sein Herz automatisch heftiger schlagen ließ.

Nur wegen ihr war er hier. Wenn er sie schon nicht aus der Nähe beschützen konnte, wollte er zumindest sichergehen, dass sie nie wieder in eine so schreckliche Gefahr geriet wie in jener Nacht, in der er ihr das erste Mal begegnet war.

Entschlossen zog Hralfor den Umhang fester um sich und fiel in den kräftesparenden Vargéri-Trab, mit dem er ohne Pause tagelang gewaltige Strecken zurücklegen konnte.

Er hatte ausreichend Vorräte bei sich, sodass er sich nicht mit der Jagd aufhalten musste, und würde in diesem Tempo in ungefähr fünf Tagen sein Ziel erreichen. Vorausgesetzt natürlich, dass der eisige Wind sich nicht noch zu einem der gefährlichen Winterstürme auswuchs.

Das Ärgerlichste an dem Wind war, dass er seine Geruchswahrnehmung behinderte. Er war dadurch nicht in der Lage, genauer zu bestimmen, in welcher Entfernung sich andere Lebewesen aufhielten. Und das permanente Brausen machte es schwer, feinere Geräusche zu erkennen.

Er wusste, dass es ihn einige Zeit kosten würde, bis er sich wieder an diese Bedingungen gewöhnt hatte. Bis dahin waren seine Feinde ihm gegenüber entschieden im Vorteil.

Hralfor hatte keine Ahnung, wie viele Verbannte in den Revieren lebten, die er zwangsweise durchqueren musste. Er konnte nur darauf hoffen, dass er keinem Rudel in die Fänge lief, bis er sich wieder vollständig an die Gegebenheiten angepasst hatte.

In den ersten beiden Tagen hielt sein Glück an.

Er lief durch eine völlig ausgestorbene Schneelandschaft. Die wenigen Sträucher und Bäume, die hier mühsam um ihr Überleben kämpften, zeichneten sich durch eine niedrige Wuchsform aus und formten unter der isolierenden Schnee-decke bizarre Schatten in der allgegenwärtigen Dunkelheit.

Hralfors vargérische Augen konnten keinerlei Anzeichen von tierischem Leben entdecken, was wohl auch der Grund dafür war, dass dieses Revier so verlassen war. Wo es keine Nahrung gab, konnten sich auch die Verbannten nicht halten.

Am dritten Tag ging die Tundra ähnliche Landschaft allmählich in einen zerklüfteten Gebirgszug über.

Und da spürte Hralfor, dass er verfolgt wurde.

Er schärfte seine Sinne, während er unermüdlich über den felsigen Untergrund lief. Dabei nahm er den Geruch von mindestens drei Verbannten auf, die ihn verfolgten und dabei versuchten, ihn allmählich seitlich in die Zange zu nehmen. Diese Jagdweise war ihm nur zu vertraut.

Konzentriert suchte er die Landschaft vor sich nach einem geeigneten Ort ab. Er wusste, dass er sich seinen Gegnern früher oder später stellen musste, da war es besser, er bestimmte die Bedingungen des Kampfes. Nach einigen Minuten hatte er die passende Kampfarena gefunden.

Es handelte sich um einen kleinen Felskessel, der in einen schmaleren Pfad mündete. Wenn er diesen Kesselausgang erreichte, konnte er die Stellung einige Zeit halten, während die Felswand ihm eine gewisse Rückendeckung bot.

Er mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und flog förmlich auf den Kessel zu.

Seine Verfolger schienen seine Absicht zu erraten und beschleunigten ihren Lauf ebenfalls. Hralfor konnte bereits einen von ihnen aus dem Augenwinkel erkennen. Er befand sich beinahe auf gleicher Höhe mit ihm.

Dann hatte Hralfor die Rückwand des Kessels erreicht und warf sich herum, um sich seinen Gegnern zu stellen. Ihm blieb gerade noch die Zeit, sein Schwert zu ziehen, als der Erste bereits zum Sprung ansetzte und auf ihn zuflog.

