Читать книгу Sohn der Monde - OCIA - Patricia Rieger - Страница 9

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Hannah sprang, wie von der Tarantel gestochen, auf und blickte entsetzt zu Hralfor. Sie konnte sich niemanden vorstellen, der sie besuchen wollte. Doch das Klingeln hatte eindeutig der kleinen Einliegerwohnung und nicht der Hauptwohnung gegolten. Sie kannte hier niemanden und bezweifelte auch, dass ihre Adresse irgendjemandem in der Tierklinik bekannt war. Panisch sah sie Hralfor an. War seine Anwesenheit etwa entdeckt worden?

Hralfor selbst saß regungslos und mit gerunzelter Stirn da. Er hatte den Kopf leicht erhoben und schien nach irgendeiner Witterung zu suchen.

»Was sollen wir jetzt machen?«, flüsterte Hannah. »Vielleicht ist es ja eine Nachricht von meinen Verwandten.«

Die Klingel schrillte erneut mit noch größerer Heftigkeit. Hralfor nickte Hannah beruhigend zu, erhob sich und verschwand lautlos im Nebenzimmer. Mit wackligen Knien ging Hannah zur Sprechanlage und nahm den Hörer. »Ja bitte?«

»Eilsendung für eine Frau Hannah Martin.«

Die Stimme klang merkwürdig verzerrt durch die Anlage, doch Hannah seufzte erleichtert auf. Es galt nicht Hralfor. Alles andere war ihr im Augenblick egal. Also lief sie durch die Wohnungstür zum Hauseingang.

Vorsichtig öffnete sie die Eingangstür einen Spaltbreit, fasste den Boten ins Auge – und stutzte.

Er war absolut nicht das, was sie erwartet hatte. Zunächst trug er keine Dienstkleidung, sondern ein leichtes, cremefarbenes Jackett und eine Hose in einem etwas dunkleren Ton.

Misstrauisch betrachtete Hannah den Mann genauer. Er war nur wenig größer als sie, aber von gedrungener Statur. Sein sandfarbenes Haar war sehr kurz, schon etwas schütter und von grauen Strähnen durchzogen. Hannah schätzte ihn auf Ende fünfzig. Alles in allem bot er eigentlich einen völlig alltäglichen Anblick, eben wie ein seriöser, nicht mehr ganz junger, und sehr gepflegter Herr.

Doch irgendetwas an ihm irritierte Hannah. Seine ganze Erscheinung stand in seltsamem Widerspruch zu sich selbst. Sein Kopf wirkte durch das kurze Haar rund und irgendwie kindlich, doch ein Blick in sein Gesicht zeigte kantige Züge, die beinahe brutal wirkten. Seine Augen waren von einem hellen und klaren Blau und blickten mit unschuldigem Ausdruck in die Welt. Als Hannah jedoch genauer hinsah, liefen ihr kleine Schauer über den Rücken. Es war, als blickte man in ein Glas, das mit hellblau gefärbtem Wasser gefüllt war, welches sich in ständiger, feiner Bewegung befand. Bei diesem Anblick begannen Hannahs Augen zu tränen und sie verspürte ein leichtes Schwindelgefühl.

Seine untersetzte Gestalt gab ihm auf den ersten Blick ein unsportliches, schwammiges Aussehen, doch als er sich freundlich zu Hannah beugte, spannte sich sein Jackett auf recht beeindruckende Weise über seinen Schultern und ließ kräftige Muskeln erahnen.

Hannah hatte kaum Zeit, ihre Beobachtungen richtig zu verarbeiten, als der Mann sie bereits höflich ansprach.

»Frau Hannah Martin? Ich habe Post für Sie.«

Er hielt ihr einen schmalen Umschlag entgegen, den sie zögernd entgegennahm. Seine Stimme verwirrte Hannah erneut. Sie klang merkwürdig metallen und schneidend, und bereitete ihr Unbehagen.

Schnell nickte sie ihm dankend zu und wollte schon die Tür schließen, als er ihr einen Scanner entgegenhielt, um den Empfang der Postsendung zu bestätigen.

»Ich benötige noch eine Unterschrift, Frau Martin.«

Er hielt ihr das Gerät so nahe an den Körper, dass sie instinktiv einen Schritt zurückwich und sich beeilte, zu unterschreiben. Dabei bemerkte Hannah nicht, dass er wie zufällig ebenfalls einen kleinen Schritt machte und nun mit einem Fuß in der Türschwelle stand.

Sie gab ihm erleichtert das Gerät zurück, doch bevor sie erneut versuchen konnte, die Tür zu schließen, sprach er sie höflich an.

»Wollen Sie die Nachricht nicht öffnen? Eventuell möchten Sie ja gleich eine Antwort versenden. Dieser Service wird neuerdings bei uns angeboten.«

Zweifelnd sah sie den Fremden an, doch sein Gesicht wirkte so arglos, dass sie genervt aufseufzte und den Umschlag öffnete.

Verwirrt runzelte Hannah die Stirn. Es befand sich nur ein einzelner, fast leerer Briefbogen darin, auf dem vier Worte standen. Als sie die Worte las, wurde Hannah kreidebleich und begann zu schwanken.

Wo ist der Vargéri?

