Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12

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»Einen schönen Feierabend allerseits!« Daniel Norden stand an der Tür des Aufenthaltsraums und wartete auf seine Frau, die noch schnell zwei Tassen in den Geschirrspüler stellte.

Sehnsüchtige Blicke trafen ihn.

»Ihr Glücklichen, ihr habt euer berufliches Ziel für heute erreicht: Den Feierabend!«, bemerkte Schwester Elena, die eben erst gekommen war und die ganze Nacht bleiben würde.

Alle lachten. Bis auf Fee. Ein durchdringendes Geräusch lenkte sie ab.

»Ich fürchte, wir haben zu lange gewartet.« Sie drückte Daniel Mantel und Handtasche in den Arm und nestelte den Pieper heraus, der noch an ihrem Hosenbund klemmte und den sie vergessen hatte. »Notaufnahme. Matthias braucht mich«, teilte sie ihm nach einem kurzen Blick auf das Display mit.«

»Ich komme mit.« Daniel zögerte nicht. Seite an Seite eilten sie den Flur hinunter Richtung Ambulanz. Schon von Weitem hörten sie aufgeregte Stimmen. Sie bogen um die Ecke. In diesem Moment hob Dr. Matthias Weigand den Kopf und entdeckte die Chefin der Pädiatrie.

»Gut, dass du hier bist. Wir ­haben einen anaphylaktischen Schock.«

Das Kind auf der Krankenliege bot einen erschreckenden Anblick. Es wand sich vor Bauchkrämpfen. Gleichzeitig schnappte es verzweifelt nach Luft. Seine Lippen und Finger waren blau verfärbt. In Windeseile wurde der röchelnde Junge ins Behandlungszimmer gebracht.

Die Eltern waren bei ihrem Sohn.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Fee.

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, stammelte Magdalena Kron­seder. »Niklas’ Schwester ist vom Stuhl gefallen. Ich musste sie sofort aus dem Hort holen. Deshalb habe ich die neuen Nachbarn gebeten, kurz auf den Kleinen aufzupassen. In der Eile habe ich vergessen, ihnen zu sagen, dass er schwer al­lergisch auf Nüsse reagiert. Er sollte doch nur ein paar Minuten bleiben … «

Ihr Mann Gregor legte den Arm um ihre Schultern.

»Mach dir keine Vorwürfe, Liebes.« Beruhigend sprach er auf sie ein. »Du konntest ja nicht wissen, dass sie ihm ausgerechnet Nusskuchen geben. Na ja, irgendwie auch verständlich. Sie haben es nur gut gemeint, zart und schmächtig, wie er ist.«

Den starren Blick auf ihr Kind gerichtet, schmiegte Magdalena sich an ihn.

»Trotzdem … «

Inzwischen hatte Felicitas Norden die Untersuchung abgeschlossen und eine Entscheidung getroffen.

»Wir geben Adrenalin und Kortison. Schnell!«, ordnete sie an. Nik­las’ Allgemeinzustand war alarmierend. Es war nicht abzusehen, wie lange der gequälte kleine Körper dieses Leid noch mitmachen würde. Eile war geboten. Eine Schwester wollte sich schon auf den Weg machen, als Gregor Kronseder den Kopf schüttelte.

»Kortison können Sie sich leider sparen, Frau Doktor.«

Alarmiert hob Fee den Kopf.

»Schlägt es nicht mehr an?«

»Beim letzten Allergieanfall hat Niklas schon jedes Medikament bekommen, das irgendwie helfen könnte.« Magdalena versagte die Stimme. Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie presste die Hand vor den Mund.

»Vergeblich«, fuhr Gregor Kronseder um Fassung bemüht fort.

Felicitas dachte kurz nach. Dann ordnete sie ein anderes Medikament an, das Dr. Matthias Weigand verabreichte. Sie nahm den Vater zur Seite, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Sie musste unbedingt mehr über den Leidensweg des kleinen Niklas erfahren.

»Hat Ihr Sohn solche Anfälle öfter?«

»Wie das bei Allergien so ist, hat es lange gedauert, bis wir herausgefunden haben, was überhaupt mit ihm los ist«, erzählte der besorgte Vater bereitwillig. »Bis dahin hatte sich aus einer anfänglichen Unverträglichkeit eine handfeste Allergie entwickelt. Den letzten Anfall hatte er an Weihnachten. Da hat er ein paar Plätzchen stibitzt, die wir geschenkt bekommen hatten.« Gregor fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der Blick, den er Felicitas gleich darauf schickte, traf sie bis ins Mark. »Nik­las ist doch noch so klein. Er versteht nicht, dass er keine Nüsse essen darf. Das letzte Mal hat uns der Arzt schon gesagt, dass er einen weiteren Anfall möglicherweise nicht überlebt.«

Solche Aussagen waren nach Fees Geschmack zu drastisch. Aus Erfahrung wusste sie, dass es Hoffnung gibt, wo Leben ist. Es galt, einen Mittelweg zu finden, um den Eltern den Ernst der Situation klarzumachen, ohne die Flinte ins Korn zu werfen. Der Grat, auf dem sie ging, war sehr schmal.

»Der Zustand Ihres Sohnes ist wirklich sehr ernst.«

»Mama! Papa!« Eine leise, heisere Stimme aus dem Hintergrund unterbrach das Gespräch der Erwachsenen.

Gregor fuhr herum und eilte ans Bett seines kleinen Sohnes. Magdalena stand schon da und streichelte die schweißnasse Stirn des Kleinen. Sie hatte sich ein Lächeln auf die Lippen gezwungen. Auf keinen Fall sollte Niklas merken, dass sie geweint hatte.

»Mein tapferer kleiner Mann!«

»Ich bin so müde«, jammerte Niklas leise. »Ich will in mein Bett.«

Gregor sah hinüber zu Fee Norden. Die verstand die stumme Frage und schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid. Wir müssen Ihren Sohn eine Weile zur Beobachtung hierbehalten.« Sie würde sich nie daran gewöhnen, einem Kind einen Herzenswunsch abschlagen zu müssen. »Es ist möglich, dass durch die schwere Reaktion innere Organe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Untersuchungen werden ein paar Tage in Anspruch nehmen.«

Dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiterer Anfall folgte, wollte sie dem Ehepaar Kronseder nicht sagen.

Die Eltern schickten sich stumme Blicke, ehe sie übereinstimmend nickten.

»Seine Sicherheit geht vor«, erklärte Gregor.

Felicitas lächelte. Nicht immer hatte sie es mit einsichtigen Angehörigen zu tun.

»Natürlich können Sie bei Nik­las bleiben und in seinem Zimmer übernachten«, versicherte sie. Das war das Einzige, was sie den gequälten Eltern anbieten konnte. Das erhoffte Wunder konnte sie nicht vollbringen. So sehr sie es sich auch wünschte.

*

Die Maschine aus Kambodscha war vor einer halben Stunde gelandet. Aufgeregt wie ein Schulmädchen stand Leonie Jürgens am Gate und wartete darauf, dass ihr einziger Sohn Caspar endlich durch die gläsernen Türen trat. Sie musste sich lange gedulden. Als einer der Letzten kam Caspar endlich heraus. Braungebrannt und mit von der Sonne gebleichten Haaren schlurfte er ihr grinsend entgegen. Den Rucksack hatte er lässig über die rechte Schulter geworfen und an den Füßen trug er Flipflops. Sein Anblick war nicht gerade das, was Leonie erwartet hatte. Doch sie machte gute Miene zum bösen Spiel und umarmte Caspar innig. Der junge Mann, der kaum mehr eine Ähnlichkeit mit dem gutaussehenden Hotelmanagement-Studenten im gutsitzenden Anzug hatte, der er vor ein paar Monaten noch gewesen war, ließ die Zärtlichkeiten notgedrungen über sich ergehen.

»Wie schön, dass du endlich wieder da bist«, flötete Leonie in sein Ohr.

»Vorsicht, Mama, sonst machst du dich noch schmutzig«, spottete Caspar und löste sich aus der Umarmung, die für seinen Geschmack schon viel zu lange gedauert hatte.

Die Bemerkung war durchaus berechtigt. Neben der gepflegten Leonie in ihrem teuren Kostüm in hellem Beige wirkte Caspar wie ein Obdachloser.

Sie verstand die Ironie in seinen Worten nicht.

»Ach was, das kann man alles wieder waschen.« Sie winkte ihn mit sich Richtung Ausgang, wo sie ihre Luxuslimousine geparkt hatte.

Beim Anblick des exklusiven Gefährts verdrehte Caspar die Augen.

»Mensch, Mama, ich habe dir doch gesagt, dass du nicht mit dem Schlitten herkommen sollst«, schimpfte er. »Ich hätte doch mit der Bahn fahren sollen … «

»Unsinn. Stell dich nicht so an!«, schalt sie ihn und ließ die Schlösser aufschnappen. Lautlos öffnete sich der Kofferraumdeckel. Caspar warf den Rucksack achtlos hinein und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Nach einer Dusche und einem Besuch beim Friseur bist du wieder einer von uns«, verkündete seine Mutter, die hinter dem Steuer Platz nahm. Der Motor schnurrte leise wie ein Kätzchen. Ein paar Minuten später fuhr sie auf die Autobahn Richtung Innenstadt. »Habe ich dir schon erzählt, dass sich Herr von Stein endlich entschlossen hat, in Rente zu gehen?«, erkundigte sie sich und nestelte die Sonnenbrille aus der Ablage über dem Rückspiegel.

»Habe ich dir nicht schon hundert Mal gesagt, dass du dich auf das Autofahren konzentrieren sollst?«, tadelte Caspar seine Mutter. Er schlüpfte aus den Flipflops und stellte die nackten Füße auf das Armaturenbrett.

Leonie schrie entsetzt auf.

»Caspar!«

Er lachte.

»Keine Sorge, sie sind sauber.«

»Trotzdem. Das ziemt sich nicht für einen angehenden Hotelmanager.«

Das Lachen auf Caspars Gesicht erstarb. Er nahm die Füße vom Armaturenbrett und setzte sich kerzengerade auf.

Die Genugtuung stand Leonie ins Gesicht geschrieben. Aber nur kurz.

»Ich muss dir etwas sagen, Mama.« Caspars Stimme klang unheilverkündend.

Sie lachte unsicher.

»Lass mich raten: Du hast einen prähistorischen Buddha am Strand gefunden und ihn hergeschmuggelt?«, versuchte sie zu scherzen.

Genervt verdrehte Caspar die Augen.

»Kannst du bitte mal ernst bleiben?«

Leonie umklammerte das Lenkrad und starrte angestrengt geradeaus.

»Also gut. Was ist passiert?«

»Ich werde Herrn von Steins Stelle nicht antreten.«

Vor Schreck stieg Leonie Jürgens auf die Bremse. Der Wagen hinter ihr konnte in letzter Sekunde ausweichen. Quietschende Bremsen und das folgende Hupkonzert lenkten Mutter und Sohn von ihrem Gespräch ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten.

»Das war knapp! Willst du uns alle beide umbringen?«, fragte Caspar endlich vorwurfsvoll. Die überstandene Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Das finde ich dann doch übertrieben.«

»Ich hoffe für dich, dass ich mich vorhin verhört habe.«

Diesmal war es Caspar, der angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte.

»Und was, wenn nicht?«

Leonie Jürgens war besonnen genug, um nicht noch einmal eine Vollbremsung hinzulegen.

»Was soll das heißen?«, fragte sie scharf und schaltete in den fünften Gang, um auf der linken Spur zu überholen. Wie ein Geschoss raste der Wagen über die Autobahn. Früher hatte Caspar gekreischt vor Freude und Aufregung. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Seine Träume waren nicht mehr dieselben.

»Das heißt, dass ich meine Pläne geändert habe.« Er wagte es nicht, zu seiner Mutter hinüberzusehen.

Leonie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.

»Ich wusste doch, dass dich diese Reise nur auf dumme Ideen bringt.«

»Das sehe ich anders. Diese Reise hat mir vielmehr die Augen für den geöffnet, was wirklich wichtig ist im Leben. Luxuriöse Hotels mit Whirlpool auf dem Zimmer und Champagner in der Minibar gehören definitiv nicht dazu.«

Allmählich ging Leonie auf, dass ihr Sohn es ernst meinte.

»Darf ich dich daran erinnern, dass du immer vorhattest, den Betrieb in München zu übernehmen? Dafür hast du studiert.« Unwillig schüttelte sie den Kopf und setzte den Blinker. Die Ausfahrt war nicht mehr weit. »Ich habe mich so sehr darauf gefreut, mit dir zusammenzuarbeiten. Herr von Stein hat versprochen, dir alles beizubringen, was er weiß. Das ist eine einmalige Chance.«

Geduldig hörte Caspar den Ausführungen seiner Mutter zu.

»Im Augenblick finde ich es aber wichtiger, meine eigenen Erfahrungen zu sammeln«, wandte er so sanft wie möglich ein. Er kannte Leonie gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht noch mehr reizen sollte, wenn er sein Ziel erreichen und ihren Segen wollte.

»Na gut. Wenn das so ist, lassen wir das mit der Einarbeitung. Dann machst du deine Fehler eben selbst.«

Sie hatten ihr Ziel, das Nobelhotel in der Münchner Innenstadt, erreicht. Leonie stellte den Wagen vor dem Eingang ab. Sofort sprang ein Fahrer herbei, um ihn in der Garage zu parken. Ein anderer dienstbarer Geist trat zu ihnen, um Caspars Rucksack zu tragen. Doch auch das war dem jungen Ausreißer nicht recht. Er schickte den Pagen weg und trug sein Gepäck selbst. Kopfschüttelnd folgte seine Mutter ihm.

Caspar wusste, dass er die Wahrheit nicht länger verschweigen konnte.

»Das werde ich tun. Aber nicht in unserem Hotel. Ich habe schon einen Vertrag in einem Hostel in Siem Reap unterschrieben. Ich bin nur zurückgekommen, um von hier aus ein paar Sachen zu organisieren. Versicherungen, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis … solche Sachen.«

Leonie blieb so abrupt stehen, dass Caspar sie um ein Haar umgerannt hätte.

»Ein Hostel? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«

Mitten in der Lobby und unter den neugierigen Blicken des Personals starrte sie ihren Sohn an. Ihre Stimme hallte schrill von den hohen Wänden. Caspar ballte die Hand zur Faust. Ruhig, Alter, ruhig!, beschwor er sich im Geiste.

»Mein Ausbilder meinte, das wäre die beste Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln. Nur wer ganz unten Erfolg hat, kann oben bestehen.«

»Ach, wirklich? Das hat dein Ausbilder gesagt?«, zischte Leonie Jürgens. »Und das, was ich zu sagen habe, interessiert keinen Menschen, was?«

»Doch. Ich wollte mit dir sprechen. Aber du bist ja nie erreichbar.«

Mutter und Sohn standen einander gegenüber und starrten sich an. Als Caspar bemerkte, wie Leonie mit der Fassung rang, atmete er tief durch. Auf keinen Fall wollte er sie dem Gespött der Angestellten preisgeben.

»Können wir das nicht in deinem Büro besprechen, Mama?«, fragte er sanft.

Seine gute Absicht wurde im Keim erstickt.

»Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gibt«, zischte Leonie. »Das ist eine Schnapsidee, und das weißt du so gut wie ich! Du wirst mir doch nicht im Ernst weismachen wollen, dass du schon immer eine Herberge für minderbemittelte Rucksackträger aufmachen wolltest.«

Caspar traute seinen Ohren nicht.

»Wir redest du denn? Hast du dir überhaupt schon einmal zugehört?«, fragte er fassungslos.

»Lenk nicht vom Thema ab!«, herrschte Leonie ihren Sohn an. »Im Augenblick geht es um dich und nicht um mich.«

Schwer atmend standen sich Mutter und Sohn in der Hotellobby gegenüber, sehr zur Belustigung des Personals. Zum Glück waren wenigstens in diesem Moment keine Gäste zu sehen.

Caspar haderte mit sich.

»Können wir nicht in Ruhe noch einmal über die ganze Sache reden?«, wiederholte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens seine Bitte.

Doch Leonie Jürgens hatte kein Einsehen.

»Es gibt nichts zu besprechen«, erwiderte sie. »Geh bitte hinauf in dein Zimmer und sorge dafür, dass du wieder wie ein Mensch aussiehst. In einer halben Stunde hast du einen Termin mit Herrn von Stein.« Sie nickte ihm kühl zu, ehe sie sich umdrehte und ihn stehen ließ.

Caspar starrte ihr ungläubig nach. Dann wandte er sich ab und rannte Richtung Ausgang. Der Rucksack tanzte auf seinem Rücken. Aufgeschreckt von diesem Geräusch blieb Leonie stehen und fuhr herum. Genau in dem Moment, in dem der Rucksack samt gebleichtem Haarschopf durch die Tür verschwand.

*

»O Dan, das kann doch nicht sein!« Felicitas Norden wanderte in ihrem Büro auf und ab und hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Ihr Mann saß auf der Schreibtischkante und sah ihr bei ihrem rastlosen Marsch zu. Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an. Doch in Wahrheit ging ihr Blick durch ihn hindurch. »Wir müssen doch irgendetwas für den Kleinen tun können. Schwach, wie er ist, stirbt er uns beim nächsten Anfall einfach weg.« Seitdem Niklas Kronseder in die Klinik eingeliefert worden war, hatte sich sein Zustand trotz aller Bemühungen nicht verbessert.

Das wusste Daniel Norden so gut wie seine Frau.

»Leider bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten, wie es morgen früh aussieht.« Diese Worte fielen ihm alles andere als leicht. Und dass sie kein Trost waren, wusste er auch. Aber sollte er seine Frau belügen?

In diesem Moment ging Fees ungeliebter Stellvertreter draußen auf dem Flur am Büro vorbei. Dr. Volker Lammers schnappte die letzten Worte auf und wurde hellhörig. Er zögerte nur kurz. Dann klopfte er.

»Ah, hier sind Sie, Frau Kollegin. Chef!« Er machte zuerst eine Verbeugung in Fees und dann in Daniels Richtung.

Die Erfahrung hatte Felicitas gelehrt, auf der Hut vor diesem Tunichtgut zu sein. Seit der begnadete Kinderchirurg in der Klinik angefangen hatte, sägte er mal mehr, mal weniger auffällig an ihrem Stuhl. Das war aber nur einer der zahlreichen Gründe, warum ihre Antwort nicht besonders freundlich ausfiel.

»Ich bewundere Ihre hervorragende Beobachtungsgabe, lieber Kollege«, erwiderte sie säuerlich.

Doch Lammers wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich daran gestört hätte.

»Ich fragte mich gerade, ob es um den Fall Kronseder geht«, erwiderte er unschuldig.

Felicitas und Daniel tauschten rasche Blicke. Woher hatte der Kollege diese Information schon wieder?

»Es war mir neu, dass Ihre Intuition so gut ausgeprägt ist«, bemerkte Fee trocken.