Offensichtlich hatte sein Angreifer nicht mit der Länge von Hralfors Waffe gerechnet – eine Unachtsamkeit, die er mit seinem Leben bezahlte.

Die beiden anderen gaben ein wütendes Knurren von sich, näherten sich ihrer Beute jedoch etwas vorsichtiger.

Und dann begann ein Kampf, der Hralfor wieder in die ersten Jahre seines Lebens zurückversetzte.

Sein Vater hatte ihn damals regelmäßig zu Kämpfen mit anderen, bereits ausgewachsenen Verbannten gezwungen, um ihn zu einem besonders guten Krieger auszubilden. Er hatte dabei keine Gnade gekannt, ebenso wenig wie seine Gegner. Seither trug Hralfors Körper die Narben dieser Auseinandersetzungen.

Er hatte diese Kämpfe damals gehasst und er hasste sie auch heute noch, doch das änderte nichts daran, dass er dadurch zu einem herausragenden Vargéri-Krieger geworden war. Die zusätzliche Kampfausbildung, die er später noch in seiner Heimatwelt erhalten hatte und bei der er gelernt hatte, verschiedene Kampfweisen aufs Wirkungsvollste miteinander zu verflechten, machten ihn mittlerweile zu einem nahezu unüberwindbaren Gegner für zwei halb verhungerte, unausgebildete Verbannte.

Dennoch unterlief ihm ein beinahe tödlicher Fehler. Er zog nicht in Betracht, dass es sich bei seinen Angreifern um mehr als drei Rudelmitglieder handeln konnte und konzentrierte sich ausschließlich auf sie. Dabei entging ihm, dass ein vierter Angreifer einen längeren Weg über die Felswand des Kessels in Kauf genommen hatte, um sich ihm von hinten zu nähern. Und genau in dem Moment, in dem Hralfor den letzten der drei Verbannten erschlug, löste sich ein vierter Schatten von der Felswand in seinem Rücken und sprang ihn an.

Nur Hralfors blitzschneller Reaktion war es zu verdanken, dass das mörderische Gebiss sich nicht in sein Genick versenkte, sondern lediglich die Schulter traf.

Mit einem wütenden Knurren schleuderte Hralfor seinen Gegner von sich, wobei dessen Reißzähne eine klaffende Wunde hinterließen. Dann war Hralfor über ihm und versenkte sein Schwert tief in der Brust des Angreifers.

Mit letzter Kraft taumelte er zur Felswand und suchte dort Halt, während er mit allen Sinnen die Gegend nach weiteren Gegnern absuchte. Doch offensichtlich hatte es sich wirklich nur um ein Rudel aus vier Mitgliedern gehandelt, sodass Hralfor sich eine kurze Pause gönnen konnte, um seine Verletzung zu versorgen. Er blutete heftig und befürchtete, dass der Blutgeruch weitere Feinde herbeilocken könnte.

Schnell schälte er sich aus seiner Oberbekleidung und häufte Schnee auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann verteilte er notdürftig eine Heilpaste darauf und verband sie, so gut es ihm einhändig möglich war, mit demselben Verband, den er Hannah so oft angelegt hatte.

Bei der Erinnerung daran schloss Hralfor die Augen, um das Mädchen wieder vor sich zu sehen. Der Verband an seiner Schulter trug noch einen Hauch von Hannahs ganz eigenem Geruch in sich. Hralfor stöhnte auf und vergrub seine Nase darin. Er konnte sie so deutlich vor sich sehen, dass er schon die Hand ausstrecken wollte, um sie zu berühren.

Er nahm ihren Duft wahr und erinnerte sich genau, wie sich ihre Haut unter seinen Fingern angefühlt hatte, kühl wie ein Sommerregen und so zart, dass er Angst davor gehabt hatte, sie zu fest zu berühren.

