Читать книгу Sohn der Monde - OCIA - Patricia Rieger - Страница 7
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Verstohlen betrachtete Hannah den Fremden, der wie selbstverständlich an ihrer Seite durch die dunklen Straßen einer ihm unbekannten Welt lief.
Aber eigentlich konnte man das, was er tat, nicht richtig als Laufen bezeichnen. Es war eher ein Gleiten, völlig geräuschlos und von einer verstörenden, absolut nichtmenschlichen Geschmeidigkeit – wie eine Raubkatze, die sich lautlos an ihre Beute heranpirschte.
Bei diesem Gedanken fröstelte sie. Auch wenn man seine ungewöhnlichen Gesichtszüge im Dunkeln nicht erkennen konnte und seine enorme Größe außer Acht ließ, konnte man ihn aufgrund seiner Bewegungen selbst aus der Ferne einfach nicht für einen Menschen halten. Das gelegentliche Aufglühen seiner Augen im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung sowie der weite, dunkle Umhang, der seinen sehnigen Körper fast vollständig verhüllte, verstärkte den unheimlichen und völlig andersartigen Eindruck noch um ein Vielfaches.
Hannah konnte nur inständig hoffen, dass niemand ihnen begegnete oder auf sie aufmerksam wurde. Entsetzt wurde ihr klar, dass das gequälte Quietschen ihres Fahrrads genau die Art von Aufmerksamkeit erregte, die sie so dringend vermeiden wollte. Schnell hob sie das Rad am Hinterreifen an, und das Geräusch verstummte.
Wenn sie nur nicht so entsetzlich müde und erschöpft wäre. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Und das unergründliche Schweigen, in das sich der Fremde hüllte, kostete sie noch die letzten Nerven.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, wandte der Fremde, der sich Hralfor nannte, den Kopf und sah grübelnd auf sie hinab. Dann griff er wortlos nach dem Fahrrad und hob es sich auf die Schulter. Hannah schnappte nach Luft. Das alte Ding war tonnenschwer und er sah aus, als würde er lediglich einen Tennisschläger schultern! Als Hralfor ihren fassungslosen Blick bemerkte, schenkte er ihr ein fast entschuldigendes, kleines Lächeln, das Hannah die Absurdität dieser ganzen Situation erst so richtig zu Bewusstsein brachte. Und plötzlich musste sie einfach loskichern.
Das alles ist völlig verrückt! Das würde mir nie jemand glauben. Da laufe ich mit irgendeinem Superwesen von einem anderen Stern durch die Straßen und mache mir Sorgen wegen eines quietschenden Fahrrads.
Hannah gab sich die größte Mühe, nicht laut loszuprusten. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, doch auch das konnte ihre Erheiterung nicht zügeln.
Hralfor beobachtete Hannah beunruhigt, zuckte aber schließlich mit den Achseln. Es war besser, sie lachte über diese Situation, als dass sie in Panik geriet. Sie hatte bisher sowieso schon erstaunliche Stärke darin bewiesen, wie sie mit den für sie unerklärlichen und lebensbedrohenden Erlebnissen zurechtgekommen war. Sie hatte sogar einen der Verbannten abgewehrt und sich damit vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.
Grimmig presste er die Lippen aufeinander, als er daran zurückdachte, wie knapp sie vorhin einer Entführung entgangen war. Ohne ihre Geistesgegenwart wäre er zu spät gekommen. Wenn er sich vorstellte, was sie auf dem Kontinent der Verbannten erwartet hätte, kam ihm seine eigene vertrackte Lage in dieser fremden Welt regelrecht harmlos vor. Irgendwie würde er schon einen Weg finden, der ihn hier wieder herausbrachte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er gegen seinen Willen in einer fremden Welt festgehalten wurde. Allerdings war er dem Mädchen doch sehr dankbar dafür, dass sie ihm Unterschlupf gewährte, bis er sich ein wenig orientiert hatte. Er warf Hannah noch einen kurzen, prüfenden Blick zu. Es hatte sie eine Menge Mut gekostet, ihm, der auf sie wie eine furchterregende Bestie wirken musste, dieses Angebot zu machen. Aber dass sie über Mut verfügte, hatte er schon gewusst, als sie nicht die Flucht ergriffen hatte, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu geboten hatte.
Sie waren mittlerweile im Wohngebiet angekommen und die Lichter der Straßenlampen beleuchteten die beiden Passanten erbarmungslos.