»Tja, man lernt eben nie aus.« Lammers schenkte ihr ein süffisantes Grinsen, ehe er sich an den Chef Dr. Daniel Norden wandte, der die Klinikleitung erst vor kurzer Zeit von seiner langjährigen Freundin und Kollegin Dr. Jenny Behnisch übernommen hatte. »Haben Sie schon eine Diagnose?«

»Wir haben es mit einer schweren Anaphylaxie mit fast gleichzeitigem Versagen mehrerer Organe zu tun«, erläuterte Daniel Norden. Anders als seine Frau machte er keinen Hehl aus seiner Ratlosigkeit. »Bei jedem weiteren Anfall besteht die Gefahr, dass der Junge stirbt.«

»Verstehe.« Lammers nickte und legte nachdenklich den Zeigefinger an das Kinn. »Aber es gibt Anlass zur Hoffnung. Gerade auf dem Gebiet der Allergologie macht die Forschung täglich große Fortschritte.«

»Jeder Tag könnte einer zu spät sein für Niklas«, gab Felicitas Norden zu bedenken. »Sie wissen ja selbst, dass nach einem anaphylaktischen Schock ein zweites solches Ereignis keine Seltenheit ist. Und selbst, wenn das nicht jetzt passiert, ist Niklas ständig in Gefahr.«

»Kann ich mir die Krankenakte einmal ansehen?«

Fee zögerte. Es war Daniel, der die Entscheidung traf. Er streckte die Hand aus und reichte Lammers die Unterlagen vom Schreibtisch.

»Bitteschön. Jede Meinung ist uns willkommen.«

»Vielen Dank. Ich bringe sie später zurück.« Lammers nickte zum Gruß und war aus dem Zimmer verschwunden, ehe Fee Gelegenheit zu einer Reaktion hatte.

»Na, bravo.« Ärgerlich spendete sie ihrem Mann Applaus. »Du hast soeben meinen Fall an meinen Erzfeind abgegeben.«

Doch Daniel war anderer Meinung. Er rutschte von der Tischkante und legte die Arme auf die Schultern seiner Frau.

»Konkurrenzdenken ist im Augenblick fehl am Platz, Feelein«, raunte er ihr ins Ohr und küsste ihren Hals. »Es geht um das Leben dieses Kindes. Da ist jede Idee hilfreich.«

Mit den Händen in den Kitteltaschen stand Felicitas vor ihrem Mann. Schließlich seufzte sie abgrundtief.

»Natürlich haben Sie recht, Chefarzt Dr. Norden. Es tut mir leid.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. »Bist du auch so hungrig wie ich?« Sehnsüchtig dachte sie an die Abende, die sie im Kreise ihrer Lieben am reich gedeckten Tisch verbracht, zusammen gegessen, gelacht und gescherzt hatten. Diese Zeiten schienen Jahre zurückzuliegen.

»Ich verhungere gleich«, gestand Daniel.

Fee sah sich um.

»Ich könnte dir ein paar staubige Kekse anbieten. Aber draußen der Schrank ist voll mit Sondennahrung. Welche Geschmacksrichtung hättest du gern?«

Daniel Norden lachte belustigt auf.

»Weißt du, was ich an dir liebe?«, fragte er immer noch belustigt. »Dass du nie deinen Humor verlierst.«

»Das ist nichts anderes als mein Überlebenstrieb.«

»Und der sollte uns jetzt schleunigst heimschicken. Aber nicht, ohne vorher einen Abstecher bei Enzo gemacht zu haben.«

Fee zögerte. Dieser Vorschlag war fast so verlockend wie ein Essen im Kreise ihrer Lieben.

»Und was ist mit Niklas?«

»Im Augenblick können wir ihm eh nicht helfen«, gab Daniel zu bedenken. Er ging zum Sessel und nahm den Mantel seiner Frau, den er irgendwann dort abgelegt hatte. »Die Klinik wird sich melden, wenn etwas ist.«

»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, wusste auch Felicitas Norden, und so ließ sie sich auf das Angebot ihres Mannes ein.

*

Dr. Danny Nordens Freundin Tatjana Bohde schlenderte durch die Straßen der Stadt. Es dämmerte. Nach dem langen Winter war die Frühlingsluft angenehm mild. Tatjana liebte den frischen Duft der wiedererwachenden Natur ebenso wie die Vögel, die ihr Abendlied sangen.

Trotz ihrer Sehbehinderung fand Tatjana ihren Weg mit schlafwandlerischer Sicherheit. Das lag an ihren übrigen Sinnen, die sich im Laufe der Zeit auf fast mystische Art und Weise sensibilisiert hatten. So wusste sie auch genau, wer in der Praxis Dr. Norden am Tresen saß. Am Rascheln der Blätter hörte sie, dass die langjährige Assistentin Wendy Belege sortierte. Das Klappern von Geschirr verriet ihr, dass die ehemalige Krankenschwester Janine Tassen und Teller in der kleinen Küche aufräumte.

»Einen wunderschönen guten Abend, die Dame«, begrüßte sie Wendy scherzhaft und zwinkerte ihr zu.

Wendy kannte Tatjana gut genug, um zu wissen, dass sie fast immer zum Scherzen aufgelegt war.

»Guten Abend, junge Frau. Tut mir leid, aber wir haben schon geschlossen.«

»Oh, das ist ja wirklich schade.« Tatjanas Grinsen verriet, dass sie sich freute, in Wendy eine Mitspielerin gefunden zu haben. »Vielleicht könnten Sie trotzdem eine kurze Frage beantworten. Haben Sie zufällig einen gutaussehenden Mann gesehen? Ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß, mit dunklem Haar, das an den Schläfen etwas grau wird. Er ist schlank … na ja … von einem kleinen Wohlstandsbäuchlein abgesehen … Ich bin sicher, dass er sich hier ziemlich oft herumtreibt.«

Nur mit Mühe konnte sich Wendy ein Kichern verkneifen.

»Das mit dem Wohlstandsbäuchlein lässt du ihn mal lieber nicht hören.«

»Und die grauen Schläfen sind eine Frechheit«, ertönte Dannys Stimme aus dem Hintergrund.

Ein siegessicheres Lächeln auf dem Gesicht, drehte sich Tatjana um.

»Tut mir leid. Ich war mir nicht mehr ganz sicher. Schließlich habe ich dich schon lange nicht mehr gesehen. Da passiert so was schon mal.«

»Aber nicht in meinem Alter!«, reklamierte Dr. Danny Norden und trat an den Tresen. Er küsste Tatjana auf den Mund. »Andere Frauen sind übrigens froh, wenn sie ihre Männer möglichst selten zu Gesicht bekommen.«

»Mag sein. Dummerweise bin ich nicht andere.« Tatjana hatte ihre Hände auf seine Wangen gelegt. Ihre Finger fuhren tastend über seine Schläfen. »Du hast übrigens recht. Sie sind noch nicht grau.«

Ihre Beharrlichkeit beunruhigte Danny nun doch. Er schob sie sanft von sich und trat an den Garderobenspiegel, in dem er sich prüfend betrachtete. Erleichtert und ebenso verwirrt kehrte er zu ihr zurück.

»Woher weißt du das eigentlich so genau?«, stellte er eine berechtigte Frage. Manchmal war sie selbst ihm unheimlich.

»Ganz einfach. Graue Haare haben eine andere Struktur.«

Unwillkürlich griff sich Wendy ins Haar, als das Telefon klingelte. Obwohl die Sprechstunde längst vorbei war, zögerte sie nicht, das Telefonat anzunehmen.

»Praxis Dr. Norden, Sie sprechen mit Wendy. Was kann ich für Sie tun?«, sagte sie ihr Sprüchlein auf.

Der Anrufer war so aufgeregt, dass sogar Danny jedes einzelne Wort verstand.

»Hier ist Tim Kröger aus dem ›Buntspecht‹. Ist der Doktor noch da?«

Danny nickte und streckte die Hand nach dem Hörer aus.

»Einen Moment bitte.« Wendy reichte ihn weiter.

Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ich bin in fünf Minuten da«, versprach Dr. Norden, nachdem er sich das Anliegen angehört und ein paar Verhaltensregeln empfohlen hatte, und verabschiedete sich.

Drei Augenpaare ruhten auf ihm.

»Im ›Buntspecht‹ ist ein Gast vom Hocker gekippt.«

»›Bunstpecht‹?«, wiederholte Tatjana, während sie ihrem Freund dabei zusah, wie er in die Jacke schlüpfte. »Gibt es da etwas zu essen?«

Wendy rümpfte die Nase.

»Ehrlich gesagt war ich noch nie in diesem Etablissement. Das ist so eine Spelunke mit Spielautomaten. Wenn es etwas zu essen gibt, dann höchsten eine Currywurst mit Pommes.«

»Dann ist es ja kein Wunder, dass ich es nicht kenne.« Unbeeindruckt zuckte Tatjana mit den Schultern. »Egal, ich komme trotzdem mit. Neue Erfahrungen haben noch niemandem geschadet.«

Danny griff nach der Arzttasche. Er war zum Aufbruch bereit.

»Willst du nicht schon heimgehen? Ich komme dann nach.«

»Dieses Risiko will ich nicht eingehen«, erwiderte Tatjana. »Jetzt, da ich dich gerade erst wiedergefunden habe.« Sie zwinkerte ihm zu zum Zeichen, dass sie es nicht ganz ernst meinte.

Trotzdem lag ein Körnchen Wahrheit in ihren Worten. Seit Dr. Daniel Norden senior die Leitung der Behnisch-Klinik übernommen hatte, führte ihr Freund Danny die Praxis Dr. Norden allein. Wie befürchtet war das Arbeitspensum enorm, zumal die Beliebtheit des Juniors der des Seniors inzwischen in nichts mehr nachstand. Oft kam Danny erst spät nach Hause. Tatjana dagegen musste als Bäckerin die Wohnung schon früh am Morgen verlassen. Umso wichtiger waren die Stunden, die sie gemeinsam verbringen konnten. »Am Ende läufst du mir wieder davon.«

»Gut.« Danny hatte keine Zeit zu verlieren. »Dann komm!« Er verabschiedete sich von seinen Assistentinnen und verließ gemeinsam mit Tatjana die Praxis.

Der Weg zum ›Buntspecht‹ war nicht weit. In weniger als fünf Minuten parkte Danny den Wagen vor der zwielichten Kneipe. Dort wurde er schon sehnsüchtig erwartet.

»Ein Glück! Kommen Sie.« Tim Kröger winkte ihn mit sich ins Lokal. »Und vielen Dank für die Tipps, die Sie mir am Telefon gegeben haben.«

Es dauerte einen Moment, bis sich Dannys Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Laute Musik stampfte aus den Lautsprechern. In einer Ecke blinkten Spielautomaten und dudelten immer gleiche Melodien. Endlich entdeckte Danny den Patienten. Er lag in einer anderen Ecke am Boden, die Beine hochgelagert, eine zusammengefaltete Jacke unter dem Kopf. Tatjana, die ihren Freund nicht bei der Arbeit stören wollte, setzte sich auf einen Hocker am Tresen. Danny dagegen kniete neben dem jungen Mann nieder und griff nach dessen Handgelenk.

»Hallo, mein Name ist Dr. Norden. Können Sie mich hören?«

Ein vages Nicken war die Antwort.

»Haben Sie getrunken?« Der Puls des jungen Mannes war alarmierend flach, die Temperatur deutlich erhöht.

Wieder nickte der blonde Mann, der aussah, als käme er direkt aus dem Urlaub. Tatsächlich bemerkte Danny den Rucksack, der an der Wand lehnte.

»Er hat in kürzester Zeit drei Bier runtergeschüttet.« Es war der Wirt, der diese Frage beantwortete. Er stand hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. »Zuerst dachte ich, dass er keinen Alkohol verträgt, weil er aufgestanden und durch die Kneipe geschwankt ist.«

»In diesem Zustand ist das kein Wunder«, bestätigte Danny Norden, ehe er sich wieder seinem Patienten zuwandte. »Wie heißen Sie?«

Der junge Mann brauchte einige Anläufe, bis er seinen Namen herausbrachte.

»Caspar … Jürgens«, krächzte er. Stöhnend deutete er auf die Beine. »Ich habe solche Schmerzen.«

»Wo waren Sie im Urlaub?«

»Kambodscha.«

Blitzschnell dachte Danny nach.

»Sie müssen in die Klinik.« Er zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Behnisch-Klinik. Während er auf Antwort wartete, sah er Caspar fragend an. »Gibt es jemanden, den ich informieren soll?«

Caspar zögerte. Sein Atem ging stoßweise, so schlimm waren seine Schmerzen.

»Meine Mutter«, krächzte er schließlich. »Leonie Jürgens.«

»In Ordnung.« Die Klinik meldete sich, und Danny Norden bestellte einen Wagen. Schnell war das Gespräch beendet. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das kriegen wir schon wieder hin«, versprach er, um seinen Patienten zu beruhigen.

Dabei war er sich seiner Sache selbst nicht so sicher. Fest stand für ihn nur, dass Caspar Jürgens ein Souvenir aus dem Urlaub mitgebracht hatte, über das er sich sicher nicht freute.

*

Dieter Fuchs, Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik, saß an seinem Tisch und studierte die Unterlagen zu seinem momentanen Lieblingsprojekt. Sein Bekannter, der Stadtrat Karl Schmiedle, hatte diese Idee aus gutem Grund an ihn herangetragen. Er wusste, dass die renommierte Behnisch-Klinik ein beliebtes Krankenhaus war, in dem die Patienten sich gut aufgehoben und noch besser behandelt fühlten. Damit passte das Haus perfekt in sein Vorhaben, einzelne handverlesene Einrichtungen wie eine Seniorenresidenz, ein Kinderkrankenhaus und ein Reha-Zentrum zu einem Gesundheitszentrum zusammenzufassen. Ziel war es, einzelne Abteilungen wie Labore, Küchen oder die Kinderstation der Behnisch-Klinik zu schließen und die Arbeiten an die Partner zu vergeben. Dadurch sollte die Effizienz der verbliebenen Abteilungen gesteigert werden. Dummerweise hatten sich Dieter Fuchs’ Hoffnungen nicht erfüllt. Der neue Chef der Behnisch-Klinik, Dr. Daniel Norden, hatte sich gegen eine Beteiligung an dem Projekt ausgesprochen.

»Immer diese Sentimentalitäten«, schimpfte Fuchs vor sich hin, während er in den Unterlagen blätterte, die das Projekt in den schillerndsten Farben beschrieb. »Effizienz heißt das Zauberwort. Nur so ist ein Überleben auf Dauer gesichert.«

»Ich bin ganz deiner Meinung.«

Der Verwaltungsdirektor zuckte zusammen und starrte zur Tür. Volker Lammers lehnte zufrieden lächelnd im Rahmen.

»Bist du völlig übergeschnappt?«, fragte Fuchs scharf. »Mich so zu erschrecken. Ich bin in einem Alter, in dem das auch mal ins Auge gehen kann.«

»Keine Angst.« Lammers stieß sich vom Türrahmen ab und trat ein. »Ich sollte eh mal wieder jemanden wiederbeleben, sonst komme ich aus der Übung.«

»Sehr witzig«, schnaubte Dieter Fuchs. »Was willst du? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du nicht einfach so hier aufkreuzen sollst. Am Ende schöpfen die Leute noch Verdacht, dass wir unter einer Decke stecken.«

Unbeeindruckt legte Volker Lammers die Patientenakte, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch.

»Sollen sie doch. Nordens Ende ist nah. Und das seiner Frau auch. Dann wird die Kinderabteilung in diesem Haus geschlossen, und ich werde Chef der Kinderklinik.« Eine düstere Wolke huschte über sein Gesicht. Er nahm Fuchs ins Visier. »Vorausgesetzt natürlich, Schmiedle hält sein Versprechen.«

»Natürlich. Er will die Besten der Besten in den Führungspositionen«, erwiderte Dieter Fuchs selbstverliebt. »Und das sind nun mal wir.« Neugierig streckte er die Hand nach der Akte aus. »Was ist das?«

»Vorhin wurde ein Bengel mit Anaphylaxie eingeliefert. Sein Zustand ist aussichtslos. Den nächsten Anfall wird er nicht überleben.« Es war typisch für den Kinderchirurgen, derart gefühllos über seine Patienten zu sprechen. Einer der vielen Gründe, warum sich Felicitas Norden niemals an Dr. Lammers gewöhnen würde. Aber das war seiner Ansicht nach auch nicht wichtig. Er wähnte ihre Zeit ohnehin abgelaufen.

»Ja und?« Dieter Fuchs sah seinen Verbündeten fragend an.

Das Lächeln auf Lammers’ Gesicht wurde breiter.

»Forscher arbeiten an einem Mittel gegen diese Krankheit. Ein Medikament für eine orale Immuntherapie wird gerade getestet, ist aber noch nicht zugelassen. Wenn die Eltern das erfahren, werden sie von unserem werten Chef verlangen, dass er das Medikament einsetzt. Nachdem der Bengel so oder so keine Chancen hat, wird der Gutmensch Norden zustimmen. Er wird den Versuch auf seine Kappe nehmen.« Zufrieden rieb sich Lammers die Hände. »Und dann haben wir ihn!«

Dieter Fuchs dachte nach. Je länger er sich diesen Plan durch den Kopf gehen ließ, umso besser gefiel er ihm.

»Gar keine so schlechte Idee«, gab er schließlich zu.

Lammers schnaubte unwillig.

»Hast du eine bessere?«

In aller Seelenruhe lehnte sich der Verwaltungsdirektor zurück. Sein herablassender Blick ruhte auf Lammers.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass das deine Aufgabe ist, die Nordens loszuwerden. Schließlich kann ich mich nicht um alles kümmern. Ich habe genug damit zu tun, Schmiedle bei Laune zu halten.«

Mit dieser Antwort war Volker Lammers alles andere als zufrieden.

»Undank ist der Welt Lohn!«, schimpfte er, griff nach der Akte auf dem Schreibtisch und stapfte aus dem Büro.

Unbeeindruckt saß Fuchs da und sah ihm nach.

»Wie wahr, wie wahr!«, murmelte er, als die Tür hinter dem Kinderchirurgen krachend ins Schloss gefallen war. »Das wirst du noch am eigenen Leib zu spüren bekommen.«

*

Aufgeregt hastete Leonie Jürgens den Flur der Behnisch-Klinik entlang und hielt die erstbeste Schwester auf, die ihr über den Weg lief.

»Wo finde ich meinen Sohn Caspar Jürgens? Ein Arzt hat mich angerufen und mir gesagt, dass er hier eingeliefert wurde.«

»Kleinen Moment bitte«, bat Schwester Tina und ging an den Tresen vor dem Schwesternzimmer. Sie tippte den Namen in den Computer ein. »Er liegt auf Station drei in einem Isolierzimmer. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«

Sie machte sich auf den Weg, und Leonie folgte ihr sichtlich verstört.

»Aber warum denn Isolierstation?«, fragte sie.