Entsetzt sah Hannah auf, dann ergriff sie die Tür und wollte sie zuschlagen, doch der Fremde befand sich bereits zur Hälfte im Hauseingang. Seine Miene zeigte nun keine Spur von Arglosigkeit mehr. Sein Blick war eisern, jedoch nicht ohne Mitgefühl. Er betrachtete sie mit großem Interesse – wie ein Wissenschaftler, der soeben eine neue Spezies entdeckt hatte.

»Das ist absolut erstaunlich«, meinte er und vergaß nun jede Förmlichkeit. »Du weißt also, dass er hier steckt. Und du willst ihn schützen, wirklich außergewöhnlich.« Etwas ratlos rieb er sich sein glatt rasiertes, eckiges Kinn. »Ich muss zugeben, damit habe ich nicht gerechnet. Aber jetzt geh einmal beiseite, Mädchen, und lass mich deinen Freund sehen.«

»Nein!« Hannahs Stimme überschlug sich vor Angst. »Machen Sie, dass Sie wegkommen! Das ist Hausfriedensbruch, ich rufe sofort die Polizei.«

Ein amüsiertes Glitzern trat in die hellen Augen des Fremden. »Ich glaube nicht, dass du deinem Freund damit einen Gefallen tun würdest.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, behauptete Hannah nicht sehr glaubwürdig. »Sie sind anscheinend völlig verwirrt. Vielleicht sollte ich lieber dem Rettungsdienst Bescheid geben.«

Der Fremde wirkte nun doch etwas verärgert und versuchte ungeduldig, an Hannah vorbeizukommen. Sie stellte sich schützend in den Rahmen ihrer Wohnungstür und klammerte sich krampfhaft daran fest.

Unwillig schüttelte der Fremde den Kopf. »Nun sei mal nicht unvernünftig, Mädchen! Ich will hier niemandem etwas tun. Und erzähl mir nicht, er wäre nicht da, du bist nämlich eine verdammt schlechte Lügnerin.«

Seine Stimme hatte einen schnarrenden Ton angenommen. Als er den wild entschlossenen Blick in Hannahs Augen sah, verdrehte er die Augen und griff nach ihrem Arm, um sie zur Seite zu schieben.

Hannahs Herz machte einen Sprung, als in ihrem Rücken ein furchterregendes Knurren ertönte. »Rühr sie nicht an, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Hannah wirbelte entsetzt herum. »Hralfor, nein! Warum bist du nicht abgehauen? Sei kein Idiot, verschwinde, schnell!«

Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich mit dem Rücken zu Hralfor und funkelte den Fremden wütend an. »Lassen Sie ihn in Ruhe! Er hat niemandem etwas getan.«

Der Fremde, der bei Hralfors Worten die Hände gehoben hatte, um ihn nicht weiter zu reizen, begann bei dem Anblick, der sich ihm bot, schallend zu lachen.

Hannah und Hralfor sahen ihn fassungslos an. Als er sich endlich etwas beruhigt hatte, lag immer noch ein breites Grinsen auf dem kantigen Gesicht.

»So was ist mir in meiner langen Laufbahn auch noch nie passiert. Die kleine Taube beschützt den großen, bösen Wolf. Kleine Lady, du bist wirklich außergewöhnlich.«

Vertraulich wollte er einen Schritt auf Hannah zumachen, doch Hralfor legte blitzschnell einen Arm um ihre Schulter und zog Hannah hinter sich. Sein grimmiges Knurren ließ den Fremden erneut erstarren.

Er hob beschwichtigend die Hände. »Keine Angst, Vargéri, ich tue deinem Mädchen schon nichts. Verdammt, da bin ich ja wirklich in etwas hineingeraten! Was mache ich jetzt bloß mit euch beiden? Das nächste Mal soll der Alte einen anderen schicken, ich hab ihm gesagt, dass ich für so was nicht tauge.«

Beunruhigt sah er Hannah an. »Ich hab das hier bisher ziemlich vermasselt, nicht wahr?«

Hannah, die kein Wort verstanden hatte, sah ihn finster an und nickte. Dann stellte sie die Frage, die ihr am meisten auf dem Herzen lag. »Wollen Sie Hralfor wirklich nichts tun? Sie werden ihn nicht irgendwo einsperren und verhören, oder was man sonst so alles macht?«

Der Fremde sah sie ernst an. »Ehrlich gesagt, kleine Lady, bin ich hier, damit dem Vargéri genau so etwas nicht passiert. Außerdem habe ich ihm ein Angebot zu machen.«

Wütend fauchte sie ihn an. »Verdammt noch mal, Hralfor hat einen Namen, wie wir alle, also behandeln Sie ihn nicht wie einen Gegenstand!«

Verlegen grinsend kratzte sich der Fremde am Kopf. »Zum Teufel, ich glaube, ich muss das Angebot auch auf dich ausweiten, Mädchen. So was wie du hat uns in unserer Sammlung bisher noch gefehlt.«

Hralfor hatte den Fremden während des Wortgefechts mit Hannah intensiv beobachtet. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er versuchte, den seltsamen Geruch, den der Mann ausströmte, einzuordnen. Als er nun seine heisere Stimme erhob, herrschte sofort spannungsgeladene Stille im Raum. »Dann sag endlich, was du zu sagen hast!«

Der Fremde lächelte gequält. »Vielleicht könnten wir uns dazu setzen?«

»Wir stehen.«

Die Drohung in Hralfors Stimme war nicht zu überhören.