Eine Flut von Bildern drängte sich nun aus seiner Erinnerung hervor. Er sah Hannah beim Kochen, beim Lachen und immer wieder beim Musizieren. Die Melodien, die sie ihm zum Abschied vorgespielt hatte, waren für immer in ihm verankert und erfüllten sein Herz seither mit unermesslicher Trauer. Und dennoch gaben sie ihm jetzt und hier, in dieser lebensfeindlichen Umgebung, die Wärme und den Trost, die er benötigte, um zu überleben. Sie ermahnten ihn, nicht einfach im Schnee sitzen zu bleiben. Sie brachten ihn dazu, die Kleidung wieder überzustreifen, sich zu erheben und erneut seinen Lauf aufzunehmen. Allmählich kam sein Kreislauf dabei wieder in Gang und er erkannte, wie nahe er daran gewesen war, einfach in der eisigen Kälte sitzen zu bleiben und zu erfrieren.

Im Verlauf des folgenden Tages spürte Hralfor, dass er sich langsam dem Ende seiner Reise näherte. Er erkannte es an dem salzigen Geschmack der Luft und dem verstärkten Brausen der Sturmböen, die ihn immer häufiger erfassten. Die zerklüftete Küstenregion, die das Ziel seines Laufes war, befand sich in unmittelbarer Nähe.

Wenn seine Vermutung, dass die vargérischen Übergänge von hier aus erfolgten, zutraf, musste er von nun an besondere Vorsicht walten lassen. Es war zu befürchten, dass die Verbannten diese Region scharf bewachten.

Hralfor beendete seinen unermüdlichen Lauf und bewegte sich nun nahezu lautlos im Schatten der Felsen über die schneebedeckten Geröllfelder. Er hatte nicht übertrieben, als er Hannah erklärt hatte, dass ein Vargéri sich darauf verstand, unerkannt durch jedes Gelände zu schleichen. Vor allem hier auf dem Kontinent der Verbannten gehörte das zu den Fähigkeiten, ohne die man innerhalb kürzester Zeit sein Leben verlor.

Also schlich Hralfor behutsam von Schatten zu Schatten und sandte all seine Sinne in die Umgebung. Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Besorgt runzelte er die Stirn.

Er konnte nicht die kleinste, vargérische Geruchsspur aufnehmen. Diese Gegend war schon seit einiger Zeit von keinem Verbannten mehr aufgesucht worden. Stattdessen bemerkte er einen ganz anderen, längst vergessenen Geruch, der ihn erneut in einer Kindheitserinnerung versinken ließ.

Es war kurz vor ihrem Aufbruch in die fremde Welt gewesen. Sein Vater hatte beschlossen, dass es nun an der Zeit war, aus seinem Sohn einen richtigen Krieger zu machen. Er hatte befürchtet, dass die menschliche Hälfte in Hralfor den Jungen zu einem Schwächling werden ließ. Und bevor er das akzeptiert hätte, hätte er seinen Sohn lieber tot gesehen.

Also hatte er Hralfor auf einen längeren Jagdausflug mitgenommen. Dabei waren sie an einem völlig verlassenen Bergzug angekommen. Und hier hatte Hralfor denselben Geruch aufgefangen, den er auch in diesem Moment wahrnahm. Ein Geruch, der jedem Lebewesen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Der Geruch eines ausgewachsenen Bersaris.

Bersaris waren riesige, extrem aggressive Geschöpfe, die ausschließlich den durch Permafrost gekennzeichneten Landschaftsgürtel bewohnten. Ihr dichtes, weißes Fell bot ihnen ausreichend Schutz vor der eisigen Kälte und tarnte sie gleichzeitig aufs Wirkungsvollste. Trotz ihrer gewaltigen Körpermasse waren sie ausgesprochen schnelle Jäger, die keine natürlichen Feinde zu fürchten hatten. Und solch einen Gegner hatte sein Vater für ihn ausgesucht, um sich als Krieger zu beweisen.