Hannah beschleunigte ihre Schritte, bis sie beinahe rannte. Der Fremde blieb weiterhin völlig lautlos an ihrer Seite. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war jetzt am größten. Es war kurz vor Mitternacht und in den Fenstern einiger Häuser brannte Licht. Wenn nur einer der Bewohner zufällig hinausblickte, steckten sie in Schwierigkeiten. Hannah sprach ein Stoßgebet nach dem anderen. Sie erwartete, jeden Augenblick einen entsetzten Aufschrei zu hören. In der Ferne glaubte sie sogar, eine Polizeisirene zu vernehmen.
Alle Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Rippen und sie lief noch schneller. Nur noch wenige Häuser, dann kamen sie zu dem kleinen Weg, der zum Haus ihrer Cousine führte. Dort gab es nur eine einzige, recht trübe Straßenlampe und die Gärten der Nachbarn waren von hohen, dichten Hecken eingefasst.
Erleichtert seufzte Hannah auf, als sie schließlich in diesen Weg einbogen. Sie verlangsamte ihre Schritte und atmete erst einmal tief durch. Ganz allmählich beruhigte sich auch ihr rasender Puls.
Das ist völlig verrückt. Ich habe gerade fast genauso viel Angst gehabt wie während des Überfalls, bei dem ich doch in Lebensgefahr war. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Es wird höchste Zeit, dass ich endlich ins Bett komme. Ich bin schon völlig überdreht. Unbehaglich zog sie die Schultern hoch, als sie daran dachte, dass sie in dieser Nacht nicht allein sein würde.
Sie waren nun vor dem Haus ihrer Verwandten angekommen und Hannah sah prüfend zu dem hochgewachsenen Fremden auf, der ihren Blick ruhig erwiderte. In seinen glühenden Augen glaubte sie, Verständnis für ihre Lage zu erkennen. Sofort fühlte sie sich ein wenig besser.
»Wir sind jetzt da«, murmelte sie.
Ungeschickt holte sie den Schlüssel aus der Jackentasche und fummelte eine Weile fluchend mit unsicheren Händen am Schloss herum. Als der Schlüssel endlich steckte und mit einem leisen Klicken das Schloss öffnete, seufzte sie erleichtert auf.
Hralfor hatte mittlerweile das Fahrrad von der Schulter gehoben und an die Hauswand gelehnt. Nach kurzem Zögern nahm er ihren Rucksack vom Gepäckträger, dann folgte er Hannah in den dunklen Hausflur. Ohne das Licht anzuschalten, lief sie zu der Tür, die in die kleine Einliegerwohnung führte und öffnete sie. Hier machte sie Licht und hielt Hralfor die Tür einladend auf.
Die Wohnung bestand aus einem größeren Wohnraum mit Küchenzeile, einem kleinen Bad und einem winzigen Schlafzimmer. Kurz spielte Hannah mit dem Gedanken, den Fremden in den oberen Räumen ihrer verreisten Cousine einzuquartieren, aber irgendwie erschien ihr das wie ein Vertrauensbruch ihren Verwandten gegenüber. Hannah seufzte auf. Sie musste eben einfach damit klarkommen, auf engstem Raum mit diesem Fremden zu wohnen. »Du kannst hier im Wohnraum schlafen. Allerdings fürchte ich, dass die Couch für dich zu kurz ist.«
Es handelte sich um einen Zweisitzer von höchstens einem Meter fünfzig Länge. Sie konnte ein nervöses Grinsen nicht unterdrücken, als sie sich vorstellte, wie Hralfor seine lange Gestalt darauf unterzubringen versuchte. »Ich habe aber irgendwo noch eine Isomatte herumliegen sehen. Zusammen mit ein paar Decken könnte es gehen.«
Hralfor hob beschwichtigend die Hand. »Mach dir keine Mühe, ich kann sehr gut auf dem Boden ruhen.«
»Quatsch!«, entfuhr es Hannah. »Ich hole dir die Sachen. Mach es dir in der Zwischenzeit gemütlich. Ach ja, hinter der Tür dort ist das Bad.«
Unsicher sah sie den Fremden an. Vielleicht konnte er ja überhaupt nichts mit einem Bad anfangen?