»Also gut.« Resigniert zuckte der Mann mit den Schultern. »Wir versuchen schon sehr lange, endlich mit einem von euch Wachenden Kontakt aufzunehmen und du als Vargéri warst unser bevorzugter Mann. Aber immer, wenn wir endlich dein spezielles, bioenergetisches Strahlungsfeld aufgefangen und den Ort deines Weltensprungs erreicht hatten, warst du längst wieder verschwunden. Du warst bisher immer so schnell, dass nicht einmal genügend Zeit blieb, die energetischen Sprungströmungen zu blockieren. Aber aus irgendeinem Grund hat dein letzter Aufenthalt diesmal länger gedauert.«

Sein kurzer, nachdenklicher Blick schweifte zu Hannah, die bei seinen Worten bleich wurde und schuldbewusst zu Hralfor aufsah. Er hatte den Erklärungen des Fremden bisher mit versteinerter Miene gelauscht. Doch nun spürte sie, wie er sie beruhigend an sich drückte, während der Fremde fortfuhr.

»Somit war es uns diesmal möglich, deinen Weltensprung zu verhindern. Allerdings hat es danach noch eine ganze Weile gedauert, deinen derzeitigen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.«

Hannah konnte vor Empörung nur noch flüstern. »Sie waren es also, der ihn daran gehindert hat, zurückzukehren! Ist Ihnen eigentlich klar, was Hralfor in den vergangenen Stunden in dieser Welt alles hätte zustoßen können?« Vor lauter Wut zitterte sie am ganzen Leib.

Der Fremde sah sie ernst an. »Glaub mir, kleine Lady, die Organisation, für die ich arbeite, besitzt genug Einfluss, um ihn aus allen Schwierigkeiten auch wieder herauszuholen.«

Hannah reagierte auf seine Überheblichkeit mit beißendem Sarkasmus. »Und was hätte Ihr ganzer Einfluss ausgerichtet, wenn Hralfor inzwischen von einem in Panik geratenen Polizisten erschossen worden wäre?« Verächtlich rümpfte sie die Nase. »So viel zu Ihrer tollen Organisation, die einen ganzen Tag benötigt, um jemanden ausfindig zu machen!«

Erstaunt sah Hralfor auf das zornbebende Mädchen hinunter, das er in seinem Arm hielt. Ihre Augen blitzten vor Wut – sie schienen regelrecht Funken zu versprühen. Beinahe tat ihm der Fremde leid, der nun unsicher einen Schritt vor ihr zurückwich und sie dann entschuldigend ansah. Nichts erinnerte mehr an das sanfte Wesen, das ihn so fürsorglich aufgenommen, oder an das fast schon zerbrechliche Geschöpf, das ihn mit seiner Musik verzaubert hatte. Sie war wie eine wütende Wölfin, die ihre Jungen verteidigte.

Und da wurde ihm plötzlich klar, dass er sich unwiderruflich in Hannah verliebt hatte.

Die Erkenntnis traf ihn so heftig, dass es schmerzte. Für einen kurzen Augenblick vergaß er den Fremden, der vielleicht eine tödliche Bedrohung für ihn darstellte, er vergaß die Tatsache, dass er sich in einer Welt befand, in der er nie würde leben können, und dass das Mädchen, das er liebte, aus genau dieser Welt kam. In diesem Augenblick fühlte er sich so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Doch dann holte ihn die Realität ein und er wusste wieder, was er war und wo er sich befand.

Ganz sacht löste er seinen Griff um Hannahs Schulter, obwohl ihm dabei das Herz blutete. Entschlossen wandte er sich an den Fremden. Seine Augen glühten. »Was erwartest du von mir? Geht es um einen Auftragsmord? Dazu ist ein Vargéri doch gerade gut genug, nicht wahr?«

Entsetzt starrte der Fremde ihn an. »Um Himmels willen, Junge, habe ich mich wirklich so falsch ausgedrückt? Dann ist es ja noch schlimmer, als ich dachte. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Wir möchten, dass du die Arbeit, die du als Wachender verrichtest, für uns machst, aber ohne jemanden zu töten und in einem größeren Stil, als du es dir auch nur vorstellen kannst.« Hilfe suchend wandte er sich an Hannah. »Lady, ich weiß, dass du im Moment nicht gerade gut auf mich zu sprechen bist, aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir ein Glas Wasser anbieten könntest. Und wenn ich mich nicht bald setzen darf, falle ich noch um. Ich bin seit vorgestern Morgen ununterbrochen auf den Beinen.«

Erschrocken zuckte er zusammen, als Hralfor plötzlich hoch vor ihm aufragte und ihn aus schmalen Augen anfunkelte.