Als hätte ein einzelner Bersari nicht bereits ausgereicht, einem knapp zehnjährigen Jungen den Tod zu bringen, hatte es sich hier zusätzlich um ein weibliches Tier gehandelt, das ein Jungtier an seiner Seite mit sich führte.

Als Hralfors Vater die blanke Panik in den Augen seines Sohnes gesehen hatte, hatte er verächtlich die Zähne gebleckt und ihn angeknurrt.

»Nimm dein Hrakan und verhalte dich wie ein Krieger, oder stirb! Wenn du sie erlegst, gehört das Jungtier dir.«

Damit war Rangafir geschmeidig zwischen den Schatten der Felsen verschwunden und hatte seinen Sohn dem Schicksal überlassen.

Hralfor schloss schmerzerfüllt die Augen, als er sich an den folgenden Kampf mit dem Bersari erinnerte. Es war ein grauenhaftes Gemetzel gewesen, bei dem ihn einzig und allein seine enorme Wendigkeit gerettet hatte. Dennoch war er dabei beinahe zerfetzt worden und mehr tot als lebendig aus dem Kampf herausgekommen.

Als er sein Hrakan schließlich tief in das Herz der rasenden Bersari gestoßen hatte, war er bewusstlos auf dem erlegten Tier zusammengebrochen. Sein Vater hatte ihn danach notdürftig zusammengeflickt, das Bersari-Junge gemeinsam mit dem besten Fleisch seiner Mutter in einen Beutel gesteckt und seinen halb toten Sohn zurück ins Lager geschleppt.

Ganz langsam hatte Hralfor sich von seinen Verletzungen erholt. Der menschliche Teil in ihm hatte die Heilung verzögert, die bei einem echten Vargéri sehr viel schneller erfolgt wäre.

Wie versprochen hatte Rangafir ihm dann das Junge überlassen und Hralfor hatte versucht, sich mit dem Tier anzufreunden. Schließlich war es ihm gelungen, es zu zähmen – und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er erfahren, was es hieß, ein anderes Lebewesen zu lieben.

Sein Vater, der die Gefühle seines Sohnes voller Verachtung beobachtet hatte, hatte das Jungtier daraufhin ohne Vorwarnung direkt vor Hralfors Augen getötet.

In diesem Augenblick war etwas mit dem Jungen geschehen. Etwas Wildes, Hasserfülltes hatte von Hralfor Besitz ergriffen und er war mit gezogenem Hrakan auf seinen Vater losgegangen, von dem einzigen Wunsch beseelt, diese sadistische Bestie zu töten.

Er hatte seither nie wieder einen Kampf ausgefochten, der so tödlich und so voller Hass gewesen war wie dieses Aufeinandertreffen mit seinem Vater.

Natürlich hatte er nicht gegen ihn bestehen können. Rangafir hatte schon immer zu den besten Kriegern der Verbannten gezählt. Er hatte Hralfor seiner Waffe entledigt und den Jungen fast totgeschlagen. Doch von diesem Tag an hatte er seinen Sohn mit neuer Achtung behandelt.

In seinen Augen war Hralfor nun ein vollwertiger Krieger gewesen. Dass sein Sohn ihn seither nur noch mit brennendem Hass betrachtet hatte, hatte ihn dabei nicht weiter gestört.

Und jetzt, über eine Centone später, stand Hralfor wieder hier in dieser verhassten Welt und nahm den Geruch eines Bersaris auf. Nun war ihm klar, weshalb er keinerlei Spuren der Verbannten gefunden hatte. Man tat gut daran, sich von dem Revier eines Bersaris fernzuhalten.