Hralfor deutete ihren Blick ganz offensichtlich richtig. Auf seinem Gesicht erschien ein amüsiertes Lächeln. »Keine Angst. Ich bin mit der Bedeutung eines Bades durchaus vertraut. Die Bewohner meiner Heimatwelt sind ein sehr reinliches Volk.«
Bei seinen Worten lief Hannah knallrot an. Verlegen stammelnd zog sie sich zurück, um die Isomatte und die Decken zu holen. Sie war froh, einen Grund zu haben, um aus seiner übermächtigen Präsenz zu fliehen.
Verdammt, Hannah, da hast du ja ein schönes Ei gelegt! Ein Glück nur, dass er Humor zu besitzen scheint. Er muss ja denken, ich glaube, er kommt aus der Steinzeit oder schlimmer noch, ich halte ihn für ein Tier. Bei diesem Gedanken stöhnte sie auf. Ich brauche dringend ein Lehrbuch darüber, wie man mit wild aussehenden Außerirdischen umgeht, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
Viel zu schnell hatte sie die Sachen im Keller gefunden und ging damit recht zögerlich wieder in ihre Wohnung. Der Fremde wandte ihr den Rücken zu und blickte durch einen Spalt des Vorhangs hinaus in den Garten. Er trug nach wie vor seinen Umhang und sah so aus, als wollte er das Haus jeden Moment wieder verlassen.
Eilig machte sie sich daran, die Isomatte in dem geräumigsten Winkel des Zimmers auszurollen. Als sie die Decken so darüber drapierte, dass seine lange Gestalt einigermaßen weich liegen konnte, wurde sie von Hralfors heiserer Stimme aufgeschreckt.
»Ich weiß, dass das alles schwierig für dich ist und bin dir sehr dankbar für deine Hilfe. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben, dass ich dir kein Leid zufügen werde.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. Hannah stockte kurz der Atem, als das Licht der Zimmerlampe sich in seinen Augen fing und sie hell aufglühen ließ. Er betrachtete sie prüfend. »Wenn dich meine Anwesenheit zu sehr ängstigt, werde ich sofort gehen. Du bist todmüde und benötigst Schlaf. Da sollten dich keinerlei Ängste quälen.«
»Ich bin wirklich müde, und eigentlich habe ich keine richtige Angst vor dir. Ich glaube dir, dass du mir nichts tun wirst.« Hannah schluckte. »Aber ich habe Angst davor, dass ich dich auf irgendeine Weise beleidigen oder verletzen könnte. Deine Art ist mir einfach fremd, und das macht mich so unsicher. Wenn du mir erklärst, was das alles hier zu bedeuten hat … Ich bin sicher, dann wird es für mich einfacher zu verstehen.« Hannahs Stimme war zum Schluss nur noch ein Flüstern, doch der Fremde verstand sie genau.
Ein verständnisvoller, sehr freundlicher Blick traf sie. »Du wirst mich nicht beleidigen. Ich weiß, wie meine Art auf euch Menschen wirkt. Du warst sehr tapfer und nichts, was du gesagt hast, hat mich in irgendeiner Weise verletzt. Aber im Moment bist du zu erschöpft, um dir meine Erklärungen anzuhören. Du kannst ja kaum noch stehen und brauchst dringend etwas Schlaf. Also bitte ich dich, mir weiter zu vertrauen. Wenn du ausgeruht bist, werde ich versuchen, dir deine Fragen zu beantworten. Bis dahin schiebe ruhig ein schweres Möbelstück vor deine Tür und schließe sie ab. Das wird mich nicht verärgern, denn es ist eine ganz natürliche Reaktion auf diese Situation.«
Bei seinen Worten überkam Hannah ein Gefühl der Dankbarkeit. Er verstand sie wirklich und er war unglaublich mitfühlend.
Natürlich hätte sie ihn am liebsten sofort über sich ausgefragt, doch er hatte recht. Sie war mittlerweile so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn einen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte. Und für das, was er ihr zu erzählen hatte, benötigte sie sicher einen klaren Kopf.
Tatsächlich war sie so müde, dass sie nicht einmal wusste, ob das alles hier nicht einfach nur ein total verrückter Traum war. Nur eines wusste sie plötzlich ganz genau, nämlich dass sie wirklich keine Angst vor ihm haben musste. Im Gegenteil, mit ihm im Haus war sie sicherer, als sie es bisher alleine gewesen war. Sie konnte sich keinen Einbrecher vorstellen, der ihm gewachsen war.