»Das wird Ihnen der diensthabende Arzt sagen.« Sie waren am Ende des Flurs angekommen. Auf der Glastür prangte eine große Drei. Dahinter waren zwei Ärzte zu sehen. Sie waren in ein Gespräch vertieft. »Der Arzt auf der linken Seite ist unser Tropenmediziner Carsten Kayser. Er wird alle Ihre Fragen beantworten.« Damit verabschiedete sich Schwester Tina und überließ Leonie ihrem Schicksal.

»Eine Tropenkrankheit also«, murmelte die vor sich hin, während sie auf die beiden Ärzte zuging. »Guten Abend, die Herren«, begrüßte sie Danny Norden, der eben mit dem Kollegen Kayser die weitere Behandlung besprach. Tatjana hatte inzwischen beschlossen, die Zeit sinnvoll zu nutzen und in ihrem Klinik-Kiosk ›Allerlei‹ nach dem Rechten zu sehen.

Die beiden Männer drehten sich um. Sofort ahnte Danny, wen er vor sich hatte. Trotz Caspars schmuddeligem Äußeren war die Ähnlichkeit unverkennbar. Leonie Jürgens hatte ihrem Sohn die himmelblauen Augen und den ausgeprägten Amorbogen vererbt.

»Frau Jürgens? Mein Name ist Danny Norden. Ich habe Ihren Sohn in der Bar behandelt und dann hierher bringen lassen«, stellte er sich vor. »Das hier ist mein Kollege Carsten Kayser. »

»Der Tropenmediziner, ich weiß«, erwiderte Leonie und reichte beiden die Hand. »Warum muss Caspar auf der Isolierstation liegen?«

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Noch wissen wir nicht genau, was Ihr Sohn aus dem Urlaub mitgebracht hat«, erklärte Dr. Kayser. »Die Ergebnisse bekommen wir morgen früh.«

»Selbstverständlich können Sie ihn trotzdem besuchen«, fügte Danny hinzu. »Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie allerdings Schutzkleidung tragen.« Er sah hinüber zu seinem Kollegen, der es eilig hatte. »Melden Sie sich bei mir, wenn Sie die Ergebnisse haben?«

»Selbstverständlich.« Dr. Kayser nickte Danny und Leonie Jürgens zu, ehe er sich auf den Weg machte.

Danny Norden dagegen begleitete die besorgte Mutter.

»Kleidsame Tracht«, bemerkte Leonie, nachdem sie Kittel, Handschuhe und Mundschutz angelegt hatte.

»Einen schönen Menschen entstellt nichts.«

Trotz der Sorge um ihren Sohn lächelte Leonie.

»Sehr charmant, vielen Dank. Auch dafür, dass Sie sich um meinen Sohn gekümmert haben.« Sie hielt inne. Gedankenverloren strich sie den Kittel glatt. »Wissen Sie, Caspar und ich hatten einen Streit. Als Sie angerufen haben, habe ich mir fürchterliche Vorwürfe gemacht. Ich dachte, ich hätte Schuld an seinem Zustand.«

»Da können Sie ganz beruhigt sein«, versicherte Danny. »Obwohl man natürlich niemals im Streit auseinandergehen sollte. Schließlich weiß man nie, ob man sich wiedersieht.«

»Welch erstaunliche Weisheit hinter der jugendlichen Fassade.« Sichtlich überrascht legte Leonie den Kopf schief und musterte Danny. »Ich werde mich umgehend mit meinem Sohn versöhnen«, versprach sie, ehe sie das Krankenzimmer betrat.

Caspar lag mit geschlossenen Augen im Bett. Er musste sie nicht öffnen, um zu wissen, wer da an sein Bett trat. Das Parfum seiner Mutter hätte er unter Tausenden wiedererkannt.

»Jetzt habe ich die Quittung für meine Dummheit bekommen« murmelte er matt. »Freust du dich?«

»Unsinn!«, lehnte Leonie entschieden ab und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Wie geht es dir?«

Caspar blinzelte. Als er die Verkleidung seiner sonst so schicken Mutter sah, musste er fast lachen.

»Bei deinem Anblick besser.«

Sie schnitt eine Grimasse. Er konnte es an den Fältchen um ihre Augen erkennen.

»Das freut mich, wenn dieser Aufzug wenigstens einen Zweck hat.« Sie streichelte ihrem Sohn mit behandschuhter Hand über das wirre Haar. Unvermittelt war sie ernst geworden. »Ich mache mir solche Vorwürfe wegen unseres Streits. Da bist du nach Wochen endlich wieder zu Hause, noch dazu krank, und dann mache ich dir so eine Szene. Es tut mir unendlich leid.«

»Du bist viel zu gut zu mir. Es ist doch meine eigene Schuld, dass es mir so schlecht geht.« Das Sprechen strengte Caspar an. Er machte eine Pause und schöpfte Atem. »Du hast dich so auf mich gefreut. Und ich mache nur Ärger.«

»Trotzdem war meine Reaktion nicht richtig«, beharrte Leonie. »Ich hätte nicht so abfällig über diese Rucksackreisenden sprechen dürfen.« Liebevoll strich sie eine widerspenstige Strähne aus seiner Stirn. »Außerdem habe ich kein Recht dazu, dir vorzuschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Es ist dein Leben.« Sie seufzte tief. »Kannst du deiner alten Mutter noch einmal verzeihen?«

»Alte Mutter?« Caspar lachte leise. »Wo denn?«

Trotz seiner rätselhaften Erkrankung konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Sie beugte sich vor und umarmte ihren Sohn.

Diesmal hatte er keine Wahl und musste die mütterliche Liebe über sich ergehen lassen. Für eine Flucht war er zu schwach.

*

»Du bist doch Arzt, oder?«, versicherte sich Tatjana, nachdem Danny sie vom Kiosk abgeholt hatte und gemeinsam mit ihm zum Wagen gegangen war. Nun saß sie neben ihm und sah ihn fragend an.

»Worauf willst du hinaus?«, fragte er misstrauisch zurück, während er den Wagen durch den Feierabendverkehr lenkte.

»Wenn ich vor Hunger demnächst bewusstlos werde, kannst du mir helfen, oder?«

Erleichtert lachte Danny auf.

»So schlimm kann es doch gar nicht sein. Ich habe ganz genau gesehen, wie du vorhin im Kiosk eine Butterbreze aus der Auslage geklaut hast.«

»Eine Butterbreze!« Tatjana schnaubte verächtlich. »Das ist so viel ein Tropfen Wasser für einen Verdurstenden.«

Danny warf einen Blick in den Rückspiegel, ehe er den Blinker setzte.

»Ein Glück, dass wir eine Bäckerei haben. Sonst hättest du mir längst alle Haare vom Kopf gefressen.«

Tatjana schickte ihm einen langen, nachdenklichen Blick.

»Keine schlechte Idee. Das sollte ich tun, bevor sie grau werden. Danach sind sie sicher nicht mehr so schmackhaft.«

»Du tust gerade so, als wäre ich steinalt.«

»Im Vergleich zu mir bist du das ja auch.«

Danny schüttelte seufzend den Kopf.

»Weißt du eigentlich, dass du unausstehlich bist, wenn du Hunger hast?«, fragte er und stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab, der nicht zu dem Wohnhaus gehörte, in dem ihre gemeinsame Wohnung lag.

»Also eigentlich immer«, grinste Tatjana, während sie durch die Seitenscheibe starrte. Wegen ihrer Sehbehinderung konnte sie kaum etwas erkennen. Diesmal war es ihr Geruchssinn, der sie auf die richtige Fährte lockte. »Ich bin dir jedes Mal wieder dankbar, wenn du mich rettest. Pizza ist genau das, was ich jetzt brauche. Lass mich raten: Wir sind bei Enzo.«

Danny war ausgestiegen und hielt ihr die Tür auf.

»Allmählich wird es langweilig, dass man dich nicht überraschen kann.« Er dachte nicht daran, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Vielleicht liegt es an dir. Du bist einfach nicht einfallsreich genug«, neckte Tatjana ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und hängte sich bei ihm ein.

»Na warte! Das wird dir noch leid tun«, drohte er scherzhaft und öffnete die Tür zum Lokal.

Im nächsten Moment hatten beide das Gefühl, mitten in einem italienischen Dorf gelandet zu sein. Akkordeon, Mandoline und Hirtenflöte spielten eine typisch sizilianische Tarantella. Lebhafte Stimmen versuchten, die temperamentvolle Musik zu übertönen. Ein unbeschreiblicher Duft nach Kräutern und Knoblauch erfüllte die Luft. Tatjana blieb stehen und schloss die Augen.

»Herrlich. Wie im Urlaub!«

Danny hatte sich inzwischen an den gut besetzten Tischen umgesehen. Endlich entdeckte er, wen er gesucht hatte.

»Komm!« Er griff nach Tatjanas Hand und zog sie mit sich. Es war kein Leichtes, sich an den Stühlen vorbei in Richtung des Tisches zu schlängeln, den er im Visier hatte.

»Wo bringst du mich hin?«, rief Tatjana von hinten. »Setzt du mich jetzt hier aus?«

»Damit sich zehn wildgewordene Italiener um dich schlagen?« Die begehrlichen Blicke, die allesamt seiner attraktiven Freundin galten, blieben ihm nicht verborgen. »Das könnte dir so passen.« Gleich darauf erreichten sie ihr Ziel. »Mum, wie schön, dich mal wieder zu sehen.« Danny ließ Tatjanas Hand los und beugte sich zu seiner Mutter hinab, die ihn freudestrahlend begrüßte.

»Das ist mal wieder typisch«, meckerte seine jüngste Schwester Dési, die der Einladung des Vaters zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Janni gefolgt war. Der Plan war gewesen, Felicitas zu überraschen. Ein voller Erfolg, wie ihre strahlende Miene verriet. »Über deine Geschwister freust du dich gar nicht.«

»Mach dir keine Sorgen.« Beschwichtigend klopfte Jan ihr auf den Rücken. »In keiner anderen Beziehung liegen Hass und Liebe, Nähe und Realität so nah beieinander wie unter Geschwistern. Es handelt sich um die längste Beziehung im Leben eines Menschen und endet nie, selbst wenn man sich zerstritten hat.« Immer, wenn er in diesem Tonfall sprach, war ihm die Aufmerksamkeit seiner Familie sicher. Er rückte seine schwarz umrandete Brille zurecht und machte ein wichtiges Gesicht. »Geschwister machen einander glücklich, sie quälen und prägen einander. Manche Forscher behaupten sogar, dass die Geschwister das Glück in der Partnerschaft beeinflussen.«

Auch Dési hatte aufmerksam zugehört.

»O je, dann muss es mir wirklich zu denken geben, dass ich in letzter Zeit nur Trottel kennenlerne.«

Das Lachen am Tisch übertönte sogar die anderen Stimmen. Doch keiner der Nordens bemerkte die neugierigen Blicke. Immer noch lachend wischte sich Fee die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Herrlich, Kinder. Wie ich das vermisst habe!« Sie strahlte in die Runde. »Erst vorhin musste ich an unsere fröhlichen Abendessen bei uns zu Hause denken. Ich war ein bisschen traurig, dass diese Zeiten offenbar ein für alle Mal vorbei sind.«

»Nicht so pessimistisch«, bat Danny und zwinkerte seinem Vater zu. »Ich finde, das haben wir beide hervorragend geplant.«

»Deine Mutter hatte keine Ahnung«, stellte Daniel zufrieden fest.

»Tatjana auch nicht.« Grinsend drehte sich Danny zu seiner Freundin um, die inzwischen neben ihrer Schwiegermutter in spe und Jan saß. »Hältst du mich jetzt immer noch für einfallslos?«, fragte er sie herausfordernd.

Doch auch Tatjana war in diesem Augenblick so glücklich, dass sie das Kriegsbeil zumindest vorübergehend begrub.

»Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil. Du bist großartig.«

Nichts anderes hatte Danny hören wollen. Zufrieden widmete er sich dem Studium der Speiskarte.

»Na, und wie ist es so als Klinik-Chef?«, erkundigte er sich, nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten.

Daniel lehnte sich zurück und dachte über diese Frage nach.

»Aufregend. Anstrengend. Interessant. Verantwortungsvoll.«

»Klingt nach dem Abenteuer deines Lebens«, mutmaßte Danny und erntete ein belustigtes Lachen.

»Das, mein Lieber, ist deine Mutter!« Daniel griff über den Tisch nach Fees Hand, zog sie an die Lippen und küsste sie.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte sie überrascht.

»Nur das größte Kompliment, das ein Mann einer Frau machen kann«, erwiderte Danny sichtlich beeindruckt.

Zu seiner Verwunderung schüttelte Fee den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Das größte Kompliment ist für mich, dass dein Vater auch nach so vielen Jahren noch glücklich ist mit mir.« Sie maß Daniel mit liebevollem Blick. »Zumindest sieht es danach aus.«

»Das ist nicht weiter verwunderlich«, meldete sich Janni wieder einmal zu Wort. »Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Paare, die eine dauerhafte Liebe erfahren, nicht nur eine starke körperliche und emotionale Anziehung empfinden, sondern auch neue herausfordernde Aktivitäten zusammen genießen«, deklamierte er. »Des Weiteren ist Unabhängigkeit in der Beziehung ein Schlüssel zu ewigem Glück.«

Tatjana lachte.

»Na, dann haben wir alle ja die besten Chancen auf die ewige romantische Liebe. Denn langweilig wird es mit einem Arzt nie. Schon deshalb nicht, weil man ihn kaum zu Gesicht bekommt.« Sie zwinkerte Danny zu, als ihr ein unvergleichlicher Duft in die Nase stieg. Fast sofort war das Gespräch über die ewige Liebe vergessen. Der Kellner kam an den Tisch und brachte Pizza da Enzo und Spaghetti Napoli, Insalata Capricciosa und andere duftende Köstlichkeiten aus der Küche. »Und wenn das mit dem Mann nicht mehr klappt, bleibt mir immer noch das Essen«, seufzte Tatjana glücklich, als ein riesiger Teller Nudeln vor ihr stand. »Essen fragt nicht. Essen sagt nichts. Essen versteht.«

Unter dem belustigten Lachen ihrer Familie wickelte sie eine Gabel Spaghetti auf und schob sie in den Mund. Es versprach, ein vergnüglicher Abend zu werden.

*

Der gefürchtete Notfall blieb tatsächlich aus, und Fee und Daniel Norden verbrachten einen herrlichen Abend im Kreise ihrer Lieben.

Doch wie immer vergingen die schönen Stunden viel zu schnell, und der Alltag meldete sich zurück. Am nächsten Tag hatte Felicitas Spätschicht, sodass Daniel Norden ohne seine Frau zur Arbeit fuhr. Bevor er sich auf den Weg machte, musste er ihr aber versprechen, zuerst nach Niklas Kronseder zu sehen.

»Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Liebling.« Er beugte sich über sie und küsste sie zum Abschied.

Fee lag zusammengerollt im Bett und genoss den Gedanken, noch liegenbleiben zu können.

»Kannst du das noch einmal wiederholen? Diese Worte sind Musik in meinen Ohren.« Sie lächelte verschmitzt. »Ich finde, ich habe hervorragende Erziehungsarbeit geleistet.«

Daniel lachte.

»Du hast Glück, dass ich jetzt keine Zeit mehr habe. Sonst würde ich dich übers Knie legen.« Er ging zur Tür.

»Ich kann es kaum erwarten«, rief sie ihm belustigt nach. Diese fröhliche Konversation und die Erinnerung an die gute Stimmung des vergangenen Abends begleiteten Daniel auf seinem Weg in die Klinik. Was war er doch für ein glücklicher Mann!

»Guten Morgen, Chef!« Die Empfangsdame am Tresen erwiderte sein Lächeln und hielt ihm ein Päckchen hin. »Das wurde gerade für Sie abgegeben.«

Daniel Norden zögerte kurz.

»Ist Frau Sander schon im Haus? Dann geben Sie das Paket bitte ihr mit, wenn sie kommt. Ich muss zuerst auf die Kinderstation.«

»In Ordnung.«

Daniel verabschiedete sich. Mit den Gedanken bei den Terminen des Tages eilte er den Klinikflur hinunter.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Chef!«

Dr. Lammers Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Abrupt blieb er stehen und orientierte sich kurz. Ohne es zu bemerken, hatte er Nik­las’ Zimmer fast erreicht. Die Tür stand halb offen, leise Stimmen waren zu hören. Offenbar waren beide Eltern bei ihrem Kind.

Endlich konzentrierte er sich auf sein Gegenüber.

»Guten Morgen, Kollege Lammers. Waren Sie schon bei unserem Sorgenkind?«

Volker nickte betrübt.

»Der Bengel hatte schon wieder einen Anfall. Zum Glück war ich in der Nähe und konnte das Schlimmste verhindern.«

Daniel runzelte besorgt die Stirn.

»Wie geht es ihm?«

»Nicht gut.«

Nur Volker fiel auf, dass die Stimmen im Krankenzimmer verstummt waren. Sein Plan schien zu funktionieren.

»Haben Sie sich die Unterlagen angesehen?«, erkundigte sich Daniel Norden.

»Selbstverständlich. Und nicht nur das. Ich habe die halbe Nacht recherchiert und herausgefunden, dass es eine Forschergruppe gibt, die sich dem Thema Anaphylaxie verschrieben hat.«

»Und?«

Volker Lammers war in seinem Element.

»Die Kollegen fanden heraus, dass Mastzellen auf einen Allergenkontakt nicht nur mit Entzündungen reagieren, sondern manchmal auch sämtliche Vorratskammern, die Entzündungsbotenstoffe enthalten, an die Zelloberfläche schicken. Geschieht das gleichzeitig in mehreren Organen, haben wir es mit einer lebensbedrohlichen Anaphylaxie zu tun.«

Dr. Norden hatte aufmerksam gelauscht.

»Interessant. Aber gibt es auch Hoffnung auf Heilung?«

Lammers rieb sich innerlich die Hände. Der Chef stellte genau die richtigen Fragen. Und noch immer herrschte tiefes Schweigen in Niklas’ Zimmer.

»Einfach gesagt entdeckten die Kollegen den Auslöser dieses Transportvorgangs und haben ein Medikament entwickelt, das diesen Vorgang steuern kann. Allerdings wurde es bisher nur an Mäusen getestet. Erste Tests an Menschen sind in der Vorbereitung. Allerdings gibt es noch keine Ergebnisse.«

Die Hoffnung in Daniel Norden erstarb.

»Wenn das so ist, kommen wir an dieses Medikament nicht ran.«

Doch Dr. Lammers war anderer Meinung.

»Ich bitte Sie! Sie als Chef kennen doch bestimmt Mittel und Wege …« Das Ende des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.

Dr. Norden schüttelte energisch den Kopf.

»Kommt überhaupt nicht infrage! So etwas kann ich den Eltern nicht vorschlagen. Mal abgesehen davon, dass es verboten ist, nicht zugelassene Medikamente zu verabreichen.«

»Man könnte eine Ausnahmegenehmigung erwirken«, schlug Lammers vor.