»Woher ist dir der Begriff des Wachenden bekannt und was weißt du über die Arbeit, die ich verrichte?«

»Mein lieber Junge, meine Organisation gibt es schon eine ganze Weile länger als dich. Wir haben die Sicherung der Weltengrenzen schon durchgeführt, als man auf Vargor noch nichts von Weltensprüngen gewusst hat. Und seit die Verbannten mitbekommen haben, wie man so einen Weltensprung gezielt durchführt, haben wir den einen oder anderen von ihnen aufgegriffen, bevor er Unheil anrichten konnte. Bevor wir ihn dann wieder nach Hause geschickt haben, wurde er verhört. Du glaubst nicht, welche Geschichten die Verbannten über euch Wachende berichten. Ihr seid bei denen nicht sonderlich beliebt.«

»Was haben sie sonst noch erzählt?«

Hralfors Gesicht war vor Zorn tiefdunkel und Hannah wusste, dass es die Sorge um das Geheimnis seiner Heimatwelt war, die ihn so heftig reagieren ließ.

»Nun, sie konnten uns leider nicht erklären, woher dieses plötzliche Wissen um die Weltensprünge stammte. Ebenso wenig, wie sie wussten, aus welcher Welt ihr Wachenden eigentlich kommt. Genau deshalb war es für uns ja so wichtig, mit einem von euch zu sprechen, verstehst du jetzt?« Seine Stimme wurde beschwörend. »Seit die Verbannten Vargors auf mysteriöse Weise mit diesen Kenntnissen vertraut gemacht wurden, häufen sich ihre Übergriffe auf unsere Welt. Wir müssen unbedingt verhindern, dass dieses Wissen auch an andere Welten weitergegeben wird. Es gibt auch so schon genügend zufällige Eindringlinge hier, aber die hat es schon immer gegeben. Damit werden wir fertig. Ganz anders sieht es bei gezielten Übergriffen aus. Wir könnten Gefahr laufen, Opfer einer Invasion zu werden.«

Hralfor hörte dem Fremden aufmerksam zu. Ganz langsam verschwand der Zorn aus seinen Augen. Er hatte tatsächlich ein gewisses Verständnis für die Sorge dieses Mannes. Im Grunde sorgte sich der Fremde genauso um das Wohlbefinden dieser Welt, wie er selbst sich um seine eigene Welt sorgte. Auch er würde mit allen Mitteln darum kämpfen, Gefahr von seiner Heimat abzuwenden.

Hannah hatte dem Fremden inzwischen ein Glas Wasser auf den kleinen Tisch gestellt und wies auffordernd auf den Sessel, der davorstand. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich der Mann darauf nieder. Er leerte das Glas in einem Zug. Hannah setzte sich ihm gegenüber auf die Couch und achtete dabei darauf, dass auch für Hralfor noch ausreichend Platz blieb. Nach kurzem Zögern setzte er sich neben sie.

Dann beugte Hannah sich zu dem Fremden. »Ich hatte bis gestern Nacht keine Ahnung davon, dass es außer der Erde noch andere, bewohnte Welten gibt. Vielleicht können Sie da verstehen, dass mich dieses Gespräch eben ziemlich überfordert hat. Da ich nun einmal in das alles hineingezogen wurde, habe ich wohl auch das Recht auf eine genaue Erklärung. Ich würde zuerst einmal gern wissen, was das für eine dubiose Organisation ist, für die Sie arbeiten, warum wir nichts von ihr wissen und was sie überhaupt macht. Danach können Sie mir dann erklären, was genau Sie von uns wollen. Im Übrigen heiße ich Hannah und nicht Lady und es wäre mir ganz recht, wenn ich auch Ihren Namen erfahren könnte.«

Der Fremde sah Hannah bei ihren Worten unbehaglich an. Er wirkte nicht besonders glücklich über ihre Fragen. Doch schließlich seufzte er und sah ihr geradewegs in die Augen. »Also gut, Hannah. Man nennt mich Jacob McLeod und ich arbeite für die Organisation zur Kontrolle Interversaler Aktivitäten, kurz OCIA.«

Er holte einmal tief Luft, bevor er fortfuhr. »Um unsere Tätigkeit zu erklären, müssen wir uns zunächst ein wenig mit den Sagen und Mythen dieser Welt sowie mit den Religionen der verschiedenen Völker beschäftigen.«

Er sah sie prüfend an. »Wie wir in Erfahrung gebracht haben, stammt deine Mutter aus Irland, sodass du vermutlich bestens mit keltischen Sagen und Gottheiten vertraut bist, nicht wahr?«

Als Hannah zögernd nickte, fuhr er fort. »Dann ist dir bestimmt auch der Name Cernunnos ein Begriff?«

»Cernunnos, der Gehörnte«, leierte Hannah hinunter. Sie kannte diese Sage in- und auswendig. Es war eine der Lieblingsgeschichten ihrer Mutter. »Er ist einer der ältesten keltischen Götter. Er hat die Gestalt eines Mannes, trägt aber das Geweih eines Hirsches. Er ist der Gott der Tiere, aber auch der Fruchtbarkeit.«

Jacob nickte zufrieden. »Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht. Was würdest du nun dazu sagen, wenn ich dir erzählte, dass in einem Paralleluniversum eine Welt existiert, die von humanoiden Lebewesen bewohnt wird, bei denen die Männer tatsächlich ein Geweih tragen? Und jetzt stell dir einmal vor, solch ein Lebewesen gerät durch Zufall in eine Überlappung zweier Paralleluniversen und taucht urplötzlich bei einem keltischen Volk hier auf der Erde auf. Wie würde dieses Volk wohl reagieren?«