Bei diesem Gedanken trat ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. »Ich werde nichts dergleichen tun. Ich habe keine Lust, jedes Mal, wenn ich auf die Toilette muss, eine Kommode zur Seite zu rücken. Und überhaupt«, vielsagend sah sie ihn an, »glaube ich nicht, dass irgendein Möbelstück hier schwer genug ist, um dich daran zu hindern, in ein Zimmer zu kommen, wenn du das möchtest, stimmt’s?«
Prüfend sah er sich das Mobiliar an. Dann hob er die Schultern und grinste Hannah an. »Nein, ich glaube auch, dass es in diesem Fall sinnlos wäre.«
Hannah starrte Hralfor verblüfft an. Sein Gesichtsausdruck war nun geradezu übermütig und das verschwörerische Grinsen gab ihm etwas unwiderstehlich Jungenhaftes. Ihr Magen begann leicht zu flattern, aber diesmal nicht vor Angst. In diesem Moment hatte sie nur einen Wunsch, sie wollte diesen faszinierenden Fremden besser kennenlernen. Und vielleicht konnten sie ja sogar Freunde werden.
Mit einem Mal kam ihr die Vorstellung, dass Hralfor einige Zeit bei ihr verbringen würde, überhaupt nicht mehr beängstigend vor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf. Außerhalb der Tierklinik hatte sie sich in der fremden Stadt doch manchmal etwas einsam gefühlt. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sie war schon sehr gespannt auf den nächsten Tag, an dem sie zum Glück freihatte. Er würde bestimmt interessant werden.
»Also, dann mach ich mich mal fertig und gehe schlafen«, brachte sie lächelnd hervor. »Fühl dich wie zu Hause – und schlaf gut.« Sie wollte sich schon umdrehen, als ihr noch etwas einfiel. »Ach, übrigens, ich heiße Hannah.«
Schnell lief Hannah in das kleine Bad, das sie nach kurzem Zögern dann doch verriegelte.
Sie musste jetzt erst einmal unter die Dusche, egal, wie spät es war. Schon allein wegen der Arbeit in der Klinik hatte sie jeden Abend das Bedürfnis zu duschen. Durch die schrecklichen Erlebnisse heute Nacht fühlte sich Hannah noch schmutziger und regelrecht besudelt. Bei der Erinnerung an den stechenden Geruch ihrer Angreifer schauderte es sie. Hannah stellte den Strahl der Dusche noch heißer ein, bis sie das Gefühl hatte, der ganze Schmutz würde von ihrer Haut weggebrannt.
Seltsam, Hralfor riecht irgendwie anders als die drei anderen. Er sieht auch nicht genauso aus wie sie. Seine Augen sind dunkler und sein Gesicht ist nicht so hager und viel kantiger. Und Mund und Nase sind bei ihm auch irgendwie … menschlicher.
Hannah schloss die Augen, um sich die Unterschiede deutlicher vor Augen zu führen. Doch sie hatte ihn fast nur im Dunkeln gesehen, ebenso wie die drei anderen.
Es ist mehr so ein Gefühl, dass er anders ist. Er wirkt weniger wild, eher sanft, obwohl er sie im Kampf besiegt hat. Aber es hat ihm keinen Spaß gemacht, sie zu töten, da bin ich mir ganz sicher. Während die anderen so aussahen, als würden sie rein zum Vergnügen töten.
Wieder schauderte es sie, als sie an den hasserfüllten Blick des Fremden dachte, den sie verletzt hatte.
Entschlossen verdrängte Hannah die Erinnerung an ihr furchtbares Erlebnis und stellte die Dusche ab. Heftig rubbelte sie ihre Haare trocken und kämmte sie gründlich durch. Ihr langes, dunkelblondes Haar war ziemlich kraus. Wenn sie es jetzt nicht glatt föhnte, würde es morgen in alle Richtungen abstehen. Aber sie war viel zu müde dazu, also flocht sie es stattdessen zu einem dicken Zopf. Das musste genügen. Dann putzte Hannah noch schnell ihre Zähne und griff zu ihrem Nachthemd, als sie mitten in der Bewegung innehielt.
Ich glaube, in Trainingshose und T-Shirt fühle ich mich heute Nacht wohler.