Noch vorsichtiger als zuvor setzte er seinen Weg fort. Allerdings hatte er keine Hoffnung, der Begegnung mit dem Bersari zu entgehen. Diese Tiere verfügten über einen noch höherentwickelten Geruchssinn als die Vargéris. Der blutgetränkte Verband an seiner Schulter würde dem Tier untrüglich den Weg zu ihm weisen.

Er sollte mit seiner Befürchtung recht behalten. Nur wenige Augenblicke später zeigte ihm eine Bewegung in seinem Rücken, dass der Bersari seine Spur bereits aufgenommen hatte.

Langsam drehte Hralfor sich um und verharrte regungslos. Jetzt hing alles davon ab, wie hungrig das Tier war. Ohne den Blutgeruch hätte er eine reelle Chance gehabt, einem Kampf auszuweichen, doch so stellte er einfach eine zu große Verlockung dar, dessen war er sich bewusst. Dennoch würde er versuchen, einen Kampf zu vermeiden. Ähnliche Situationen hatte er bereits in seiner Heimatwelt an der Seite seines besten Freundes und Lehrers gemeistert.

Sehr behutsam streckte Hralfor seine Gedanken in Richtung des näher kommenden Bersaris aus. So wie er es gelernt hatte, drang er vorsichtig in den Geist des Tieres ein. Das Wichtigste war nun, das Tier nicht zu verunsichern oder zu reizen. Sanft erforschte er das Empfinden der fremden Kreatur.

Es handelte sich um ein männliches Tier, das war gut. Es hatte somit kein Junges zu verteidigen. Und offensichtlich hatte es auch erst vor Kurzem eine Beute gerissen. Das war noch besser. Es war also nicht der Hunger, der es zu Hralfor trieb. Wie er vermutet hatte, war es der Blutgeruch, der den Bersari auf ihn aufmerksam gemacht hatte.

Das Tier näherte sich ihm bis auf wenige Meter und richtete sich hoch vor ihm auf. Es schien unschlüssig, was es von diesem seltsamen Wesen halten sollte, das völlig reglos vor ihm stand. Da von Hralfor keine Gefahr ausging, griff der Bersari auch nicht sofort an.

Hralfor schickte beruhigende Wellen in den Geist des Tieres. Kurz stutzte er, als er für einen kleinen Augenblick Hannahs blasses Gesicht vor sich zu sehen glaubte. Und sofort hörte er wieder die sanften, beruhigenden Melodien, die sie für ihn gespielt hatte. Sie verbanden sich mit seinen eigenen Gedanken und flossen weich in den Geist des Bersaris.

Das Tier begann daraufhin, verwirrt zu grollen. Es schwankte unschlüssig auf seinen Hinterbeinen und fiel schließlich wieder zurück auf alle acht Beine. Dann schnüffelte es noch einmal in Hralfors Richtung und drehte endlich zögernd um. Ganz langsam verschwand es wieder in der Dunkelheit, wo sein weißes Fell mit der endlosen Schneedecke verschmolz und nicht mehr auszumachen war.

Erst jetzt wagte Hralfor einen tiefen Atemzug. Er sandte seinen inbrünstigen Dank an seinen Freund, der ihn die geistige Verständigung mit anderen Lebewesen gelehrt, und an Hannah, deren Musik ihm die nötige Ruhe geschenkt hatte. Dann machte er sich wieder auf den Weg zur Quelle allen Unheils.

Nachdem Hralfor das Revier des Bersaris hinter sich gelassen hatte, fand er auch wieder Spuren von Verbannten.

Beunruhigt runzelte er die Stirn. Normalerweise lebten die Verbannten in kleineren Rudeln von maximal sechs Mitgliedern, da die lebensfeindlichen Umweltbedingungen es nahezu unmöglich machten, genug Nahrung für eine größere Anzahl Vargéris zu beschaffen. Sie streiften in diesen Verbänden auf der Suche nach Beute durch ein riesiges Revier und fochten erbitterte Kämpfe mit anderen Rudeln aus, die ihr Revier betraten. Diese Kämpfe endeten für eines der Rudel immer tödlich. Die Verbände hielten sich aus diesem Grund meistens streng an die Reviergrenzen.