Hannah sah ihn aus schmalen Augen an. »Sie würden es höchstwahrscheinlich für einen Gott halten und ihm aufgrund seines Aussehens bestimmte Fähigkeiten andichten.«

»Hervorragend!« Jacob strahlte geradezu vor Zufriedenheit. »Und jetzt lass dir einmal die ganzen anderen Sagen und Mythen durch den Kopf gehen. Sieh zum Beispiel den Großen neben dir etwas genauer an. Fällt dir da nicht ganz spontan ein anderer, sehr bekannter und gefürchteter Mythos ein?«

Empört sprang Hannah in die Höhe und fauchte Jacob wütend an. »Nein, tut es nicht! Sie sind widerlich!«

Jacob betrachtete sie nachdenklich. Dann zuckte er mit den Achseln. »Also gut, dann lassen wir eben den Teil mit den Werwölfen und Vampiren aus.«

Ungerührt ließ er Hannahs funkelnden Blick über sich ergehen. Sie stand eine Weile mit geballten Fäusten da und sah aus, als wolle sie Jacob jeden Moment etwas an den Kopf werfen. Schließlich nahm Hralfor ihre Hand und zog sie sanft zurück auf die Couch. »Lass es gut sein, du weißt, ich bin nicht so schnell zu beleidigen. Ich kenne die Geschichten über Werwölfe und Jacob hat recht. Wenn du dich an die vergangene Nacht erinnerst, erkennst du, wie recht er hat.«

Als er ihrem betroffenen Blick begegnete, strich er ihr leicht über die Wange und platzierte die Haarsträhne, die sich bei ihrem Wutanfall wieder aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter Hannahs Ohr. »Hör dir doch erst einmal weiter an, was er zu sagen hat, bevor du ihn umbringst.«

Hannah schenkte ihm ein ziemlich gequältes Lächeln, bevor sie sich mit finsterer Miene wieder ihrem Besucher zuwandte, der daraufhin mit seiner Erklärung fortfuhr.

»Wenn du jetzt also bereit bist zu glauben, dass hinter jeder nichtmenschlichen Sagengestalt möglicherweise ein sogenannter Parallelweltler stecken könnte, ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Nun stell dir auch noch vor, dass wir uns in einem Multiversum befinden, in dem unzählige Paralleluniversen zeitgleich nebeneinander existieren, und dass es zwischen ihnen aus verschiedenen Gründen immer wieder zu Überlappungen kommt. Du kannst es von mir aus mit der Verschiebung und dem Aufeinanderprallen unserer Kontinentalplatten vergleichen. Und so wie diese tektonischen Verschiebungen zu Erdbeben führen, kommt es bei den Überlappungen, von denen wir hier sprechen, zu einer Art Erschütterung des gesamten Raum-Zeitgefüges der betroffenen Universen, was wiederum einen, wie wir es nennen, zufälligen Interversalsprung zur Folge haben kann. Das ist dann das Phänomen, das Hralfor einen Weltenwechsel nennt, und das wir bei der OCIA salopp als Weltensprung bezeichnen. Hast du so weit alles verstanden?«

Hannah nickte zögernd. »Ich glaube schon.«

»Sehr gut«, bemerkte Jacob zufrieden. »Tatsache ist, dass es diese Interversalsprünge schon immer gegeben hat, und zwar häufiger, als es uns lieb sein kann. Auf diese Weise geraten immer wieder Parallelweltler in unsere Welt und sorgen hier – wenn wir Glück haben – nur für Verwirrung und eventuell für die Entstehung neuer Mythen. Es kann aber auch schlechter für uns laufen und die Parallelweltler stellen für uns eine Gefahr dar. Dann kommt es zu solchen Situationen wie zum Beispiel die, in die du gestern Nacht geraten bist … Und so kommen wir also zu den Aufgaben der OCIA. Ich werde mich kurzfassen und dir hier nicht die ganze Entstehungsgeschichte dieser Organisation herbeten. Nur so viel, dass sie ursprünglich von einer Gruppe Wissenschaftler ganz im Geheimen ins Leben gerufen wurde. Geheim deshalb, weil sie die berechtigte Befürchtung hatten, irgendwann in der Psychiatrie zu landen, wenn sie ihre Vermutungen laut äußern würden.« Er verzog sein Gesicht.