Schnell streifte sie ihre alte, blaue Jogginghose über und schlüpfte in ein weites T-Shirt, das ihr ihre kleineren Geschwister zum Abschied bemalt hatten. Es war über und über mit den unterschiedlichsten Tieren in allen Regenbogenfarben versehen. Da saß ein knallgrünes Kaninchen – vielleicht sollte es aber doch eher ein kleines Krokodil sein? – neben einem quietschgelben Elefanten, ein blauer Affe kletterte auf einer Giraffe herum, die tatsächlich gelbbraun war, und ein scharlachroter Fuchs rannte hinter einem rosafarbenen Pferd her. Hannah hatte dieses Kleidungsstück sofort geliebt. Auch jetzt fühlte sie sich gleich besser, sobald sie es anhatte. Es gab ihr ein Gefühl der Normalität zurück, das sie im Moment so dringend benötigte.
Als Hannah endlich erleichtert in ihr Bett fiel, musste sie erkennen, dass sie, so müde sie auch war, dennoch nicht einschlafen konnte. Unruhig wälzte sie sich herum, während unaufhörlich die schrecklichen Bilder des Überfalls in ihrem Kopf erschienen. Außerdem bemerkte sie, dass sie ziemlich hungrig war. In ihrer knappen Mittagspause hatte es gerade einmal zu einem belegten Brötchen gereicht. Aber daran konnte sie jetzt nichts ändern. Sie würde den Teufel tun und noch einmal ihr Bett verlassen.
Ganz allmählich glitt Hannah in einen leichten Dämmerschlaf, in dem sich ihre Erlebnisse in Träume umwandelten, welche die Ereignisse verzerrt und fast noch grauenerregender abspulten. Sie war wieder alleine in einer dunklen Straße und die Silhouetten ihrer Angreifer ragten haushoch über ihr empor. Dann waren da plötzlich ein Rudel wilder Wölfe, das sie knurrend umzingelte, gelbe Augen, die aufblitzten und heißer Atem, der sie streifte. Ein riesiger Wolf sprang sie an. Sie konnte gerade noch den Arm hochreißen, als sich sein Fang tief darin vergrub. Der stechende Schmerz, den sie dabei verspürte, ließ Hannah wimmernd erwachen. Ihr Puls raste und der kalte Angstschweiß lief ihr über den Rücken. Zitternd lag sie in ihrem Bett, während sie versuchte, sich irgendwie zurechtzufinden.
Das war diesmal wirklich nur ein Traum. Mir ist nichts passiert. Ich bin in Sicherheit. Es war alles nur Einbildung.
Doch der brennende Schmerz aus ihrem Traum hielt an und erinnerte Hannah an die Verletzung, die sie tatsächlich erlitten hatte. Die Verletzung, die Hralfor so beunruhigt hatte.
Vorsichtig richtete sie sich auf und schaltete ihre Nachttischlampe an. Besorgt betrachtete sie die Kratzspuren an ihrem linken Unterarm. Sie sahen entzündet aus und leuchteten in einem ungesunden Rot.
Ich brauche diese seltsame Paste, die Hralfor mir gegeben hat. Bestimmt habe ich sie beim Duschen vom Arm abgewaschen und jetzt hat sie ihre Wirkung verloren.
Unwillig verzog sie das Gesicht.
Verdammt! Ich habe sie vorhin im Wohnzimmer liegen lassen. Ich kann da jetzt doch nicht einfach reinplatzen und Hralfor stören.
Langsam lehnte Hannah sich wieder zurück und versuchte, den immer stärker werdenden, stechenden Schmerz zu ignorieren. Doch dann erinnerte sie sich wieder an den eindringlichen Ton, mit dem Hralfor sie vor der Vergiftungsgefahr gewarnt hatte. Sie gab sich einen Ruck.
Ich schleiche mich ganz vorsichtig rein. Vielleicht merkt er ja nichts.
Doch eigentlich glaubte sie selbst nicht daran, dass ihm irgendetwas entgehen könnte.
Hannah erhob sich seufzend, ging zur Tür und öffnete sie so leise wie möglich. Nur der weiche Schein ihrer Nachttischlampe fiel durch den Spalt der Zimmertür und beleuchtete schwach ihren Weg durch den Wohnraum. Der Tiegel mit der Salbe befand sich in ihrer Jacke, und die hing an der gegenüberliegenden Wand direkt neben der Eingangstür. Vorsichtig lief sie zwischen den Möbelstücken hindurch, ertastete die Jacke und wollte sich leise mit der Salbe zurückziehen, als sie spürte, dass sie beobachtet wurde.