Eine Ausnahme stellte dabei allerdings die Suche nach einer Gefährtin dar. Da es nur sehr wenige weibliche Verbannte gab, entbrannte um sie regelmäßig ein erbitterter Kampf zwischen den einzelnen Rudelführern. Ein Rudel, das eine Vargéri-Frau bei sich hatte, musste folglich jederzeit mit dem Angriff eines fremden Verbandes rechnen.

Umso merkwürdiger war es also, dass Hralfor nun in einem relativ kleinen Revier die Spuren von mindestens zwanzig verschiedenen Verbannten erkennen konnte, die sich anscheinend regelmäßig, und ohne gegeneinander zu kämpfen, hier aufhielten. Es hatte beinahe den Anschein, als hätten sich mehrere Rudel zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen.

Hralfor knirschte grimmig mit den Zähnen. Das konnte nur eine Ursache haben. Die Möglichkeit des Weltenwechsels hatte dazu geführt, dass einige Verbannte nun auf ungewöhnliche Weise miteinander kooperierten, um so ihre Interessen besser wahren zu können.

Diese Entwicklung würde es ihm nahezu unmöglich machen, sein Ziel alleine zu erreichen. Er traute sich zu, mit einzelnen kleineren Rudeln fertig zu werden, doch einem Zusammenschluss mehrerer Verbände hatte er nichts entgegenzusetzen.

Mit finsterer Miene und noch viel vorsichtiger als bisher setzte Hralfor seinen Weg fort. Er musste auf jeden Fall ungesehen an den Ort des Geschehens gelangen, um sich ein genaueres Bild machen zu können. Dann erst konnte er sich eine geeignete Strategie ausdenken.

Es dauerte noch einmal einen ganzen Tag, bis Hralfor sich Meter um Meter durch die wilde und zerklüftete Küstenregion gearbeitet hatte. Einige Male kam er dabei kleineren Gruppen von Verbannten gefährlich nahe. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, dass dieses Revier offensichtlich von ungewöhnlich vielen Verbannten betreten wurde. Hätte es sich um ein einziges, kleines Rudel gehandelt, wäre Hralfors fremder Geruch sofort aufgefallen und hätte zu einer tödlichen Verfolgungsjagd geführt. So allerdings schien sich sein Geruch mit den vielen verschiedenen Düften zu vermischen und erregte keine Aufmerksamkeit. Dennoch benötigte Hralfor sein ganzes Geschick, um durch den Ring der Verbannten zu gelangen, den sie um die Klippen gezogen hatten, die er erreichen musste.

Als er schließlich am Ziel seiner Reise angekommen war, lehnte Hralfor sich aufseufzend in die Felsspalte einer der Klippen und verschmolz mit ihrem Schatten. Von hier hatte er einen guten Ausblick auf die windgepeitschte Küste, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden.

Prüfend nahm er die Landschaft in sich auf.

Ja, es hatte sich viel verändert in den letzten Jahren. Dort, wo die schroffen Klippen damals direkt in den stürmischen Ozean abgefallen waren, hatten sich inzwischen kleine Felsenbecken gebildet, in denen sich das durch die Stürme aufgepeitschte Wasser des Ozeans sammelte.

Hralfor wusste, dass diese Becken nicht auf natürlichem Weg entstanden waren. Das war in dem kurzen Zeitraum von etwas mehr als einer Centone undenkbar. Die Becken waren künstlich angelegt worden und er wusste auch, von wem.

Angewidert verzog er sein Gesicht.

Er hatte schon einmal etwas Ähnliches wie diese Felsenbecken gesehen, in einer fremden Wasserwelt, in die sein Vater ihn damals mitgenommen hatte, um die Mordaufträge eines mächtigen Mannes zu erledigen.