»Diese Kerngruppe bestand vor allem aus Theologen, Biologen, Physikern, Medizinern, Archäologen und Geschichtswissenschaftlern. Sie kamen dem Phänomen der Interversalsprünge eigentlich rein zufällig bei der Erforschung bioenergetischer Strahlungsfelder auf die Spur. Von da an beschäftigten sie sich fieberhaft damit, eine Technologie zu erfinden, die es ermöglichte, diese Sprünge nachzuvollziehen und den jeweiligen Sprungort zu identifizieren. Ziel war es, die Parallelweltler so schnell wie möglich ausfindig zu machen und in Sicherheit zu bringen, bevor sie die Menschen gefährden konnten oder selbst in Gefahr gerieten. Und im Grunde genommen hat sich seither nichts an unserer Arbeit geändert, außer natürlich, dass wir mittlerweile über eine unvergleichlich höherentwickelte Technologie verfügen. Wir sind mittlerweile in der Lage, ebenfalls Interversalsprünge durchzuführen, was es uns ermöglicht, die Parallelweltler wieder in ihr Ursprungsuniversum zurückzuschicken. Da die Interversalsprünge weltweit erfolgen, war es notwendig, ein erdumspannendes Netz unserer Beobachtungsstationen zu schaffen. Zum Glück konnten wir einige finanzstarke Spender für unsere Tätigkeit gewinnen, sodass Geld mittlerweile keine Rolle mehr spielt. Wir haben inzwischen auf jedem Kontinent Beobachtungs- und Einsatzstationen, die auf unterschiedliche Weise getarnt sind. Unauffälligkeit ist unser oberstes Gebot. Die Hauptverwaltung befindet sich in der Nähe von Auckland, Neuseeland, unter dem Deckmantel eines Filmstudios. Hier leben auch die meisten der Parallelweltler, die sich entschlossen haben, für uns zu arbeiten. Dort können sie sich einigermaßen frei bewegen, auch wenn ihr Aussehen für menschliche Begriffe etwas ungewöhnlich erscheint.«

Bei diesen Worten richtete er seinen Blick auf Hralfor, dessen Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck angenommen hatte.

»Ihr könnt euch nun sicher vorstellen, dass eine so umfassende Organisation nur mit einer großen Anzahl sehr verschwiegener Beschäftigter am Laufen gehalten werden kann. Und leider können wir nicht einfach unsere Stellenangebote in der Zeitung annoncieren oder ins Internet stellen. Aus diesem Grund bemühen wir uns, vor allem solche Personen anzuwerben, die auf irgendeine Weise schon einmal mit den Auswirkungen eines Interversalsprungs konfrontiert wurden. Diese Personen sind nach unseren Erfahrungen besonders vertrauenswürdig und verschwiegen.«

Jacobs Stimme war im Lauf des Gesprächs immer schnarrender geworden. Er schien tatsächlich ziemlich erschöpft zu sein. Und obwohl er nicht schwitzte, vertrug er die hochsommerliche Wärme offensichtlich nicht besonders gut. Immer häufiger fuhr er sich unbehaglich mit dem Finger in den Kragen seines hellblauen Hemdes, und öffnete schließlich den obersten Knopf.

Hralfor, der gegen Ende von Jacobs Erklärungen unauffällig und völlig lautlos aufgestanden war, um in die Küchenzeile zu gehen, stand plötzlich neben seinem Sessel und schenkte ihm wortlos frisches Wasser in sein Glas.

Ungläubig starrte Jacob in die gelb glühenden Augen. Er räusperte sich verlegen. »Vielen Dank, Großer, das ist echt aufmerksam von dir.«

Hralfor schenkte ihm ein ironisches Lächeln. »Keine Ursache. Und nachdem du nun Hannahs erste Fragen beantwortet hast, kommen wir zu ihrer letzten. Was genau willst du von uns?«

Sein Blick war jetzt stahlhart und bohrte sich forschend in Jacobs Augen.

»Jedenfalls nichts, wofür du mich gleich durchbohren müsstest, Großer«, erwiderte Jacob McLeod. »Ich dachte eigentlich, ich hätte es schon erklärt. Wir brauchen neue Leute, die uns bei der Arbeit helfen, und ihr beide steckt doch sowieso schon bis zum Hals in der Sache drin.«

Hralfors Augen verengten sich zweifelnd. »Was könnten wir schon groß helfen? Ein Vargéri, der überall, wo er auftaucht, für Panik sorgt und ein junges Mädchen, das noch nicht einmal in der Ausbildung steckt.«

»Jetzt aber mal langsam, Großer«, schnarrte Jacob. »Dein Aussehen hat dich bisher auch nicht daran gehindert, hier in dieser Welt den Aufpasser zu spielen und das sogar mit ziemlichem Erfolg. Und, ehrlich gesagt, haben wir bisher so gut wie keine Mitarbeiter, die allein auch nur annähernd mit einem Vargéri fertig werden könnten. Vor allem, weil unsere üblichen Betäubungswaffen fast keine Wirkung auf sie erzielen. Bei den Weltensprüngen der Verbannten musste bisher immer die Hälfte unserer Einsatzleute an den Sprungort geschickt werden, um eine Chance gegen sie zu haben. Wir wollen sie schließlich nur überwältigen und nicht töten. Und was die kleine Lady angeht …«

Hannah verdrehte genervt die Augen

»… sehe ich jede Menge Potenzial. Ein Mädchen, das von solchen Bestien angefallen wird und gleich danach einem von derselben Art Unterschlupf gewährt, damit ihm nichts zustößt, ist schon ziemlich außergewöhnlich. Die fällt sicher auch nicht gleich in Ohnmacht, wenn sie auf noch fremdartigere Parallelweltler trifft. Genau solche Leute brauchen wir. Außerdem denken wir längerfristig. Was macht das schon, dass sie ihre Schule noch nicht beendet hat? Wenn sie sich heute entschließen würde, bei uns mitzumachen, hätte sie morgen die Anmeldebestätigung für eine der besten Schulen in der Hand. Und dazu die Option, danach ein Studium ihrer Wahl zu machen.«

Er drehte sich hoffnungsvoll zu Hannah um. »Ich erwähnte doch bereits, dass die OCIA über ausgezeichnete Verbindungen verfügt. Wir beschäftigen Wissenschaftler, die zu den klügsten Köpfen dieses Planeten zählen. Du hättest die einmalige Chance, bei diesen Koryphäen zu lernen.«

Jacob klang so begeistert und Hannah musste zugeben, dass das, was er ihr da in Aussicht stellte, sie durchaus reizte.