Doch Daniel blieb bei seinem Nein.

»Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, um Niklas zu helfen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn er pünktlich zur ersten Besprechung des Tages kommen wollte, musste er jetzt zu Niklas und seinen Eltern gehen. »Sie entschuldigen mich!« Er nickte Volker Lammers zu und betrat das Krankenzimmer.

Erwartungsvolle Blicke trafen ihn. Gregor und Magdalena Kronseder machten keinen Hehl daraus, dass sie jedes Wort mitgehört hatten.

Volker Lammers sah sich schnell um. Er war allein auf dem Flur. Diese Gelegenheit nutzte er und schlüpfte unbemerkt in das unbelegte Krankenzimmer nebenan. Die Saat war gesät. Es würde nicht lange dauern, bis sie aufging. So viel Zeit musste sein.

*

Wie immer war Leonie Jürgens auch an diesem Morgen noch vor Sonnenaufgang aufgestanden. Sie hatte die Abrechnungen des vergangenen Tages kontrolliert, einen Blick auf die Zimmerreservierungen geworfen und die für das Frühstück eingedeckten Tische begutachtet. Nachdem diese täglichen Pflichten erledigt waren, machte sie sich auf den Weg in die Klinik. Diesmal verzichtete sie auf die schwere Limousine und wählte das kleine Sportcabriolet. Als sie vor der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ hielt – Tatjanas Geschäft war bekannt für die besten Backwaren der Stadt –, passierte das Unglück. Sie fuhr so rasant in die Parklücke, dass sie den Randstein touchierte. Die Quittung folgte auf den Fuß. Ein lauter Knall zerriss die Luft. Sie wusste sofort, was das bedeutete.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, stöhnte Leonie, als sie das Malheur begutachtete. Der Reifen war platt. Schon wollte sie das Mobiltelefon aus der Handtasche ziehen und ihren Fahrer herzitieren, als ein Radfahrer auf dem Weg neben ihr anhielt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann und sprang vom Rad. Seine Wangen leuchteten von der rasanten Fahrt in der kühlen Morgenluft.

»Das kommt darauf an.« Leonie betrachtete ihn mit Genugtuung. Mit seinen kurzen Haaren, den markanten Gesichtszügen und den klugen Augen war er ein Mann genau nach ihrem Geschmack. Dass er einen Anzug trug, war das Tüpfelchen auf dem i. »Können Sie Reifen wechseln?«

»Nichts leichter als das. In meinem früheren Leben habe ich in einer Autowerkstatt gearbeitet.« Er zog die Anzugjacke aus, reichte sie Leonie, und krempelte die Hemdsärmel hoch. »Schnuckeliges Gefährt«, lobte er das schnittige Cabriolet. »Dann wollen wir mal.« Ehe es sich Leonie versah, hatte er Ersatzreifen und Wagenheber aus dem Kofferraum gezaubert und bockte den Wagen auf. Mit schlafwandlerischer Sicherheit öffnete er die Schrauben, zog das Rad ab, steckte das Ersatzrad auf und schraubte es wieder fest. In weniger als zehn Minuten war der Wagen wieder einsatzbereit. »Fertig!«

Als der Kofferraumdeckel mit einem Knall zufiel, zuckte Leonie zusammen, so versunken war sie in den Anblick des geschickten Mannes gewesen.

»Das war wunderbar. Ich glaube, ich könnte dir … Ihnen den ganzen Tag beim Reifenwechseln zusehen.«

Ihr Retter in der Not lachte belustigt auf und hielt ihr die schmutzige Hand hin.

»Ich heiße Moritz!«, stellte er sich vor. »Und du?« Im selben Moment entdeckte er den Schmutz auf seinen Fingern und wollte die Hand wieder zurückziehen. Doch Leonie war schneller. Sie ergriff sie und hielt sie fest. Dabei sah sie ihm unverwandt in die Augen. Sein Blick ließ ihr Herz höher schlagen.

»Leonie.«

»Ein Name wie ein Gedicht.«

Sie spürte den warmen Druck seiner Finger. Plötzlich war die Welt um sie herum vergessen. Leonie hätte den Rest des Tages einfach nur dastehen und ihn ansehen können. Moritz schien es nicht anders zu ergehen. Auch er machte keine Anstalten, sie loszulassen.

Ein Lastwagen, der donnernd an ihnen vorbeirauschte, ließ die rosarote Seifenblase platzen, in der sie beide geschwebt hatten. Unsanft landeten sie wieder auf dem Boden der Tatsachen. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, sah Leonie auf die Uhr.

»Ich muss leider los. Ein wichtiger Termin.« Sie zog den Autoschlüssel aus der Tasche.

»Ich muss auch zur Arbeit.« Trotzdem blieb Moritz reglos stehen. Es war offensichtlich, dass er mit sich kämpfte. »Normalerweise ist es nicht meine Art, einfach so Frauen auf der Straße anzusprechen …«

»Und ich dachte schon, du wechselst jeder die Reifen«, scherzte Leonie nervös.

Moritz lachte.

»Beileibe nicht.« Er räusperte sich und griff noch einmal nach ihrer Hand. »Ich würde dich gern wiedersehen.«

Leonie schluckte. Sie war keine zwanzig mehr, hatte eine Ehe hinter sich und auch sonst genügend Erfahrungen mit Männern gesammelt. Trotzdem flatterte ihr Herz wie das eines Teenagers.

»Ich dich auch.«

Sein Strahlen verriet ihr, dass seine Freude echt war.

»Heute Abend um sechs Uhr im Café ›Schöne Aussichten‹?« Er deutete auf die Bäckerei. »Frau Bohde macht den besten Kuchen der ganzen Stadt.«

»Ich weiß. Deshalb bin ich hier.«

»Eine Naschkatze? Das wird ja immer besser.« Moritz war ehrlich verwundert. Sein bewundernder Blick glitt an Leonies Figur hinab. »Das hätte ich nie vermutet.«

»Ich kann mir das auch nur leisten, weil ich den ganzen Tag auf den Beinen bin«, verriet Leonie. »Und jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Auf Wiedersehen, Moritz.« Sie winkte, während sie um den Wagen herum ging. Ihr Vorhaben, ein paar Süßigkeiten für ihren Sohn Caspar zu kaufen, hatte sie völlig vergessen.

*

Solange Dr. Norden den kleinen Niklas untersuchte und danach das Krankenblatt studierte, verzichteten die Eltern darauf, ihn auf das Gespräch anzusprechen, dessen unfreiwillige Zeugen sie geworden waren. Erst als Daniel das Zimmer wieder verlassen hatte, schickte Magdalena Kronseder ihrem Mann einen Blick. Er verstand die stumme Aufforderung und folgte dem Chefarzt aus dem Zimmer.

»Herr Dr. Norden!«

Überrascht blieb Daniel stehen und drehte sich um. Er ahnte nicht, dass Volker Lammers im leeren Krankenzimmer nebenan genau auf diese Situation gewartet hatte.

»Ja?«

Obwohl sie nur ein paar Meter trennten, war Gregor außer Atem, als er vor ihm Halt machte. Es war die Aufregung, die ihm die Luft abschnürte.

»Wir … ich … wir haben vorhin zufällig das Gespräch gehört, das Sie mit Dr. Lammers geführt haben. Nicht, dass wir gelauscht hätten …« Abwehrend hob er die Hände. »Dieses Medikament, von dem die Rede war …«

Daniel verdrehte innerlich die Augen. Das hätte nicht passieren dürfen! Schlagartig ärgerte er sich, dass er sich von Lammers hatte überrumpeln lassen. Es war nur seiner Erfahrung zu verdanken, dass ihm äußerlich nichts anzumerken war.

»Diese Therapie kommt für Ihren Sohn leider nicht in Frage«, erklärte er mit fester Stimme. »Sie haben es ja selbst gehört. Es gibt offenbar noch keinerlei Erfahrungen mit Menschen.«

Nervös trat Gregor Kronseder von einem Bein auf das andere.

»Dr. Lammers hat uns gesagt, dass Niklas nicht zu helfen ist.« Seine Stimme war heiser vor Kummer und Verzweiflung. »Dann spielt es doch auch keine Rolle, ein neues Medikament auszuprobieren. Diese Therapie ist die einzige Hoffnung, die wir noch haben.«

Daniel Norden dachte kurz nach. Einmal mehr ärgert er sich über Volker Lammers. Wie kam der Kollege dazu, solche Aussagen zu treffen?

»Es stimmt, dass der Zustand Ihres Sohnes sehr schlecht ist und dass wir mit allem rechnen müssen. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht doch noch die Hoffnung haben, ein geeignetes Mittel zu finden, um Niklas zu helfen.«

Gregor sah aus, als wäre er dem Chefarzt am liebsten an die Gurgel gegangen. Er ballte die Hände zu Fäusten und starrte Dr. Norden an.

»Jeder sagt uns, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Warum wollen Sie uns nicht helfen?«

»Sosehr ich es will, ich kann es nicht. Diese Therapie ist noch nicht verfügbar. Und selbst wenn es mir gelänge, an die Medikamente zu kommen, dann wäre es illegal, sie zu verabreichen.« Mit Engelszungen redete Daniel auf den verzweifelten Vater ein. »Damit mache ich mich strafbar. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Viel schlimmer wäre es, dass ich damit das Leben Ihres Kindes aufs Spiel setze. Das kann ich nicht verantworten.« Er machte eine Pause und sah verstohlen auf die Uhr. »Haben Sie Vertrauen! Und jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen. Ich werde in ein paar Minuten zu einem wichtigen Termin erwartet.« Daniel machte Anstalten zu gehen, als er fühlte, dass Gregor Kronseder ihn am Ärmel festhielt.

»Dr. Norden, bitte! Sie müssen mich doch verstehen! Wie kann ich Sie überzeugen, dass Sie uns einfach helfen müssen?«, fragte er mit Panik im Blick. »Ich kann nicht zulassen, dass ein paar Paragraphen über das Leben meines Sohnes entscheiden.« Gregor Kronseder war am Ende seiner Kräfte angelangt. Er schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich ab.

Diesmal hatte sich Dr. Norden nicht im Griff. Es war ihm deutlich anzusehen, wie er mit sich kämpfte. Endlich machte er ein paar Schritte auf den verzweifelten Vater zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Also gut, Herr Kronseder. Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er.

Gregor wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, ehe er sich umdrehte.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn es schief geht«, erwiderte Daniel. »Sie hören von mir.« Er nickte Gregor zu, ehe er sich endgültig auf den Weg zu seinem Termin machte.

Keiner der beiden Männer ahnte, dass sie einen Zuhörer gehabt hatten. In seinem Versteck reckte Dr. Lammers die Faust in die Luft. Fast im gleichen Moment rief ihn sein Pieper zu einem Notfall.

»Keine Sekunde zu früh!«, frohlockte er, als er sich versicherte, dass die Luft auf dem Klinikflur rein war. Das Glück schien endlich auf seiner Seite zu sein.

*

Als es klopfte, öffnete Caspar Jürgens die Augen. Schon am frühen Morgen hatte ihn der Tropenmediziner Dr. Kayser besucht und ihm seine Diagnose überbracht. Da es ihm ein wenig besser ging, hatte Caspar nach diesem Besuch ein paar Nachrichten auf dem Handy geschrieben, seine Facebook- und Instagramseite gecheckt und ein bisschen Musik gehört. Danach war er so erschöpft gewesen, dass er wieder weggedämmert war. Doch der unerwartete Besuch ließ ihn halbwegs munter werden.

»Moritz, das ist ja eine Überraschung!«, begrüßte er seinen ehemaligen Chef, in dessen Hotel er den praktischen Teil seines dualen Studiums absolviert hatte.

»Als ich deine Nachricht gesehen habe, bin ich sofort abgebogen«, erklärte Moritz und drückte Caspar eine Schachtel Petits Fours in die Hand. »Ich wusste gar nicht, dass Frau Bohde den Klinikkiosk hier betreibt. Diese kleinen Törtchen musst du unbedingt kosten. Die sind eine Sensation. Und ich garantiere dir, dass du nirgendwo bessere bekommst.«

Lächelnd spähte Caspar in die Schachtel, ehe er sie auf den Nachttisch stellte.

»Danke. Toll, dass du gleich gekommen bist.«

»Wofür hat man denn Freunde? Auch wenn ich mir unser Wiedersehen nach deinem Urlaub ein bisschen anders vorgestellt habe«, bemerkte Moritz. Er setzte sich schwungvoll auf die Bettkante und sah sich um. »Schickes Zimmer.«

»Eigentlich ein Isolierzimmer. Aber zum Glück habe ich heute früh Entwarnung bekommen. Mein Souvenir ist nicht ansteckend.«

»Dann kannst du ja jetzt ungeniert mit den hübschen Schwestern flirten«, erwiderte Moritz grinsend.

Caspar schnitt eine Grimasse.

»Bis jetzt war ich viel zu kaputt, um viel von meiner Umwelt mitzubekommen.«

»Geht es dir sehr schlecht?« Das Mitgefühl stand Moritz Blaha ins Gesicht geschrieben.

»Es gab schon bessere Zeiten«, gestand Caspar. »Aber die Ärzte hier werden mich schon wieder hinbekommen.«

»Und was ist mit dem Hostel in Kambodscha?« Moritz erinnerte sich genau an den Anruf seines ehemaligen Schützlings. Es hatte ihm geschmeichelt, um Rat gefragt zu werden. Da der Plan ihn an seine eigene Jugend erinnerte, hatte er Caspar zugeraten.

»Das werde ich verschieben müssen. Aber ich will auf jeden Fall dorthin zurück. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön es da war.« Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz. Er hätte zu gern von seinen Erlebnissen berichtet. Doch die Krankheit forderte ihren Tribut. Schon wieder kämpfte er gegen die Müdigkeit.

Moritz bemerkte es.

»Wie lange musst du denn hierbleiben?«

»Keine Ahnung. So, wie ich mich fühle, mindestens ein Jahr.«

Moritz Blaha lachte und stand auf.

»Dann bleibt dir ja genügend Zeit, mir von deinen Abenteuern in Kambodscha zu berichten.« Er verabschiedete sich und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um. »Ich wette, es steckt ein Mädchen dahinter.«

Caspar blinzelte gegen die Erschöpfung an.

»Der Kandidat hat so viele Klaviere gewonnen, wie er tragen kann.«

»Schön, dass du deinen Humor nicht verloren hast. Wir sehen uns bald wieder.« Mit diesen Worten machte Moritz seine Ankündigung wahr und verließ das Zimmer.

Keine zwei Minuten später war Caspar eingeschlafen.

*

Als Leonie Jürgens in der Klinik angekommen war, machte sie sich direkt auf den Weg zu ihrem Sohn.

In Gedanken versunken an die Begegnung mit dem hinreißenden Moritz achtete sie nicht auf die Menschen, die an ihr vorüber hasteten. Umso erstaunter war sie, ihren Namen zu hören.

»Frau Jürgens?«

Sie blieb stehen und drehte sich um. Es dauerte einen Moment, bis sie den Arzt wiedererkannte.

»Dr. Kayser, der Tropenmediziner.«

»Allerdings.« Er erwiderte ihr Lächeln, erfreut darüber, dass sie ihn wiedererkannte. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

Leonie war hin und her gerissen.

»Eigentlich wollte ich zu meinem Sohn … «.

»Ich komme gerade von ihm. Er hatte Besuch und schläft jetzt.« Er machte eine einladende Handbewegung. Da es nun keinen Grund mehr gab, das Gespräch auszuschlagen, folgte Leonie der Aufforderung.

»Besuch? Das ist ja nett, dass sich seine Freunde für ihn Zeit nehmen«, sinnierte sie vor sich hin, während sie neben Carsten Kayser den Flur hinab ging.

»Der Herr sah nicht wie ein Freund aus.« Dr. Kayser blieb vor einem Zimmer stehen und bat Leonie hinein. »Wir haben inzwischen herausgefunden, was Ihrem Sohn fehlt.« Er bot ihr einen Platz vor dem Schreibtisch an und setzte sich selbst auf die Tischkante. »Es handelt sich um eine fieberhafte Viruserkrankung mit dem wohlklingenden Namen Chikungunya.«

»Chikun … was?«

»Chi-kun-gunya«, wiederholte der Arzt geduldig. »Das Virus kommt vorwiegend in Afrika und Südostasien vor und wird durch Stechmücken übertragen.«

»Ist es gefährlich?«

»In der Regel verläuft die Krankheit gutartig und ist nicht direkt von Mensch zu Mensch übertragbar. Deshalb können Sie Ihren Sohn jetzt auch ohne Schutzkleidung besuchen.«

Leonie lächelte.

»Heute bekomme ich nur gute Nachrichten!« Diese Tatsache machte sie übermütig. »Nichts gegen Ihre Anstaltstracht. Aber ich kenne einen hervorragenden Modedesigner, der mit Sicherheit ein paar Ideen dazu hätte. Wenn Sie wollen, kann ich einen Kontakt machen.«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Carsten Kayser durchaus Sympathien für die jung gebliebene Mutter gehegt. Sein säuerliches Lächeln verriet, dass sie einen Teil davon mit dieser Bemerkung verspielte hatte.

»Auch auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen: Wir befinden uns hier in einer Klinik und nicht auf dem Laufsteg. Unsere ›Anstaltstracht‹, wie Sie es nennen, wurde nach neuesten Sicherheitskriterien entworfen. Anderen Ansprüchen muss sie nicht genügen.«

Als Chefin eines Nobelhotels war Leonie Jürgens es gewohnt, den Ton anzugeben. Der Tadel traf sie schwer. Im ersten Moment war die Versuchung groß, sich zu verteidigen. Doch sie war nicht nur eine geschickte, sondern auch eine kluge Geschäftsfrau.

»Natürlich. Sie haben vollkommen recht. Es tut mir leid, wenn Sie meinen kleinen Scherz missverstanden haben.«

Im nächsten Moment war es Dr. Kayser, der sich schlecht fühlte.

»Schon gut«, brummelte er und konzentrierte sich lieber wieder auf das Terrain, auf dem er sich sicher fühlte. »Um auf die Krankheit Ihres Sohnes zurückzukommen. Neben hohem Fieber sind starke Gelenk- und Muskelschmerzen typische Symptome für eine Infektion mit dem Chikungunya-Virus. Leider können wir nur die Beschwerden, nicht aber das Virus selbst behandeln.«

»Wie lange wird es dauern, bis mein Sohn wieder gesund ist?«, fragte Leonie besorgt.

»Wenn es keine Komplikationen gibt, klingen die Beschwerden in der Regel innerhalb einer bis zwei Wochen ab.«

Vor Erleichterung wäre Leonie Jürgens dem Tropenmediziner am liebsten um den Hals gefallen. Nach ihrem Faux-Pas von vorher ließ sie das aber lieber bleiben. Schließlich durfte sie es sich nicht ganz mit ihm verderben.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie zum Abschied.

»Mit einer neuen Anstaltstracht vielleicht«, erwiderte er augenzwinkernd.