Er stand in derselben Haltung am Fenster wie vor zwei Stunden, als sie zu Bett gegangen war. Gebannt blickte Hannah in seine Augen, die das wenige Licht, das aus ihrem Zimmer kam, zu reflektieren schienen und wie zwei kleine Scheinwerfer glühten. Hannah fühlte sich, als sei sie mitten in einem unwirklichen Traum gefangen.
Hralfors heisere Stimme brachte sie zurück in die Wirklichkeit. »Du hast wieder Schmerzen im Arm.«
Hannah nickte wortlos. Es war so dunkel, dass ihre Reaktion normalerweise unbemerkt geblieben wäre, doch sie war sich absolut sicher, dass Hralfor sie auch bei Nacht deutlich sehen konnte.
Sein weiteres Verhalten bestätigte ihre Vermutung. Mit langen, gleitenden Schritten kam er zu ihr, ohne in der Enge des Raumes das Mobiliar auch nur zu streifen. Wie schon einmal nahm er vorsichtig ihren Arm und betrachtete die entzündeten Striemen eingehend. Dann ergriff er den Tiegel, den Hannah in der Hand hielt, entnahm etwas von der Paste und massierte sie sorgfältig ein.
Wieder wurde sich Hannah der Hitze, die seinen Händen entströmte, überdeutlich bewusst. Eine Hitze, die ihr durch den ganzen Körper fuhr und jedes Kältegefühl vollständig auslöschte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit dem Überfall fröstelte und nicht einmal die heiße Dusche etwas dagegen ausgerichtet hatte.
Sobald die Paste verteilt war, ebbte der brennende Schmerz ab und verschwand schließlich vollständig. Hannah hätte am liebsten geschnurrt wie eine zufriedene Katze. Sie wollte beinahe protestieren, als Hralfor ihren Arm losließ und in eine weitere geheimnisvolle Tasche seines Umhangs griff.
Diesmal holte er eine aufgerollte Bandage hervor und ergriff erneut Hannahs Arm, um ihn zu verbinden. Der Stoff fühlte sich glatt und geschmeidig an und schmiegte sich weich an ihre Haut.
Nachdem Hralfor ihn geschickt befestigt hatte, strich er noch einmal sanft darüber, bevor er ihren Arm losließ. »Dieser Stoff stammt aus meiner Heimatwelt. Er wurde von den Heilenden auf besondere Art behandelt und wird die Wirkung der Heilpaste verstärken. Er kann immer wieder verwendet werden. Solange ich deine Gastfreundschaft genieße, kann ich den Verband regelmäßig erneuern, wenn du nichts dagegen hast.«
Völlig benommen schüttelte Hannah den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich auch? Es geht mir jetzt schon viel besser. Du bist ein sehr geschickter Krankenpfleger. Schade, dass ich dich nicht in die Klinik mitnehmen kann. Vielen Dank.«
Dann sah sie ihn forschend an. »Hast du die ganze Zeit am Fenster gestanden? Kannst du nicht schlafen?«
Hralfor schüttelte leicht den Kopf. »Wir benötigen nicht so viel Schlaf wie ihr Menschen. Es genügt mir schon, wenn ich etwas ruhen kann. Aber du hast noch lange nicht genug Schlaf bekommen, du solltest wieder zu Bett gehen.«
»Ich kann aber nicht schlafen, zumindest nicht, ohne Albträume zu haben«, seufzte Hannah. »Und außerdem bin ich furchtbar hungrig. Du hast doch auch schon eine Weile nichts mehr zu essen gehabt, wie wäre es mit einem nächtlichen Imbiss? Ich meine, ich weiß ja nicht, was du so isst, aber vielleicht finden wir irgendwas, das dir schmeckt.« Unsicher sah Hannah ihn an. Hoffentlich hatte sie jetzt nicht wieder etwas Dummes gesagt.
Doch da erschien auf seinem Gesicht erneut dieses übermütige Lächeln, und sie atmete erleichtert auf.