Jacob, der das interessierte Funkeln in ihren Augen bemerkte, strahlte sie erwartungsvoll an. Dann fiel sein Blick auf Hralfor, der hoch aufgerichtet neben seinem Sessel stand und finster vor sich hin grübelte. Sein Gesicht hatte dabei einen so grimmigen Ausdruck angenommen, dass Hannah ihn entsetzt anstarrte. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den er während seines Kampfes mit den Verbannten gehabt hatte. Sie hatte gehofft, ihn nie wieder sehen zu müssen.

Als Jacob nach einiger Zeit noch immer keine Reaktion auf seine Ausführungen erhielt, seufzte er und griff in die Innentasche seiner Jacke. Er zog zwei schmale Visitenkarten hervor und legte sie auf den Tisch. Dann erhob er sich langsam und ging zur Wohnungstür, wo er sich noch einmal zu Hannah und Hralfor umdrehte.

»Ich weiß, dass das alles ziemlich viel auf einmal ist. Ihr habt also etwas Bedenkzeit. Überlegt es euch gründlich. Ich glaube, so eine Chance werdet ihr nie wieder haben. Ich komme in zwei Tagen zurück, das müsste ausreichen.«

Er wollte schon gehen, als Hannah ihn mit schneidender Stimme zurückhielt.

»Einen Moment noch! Was ist mit der Blockade von Hralfors Rücksprung, oder wie Sie das auch immer nennen? Wird die jetzt aufgehoben?«

»Die Blockade wird in zwei Tagen aufgehoben, egal, wie er sich entscheidet. Bist du jetzt zufrieden, kleine Lady?«

»Nein, absolut nicht!«, fauchte sie zurück. »Was, wenn er innerhalb dieser Zeit doch noch entdeckt wird und dann keine Möglichkeit hat, zu fliehen? Haben Sie mal daran gedacht?«

Jacob begann nun, übers ganze Gesicht zu grinsen und blickte zu Hralfor. »Wie hast du es bloß geschafft, in so kurzer Zeit eine so leidenschaftliche Anwältin zu finden, Großer? Man könnte dich glatt beneiden. Und weißt du was? Egal, wie du dich entscheidest, ich werde alles daransetzen, das Mädchen für uns anzuwerben, auch wenn es die nächsten Jahre dauert.«

Dann wandte er sich wieder an Hannah, die ihn wütend anfunkelte. »Keine Sorge, kleine Lady, wir bleiben diesmal in der Nähe und passen auf, dass dem Großen nichts passiert. Aber auf diese Bedenkzeit von zwei Tagen müssen wir bestehen, sonst verschwindet er schon heute Nacht auf Nimmerwiedersehen, ohne in Ruhe über alles nachgedacht zu haben.«

Damit drehte Jacob sich endgültig um und verließ das Haus.

Hralfor war inzwischen an das Fenster geglitten und sah der gedrungenen Gestalt nachdenklich hinterher, bis sie außer Sicht war.

Lange Zeit herrschte Stille in der kleinen Wohnung, die Hannah schließlich mit angespannter Stimme durchbrach. »Was wirst du jetzt tun?«

Der Vargéri drehte sich langsam zu ihr um. Ein feines Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Jetzt werde ich deinen Verband wechseln und hoffen, dass du mir deine Gastfreundschaft noch für weitere zwei Tage anbietest.«

Hannah schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser sorglosen Ruhe. »Wie kannst du nach dem, was wir gerade erfahren haben, so cool sein? Für mich wurde gerade meine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Ich komme mir vor wie in irgendeinem billigen Science-Fiction-Film. Und du denkst an meinen Verband! Was soll außerdem diese Frage? Na klar, kannst du hierbleiben, so lange du willst.«

Hralfor kam zu ihr und ging vor Hannah in die Hocke. Dennoch musste sie den Kopf heben, um in seine amüsiert funkelnden Augen zu blicken.

»Warum sollte ich mich aufregen? Im Grunde genommen hat dieser Besuch meine Lage nicht verschlechtert, sondern eher verbessert. Ich weiß nun, dass der Übergang in zwei Tagen wieder geöffnet sein wird. Das ist doch recht beruhigend. Im Übrigen habe ich durch Jacobs Worte nichts Neues erfahren, außer dass es auch hier, in dieser Welt, so etwas wie unsere Wachenden gibt. Du vergisst, dass mir schon seit einiger Zeit bekannt ist, dass mehr als eine bewohnte Welt existiert.«

Hannah schniefte. »Klar, du hast ja recht, für dich ist das alles fast schon alltäglich. Aber glaubst du ihm denn, wenn er sagt, dass er dich wieder gehen lassen wird?«