Leonies Lachen hallte den Flur hinab und war weithin zu hören.

*

Nach seiner Besprechung hatte Dr. Daniel Norden ein langes Telefonat mit seinem Sohn Danny geführt. Das, was er zu hören bekam, stimmte ihn nachdenklich. Eine Weile saß er vor dem Computer und recherchierte. Ein weiteres Telefonat folgte, ehe ihn die Pflichten als Chef der Behnisch-Klinik einholten. Zum ersten Mal leitete er die Sitzung der Hygiene-Kommission und hatte eine Besprechung mit der Werbeagentur, die die ehemalige Leiterin der Behnisch-Klinik noch für die Öffentlichkeitsarbeit der Klinik engagiert hatte. Als Daniel in sein Büro zurückkehrte, blickte seine Assistentin Andrea Sander vom Schreibtisch hoch.

»Ach, da sind Sie ja. Gerade war ein Bote hier, der ein sehr wichtiges Päckchen für Sie abgegeben hat.« Sie öffnete die Schreibtischschublade und hielt die Sendung hoch. »Er hat mindestens sieben Mal betont, wie geheim und wichtig der Inhalt ist.«

In den vergangenen Wochen hatte Andrea ihren neuen Chef bereits so gut kennengelernt, dass sie um seinen Humor wusste. In Erwartung eines Scherzes hielt sie ihm den wattierten Umschlag lächelnd hin.

Doch diesmal wurde sie enttäuscht.

»Nicht so laut. Das muss ja nicht jeder hier mitbekommen«, bemerkte Daniel sichtlich nervös. Er nahm das Päckchen an sich und verschwand unter Andrea Sanders verwirrten Blicken in seinem Büro.

Nur zehn Minuten später kam er wieder heraus.

»Ich muss etwas Wichtiges erledigen. In ungefähr einer halben Stunde bin ich zurück. In dieser Zeit bin ich nicht zu sprechen. Für niemanden.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er das Vorzimmer.

Andrea Sander sah ihm überrascht nach. Als Dr. Lammers nur ein paar Minuten später unvermittelt im Zimmer stand, zuckte sie erschrocken zusammen.

»Seit wann sind Sie so schreckhaft?«, fragte er herablassend.

»Seit Sie nicht anklopfen wieder jeder andere, normale Mensch auch«, fauchte sie genervt.

»Dann sollten Sie die Tür schließen«, widersprach Lammers ungnädig und durchquerte wie selbstverständlich das Vorzimmer in Richtung Chefbüro.

Es war nicht leicht, die resolute Frau Sander aus der Fassung zu bringen. Nur Volker Lammers schaffte das in schöner Regelmäßigkeit.

»Die Mühe können Sie sich sparen!« Andrea ärgerte sich darüber, dass sie ihre Stimme nicht im Griff hatte. »Der Chef ist nicht da.«

»Ach!« Mitten in der Bewegung hielt Dr. Lammers inne und drehte sich um. Er machte sich nicht die Mühe, das vielsagende Lächeln zu unterdrücken, das um seine Lippen spielte. »Wo steckt denn der Gute?«

»Erstens ist er ganz bestimmt nicht Ihr Guter! Und zweitens weiß ich das nicht. Ich weiß nur, dass er in der nächsten halben Stunde für nichts und niemanden zu sprechen ist.« Sie lächelte übertrieben. »Tut mir außerordentlich leid, Herr Dr. Lammers.«

Im Normalfall brachte sie ihn mit diesem Tonfall zur Weißglut. Doch dieser Tag war wie verhext. Statt wutschnaubend aus dem Büro zu laufen, erwiderte er ihr Lächeln.

»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie eine grottenschlechte Lügnerin sind?«, fragte er so liebenswürdig wie möglich und verschwand, ohne die Chefsekretärin noch eines Blickes zu würdigen.

Im Gegensatz zu ihr wusste er ganz genau, wo er Dr. Norden suchen musste. Doch er tat es nicht. Für den Moment reichte die Bestätigung, dass ihn seine Ahnung nicht getrogen hatte.

*

Im Laufe des Vormittags erholte sich der kleine Niklas so weit, dass er mit seinem Vater ein wenig Auto spielen konnte. Schweren Herzens hatte sich Magdalena verabschiedet, um sich um die kleine Tochter zu kümmern. Zum Glück war Gregor sein eigener Chef und konnte sich um Niklas kümmern. Vater und Sohn schoben Spielzeugautos über die Bettdecke. Dr. Felicitas Norden, die sich gleich nach ihrer Ankunft in der Klinik auf den Weg zu ihrem Sorgenkind gemacht hatte, hörte die Kinderstimme schon auf dem Flur.

»Tütüüüüt, auf die Seite, Schnittlauch, hier kommst du nicht vorbei«, krähte der kleine Mann.

Gregor blieb der Mund offen stehen vor Staunen.

»Woher hast du denn diesen Ausdruck?«

Niklas kicherte.

»Das sagt Onkel Bert immer, wenn er eine Polizei auf der Straße sieht.«

»Und warum nennt Onkel Bert die Polizei Schnittlauch?«, fragte Gregor forschend weiter. Er ahnte Böses. Obwohl sein Bruder ein paar Jahre älter war als er, hatte er oft Flausen im Kopf.

»Weil Polizisten außen grün sind und innen … innen … « Niklas fiel das Wort nicht mehr ein. »Innen nichts drin ist«, entschied er sich schließlich für eine Umschreibung.

Gregor seufzte.

»Das ist aber nicht nett von Onkel Bert. Das nächste Mal musst du ihn ordentlich schimpfen.«

Zutiefst verwundert stand Fee in der Tür und beobachtete die beiden. Der treuherzige Blick, den Nik­las seinem Vater schickte, rührte an ihr Herz.

»Darf ich ihn denn schimpfen?«

»Ausnahmsweise«, lächelte Gregor und streichelte über das weiche Kinderhaar.

Der Moment war günstig, um auf sich aufmerksam zu machen. Felicitas klopfte an die offenstehende Tür und trat ein.

»Na, habt ihr beide schon zu Mittag gegessen?«, fragte sie und deutete auf die beiden Tabletts, die auf dem Tisch standen.

»Oh, nein. Das haben wir total vergessen.« Gregor stand auf und hob den Deckel von einem der Teller.

Fee sah ihm dabei zu, wie er ein Fischstäbchen zerteilte.

»Haben Sie Urlaub genommen, damit Sie bei Ihrem Sohn bleiben können?«, erkundigte sie sich.

Gregor sah hoch und lächelte.

»Das muss ich zum Glück nicht. Ich bin selbstständig und verkaufe Verschleißteile für Kieswerke. Wenn ich nicht da bin, bleibt das Geschäft eben geschlossen.«

»Respekt, dass Sie sich das erlauben können.«

»Noch geht es. Aber ich weiß natürlich nicht, wann die ersten Beschwerden kommen.« Er trug den Teller hinüber ans Bett seines Sohnes und setzte sich auf die Bettkante, um Niklas mit Fischstäbchen und Kartoffelpüree zu füttern. »Ein Glück, dass es Niklas besser geht.«

»Das ist wirklich eine erstaunliche Entwicklung.«

»Was auch immer Herr Dr. Norden gemacht hat … Ich bin ihm unendlich dankbar.«

Fee hatte keine Ahnung, wovon er sprach, ließ sich aber nichts anmerken.

»Darf ich Niklas ganz kurz untersuchen? Es dauert auch nicht lange.«

»Natürlich.« Gregor stellte den Teller zur Seite und stand auf, um Platz zu machen.

Felicitas fühlte Niklas’ Puls, hörte seine Brust ab und kontrollierte die Werte der letzten Blutuntersuchung. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Trotzdem nahm sie Gregor Kronseder zur Seite.

»Im Augenblick scheint es Ihrem Sohn tatsächlich besser zu gehen. Ich möchte Sie nur bitten, nicht zu erschrecken, wenn sich das wieder ändern sollte.« Aus eigener bitterer Erfahrung wusste sie, wie schnell Eltern neue Hoffnung schöpften. Und wie tief der Fall war, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllte.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er skeptisch.

»Besonders bei Kindern kommt es manchmal vor, dass sich der Zustand kurzfristig bessert. Leider lässt sich daraus nicht auf die weitere Genesung schließen.«

Gregors Augen wurden schmal.

»Sie gönnen uns den Erfolg nicht, was?«

Diese Worte trafen Fee mitten ins Herz.

»Wenn mir etwas am Herzen liegt, dann ist es jedes Kind, das ich gesund aus dieser Klinik entlassen kann«, erwiderte sie reserviert.

Trotz ihres Ärgers verabschiedete sie sich freundlich von Vater und Sohn, ehe sie sich auf den Weg zu ihrem Mann machte. Was hatte Daniel mit dem Zustand von Niklas Kronseder zu tun?

*

Bei seinem nächsten Besuch in Dieter Fuchs’ Büro nahm Volker Lammers die Bitte des Verwaltungsdirektors ernst. Er meldete sich telefonisch an und traf seinen Verbündeten an einem verschwiegenen Ort.

Fuchs betrachtete ihn mit deutlicher Skepsis im Blick.

»Ich hoffe, du verschwendest meine Zeit nicht.«

»Norden hat angebissen.« Volker Lammers konnte sein Geheimnis nicht länger für sich behalten.

»Woher weißt du das?«

»Heute Vormittag sind ein paar merkwürdige Dinge passiert. Zuerst war der Bote eines Labors bei mir, der sich verlaufen hatte. Er wollte zu Dr. Daniel Norden. Als ich selbst etwa eine halbe Stunde später zum Chef wollte, war er nicht zu sprechen. Daraufhin beschloss ich, dem Bengel einen Besuch abstatten.« Lammers machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Stell dir vor: Die Tür war verriegelt.«

Dieter Fuchs lachte abfällig.

»Tut mir leid. Aber das reicht bei Weitem nicht, um einen Chefarzt loszuwerden.«

Obwohl sich Lammers über die Zweifel seines Kompagnons ärgerte, blieb er unverändert freundlich.

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, beschwor er Fuchs mit erhobenen Händen. »Vorhin habe ich mir den Balg selbst angesehen. Es geht ihm tatsächlich besser. Das ist der Beweis, dass Norden das nicht zugelassene Präparat besorgt und ihm verabreicht hat.«

Nachdenklich wiegte Dieter Fuchs den Kopf. Allmählich gerieten seine Zweifel ins Wanken.

»Du glaubst wirklich, dass er einen Alleingang gewagt hat?«

»Wenn du mir nicht glaubst, kannst du dir Nordens Telefonlisten besorgen. Dann hast du es schwarz auf weiß, dass er mit dem Institut Kontakt aufgenommen hat.«

»Eine gute Idee.« Der Verwaltungsdirektor erhob sich vom Stuhl und begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich blieb er vor Volker Lammers stehen. »Dann fehlt nur noch ein Geständnis«, teilte er ihm das Ergebnis seiner Überlegungen mit.

»Das bekommst du«, versprach der Kinderchirurg und ging zur Tür. »Heute noch.« Damit verließ er das kleine Zimmer im hintersten Eck der Klinik und machte sich auf den Weg zu Dr. Daniel Norden. Nie zuvor hatte er sich mehr auf eine Begegnung ihm gefreut wie in diesem Moment.

*

Zum ersten Mal an diesem ereignisreichen Tag fand Daniel Norden ein paar Minuten Ruhe. Er packte das belegte Brötchen aus, das er bei Lenni im Klinikkiosk erstanden hatte. Seit es im Hause Norden kaum mehr etwas zu tun gab, hatte sich die Haushälterin mit ihrem Lebensgefährten einer neuen Aufgabe verschrieben, und beide halfen immer dann im Kiosk aus, wenn Tatjana keine Zeit hatte.

Daniel hatte es sich in der Besucherecke gemütlich gemacht und wollte eben in sein Sandwich beißen, als es klopfte. Seufzend legte er das Brötchen zurück, ehe er den Besucher hereinrief.

»Tut mir leid, dass ich Sie störe, Chef«, entschuldigte sich Andrea Sander aufrichtig. »Aber Dr. Lammers ist heute schon zum zweiten Mal hier. Er sagt, es sei wichtig.«

»Ist es das bei ihm nicht immer?« Daniel schnitt eine Grimasse. »Dann wollen wir ihn nicht länger auf die Folter spannen. Herein mit ihm.«

Entschieden griff Daniel wieder zu seinem verspäteten Mittagessen und biss in das knackige Brötchen. Andrea unterdrückte ein herzhaftes Lachen und bat den Kinderchirurgen herein.

Dir wird der Appetit gleich vergehen!, schoss es Volker beim Anblick des Chefs durch den Kopf.

»Guten Appetit«, wünschte er scheinheilig. »Lassen Sie es sich schmecken.« Als er das Büro durchquerte, warf er einen Blick auf den Schreibtisch. Dort lag gut sichtbar das Kuvert des Forschungsinstituts. Um ein Haar hätte Volker Lammers laut aufgelacht. Die Schlinge um Nordens Hals hatte sich zugezogen. Er wusste es nur noch nicht.

Statt einer Antwort nickte Daniel mit vollen Backen. Mit einer Geste bot er Lammers den Sessel gegenüber an. Während er ihm dabei zusah, wie er sich setzte, trank er einen Schluck Wasser.

»Was kann ich für Sie tun, Kollege Lammers?« Seine Ahnungslosigkeit war geheuchelt.

»Ich war vorhin bei dem kleinen Kronseder. Es geht ihm viel besser als noch heute früh.«

Daniel stellte das Glas zurück auf den Tisch.

»Hoffentlich haben Sie sich ebenso darüber gefreut wie ich.«

»Natürlich.« Lammers bleckte die Zähne. »Ich frage mich nur, wie das sein kann. Heute Morgen war der Bengel dem Tod noch näher als dem Leben. Und jetzt …« Er machte eine kunstvolle Pause. Doch nicht das kleinste Zucken in Dr. Nordens Gesicht verriet seine Gedanken. »Was haben Sie ihm gegeben?«

Es gab vielfältige Gründe, warum Daniel Norden Chefarzt der Behnisch-Klinik geworden war. Einer davon war sein scharfer Verstand. Er durchschaute Lammers’ Absicht sofort.

»Spielt das eine Rolle? Hauptsache, es geht dem Kleinen besser.«

Volker Lammers wähnte sich auf der Zielgeraden. Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, sprang er auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.

Mit gerunzelter Stirn sah Dr. Norden ihm dabei zu. Endlich blieb Lammers stehen. Er nahm seinen Chef ins Visier.

»Sie haben dem Jungen tatsächlich ein Mittel verabreicht, das noch nicht einmal an Menschen getestet wurde?«

»Haben Sie mir nicht selbst dazu geraten?«, stellte Daniel eine berechtigte Gegenfrage.

»Ja, schon. Aber ich habe mich noch einmal gründlich informiert. Tatsächlich ist das neue Mittel noch lange nicht so weit, dass man es beim Menschen einsetzen könnte.« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Deshalb muss ich meine Empfehlung leider zurückziehen und Ihnen recht geben. Es ist unverantwortlich, dieses Medikament einzusetzen. Wenn Sie das wirklich getan haben, könnte Sie das den Kopf kosten.« Dieser kleine Nachsatz war einer zu viel. Im Überschwang der Gefühle hatte Volker seine wahren Absichten verraten.

Doch Dr. Norden verzog keine Miene. Nachdem Lammers geendet hatte, herrschte tiefes Schweigen im Büro. Aus dem Vorzimmer klang Frau Sanders Stimme zu ihnen herüber. Offenbar telefonierte sie. Als sie geendet hatte, war alles still. Volker wurde nervös.

»Warum haben Sie nicht besser recherchiert?«, fragte er.

Endlich brach Daniel sein Schweigen und erhob sich.

»Wie oft haben Sie schon Grenzen überschritten, um Patienten zu helfen?«, stellte er eine Gegenfrage. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ich habe zu tun.«

Trotz seines Siegs war Lammers’ Blick voller Hass, als er an seinem Chef vorbei aus dem Zimmer stürmte. Der Rauswurf war schwer zu verkraften.

Kopfschüttelnd kehrte Daniel in die Besucherecke zurück, um wenigstens das Sandwich aufzuessen. Er wollte gerade einen wohlverdienten Bissen tun, als Andrea Sander den Kopf hereinsteckte.

»Was haben Sie denn mit Lammers angestellt? Normalerweise ist es mein Job, ihn zur Weißglut zu treiben.«

»Offenbar habe ich ungeahnte Qualitäten«, schmunzelte Dr. Norden, ehe er sich einen herzhaften Bissen Brötchen gönnte.

*

In Leonie Jürgens’ Leben kam es nicht oft vor, dass sich ein Tag wie Kaugummi in die Länge zog. Doch an diesem Dienstag ertappte sie sich mehrmals dabei, wie sie auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch starrte.

»Noch so früh! Das kann doch nicht wahr sein!«, seufzte sie jedes Mal vor sich hin.

Doch endlich war es so weit, und am Ende musste sie sich sogar beeilen, um nicht zu spät zu ihrer Verabredung mit dem faszinierenden Moritz zu kommen. Er wartete schon vor der Tür des kleinen Cafés auf sie, als sie nach langwieriger Parkplatzsuche endlich über die Straße hastete.

»Tut mir leid, dass ich so spät bin.«

»Kein Problem. Ich hatte nur Angst, du hättest es dir anders überlegt«, gestand Moritz mit entwaffnender Offenheit und hielt ihr die Tür auf.

Ein feiner Duft nach Butter, Zucker und Vanille empfing sie. Das Murmeln der Gäste wurde vom lässigen Barjazz untermalt, den Tatjana so gern auflegte, passte er ihrer Meinung nach doch perfekt zu dem eigenwilligen Ambiente ihres Cafés.

Wie immer, wenn Leonie in diese Welt eintauchte, sah sie sich staunend wie ein Kind um.

»Weißt du, was mich hier immer wieder überrascht?«, wandte sie sich an Moritz.

»Du siehst so aus, als würdest du es mir gleich verraten«, erwiderte er, während er ihr aus dem Mantel half.

»Kein Stück in diesem Raum passt zum anderen. Und in einem anderen Kontext wäre diese gehämmerte Silberdecke ein Albtraum. Aber alles zusammen gesehen ergibt die perfekte Harmonie.«

»Wie bei einem alten Ehepaar.« Moritz lachte, ehe er ihren Mantel zur Garderobe brachte. Es dauerte, bis er sich einen Weg zurück zu Leonie gebahnt hatte. Obwohl das kleine Café in einer Stunde schließen würde, war es um diese Uhrzeit gut besucht. Sie saß inzwischen in der Ecke, die er für sie ausgesucht hatte. »Gefällt dir der Tisch? Ich habe ihn extra für uns reservieren lassen. Es ist mein Lieblingstisch.«

»Ach, dann bist du der Typ, der ihn mir immer vor der Nase wegschnappt?« Leonie lehnte sich zurück und musterte ihn. »Ich hoffe, du bist mit Rotwein und Flammkuchen einverstanden.«

»Ausgezeichnet. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Moritz setzte sich ihr gegenüber.