Rangafir hatte diesen Mann den Schwarzen genannt und Todesangst vor ihm gehabt. Der Schwarze war das einzige Wesen gewesen, vor dem Hralfors Vater jemals gezittert hatte. Und dort, in der Dunklen Festung des Schwarzen, hatte es dieselben Felsenbecken gegeben, mit deren Hilfe er sich Übergänge in andere Welten erzwungen hatte.

Offensichtlich hatte er mit der Welt der Verbannten noch weitere Pläne gehabt, sodass er sich auch hier solche Übergangs-becken geschaffen hatte. Doch es war schließlich nicht dazu gekommen, da er in einem dramatischen Endkampf in Hralfors Heimatwelt besiegt und vernichtet worden war.

Die Becken auf Vargor waren dabei jedoch unversehrt geblieben und wurden nun von den Verbannten für ihre üblen Taten genutzt.

Bisher hatten die Vargéris anscheinend nur herausgefunden, wie man mit ihrer Hilfe in die Welt der Menschen gelangen konnte, das war bereits schrecklich genug. Doch Hralfor vermutete aufgrund seiner Erfahrungen in der Dunklen Festung, dass man damit auch noch in andere Welten überwechseln konnte. Dort hatte jedes einzelne der mit Meerwasser gefüllten Becken den Zugang zu einer anderen Welt geöffnet.

Hralfor erinnerte sich noch sehr genau an ein Gespräch, das er als Kind in der Dunklen Festung belauscht hatte. Rangafir hatte damals erwähnt, dass die Weltenwechsel am einfachsten in der Nähe von Wasser, am besten Meerwasser, durchgeführt werden konnten. Diese Tatsache hing auf irgendeine Weise damit zusammen, dass die Meere aller Welten aus einem einzigen Urozean entstanden waren und dadurch für immer eine Verbindung zueinander hatten. Diese Verbindung ermöglichte es, mithilfe der Ozeane zwischen den Welten zu wechseln.

Nachdem die Verbannten hier auf ihrem Kontinent inzwischen herausgefunden hatten, dass eines der Felsenbecken ihnen den Weg in die Welt der Menschen öffnete, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dieses Wissen auch auf weitere Becken anwandten. Die Folgen davon waren nicht auszudenken. Es musste dringend etwas dagegen unternommen werden.

Die Felsenbecken mussten zerstört werden.

Hralfor stand lange finster grübelnd da, während sich die Dunkelheit vertiefte und die nächtlichen Stürme an Heftigkeit gewannen. Er sah keine Möglichkeit, allein etwas gegen diese Bedrohung zu unternehmen. Er bezweifelte sogar, dass es selbst den fähigsten Vertretern seiner Heimatwelt möglich war, die Gefahr, die von den Felsenbecken ausging, zu bannen.

Seine Heimatwelt war eine friedliche Welt, in der keine Waffen hergestellt wurden, mit denen eine so gewaltige Zerstörung verursacht werden konnte. Die einzigen Waffen, die dort genutzt wurden, dienten der Verteidigung Einzelner.

Doch hier wurde etwas benötigt, das die Kraft besaß, den gesamten Küstenabschnitt mitsamt der Felsenbecken aus der Landschaft zu entfernen. Er konnte sich nicht ausmalen, welche Waffe dafür geeignet wäre. Allerdings konnte er sich gut vorstellen, wer über derartige Waffen verfügen konnte.

Jacob.

Der Gedanke tauchte blitzartig in Hralfors Kopf auf.

Jacob hatte mehr als einmal von den beinahe unbegrenzten Möglichkeiten seiner Organisation gesprochen. Er hatte von den fortschrittlichen Technologien erzählt, die dort entwickelt wurden.