Seine Miene verfinsterte sich etwas. »In dieser Beziehung hat er nicht gelogen.«

Hannah sah ihn besorgt an. »Aber in anderen Dingen, oder?«

»Ich würde nicht sagen, dass er gelogen hat«, erwiderte er nachdenklich. »Er hat lediglich ein paar Tatsachen bei seiner Erklärung ausgelassen.«

Als er Hannahs fragenden Blick sah, lächelte Hralfor kurz. »Er hat zum Beispiel nicht alle Gründe genannt, warum er mich für diese Arbeit anwerben will.« Unwillig runzelte er die Stirn. »Er hofft, durch mich mehr über meine Heimatwelt herauszufinden. Und das werde ich nicht zulassen.«

Hannah nickte und spürte, wie bei seinen Worten der kleine Hoffnungsfunke erlosch, der vorhin bei Jacobs Angebot kurz in ihr aufgeflackert war. »Das bedeutet, dass du über sein Angebot gar nicht erst nachdenken musst. Dein Entschluss steht bereits fest, weil du deine Heimatwelt zu schützen hast.«

»Du musst das verstehen.« Hralfor griff sanft nach ihren Händen, die sie in ihrem Schoß verkrampft hatte. Sein Blick war eindringlich. »Sie haben die Möglichkeit, unsere Übergänge zu blockieren. Diesmal haben sie zum Glück mich erwischt. Aber ich wage nicht, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn sie einen der anderen Wachenden aufgegriffen hätten. Bisher wissen sie noch nicht, aus welcher Welt wir tatsächlich stammen, doch das könnte sich schlagartig ändern, wenn sie einen echten Abkömmling meiner Welt zu fassen bekommen. Ich muss meine Leute warnen. Unsere Übergänge hierher sind zu gefährlich – wir müssen sie einstellen. Das Abkommen mit Vargor muss rückgängig gemacht werden. Jetzt, da wir wissen, dass deine Welt über die vargérischen Übergriffe Bescheid weiß und sich auch selbst dagegen schützen kann, ist es nicht mehr nötig, dass wir uns einmischen.«

»Also wirst auch du dann nie mehr hierherkommen, nicht wahr?« Hannahs Stimme klang gepresst vor unterdrückter Tränen.

Hralfor fühlte sich, als würde ihm das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen. »Jacob hat ganz bewusst nicht verraten, über welche Möglichkeiten sie noch verfügen. Wenn sie in der Lage sind, einen Sprungort auszumachen, können sie vielleicht auch herausfinden, wohin dieser Sprung führt. Jeder Weltenwechsel könnte ihnen deshalb den Weg in meine Welt weisen. Und das darf nie geschehen. Ich wage nicht, daran zu denken, welchen Schaden ein so kriegerisches Volk wie das der Menschen in meiner friedlichen Welt anrichten könnte.«

»Aber wie willst du das verhindern, wenn du in zwei Tagen wieder zurückkehrst?«, fragte Hannah besorgt.

Hralfor seufzte. »Das Risiko ist natürlich groß, doch ich werde zunächst nach Vargor wechseln und mich eine Weile dort auf-halten, um meine Spur zu verwischen. Dann muss ich jedoch dem Hohen Rat meiner Welt Bericht erstatten.«

Hannah runzelte besorgt die Stirn. »Wenn Jacob von deinen Absichten erfährt, lässt er dich vielleicht doch nicht gehen.«

Hralfor lachte grimmig auf. »Er wird nichts davon erfahren. Ein Vargéri versteht sich nicht nur aufs Kämpfen, sondern auch aufs Täuschen.«

Bei dieser Äußerung trat ein bitterer Ausdruck der Selbstverachtung auf Hralfors Gesicht, der Hannah betroffen machte. Schnell legte sie ihm eine Hand an die Wange.

»Wenn man jemanden täuscht, um andere dadurch vor einer Gefahr zu bewahren, ist das absolut nichts Schlechtes. Und wenn man es auch noch tut, obwohl es einem schwerfällt, ist das einfach nur selbstlos. Hör endlich auf, dich schuldig zu fühlen, weil dein Vater ein Verbrecher war.«

Sanft strich sie ihm mit dem Daumen über die dunkle, finster zusammengezogene Augenbraue und Hralfors Miene entspannte sich wieder. Seine raue Stimme klang bewegt. »Jacob hat recht, ich weiß nicht, womit ich deine Freundschaft überhaupt verdient habe. Ich wünschte, es gäbe eine andere Lösung. Du wirst mir fehlen.«

»Ja, du wirst mir auch fehlen, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.« Vorsichtig zog sie ihre Hand zurück und seufzte tief auf. »Auf jeden Fall werden wir versuchen, es uns die nächsten beiden Tage so schön wie möglich zu machen. Morgen muss ich zwar in die Klinik, aber vielleicht kann ich meine Stunden übermorgen auf einen anderen freien Tag verlegen. Dann bleibt uns etwas mehr Zeit miteinander.«

Aufmunternd lächelte Hannah Hralfor an, doch der Eisklumpen in ihrem Magen war mittlerweile so groß geworden, dass er bereits an ihre Kehle heranreichte, sodass sie fürchtete, daran ersticken zu müssen.

Egal, wie viel Zeit sie in den nächsten beiden Tagen mit Hralfor verbringen konnte – es war immer noch zu wenig.

Sohn der Monde - OCIA

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