Nur mit Mühe konnte Leonie ihre Enttäuschung verbergen.

»Du hast heute Abend noch etwas vor?«

»Nein. Aber Frau Bohde schließt das Café um neunzehn Uhr. Und das, obwohl ich sie schon ungefähr hundert Mal gebeten habe, die Öffnungszeiten zu ändern.«

Der Wein wurde serviert. Leonie und Moritz sahen sich tief in die Augen, als sie anstießen.

»Ehrlich gesagt kann ich sie aber verstehen«, fuhr er fort, nachdem sie einen Schluck getrunken hatten. »Ich arbeite selbst in der Gastronomie und weiß, wie anstrengend es sein kann, rund um die Uhr für die Gäste da zu sein.«

Seine Worte hatten Leonie neugierig gemacht.

»Darf ich fragen, womit genau du deine Tage verbringst?«

»Du musst nur in das Hotel kommen, in dem ich arbeite. Dort kannst du mich in Aktion bewundern. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin Assistent der Direktion.«

»Interessant.« Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. In Wahrheit konnte Leonie ihr Glück kaum fassen. Endlich ein Mann vom Fach, der nicht nur die Themen, sondern auch die Arbeitszeiten kannte, die eine Stelle in der Gastronomie mit sich brachte.

»Das stimmt. Allerdings bin ich im Augenblick nicht ganz zufrieden«, fuhr Moritz fort. Gedankenverloren drehte er sein Glas in den Händen. »Weißt du, in so einem großen Haus ist kein Platz für eigene Ideen. Immer geht es nur um Organisation, Umsätze, Auslastung, Zeitmanagement. Allmählich habe ich das Gefühl, dass meine Kreativität auf der Strecke bleibt.«

Leonie wusste nur zu gut, wovon er sprach. Erst seit sie selbst Chefin des familieneigenen Hotels geworden war, hatte sie Raum für eigene Ideen.

»Du klingst nicht sehr glücklich«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

»Das ist richtig.« Als Moritz sie ansah, blitzte die Begeisterung in seinen Augen auf. Es war offensichtlich, dass ihm gefiel, was er sah. »Aber ich bin nicht der Typ, der resigniert. Ich werde mir eine andere Aufgabe suchen.«

Schon wollte Leonie von ihrem Hotel und ihren Nachwuchsproblemen erzählen, als Marla mit dem Flammkuchen an den Tisch kam.

Leonie und Moritz griffen tatkräftig zu und schafften Platz für die großen Holzbretter. Ihre Hände berührten sich, und wie von einem Stromschlag getroffen zuckten beide gleichzeitig zurück.

Leonie beschloss kurzerhand, sich mit einem Scherz aus ihrer Verlegenheit zu retten.

»Die erste große Aufgabe, die auf dich wartet, ist dieser Flammkuchen hier.«

Moritz schenkte ihr einen durchdringenden Blick.

»Falsch. Die erste große Aufgabe ist es, das Herz dieser wunderschönen Frau zu erobern, die mir gegenübersitzt.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, griff er nach einem Stück Flammkuchen.

Leonie tat es ihm nach, wohl wissend, dass sie vor Aufregung keinen Bissen hinunter bekommen würde.

*

Eine Stunde später verließen die beiden lachend und schwatzend das Café ›Schöne Aussichten‹, das seinem Namen wieder einmal alle Ehre machte. Die Zukunftsaussichten schienen rosig. Auf dem Gehweg blieben sie stehen und sahen sich unschlüssig an. Im Gegensatz zum Rest des Tages war die gemeinsame Zeit viel zu schnell vergangen.

»Vielen Dank für die Einladung. Es war wunderschön«, murmelte Leonie und senkte den Kopf.

Doch davon wollte Moritz nichts wissen.

»Ich kann nicht glauben, dass der Abend jetzt schon vorbei sein soll.«

Leonie ahnte, worauf er hinaus wollte.

»Aber ich bin ein anständiges Mädchen und werde dich ganz bestimmt nicht auf einen Kaffee einladen. Und mich auch nicht einladen lassen.« Sie lächelte. »Nicht am ersten Abend.«

Mit jedem Wort, jeder Geste gefiel sie Moritz mehr. Er dachte kurz nach.

»Und was, wenn ich dich nicht zu mir nach Hause einlade, sondern in mein Hotel?«

Leonie musterte ihn überrascht. Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen. Doch so klar konnte sie noch denken, dass sie wusste, welche Ehre er ihr zuteil werden lassen wollte.

»Du willst mich deinen Kollegen vorstellen?«

»Ich weiß! Das, was ich jetzt sagen werde, klingt wie romantischer Unsinn«, räumte er ein. Als er ihre Hand an die Lippen zog und küsste, verschwand auch der kleinste Funken Lachen aus seinen Augen. »Leonie, ich muss gestehen, dass ich in meinem Leben schon ein paar Frauen kennengelernt habe. Aber eine Frau wie dich habe ich nie getroffen«, gestand er heiser. »Es ist, als würden wir uns schon Jahre kennen. Mit dir ist es aufregend und vertraut zugleich. Das, was du erzählst, die Art, wie du lachst, dir das Haar aus dem Gesicht streichst … Mir ist, als kennte ich dich schon viele Jahre. Und trotzdem trommelt mein Herz in der Brust wie ein wildgewordener Indianer.«

Dieser Vergleich brachte Leonie zum Lachen. Ihr Widerstand war gebrochen.

»Also gut, du hast gewonnen.«

»Ja!« Wie ein Sieger stieß Moritz die Faust in die Luft. Im nächsten Moment hielt er ein Taxi an. Er ließ Leonie auf dem Gehweg zurück, ging um den Wagen herum und verhandelte mit dem Fahrer.

Schließlich hielt er ihr die hintere Tür auf. Er wartete, bis sie eingestiegen war, und rutschte neben sie. Sie saßen so dicht nebeneinander, dass Leonie meinte, vor Hitze zu vergehen. Sie war fast dankbar, als Moritz ihr glühendes Gesicht zwischen seine kühlen Hände nahm.

»Du bist einzigartig«, raunte er ihr zu, ehe er sie küsste.

Als sich ihre Lippen fanden, wusste Leonie, dass alles seine Richtigkeit hatte. Nie hatte sich ein Kuss besser angefühlt als dieser. Sanft und fordernd, lockend und zurückhaltend zugleich, brachte Moritz die richtigen Saiten in ihr zum Klingen.

Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, dauerte es einen Moment, bis sie ihre Umgebung wieder wahrnahm.

»Aber das ist ja das ›Mandarin Oriental‹!« Überrascht blickte sie auf das exklusive Gebäude, vor dem das Taxi geparkt hatte. »Mein Sohn hat hier den praktischen Teil seiner Ausbildung absolviert.« Sie stieg aus und bewunderte die elegante Fassade des Fünf-Sterne-Hauses.

»Wirklich?« Moritz konnte es kaum glauben. »Wie heißt dein Sohn?«

»Caspar.«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als er auflachte.

»Das wird ja immer verrückter mit dir! Caspar und ich sind befreundet. Ich war sein Ausbilder.«

»Du bist das?« Leonie starrte ihn mit offenem Mund an. »Moritz Blaha? Er hat mir so viel von dir erzählt.«

»Und er mir von dir. Dein Sohn hat so geschwärmt von dir, dass ich diese sagenumwobene Wunderfrau unbedingt kennenlernen wollte.«

»Dasselbe dachte ich mir auch immer. Der Mann, der meinen Sohn so sehr beeindrucken kann, muss ein sehr besonderer Mensch sein.«

»Warum sind wir uns nie zuvor begegnet?«, fragte Moritz kopfschüttelnd. Er fasste sie sanft unter dem Ellbogen, um sie zum Hotel zu führen. Mehr denn je wollte er sie aller Welt vorstellen.

»Dass ausgerechnet du diese Frage stellst.« Leonie wunderte sich. »Du arbeitest doch selbst im Hotel und weißt so gut wie ich, dass die Arbeit kaum Zeit für ein Privatleben lässt.« Mit einem Lächeln bedankte sie sich bei dem Pagen, der ihr die Tür aufhielt.

»Das stimmt«, räumte Moritz ein. »Trotzdem kann ich es immer noch kaum glauben. Kein Wunder, dass wir uns so vertraut sind.« Er grüßte nach links und nach rechts, ehe er mitten in der Lobby nach Leonies Hand griff.

»Caspar wird Augen machen, wenn er das von uns erfährt.« Unfähig, den Blick von ihr zu wenden, zog er ihre Hand an die Lippen und küsste sie.

Wie ein aufgeregter Vogel flatterte Leonies Herz in ihrer Brust. Sie wusste, was diese Geste bedeutete, und in diesem Augenblick war sie so glücklich wie seit vielen Jahren nicht mehr.

*

Als Magdalena Kronseder ihren Sohn an diesem Abend besuchte, blieb sie vor der Tür des Krankenzimmers stehen und lauschte. Nik­las’ Stimme war laut und deutlich zu hören.

»Nein, das ist falsch. Ihr seid alle blöd!«, schimpfte er.

Magdalena drückte die Klinke herunter, neugierig, wer den Zorn ihres kleinen Sohnes erregte. Zu ihrer großen Überraschung war Nik­las gern. Im Jogginganzug saß er auf dem Fußboden inmitten seiner Spielzeugautos. Eine Schwester hatte ihm erlaubt, den Straßenteppich auszurollen. Der Infusionsständer stand dich neben ihm.

»Hallo, mein Süßer.« Überglücklich, Niklas so munter zu sehen, kniete sich Magdalena neben ihn. »Was ist los? Mit wem hast du denn gerade so geschimpft?«

»Mit meinen Autos«, antwortete er düster. »Die sind alle blöd. Die wollen nicht dahin fahren, wohin ich will.«

Magdalena lachte auf. Sie zog ihren Sohn an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Das ist wie mit den Kindern. Die tun auch nicht immer das, was sie sollen. Aber vielleicht schaffen wir es ja zu zweit. Was meinst du? Sollen wir es versuchen?«

Niklas strahlte seine Mama an.

»Au ja! Du bist ja eine gute Erzieherin. Dir müssen sie folgen.«

Magdalena wollte sich eben für das wunderschöne Kompliment bedanken, als Niklas hustete.

»O je, hast du dich verschluckt?« Sie wollte aufstehen, um ihm ein Glas Wasser zu holen.

Doch ein Blick in das Gesicht ihres Sohnes ließ sie innehalten. Mit einem Schlag war Niklas leichenblass geworden. Er starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an und schnappte nach Luft. Sein Röcheln ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Magdalena zögerte nicht. Sie hob ihr Kind hoch und brachte es ins Bett. Geistesgegenwärtig bugsierte sie mit dem Fuß den Infusionsständer neben sich her.

»Keine Angst, mein Kleiner. Gleich kommt ein Arzt und hilft dir.« Sie wusste selbst nicht, wie es ihr gelang, ruhig zu bleiben. Sie drückte den Notknopf am Bett. »Ganz ruhig. Alles wird gut. Du musst keine Angst haben.«

Magdalena Kronseder brach erst in Tränen aus, als Dr. Felicitas Norden ins Zimmer eilte und sich über Niklas beugte. Sie drückte ihm eine Beatmungsmaske auf das Gesicht. Wenige Augenblicke später kamen Dr. Lammers und Schwester Elena herein.

»Raus mit Ihnen! Sie haben hier nichts verloren«, herrschte Lammers die Mutter an.

Nur mit Mühe konnte sich Elena einen harschen Kommentar in seine Richtung verkneifen. Sie nahm die erschütterte Magdalena sanft an den Schultern und führte sie hinaus. Dabei redete sie beschwichtigend auf sie ein.

Unterdessen war Volker an die andere Bettseite getreten. Durch den Zugang am Handgelenk spritzte er Niklas ein Medikament.

»Was ist passiert?«

»Ein schwerer Rückfall.«

»Wie kann das sein?«, fragte er scharf.

»Woher soll ich das wissen?«

Lammers lachte hämisch auf.

»Dann sollten Sie vielleicht einmal Ihren Mann fragen«, empfahl er ihr. »Wenn er seinen Patienten nicht zugelassene Medikamente verabreicht … «.

»Das würde Daniel niemals tun«, unterbrach Fee ihn barsch.

»Schade, dass Liebe so blind macht«, grinste er, während er eine andere Infusion an Niklas’ Zugang ansteckte. »Leider muss ich Sie enttäuschen, Feelein. Ich habe Beweise. Damit werde ich dafür sorgen, dass Ihr feiner Daniel die längste Zeit Chefarzt an dieser Klinik war. Und vielleicht tun Sie mir dann endlich, endlich den Gefallen und verschwinden auch von hier.« Er dachte nicht daran, einen Hehl aus seinen Wünschen und Hoffnungen zu machen. Schon jetzt schien er sich wie der Chef zu fühlen. Zumindest ließ sein Tonfall darauf schließen. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg! Der Bengel muss zum Röntgen.«

Gerade noch rechtzeitig sprang Felicitas zur Seite. Sonst hätte Lammers sie mit dem Bett überfahren. Entsetzt, verwirrt und geschockt stand sie da und sah ihm nach, als er mit Niklas aus dem Zimmer verschwand.

*

Nach ihrer gescheiterten Ehe hatte Leonie Jürgens einige Männer kennengelernt und nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Auch deshalb hatte sie sich geschworen, es in Zukunft langsam angehen zu lassen. Aus diesem Grund verabschiedete sie sich nach dem Kaffee endgültig von Moritz.

»Du willst mich wirklich schon verlassen?«, fragte er sichtlich enttäuscht.

»Ich habe Caspar noch einen Besuch versprochen.« Sie bückte sich nach ihrer Handtasche, die sie neben dem Sessel im hoteleigenen Café abgestellt hatte, und stand auf. »Außerdem bin ich eine Frau mit Prinzipien. Ich habe genug schlechte Erfahrungen gemacht, um mich nicht mehr Hals über Kopf in eine Liebesgeschichte zu stürzen.« Sie machte eine kunstvolle Pause. »Der Mann, der mich wirklich will, kann warten.«

Moritz schickte ihr einen bewundernden Blick.

»Du bist meine Göttin. Ich verehre dich.«

Lächelnd strich sie ihm mit dem Zeigefinger über die Wange.

»Worte sagen viel, Taten die Wahrheit.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen«, versprach er und meinte es auch so.

Mit diesem guten Gefühl verließ Leonie ihn kurz darauf und stieg in das Taxi, das er für sie bestellt hatte. Eine halbe Stunde später trat sie an das Krankenbett ihres Sohnes.

»Caspar, mein Lieber. Wie geh es dir?«, begrüßte sie ihn und legte eine Schachtel Petits Fours auf die Bettdecke, die sie noch schnell im Klinikkiosk erstanden hatte.

»Zum Glück sind die Schmerzen nicht mehr ganz so schlimm. Dafür bekomme ich jetzt Husten.« Wie zum Beweis räusperte er sich.

»Du Armer! Ich wollte dich heute Morgen schon besuchen. Aber da hast du geschlafen.«

Um von sich abzulenken, griff Caspar nach der Schachtel und lachte.

»Hast du dich mit meinem Ausbilder abgesprochen?« Er deutete auf die andere Schachtel, die auf dem Nachttisch stand. Sie war halb leer.

»Moritz hatte denselben Gedanken wie ich?«, fragte Leonie. Ein seliges Lächeln spielte um ihre Lippen, das Caspar natürlich nicht entging.

»Was ist denn mit dir los, Mama? Du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd.«

Ganz gegen ihre Art kicherte Leonie wie ein Teenager.

»Ach ja?«

»Ja«, erwiderte Caspar belustigt. Im nächsten Moment wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Das klingt ja furchtbar!« Besorgt zog Leonie eine Augenbraue hoch. »Soll ich Dr. Kayser rufen?«

Caspar schüttelte den Kopf. Er wollte nicht an seine Krankheit denken.

»Sag mir lieber, ob du verliebt bist.« In all den Jahren, die er mit seiner Mutter allein lebte, hatte er diesen Verdacht nur ein, zwei Mal gehabt. Kennengelernt hatte er die Männer aber nie.

Leonie überlegte kurz. Dann beugte sie sich über ihn.

»Wenn du ganz brav bist, verrate ich dir ein Geheimnis«, flüsterte sie, als hätten sie unerwünschte Zuhörer.

»Du hast also wirklich einen Mann kennengelernt.« Das Leuchten in Caspars Augen verriet, dass er sich ehrlich freute.

Leonie setzte sich auf die Bettkante und verschränkte die Finger.

»Du darfst deine alte Mutter nicht auslachen«, ermahnte sie ihn lächelnd. »Es war Liebe auf den ersten Blick! Ich hätte nie gedacht, dass es so was gibt.«

Als seine Mutter so vor ihm saß und kicherte und giggelte wie ein Teenager, konnte Caspar nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Was war nur mit der bedachten, überlegten Leonie passiert, die sich jeden Schritt dreimal überlegte? Bei ihrem Anblick fühlte er sich plötzlich wie ein alter, weiser Mann.

»Den Mann, der dir derart den Kopf verdreht hat, muss ich unbedingt kennenlernen.«

Wieder kicherte Leonie.

»Du kennst ihn schon. Es ist Moritz, dein ehemaliger Ausbilder. Stell dir vor, wir haben uns heute zufällig kennengelernt. Mir ist ein Reifen geplatzt. Moritz war mit dem Fahrrad unterwegs und hat angehalten, um mir zu helfen. Dabei ist es passiert.« Sie war so versunken in ihre Erinnerungen an diesen denkwürdigen Morgen, dass sie nicht bemerkte, wie Caspars Miene zu Eis gefror.

»Du machst Witze!«

»Ich weiß, dass dir das ein bisschen seltsam vorkommen mag.« Noch immer dachte Leonie, dass ihr Sohn scherzte. »Aber es stimmt. Und ich muss zugeben, dass du recht hattest mit allem, was du über Moritz gesagt hast. Er ist ein wundervoller Mann.«

»Das ist ja wohl der Gipfel!«, stieß Caspar hervor. Sein Atem rasselte, als er empört nach Luft schnappte. »Jetzt wird mir einiges klar.«

Allmählich sickerte die Gewissheit in Leonies Bewusstsein, dass ihr Sohn wirklich wütend war. Das Strahlen auf ihrem Gesicht verblasste.

»Aber Caspar, was ist denn plötzlich los?« Leonie verstand die Welt nicht mehr. »Ich dachte, du freust dich. Schließlich magst du Moritz doch, und er mag dich.«

»Ach ja? Tut er das? Warum hat er mich dann dazu überredet, den Vertrag in Siem Reap so schnell wie möglich zu unterschreiben?«

»Wie bitte?« Leonie fühlte sich, als hätte Caspar ihr einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt. »Das glaube ich nicht.«

Caspar hustete und musste sich räuspern, ehe er fortfuhr.