»Ich sterbe fast vor Hunger.« Er grinste. »Und soweit ich weiß, kann ich alles essen, was ihr Menschen zu euch nehmt.«
Befreit atmete Hannah auf. Dann nahm sie Hralfor spontan bei der Hand und zog ihn zu der kleinen Küchenzeile am anderen Ende des Raumes. »Na dann wollen wir mal sehen, was sich alles aus dem Kühlschrank zaubern lässt. Ich denke, es ist dann doch nicht der richtige Zeitpunkt, um groß zu kochen. Wir müssen also fürs Erste mit der kalten Küche vorliebnehmen. Aber zum Frühstück werde ich dir ein echtes irisches Frühstück machen, das verspreche ich dir.«
Im Nu hatte Hannah Brot, Butter, Käse und Wurst auf die kleine Theke gestellt, an der mit Mühe und Not zwei Personen Platz fanden. Dann verschwand ihr Kopf erneut im Kühlschrank und sie kam freudestrahlend mit weiteren Schüsseln hervor. »Kartoffelsalat und Fleischbällchen, ein Schnitzel und ein Rest Thunfischsalat. Ich sage dir, das wird ein Festschmaus.«
Fasziniert beobachtete Hralfor Hannah bei ihren Vorbereitungen. Sein Gesicht hatte sich zu einem ständigen, erheiterten Grinsen verzogen. Sie wirkte auf einmal so fröhlich und hatte offensichtlich jede Angst vor ihm verloren. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr ihn ihr völlig verständliches Zurückweichen getroffen hatte.
Entspannt lehnte er sich zurück. Es war ihm egal, welche Speisen sie ihm anbot, solange nur diese freundschaftliche Vertrautheit zwischen ihnen bestehen blieb.
Hannah hatte inzwischen von allen Speisen ein wenig auf einen Teller gehäuft und stellte ihn nun vor Hralfor auf die Theke. »Du musst alles probieren. Und sag mir ganz ehrlich, was dir schmeckt und was nicht! Das macht es mir dann leichter, wenn ich für unsere weiteren Mahlzeiten einkaufen gehe.«
Gehorsam nahm Hralfor von jeder der Speisen einen Bissen, während Hannah ihn gespannt beobachtete. Schließlich lachte sie fröhlich auf. »Also die sauren Gurken sind ganz offensichtlich nicht dein Ding. Fisch und Fleisch gehen in Ordnung und beim Kartoffelsalat hast du mir richtig leidgetan. Aber Käse und Brot sind okay, nicht wahr?«
Etwas verlegen erwiderte er ihren fragenden Blick. »Du bist eine gute Beobachterin.«
Schnell legte Hannah ihm noch einige Scheiben Schinken auf den Teller. »Da, probier das. Ich glaube, der geräucherte Schinken wird dir auch schmecken. Tu dir keinen Zwang an, ich mag ihn eigentlich gar nicht so besonders. Wahrscheinlich habe ich ihn nur aus reiner Gewohnheit gekauft. Den gibt es bei mir zu Hause nämlich immer. Mein Vater und mein ältester Bruder würden dafür sterben.«
Interessiert beobachtete Hralfor den weichen Ausdruck auf Hannahs Gesicht, der bei dem Gedanken an ihre Familie erschien.
»Wie ist deine Familie?«, erkundigte er sich. »Hast du noch mehr Geschwister? Und warum lebst du hier allein?«
Also erzählte Hannah ihm von ihrem Vater, der ein kleines Musikgeschäft hatte, das er nach alter Familientradition von seinem Vater übernommen hatte; von ihrer Mutter, die aus Irland stammte, und die ihren Vater bei einem Musikfestival kennengelernt hatte; von ihren beiden älteren Brüdern und ihrer Schwester, die drei Jahre jünger war als Hannah. Sie beschrieb Hralfor ihre beiden jüngsten Geschwister, ein Zwillingspärchen, das nichts als Unsinn im Kopf hatte, und das sie ganz besonders liebte. Sie erzählte ihm, dass die beiden Kleinen ihr das T-Shirt, das sie gerade trug, eigenhändig bemalt hatten, damit sie sich in den sechs Wochen ihres Praktikums in der Tierklinik nicht zu traurig fühlte.
Hannah redete und redete und Hralfor hörte ihr aufmerksam zu. Immer, wenn sie mit ihren Erzählungen enden wollte, stellte er ihr weitere Fragen über ihr Leben und ihre Familie. Er erfuhr, dass sie Klavier und Geige spielte und bis vor Kurzem nicht gewusst hatte, ob sie lieber Musik oder Tiermedizin studieren sollte. Aus diesem Grund hatte sie sich auch für dieses Praktikum entschieden, das ihr viel Spaß machte.