Und von seiner Mutter wusste Hralfor, wie gewalttätig die Menschen in der Vergangenheit schon gewesen waren. Sie hatte ihm von schrecklichen Kriegen erzählt, in denen Waffen eingesetzt worden waren, die er sich nicht einmal in seinen bedrückendsten Albträumen ausmalen konnte und wollte. Es waren diese Erzählungen gewesen, die ihn in der Überzeugung bestärkt hatten, dass in der Welt der Menschen unter keinen Umständen etwas über seine Heimatwelt bekannt werden durfte.

Er konnte sich also ohne Probleme vorstellen, dass ein so gewalttätiges Volk auch über Möglichkeiten verfügte, diese Felsenbecken zu zerstören.

Ein grimmiges Lächeln erschien auf Hralfors Gesicht. Nichts sprach dagegen, dass die Menschen mit ihren furchtbaren Waffen auch einmal etwas Gutes bewirken und Leben schützen konnten, anstatt es zu vernichten.

Nach einem weiteren Blick auf die Felsenbecken hatte er seinen Entschluss gefasst.

Er wollte unverzüglich in seine Heimatwelt zurückkehren und dem Hohen Rat über alle Vorkommnisse genauestens Bericht erstatten. Dann würde er seinen Vorschlag unterbreiten und die Entscheidung des Rats abwarten. Es gab hier so viel abzuwägen, dass er es nicht wagte, allein über das Schicksal mehrerer Welten zu entscheiden. Vor allem, weil er bei dieser Entscheidung nie ganz neutral sein konnte. Zu stark zog ihn sein Herz zurück in die Welt der Menschen.

Hralfor wandte sich ein letztes Mal den Felsenbecken zu und prägte sich ihre Größe, ihre Lage und ihre Beschaffenheit genauestens ein. Er hatte das Gefühl, dass jede noch so kleine Einzelheit für einen Mann wie Jacob von größter Wichtigkeit war, wenn es darum ging, Pläne für das weitere Vorgehen zu schmieden. Dann wandte er sich um und machte sich auf den Rückweg.

Hralfor wusste, dass er zunächst wieder unerkannt durch den Verteidigungsring der Verbannten kommen musste, um sich danach eine möglichst einsame Stelle für seinen Weltenwechsel zu suchen. Seine Anwesenheit durfte auf keinen Fall entdeckt werden, da die Verbannten ihre Schutzmaßnahmen sonst sofort verschärfen würden. Sie durften nicht einmal ahnen, dass der Ort ihrer Übergänge entdeckt worden war.

Und wieder bewegte er sich langsam zwischen den Feinden hindurch. Dabei bemerkte er befriedigt, dass seine Sinne sich nun endgültig den Bedingungen dieser unwirtlichen Welt angepasst hatten.

Ohne größere Schwierigkeiten passierte er das Revier der Verbannten und erreichte schließlich das Territorium des Bersaris. Hier war er vor einer Entdeckung so sicher, wie er es auf diesem Kontinent nur sein konnte. Natürlich musste er dabei eine weitere Begegnung mit dem Bersari in Kauf nehmen, doch das erschien ihm in Anbetracht seiner Situation als das kleinere Übel.

Zielstrebig bewegte Hralfor sich auf eine Ansammlung größerer Felsen zu, die ihm bereits auf dem Hinweg auf-gefallen war, und zwischen denen es ihm möglich sein sollte, den Weltenwechsel unbemerkt zu vollziehen.

Dort angekommen, hob er noch einen faustgroßen Felsbrocken auf und verstaute ihn sorgfältig in einer Tasche seines Umhangs. Dann ergriff er den Stein, der ihn in seine Heimatwelt zurückbringen würde, konzentrierte sich und drückte ihn an die Brust.

Er konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken, als er die vertrauten Energieströme spürte, die sich um ihn herum erhoben und schließlich zu einem wilden Wirbel anwuchsen. Endlich würde er nach Aelskalador zurückkehren.

Sohn der Monde - OCIA

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