»Er wusste ganz genau, dass ich großen Wert auf seine Meinung lege. Ich habe ihm vertraut und ihm alles erzählt. Auch, dass ich bei dir im Hotel anfangen soll.« Sein Atem ging stoßweise. Caspar regte sich so sehr auf, dass ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. »So ein hinterhältiger Mistkerl! Er ist doch nur hinter unserem Hotel her. Und du gehst ihm auch noch auf den Leim.«

»Aber … aber …« Leonie wusste nicht, was sie denken, fühlen und schon gar nicht, was sie sagen sollte.

Ihr Zögern weckte nur neue Verdachtsmomente in Caspar.

»Schon gut, gib dir keine Mühe. Wahrscheinlich steckt ihr sogar beide unter einer Decke. Was für ein scheinheiliges Spiel!« Angewidert und voller Hass musterte er seine Mutter. »Du warst dir noch nicht mal zu blöd dazu, mir auch noch eine Management-Position anzubieten. Dabei wusstest du schon von Moritz, dass ich in Kambodscha unterschrieben habe.«

Diese Vorwürfe machten Leonie sprachlos.

»Was redest du denn für dummes Zeug? Das muss die Krankheit sein.«

»Krank ist, was ihr zwei da macht«, fauchte Caspar. »Wie ­lange geht das schon zwischen euch?«

»Ich habe dir doch gesagt … «, wollte Leonie beteuern. Doch Caspar ließ sie nicht ausreden.

»Lass mich in Ruhe! Ich will euch nie mehr wiedersehen. Keinen von euch.« Er hatte sich so sehr in seine Enttäuschung hineingesteigert, dass er immer schlechter Luft bekam. Das Rasseln in seinen Lungen alarmierte Leonie. Schon wollte sie sich nach seinem Befinden erkundigen, als sich Caspars Augen vor Angst weiteten. Seine Lippen wurden blau. Er griff nach seinem Hals und röchelte furchterregend. In diesem Moment wusste Leonie, dass sie handeln musste. Mit zitternden Fingern drückte sie den Notknopf. Ein paar Augenblicke später stürmte eine Schwester ins Zimmer. Ein Blick auf den Patienten genügte, um zu wissen, dass höchste Gefahr in Verzug war.

»Gehen Sie ins Schwesternzimmer und lassen Sie Dr. Kayser und Dr. Norden holen«, befahl sie, bevor sie sich über Caspar beugte. Leonie zögerte kurz. Dann lief sie los, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.

*

Als Gregor der Hilferuf seiner Frau ereilte, drückte er den Nachbarn Babyfon und Hausschlüssel in die Hand und machte sich auf dem direkten Weg auf in die Klinik. Er fand Magdalena vor der Radiologie, wo sie nervös auf und ab ging und auf die Ergebnisse wartete.

»Gregor!«

Aufschluchzend stürzte sie in seine Arme und weinte hemmungslos. »Wie … Wie konnte das nur passieren? Es ging ihm doch so gut.«

Gregor hatte eine vage Ahnung, und sein schlechtes Gewissen wog tonnenschwer. Sollte er seiner Frau von dem Gespräch mit Dr. Norden erzählen? Ehe er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, öffnete sich die Tür, und Felicitas Norden kam heraus. Behutsam schob er Magdalena von sich.

»Wie geht es unserem Sohn?«, fragte er heiser.

»Im Augenblick ist sein Zustand stabil«, erwiderte Fee sehr ernst. »Jetzt müssen wir die Bilder abwarten, um den Grund für diesen Anfall herauszufinden.«

Gregor fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.

»Das ist alles meine Schuld. Ihr Mann hat das nur getan, weil ich so einen Druck gemacht habe. Es tut mir so leid. Das hätte ich nie von ihm verlangen dürfen.«

Schon wieder diese ungeheuerliche Behauptung! Und noch immer hatte Fee keine Ahnung, um welches Medikament es ging. Sie musste dringend mit Daniel sprechen. Doch dazu war im Augenblick keine Zeit.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwiderte sie der Einfachheit halber. »Aber ich bin sicher, dass mein Mann sich nicht unter Druck setzen lässt. Er würde niemals gegen sein Gewissen handeln.« Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich die Tür erneut öffnete und Dr. Lammers auftauchte. Er sah alles andere als zufrieden aus.

»Und?«, fragte Fee ungeduldig.

»Der Bengel hat einen linksseitigen Pneumothorax«, knurrte er. »Ich operiere.« Er drückte ihr die CD mit den Untersuchungsergebnissen in die Hand und verschwand wieder.

Erschrocken sah Magdalena ihm nach.

»Einen Pneumothorax?«, wandte sie sich dann an Fee.

»Dabei handelte es sich um eine Luftansammlung zwischen dem inneren und äußeren Lungenfell. Dort sollte sich normalerweise keine Luft befinden«, erklärte sie den Eltern. »Dort behindert sie die Ausdehnung eines oder beider Lungenflügel. In Niklas’ Fall handelt es sich um den linken Flügel, der dadurch für die Atmung nicht oder nur noch eingeschränkt zur Verfügung steht.«

Gregor hatte aufmerksam zugehört.

»Wie passiert so was?«, verlangte er zu wissen.

»Die Medizin unterscheidet vier verschiedene Ursachen. Aufgrund seiner Vorerkrankung tippe ich bei Niklas auf einen symptomatischen Pneumothorax. Durch die Anaphylaxie wurde die Lunge in Mitleidenschaft gezogen.«

»Dann haben die Medikamente, die Ihr Mann unserem Sohn gegeben hat, nichts damit zu tun?«

Fee schüttelte den Kopf.

»Das ist allein eine Folge der schweren Allergie.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«, stellte Magdalena eine berechtigte Frage.

»Zum Glück haben Sie sofort Hilfe gerufen. Der Kollege Lammers wird eine Thoraxdrainage legen, um die Luft schonend abzusaugen.« Sie lächelte. »Niklas ist ein tapferer kleiner Kerl. Ich bin sicher, dass er es schaffen wird.« Sie versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu klingen. Doch es gelang ihr nicht, die Eltern zu überzeugen.

»Ich ertrage diese Unsicherheit einfach nicht mehr«, stöhnte Magdalena auf. »Wenn ich nur wüsste, was ich für Niklas tun könnte.«

Gregor wusste zu gut, wovon seine Frau sprach.

»Was glauben Sie denn? Hat er überhaupt eine Chance?«

Das war eine schwierige Frage, die alle Ärzte fürchteten. Trotzdem gelang Felicitas Norden ein warmes Lächeln.

»Das ist genau das, was Sie beide für Ihren Sohn tun können: Glauben Sie ganz fest an Niklas und daran, dass alles gut wird.« Sie nickte den beiden zu, ehe es auch für sie Zeit wurde, sich wieder um ihren kleinen Patienten zu kümmern.

*

Schon von Weitem sah Moritz Blaha, wie Leonie rastlos vor dem Behandlungszimmer auf und ab ging. Mit einem so schnellen Wiedersehen hatte er nicht gerechnet. Freuen konnte er sich aber trotzdem nicht, als sich die Glastür leise vor ihm öffnete.

»Leonie!«

Sie fuhr herum und lag in der nächsten Sekunde in seinen Armen.

»O Moritz! Danke, dass du gleich gekommen bist.«

»Aber das ist doch selbstverständlich.« Er wiegte sie in den Armen wie ein Kind.

»Nein, das ist es ganz und gar nicht«, widersprach sie. Sie löste sich aus der Umarmung, um ihm in die Augen zu sehen. »Glaub mir, ich kenne mich damit aus.«

Moritz’ Herz zog sich zusammen. Er streckte die Hand aus und strich Leonie eine blonde Strähne aus der Stirn.

»Du scheinst bisher nicht viel Glück in der Liebe gehabt zu haben. Das werde ich ändern. Ich schwöre es!« Er hob die Hand zum Schwur. »Aber jetzt erzähle mir erst einmal, was überhaupt passiert ist.«

In stockenden Worten berichtete Leonie von der unglaublichen Unterstellung ihres Sohnes.

»Er hat mir vorgeworfen, das alles mit dir geplant zu haben. Und dann ist er zusammengebrochen.« Leonie war wild entschlossen, an Moritz’ Unschuld zu glauben. Und doch blieb ein winziger Zweifel.

Er sah ihn in ihren Augen.

»Du glaubst ihm?«

»Nein … Vielleicht … Ach, ich weiß überhaupt nicht, was ich noch denken soll.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich schnell ab. Auf keinen Fall sollte er sie weinen sehen.

Moritz betrachtete ihren Rücken und kämpfte mit der Enttäuschung. Doch wenn er ganz ehrlich mit sich selbst war, konnte er Leonie sogar ein wenig verstehen. Wäre es ihm in so einer Situation nicht genauso ergangen?

»Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss.«

Schlagartig verknotete sich Leonies Magen. Hatte sie nicht den ganzen Tag schon geahnt, dass an dieser Geschichte etwas faul war? Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Sie musste allen Mut zusammennehmen, damit es ihr gelang, sich umzudrehen.

»Ja?« Ihre Miene war verschlossen und abweisend.

Moritz ahnte, was in ihr vorging, und lächelte sanft.

»Keine Angst. Ich bin nicht vergeben. Zumindest nicht so, wie du denkst.« Leonies Miene sprach Bände. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen, um ihre Bedenken zu zerstreuen. Doch das war jetzt nicht der richtige Moment. »Ich habe eine Tochter. Sie ist ein paar Jahre älter als Caspar. Wenn sie mir so etwas an den Kopf werfen würde, hätte ich auch meine Zweifel.«

Leonie starrte ihn an, als hätte er um ihre Hand angehalten. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Gedanken sortiert und ihren Humor wiedergefunden hatte.

»Gib zu, dass du ein Außerirdischer bist, der die Gedanken der kleinen, dummen Menschen lesen kann«, scherzte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

Moritz lachte und wollte sie endlich wieder in seine Arme ziehen, als sich die Tür des Behandlungsraums öffnete und Dr. Kayser zu ihnen trat.

Sofort vergaß Leonie alles andere um sich herum.

»Wie geht es meinem Sohn?«, fragte sie atemlos.

Carsten Kayser lächelte.

»Lungenprobleme sind eine typische Komplikation der Chikungunya-Infektion. Zum Glück haben Sie schnell reagiert. Es ist uns gelungen, seine Spontanatmung aufrecht zu erhalten. Wir unterstützen seine Atmung nun mit ­einer Maske. Außerdem erhält er einige Medikamente. Ich denke, wir haben die Sache jetzt im Griff.«

Vor Erleichterung wäre Leonie um ein Haar wieder in Tränen ausgebrochen.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Denken Sie an die Anstalts­tracht!«, schmunzelte Dr. Kayser und wollte sich schon verabschieden.

Doch Leonie hatte noch eine Frage auf dem Herzen.

»Kann ich Caspar sehen?«

Die Miene des Tropenmediziners verfinsterte sich.

»Er hat ausdrücklich um Ruhe gebeten. Keine Besuche. Von niemandem.« Es war ihm anzusehen, dass es ihm nicht gefiel, diese Botschaft zu überbringen. »Es tut mir leid.« Mehr gab es nicht dazu zu sagen.

*

»Jetzt habe ich dich!« Zufrieden wie lange nicht blickte der Verwaltungsdirektor am nächsten Morgen auf die Telefonlisten, die ihm seine Assistentin Regina Kampe auf den Tisch gelegt hatte. Eine Nummer hatte sie mehrfach markiert. Gleich drei Mal hatte Dr. Daniel Norden mit dem Forschungsinstitut telefoniert. »Das ist der Beweis, nach dem ich gesucht habe.« Fuchs griff zum Telefonhörer und wählte Daniel Nordens Nummer.

Ein paar Minuten später stand der Chefarzt in seinem Büro.

»Sie wollten mich sprechen?«

»Ah, Herr Dr. Norden.« Rasch fuhr sich Dieter Fuchs über die Halbglatze, um sich zu versichern, dass die schütteren Strähnen noch an ihrem Platz lagen. Er stand auf, strich das Cordsakko glatt und kam um den Schreibtisch herum. »Gut, dass Sie gleich kommen konnten.« Er bat Daniel hinüber in die Besucherecke. Das abgewetzte Ledersofa machte seinem Spitznamen ›Sparfuchs‹ alle Ehre. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.«

Zögernd kam Daniel der Aufforderung nach. Fuchs nahm ihm gegenüber Platz. Sein aufgesetztes Lächeln war verdächtig.

»Dauert es lange? Ich habe ein paar dringende Fälle …«

»Die können warten«, beschied Dieter Fuchs. »Besser noch, Sie geben diese Patienten gleich an Ihren Stellvertreter ab.«

Überrascht runzelte Daniel die Stirn.

»Warum sollte ich das tun?«

Siegessicher bleckte der Verwaltungsdirektor die Zähne. Auf diesen Moment hatte er sehnsüchtig gewartet. Jetzt wollte er ihn bis zur Neige auskosten.

»Mir ist da eine sehr unschöne Geschichte zu Ohren gekommen«, begann er, ohne seinen Gegenspieler aus den Augen zu lassen. Wie würde Norden auf die Anschuldigungen reagieren? »Ihr Ehrgeiz in Ehren, Norden. Aber dass Sie Patienten, noch dazu Kinder, als menschliche Versuchskaninchen missbrauchen, geht einen Schritt zu weit.«

Überrascht bemerkt er das feine Lächeln, das um Dr. Nordens Mundwinkel spielte. Was, wenn Lammers sich getäuscht hatte? Wie würde er, der Verwaltungschef, dann dastehen? Doch so schnell wollte sich Dieter Fuchs nicht verunsichern lassen. Vom Hörensagen wusste er, dass der neue Chefarzt ein Mann war, der sich nicht gern in die Karten schauen ließ.

»Lassen Sie mich raten«, verlangte Daniel in seine Gedanken hinein. »Das hat Ihnen der geschätzte Kollege Lammers erzählt.«

Innerlich zuckte Fuchs zusammen. Er konnte nur hoffen, dass seine Miene so undurchdringlich war wie erhofft.

»Woher ich meine Informationen beziehe, tut hier nichts zur Sache«, erwiderte er schärfer als beabsichtigt. Jede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Hektische rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. »Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie ein Kind mit einem nicht zugelassenen Medikament behandelt?« Als er sah, wie Daniel sich in aller Seelenruhe zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug, wäre er ihm am liebsten an die Gurgel gegangen.

»Nein, das habe ich natürlich nicht«, antwortete Dr. Norden schlicht.

»Was für eine unglaubliche Dreistigkeit, mir einfach so ins Gesicht zu lügen!« Wütend sprang Dieter Fuchs auf und eilte zum Schreibtisch. »Sie halten sich wohl für sehr schlau! Aber ich habe Beweise!« Er griff nach der Telefonliste und schüttelte sie, dass die Papiere wild raschelten. »Sie haben drei Mal mit dem Forschungsinstitut telefoniert, das die Versuche mit diesem Medikament durchführt. Außerdem kam heute ein Bote mit einer Sendung des Labors.« Er klatschte die Liste auf den kleinen Tisch vor dem Sofa, auf dem Daniel immer noch in aller Seelenruhe saß. Die Hände in die schwammigen Hüften gestemmt, blickte Dieter Fuchs auf seinen Kontrahenten hinab. Langsam beruhigte er sich. Ein hässliches Grinsen verzog seine vollen Lippen. »Wenn Sie wollen, können wir die Sache diskret regeln. Sie hängen den Chefarztkittel an den Nagel und kehren dorthin zurück, woher Sie gekommen sind. Andernfalls sehe ich mich gezwungen, Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung zu erstatten.« Mehr als einmal hatte er sich diese Szene ausgemalt und war jedes Mal hochzufrieden gewesen.

Doch Daniel Nordens Reaktion fiel nicht annähernd so aus wie erwartet.

»Mein lieber Herr Fuchs, Ihr Angebot erfüllt den Tatbestand der Erpressung. Ist Ihnen das bewusst?«

Daniels Ruhe verunsicherte den Verwaltungschef. Er dachte kurz nach und beschloss, die Strategie zu ändern.

»Machen Sie es mir doch nicht so schwer«, appellierte er an Dr. Nordens Gutmütigkeit. »Sagen Sie einfach, dass Sie es getan haben. Dann sehen wir weiter.«

Allmählich hatte Daniel genug von dem Theater.

»Darf ich eine Gegenfrage stellen?«

Der Verwaltungsdirektor ließ sich wieder in den Sessel fallen. Er zog ein Stofftaschentuch aus der Tasche des Cordsakkos und betupfte sich die Stirn.

»Meinetwegen.«

Daniel beugte sich vor.

»Nehmen wir an, ich würde ­Ihnen unterstellen, Büromaterial für den Privatgebrauch zu bestellen …«

»Ich und ein Dieb? Für wen halten Sie mich?«

Daniel lächelte nonchalant.

»Sehen Sie! Und genauso wenig bin ich ein verantwortungsloser Arzt, der seinen Patienten aus Profitgier, Ehrgeiz oder was auch immer ungeeignete Medikamente verabreicht.« Er stand auf zum Zeichen, dass das Gespräch an dieser Stelle für ihn beendet war. »Fragen Sie lieber mal den Kollegen Lammers. Er war es, der mir diese fragwürdige Therapie vorgeschlagen hat.«

Mit diesen Worten drehte sich Daniel um und ging zur Tür. Dieter Fuchs starrte ihm mit offenem Mund nach.

»Aber … aber … «, stammelte er.

Die Hand auf der Klinke, drehte sich Daniel noch einmal um.

»Um Ihre Neugier zu befriedigen: Es ist richtig, dass ich mit diesem Institut telefoniert habe. Ich habe mich bei einem Kollegen, den ich noch aus Studienzeiten kenne, über den Stand der Forschungen informiert. Im Übrigen hat Dr. Lorentz Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe von Eltern anaphylaktischer Kinder. Um das Leid ihrer Kinder zu lindern, gehen sie jeden möglichen Weg. Unter anderem auch den der Homöopathie. Auch die traditionelle chinesische Medizin erzielt beachtliche Erfolge in der Linderung der Symptome dieser Erkrankung. Darüber habe ich mich mehrmals ausführlich mit meinem Kollegen unterhalten.«

Wie erschlagen saß Dieter Fuchs im Sessel und hörte zu.

»Und was ist mit der Sendung aus dem Labor?«, fragte er tonlos.

Daniel lachte.