Während Hralfor Hannah wie gebannt zuhörte, ließ er ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Ihre Wangen hatten während ihrer Erzählung eine rosige Farbe angenommen und der Ausdruck ihrer sprechenden Augen änderte sich ständig, je nachdem, wovon sie gerade erzählte.
Sie hatte klare, sturmgraue Augen, die jedes ihrer Gefühle deutlich widerspiegelten. Fasziniert bemerkte er, dass auf ihrem Nasenrücken winzige, goldene Punkte saßen, die ihr ein fröhliches Aussehen verliehen. Ebenso wie die einzelne, gekräuselte Haarsträhne, die sich aus dem langen Zopf gelöst hatte und hartnäckig in ihr Gesicht fiel, obwohl Hannah sie immer wieder ungeduldig zurückstrich.
Ihre Haare waren noch feucht und sein feiner Geruchssinn nahm jeden einzelnen der verschiedenen Düfte war, die Hannah umgaben. Da waren einmal der Geruch der Paste, mit der sie ihre Haare behandelt hatte und der Duft einer anderen Paste, mit der sie ihren Körper gereinigt hatte. Der frische, scharfe Geruch, der vorhin ihrem Mund entströmt war, wurde nun durch die verschiedenen Speisen überdeckt, die sie zu sich genommen hatte. Er hätte genau aufzählen können, um welche Speisen es sich dabei gehandelt hatte. Ganz fein konnte er auch noch den Geruch der Tiere erkennen, die sie im Verlauf des Tages versorgt hatte. Und natürlich den Kräuterduft der Heilpaste auf ihrem Arm. Doch unter all diesen vielen Gerüchen lag Hannahs ganz eigener Duft verborgen. Es war ein sehr angenehmer, ja, anziehender Duft, der seinen Geruchssinn umschmeichelte.
Voller Genuss lauschte er Hannahs Stimme, die – im Gegensatz zu seiner eigenen – weich und ungeheuer melodisch war. Sie erinnerte ihn an die Stimme seiner Pflegemutter, die ähnlich klangvoll war. Leise Sehnsucht nach seiner Heimatwelt stieg in ihm auf. Seine Mutter würde Hannah lieben, da war er sich sicher.
Schnell verdrängte er die wehmütigen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen vor ihm. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Stimme nun schläfrig wirkte und die Schatten unter ihren Augen sich vertieft hatten.
Natürlich, wie hatte er nur so gedankenlos sein können? Die Freude an ihrer Gesellschaft hatte ihn völlig vergessen lassen, dass sie ein viel größeres Schlafbedürfnis hatte als er, vor allem nach den schrecklichen Erlebnissen der vergangenen Nacht.
Vorsichtig beugte er sich vor und berührte leicht Hannahs Hand. »Du musst todmüde sein. Es tut mir leid, dass ich dich so lange aufgehalten habe. Du solltest versuchen, noch etwas zu schlafen.«
Benommen starrte Hannah auf seine Finger, die auf ihrem Handrücken ruhten. Da war sie wieder, diese unglaubliche Wärme, die ihnen entströmte. Fragend sah sie Hralfor ins Gesicht. »Was habt ihr eigentlich für eine Körpertemperatur?«
Es dauerte eine Weile, bis Hralfor ihre Frage richtig verstanden hatte, dann lachte er leise auf. Sie erinnerte ihn an die Anfänge seiner Bekanntschaft mit seiner Pflegemutter. Sie hatte ihn damals dasselbe gefragt, als sie nicht sicher war, ob er krank war oder nicht. »Ich glaube, mir wurde einmal gesagt, dass meine Körpertemperatur ungefähr drei Grad über der menschlichen liegt, was auch immer das bedeutet.«
Vorsichtig nahm Hannah Hralfors Hand zwischen ihre beiden Hände und seufzte wohlig auf. »Das bedeutet, dass deine Berührung für uns Menschen ausgesprochen warm und angenehm ist.«
Hralfors Augen strahlten erfreut auf. Er legte nun auch seine andere Hand fest auf ihre miteinander verschlungenen Hände. »Das freut mich. Aber du solltest jetzt wirklich ins Bett gehen, sonst schläfst du noch im Sitzen ein.«