»Sieh mal einer an. Sogar das hat Lammers bemerkt.« Unvermittelt wurde er wieder ernst. »In dem Umschlag war ein homöopathisches Präparat, das mir Dr. Lorentz nach enger Abstimmung geschickt hat. Das war das Mittel, das ich Niklas Kronseder verabreicht habe.«

»Homöopathie?«, schnaubte der Verwaltungschef verächtlich. »Sie glauben an diesen Hokuspokus?«

»Selbst wenn eine Wirkung wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann, ist die Reaktion bei Kindern häufig sehr beeindruckend.« Daniel dachte nicht daran, sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Ich halte mich an die Devise: Was heilt, hat recht. Und dass es Niklas besser ging, ist unbestritten. Deshalb werde ich die Therapie auch nach seinem Einbruch fortsetzen.« Er drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. »Sie ist übrigens völlig nebenwirkungsfrei. Und ich bin optimistisch, dass wir Niklas damit und mit ein paar anderen Maßnahmen auf einen guten Weg bringen werden.« Damit war alles gesagt, was es zu diesem Thema zu sagen gab. »Einen schönen Tag noch«, wünschte Daniel Norden, ehe er das Büro endgültig verließ und sich beschwingt auf den Weg in die Pädiatrie machte.

*

In dieser Nacht hatte Leonie Jürgens kaum geschlafen. Die aufregenden Ereignisse des vergangenen Tages hatten sie wach gehalten.

»Wie kann ich Caspar nur davon überzeugen, dass er sich in eine fixe Idee verrannt hat?«, murmelte sie, als das erste Licht des Tages ins Zimmer kroch. Doch so viel sie auch hin und her überlegte, so wenig fiel ihr eine Lösung ein. Schließlich schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf.

Im Frühstücksrestaurant hatte das Personal eben erst die Lichter eingeschaltet. Der Duft frischgebackener Brötchen lag in der Luft. Irgendwo spielte ein Radio. Geschäftige Angestellte eilten auf lautlosen Sohlen hin und her, um das reichhaltige Buffet aufzubauen.

»Lasst euch von mir nicht stören«, bat Leonie und schenkte sich einen Kaffee aus der Maschine ein. Die Düsen zischten und brodelten noch, als ihr Mobiltelefon klingelte. Moritz’ Name leuchtete auf dem Display auf. Augenblicklich begann Leonies Herz zu rasen.

»Hallo!« Unsicher, wie sie war, wahrte sie vorsichtshalber die Distanz.

Und auch Moritz wirkte völlig verändert.

»Guten Morgen, Leonie. Kann ich dich kurz sprechen?« Offenbar hatte er beschlossen, sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.

Eine eiskalte Hand griff nach Leonies Herz. Sie wollte antworten, doch der Frosch in ihrem Hals ließ nur ein Krächzen zu. Sie räusperte sich.

»Um was geht es?«, fragte sie ebenso reserviert zurück.

»Das würde ich gern persönlich mit dir besprechen. Ich warte im Wagen auf dich.«

Unwillkürlich flog Leonies Blick durch die großen Scheiben und hinaus auf die Straße. Tatsächlich stand eine schwarze Limousine am Straßenrand. Wer darin saß, konnte sie nicht erkennen.

»Also gut. Ich bin in zwei Minuten bei dir.« Leonie stellte den Kaffee beiseite und verließ das Restaurant. Sie musste sich zwingen, langsam zu gehen. Was mochte das alles bedeuten?

»Was hast du mir zu sagen?«, fragte sie, als sie wenig später neben Moritz im Wagen saß. Sie hatten sich weder geküsst noch andere Zärtlichkeiten ausgetauscht. Es war, als träfen sich zwei Geschäftsleute zu einer Besprechung. Leonie musterte Moritz ungeniert. Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie fest, dass auch er eine schlaflose Nacht gehabt haben musste.

»Caspar wird uns auseinanderbringen«, teilte er endlich die Gedanken mit ihr, die ihm schon die ganze Nacht durch den Kopf gingen.

Leonie starrte ihn mit großen Augen an.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich habe mir vorgestellt, wie meine Tochter damals in so einer Situation reagiert hätte. Deshalb ist mir halbwegs klar, dass Caspar dich vor die Wahl stellen wird. Entweder er oder ich.« Er machte eine Pause und fixierte Leonie. »Und? Wie wirst du dich entscheiden?«

Leonie biss sich auf die Lippe. Sie wandte sich ab und starrte aus der Seitenscheibe.

Moritz lachte leise und unglücklich.

»Siehst du. Du sagst nichts.« Sie spürte, wie er seine Hand sehr sanft auf die ihre legte. »Keine Angst. Ich bin dir nicht böse. Es ist die natürlichste Entscheidung der Welt.«

In diesem Moment fuhr Leonie zu Moritz herum und funkelte ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Wut an.

»Hörst du dir eigentlich zu? Du sprichst wie eine Frau! Es ist unser Privileg, immer alles schwarz-weiß zu sehen! Caspar wird zur Vernunft kommen.«

In ihrem Zorn war sie noch verführerischer als ohnehin schon. Es kostete Moritz alle Selbstbeherrschung, sie nicht an sich zu reißen und festzuhalten. Doch die Vernunft war stärker. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Du kennst seinen Dickkopf so gut wie ich. Außerdem ist er dein einziger Sohn, deine Familie. Du würdest niemals etwas tun, was ihn verletzen würde. Auch wenn du selbst auf dein Glück verzichten müsstest.« Nie zuvor war sein Herz schwerer gewesen als in diesem Moment. Er ertrug ihren Anblick nicht länger und senkte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen. Es … Es hat keinen Sinn.«

Diesen Satz hörte Leonie nicht zum ersten Mal. Immer wieder hatten sich Männer verabschiedet, weil sie es nicht ertrugen, die zweite Geige in ihrem erfolgreichen Leben als Geschäftsfrau zu spielen. Mit Moritz wäre das anders gewesen, das wusste sie genau.

Zum Glück funktionierte ihr Selbstschutzmechanismus ausgezeichnet. Innerlich erstarrte sie zu Eis. Doch nach außen hin trug sie ein reserviertes Lächeln zu Schau.

»Du hast deine Entscheidung getroffen. Ich wünsche dir alles Gute, Moritz.« Sie nickte ihm huldvoll zu und stieg aus.

Moritz sah Leonie nach, wie sie mit selbstsicheren Schritten davon ging. Für ihre Haltung bewunderte er sie grenzenlos, hatte er doch tiefer geblickt, auf den Grund ihrer Seele. Als sie in ihrem Hotel verschwunden war, schlug er wütend mit der Hand auf das Lenkrad. Die Versuchung war groß, in die Klinik zu fahren und Caspar den Kopf zu waschen, wie er es als väterlicher Freund schon öfter getan hatte. Doch diesmal lagen die Dinge anders.

*

»Schade, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben«, bemerkte Fee düster, nachdem ihr Mann ihr vom krönenden Abschluss der Geschichte – dem Gespräch mit Dieter Fuchs – erzählt hatte. Den ersten Teil hatte sie bereits am vergangenen Abend gehört. »Dann könnten wir diesen Verräter Lammers mitten in der Eingangshalle an den Pranger stellen. Die Klinikküche würde bestimmt verfaultes Obst und Gemüse kostenlos zur Verfügung stellen, damit Besucher, Patienten und Kollegen ihn damit bewerfen könnten.« Diese Vorstellung trieb ihr ein hämisches Grinsen ins Gesicht.

Daniel musterte seine Frau in gespielter Sorge.

»Ich wusste gar nicht, welch niedere Instinkte sich hinter dieser attraktiven Fassade verbergen.«

Doch Fee war zu wütend für Komplimente.

»Dieser Kerl wollte dich mit Schimpf und Schande vom Hof jagen und die Klinik in dieses Gesundheitszentrum eingliedern«, redete sie sich immer mehr in Rage. »Und wofür? Doch nur, um einen aussichtsreichen Posten zu ergattern. Na warte, Freundchen!« Sie hielt die Faust hoch und schüttelte sie. »Dich werde ich das Fürchten lehren.«

Daniel legte den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass beide das Klopfen überhörten.

Erst als Andrea Sander schüchtern den Kopf zur Tür hereinsteckte, beruhigte er sich.

»Tut mir leid, wenn ich störe … Aber der Kollege Kayser ist hier. Er braucht Sie, Frau Dr. Norden.«

»Mich?«, fragte Fee sichtlich verwundert, als Carsten sich auch schon hinter Andrea ins Zimmer mogelte.

Sein Anliegen war ihm sichtlich peinlich.

»Es geht um den Patienten Caspar Jürgens.«

»Der junge Mann mit der Chikungunya-Infektion?«, erinnerte sich Daniel sofort.

Danny hatte ihm von dem Fall erzählt.

Dr. Kayser nickte anerkennend, ehe er sich wieder an Fee wandte.

»Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er scheint psychische Probleme zu haben. Seit gestern Abend liegt er in seinem Bett, spricht kaum, isst nicht und starrt nur aus dem Fenster. Sie sind doch psychologisch geschult. Da dachte ich, Sie könnten mal mit ihm reden.«

Felicitas zögerte nicht.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach sie und stand auf, um den Kollegen Kayser zu begleiten.

Unterwegs erzählte er ihr die Geschichte von Leonie und Moritz, die er für das Verhalten seines Patienten verantwortlich machte.

Nur ein paar Minuten später trat sie an Caspars Bett. Er würdigte sie kaum eines Blickes.

»Mein Name ist Felicitas Norden«, stellte sie sich freundlich vor. »Ich bin Chefin der Kinderabteilung. Nachdem ich auch hin und wieder mit Tropenkrankheiten zu tun habe, wollte ich mich ein bisschen mit Ihnen unterhalten.« Diese Notlüge erlaubte sie sich. »Vorausgesetzt natürlich, Sie reden mit mir.«

Eine Weile sagte Caspar nichts. Fee dachte schon, dass auch sie keinen Erfolg haben würde, als er es sich doch anders überlegte. Allerdings hatte er nicht vor, Felicitas zu helfen.

»Wann kann ich hier raus?« Das war offenbar das Einzige, was ihn interessierte.

»Oh. Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie stand am Fußende des Bettes und sah ihn an. »Ich denke, das kommt auch auf Sie an. Die eigene Einstellung spielte eine entscheidende Rolle beim Heilungsprozess.«

»Ich will lieber heute hier weg als morgen«, presste Caspar durch die Lippen. Dabei mied er ihren Blick.

Fee dachte kurz nach. Sie wusste, wie wichtig es war, die richtigen Worte zu finden.

»Weglaufen ist leider keine Lösung«, wagte sie einen vorsichtigen Einspruch. »Unsere Probleme sind fast immer schneller und warten schon am Ziel auf uns.«

Diese Vorstellung brachte Caspar zum Lachen, wenn auch nur kurz. Viel zu schnell wurde er wieder ernst.

»Wenn ich gehe, kann ich vielleicht vergessen, dass meine Mutter mich belogen und mein Freund mich verraten hat.«

»Ihr Freund konnte doch nicht wissen, dass er sich ausgerechnet in Ihre Mutter verliebt hat«, gab sie zu bedenken.

Caspar war so sehr mit seinen Problemen beschäftigt, dass er sich nicht über ihr Wissen wunderte.

»Ich glaube, dass die beiden hinter meinem Rücken ein Komplott geschmiedet haben. Sie wollten mich los werden. Oder aber, Moritz hat sich die Geschichte selbst ausgedacht und eingefädelt. Eine schöne Frau wie Mama, mit eigenem Hotel … Das ist doch mal eine gute Partie«, stieß er bitter hervor.

Auf den ersten Blick waren diese Argumente einleuchtend. Doch Fee hatte Erfahrung genug, um sich nicht täuschen zu lassen.

»Wovor haben Sie Angst?«, fragte sie direkt. »Dass Sie Ihre Mutter an einen anderen Mann verlieren? Wenn ich mich nicht irre, war es Ihr eigener Wunsch, in Kambodscha zu arbeiten, oder? Wäre es da nicht beruhigend, Ihre Mutter glücklich zu wissen? An der Seite eines Mannes, der sie liebt und für sie da ist? Ich könnte mir vorstellen, dass das eine große Entlastung für Sie wäre.«

Es war Caspar anzusehen, dass er die Sache noch gar nicht von dieser Seite betrachtet hatte. Unwillkürlich musste er an das Mädchen denken, das er in Siem Reap kennengelernt hatte. Sie war ein Grund dafür, dass er den Vertrag dort unterschrieben hatte. War es möglich, dass ihm sein eigenes schlechtes Gewissen einen Streich spielte? War er gar nicht wütend auf Moritz und seine Mutter, sondern vielmehr auf sich selbst?

Peinlich berührt, biss sich Caspar auf die Lippe.

»Ich habe mich wohl sehr dumm benommen.«

Felicitas spürte, dass das Eis gebrochen war.

»Ich würde eher sagen menschlich.«

Caspar grinste schief.

»Sind Sie immer so diplomatisch?«

»Ich versuche es zumindest.« Unwillkürlich musste Felicitas an Volker Lammers denken. Die Vorstellung eines klinikeigenen Prangers gefiel ihr immer noch. »Aber es gelingt mir nicht immer.«

»Auch sehr menschlich.« Caspar zwinkerte ihr zu, und sie lachten zusammen. Schließlich wurde es Zeit für Fee, sich zu verabschieden. Bevor sie das Zimmer verließ, sah sie aus den Augenwinkeln, wie er nach dem Mobiltelefon griff. Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, kehrte sie in ihre Abteilung zurück. Es schien, als wäre ihre Mission geglückt. Daniel würde stolz auf sie sein.

*

»Können Sie nicht aufpassen!«, herrschte Leonie die junge Frau an, die mit einem Tablett in der Hand um die Ecke gebogen war. Nun prangte ein dunkelbrauner Kaffeefleck auf Leonies blütenweißer Bluse.

»Tut mir leid, aber ich kann nichts dafür. Ich habe noch gerufen, bevor ich um die Ecke gekommen bin.«

»Dann müssen Sie in Zukunft lauter zwitschern, mein Vögelchen.« Leonie hasste sich selbst für ihren Zynismus. So kannte sie sich gar nicht. Im Normalfall behandelte sie ihr Personal gut und bezahlte besser als die meisten Hotels in der Gegend.

Doch das Mädchen vom Service dachte nicht daran, sich einschüchtern zu lassen.

»Oder Sie sich ein Hörgerät anschaffen«, fauchte sie und bückte sich, um die Scherben einzusammeln.

Leonie schnappte nach Luft, spürte aber schnell, dass sie an diesem Tag nicht in der Lage war, eine Auseinandersetzung zu überstehen. Zumal die junge Frau recht hatte.

»Schon gut. Es tut mir leid«, murmelte sie und ging davon, sich des staunenden Blicks im Rücken wohlbewusst.

Auf dem Weg in ihr Büro kämpfte sie mit den Tränen, als zu allem Überfluss auch noch ihr Handy klingelte. Caspar!

Schnell wischte Leonie sich ganz undamenhaft mit dem Ärmel übers Gesicht. Dass ihre Schminke schwarze Spuren hinterließ, spielte schon keine Rolle mehr.

»Caspar, mein Schatz, was kann ich für dich tun?«, fragte sie hoffnungsvoll in den Apparat.

Ihre Stimme verriet, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dieses gute Gefühl machte ihm Mut.

»Hast du Zeit, in die Klinik zu kommen? Ich muss mit dir reden.«

»Ja, ja, natürlich. Für dich habe ich immer Zeit«, versicherte sie. Ohne lange nachzudenken, griff Leonie nach dem Mantel an der Garderobe und machte sich auf den Weg. Wenn sie geahnt hätte, wem sie auf dem Weg zu Caspars Zimmer begegnen würde, hätte sie es sich womöglich anders überlegt. Oder wenigstens eine andere Bluse angezogen.

»Moritz? Was machst du denn schon wieder hier?« Leonie starrte den Mann ihres Herzens an wie einen Außerirdischen.

»Leonie!« Auch Moritz war wie vom Donner gerührt. »Caspar … Er hat mich angerufen und um einen Besuch gebeten.« Sie standen sich vor der Tür des Krankenzimmers gegenüber. Es fehlte nicht viel, und sie wären übereinander hergefallen. Diese Peinlichkeit verhinderte Caspar in letzter Sekunde.

»Ihr müsst nicht draußen stehenbleiben. Keine Angst. Ich finde es zwar ein bisschen eklig, aber ich ertrage den Anblick alter, verliebter Menschen zur Not schon.«

Sprachlos vor Überraschung starrten sich Leonie und Moritz an, ehe sie gleichzeitig in albernes Lachen ausbrachen. Ohne lange darüber nachzudenken, nahmen sie sich an den Händen und folgten Caspars Aufforderung.

Als Leonie ihren Sohn lächelnd im Bett liegen sah, gab es kein Halten mehr für sie.

»Mein Junge!« Sie eilte an seine Seite, umarmte und küsste ihn, bis er sich gegen die mütterlichen Zärtlichkeiten wehrte.

»Du hast doch jetzt einen Mann. Den kannst du abknutschen, solange du willst.« Caspar wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Zumindest hoffe ich das«, fügte er hinzu und zwinkerte Moritz zu zum Zeichen, dass er ihm verziehen hatte.

Diese Gelegenheit nutzte Leonie, um sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. Trotz ihrer Freude waren ein paar klärende Worte vonnöten.

»Es tut mir wahnsinnig leid, was gestern passiert ist«, sagte sie. »Ich­ … «, ihr Blick eilte hinüber zu Moritz, der sie aufmunternd anlächelte, » … wir wollten dich weder verletzen noch schockieren.«

»Wir dachten einfach, dass du dich genauso freust wie wir uns«, erklärte Moritz.

Caspars Blick wanderte von einem zum anderen. Auch seine Miene war ernst geworden.

»Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war«, räumte er schuldbewusst ein. »Ich würde ja gern alles auf die Krankheit schieben. Aber ich weiß nicht, ob sich Chinkungunya auch im Kopf einnistet. Deshalb muss ich die Schuld wohl auf mich nehmen.« Er machte eine Pause. »Es tut mir leid. Ich habe mich wie ein Kleinkind benommen.«

»Eher wie ein eifersüchtiger Ehemann«, witzelte Moritz.

»Das stimmt. Außerdem ging es um mein schlechtes Gewissen.« Er nahm allen Mut zusammen und sah seiner Mutter in die Augen. »Ich weiß gar nicht, warum ich nicht mit dir über meine Pläne wegen Kambodscha gesprochen habe.«

»Ich schon«, erwiderte Leonie ernst. »Ich fürchte, ich habe dich gehörig unter Druck gesetzt.«

»Wenn ihr alle schuld seid, will ich gefälligst auch meinen Teil abhaben«, funkte Moritz dazwischen. Er war so glücklich, dass er die Welt hätte umarmen können. Unmöglich, in dieser Stimmung ernst zu bleiben.

Über diesen Wunsch musste Caspar gar nicht erst nachdenken.

»Du hast mir die Flausen überhaupt erst in den Kopf gesetzt. Die Erzählungen von deinen Reisen damals, als du noch jung warst …«

»Moment mal! Nie war ich so jung wie heute!«, unterbrach Moritz seinen ehemaligen Schützling belustigt. »Wenn ich mich nicht irre, stehe ich gerade am Anfang meines zweiten Frühlings, während du noch nicht mal deinen ersten erlebt hast.«

»Woher willst du denn das wissen?«, fragte Caspar keck.

Moritz grinste.

»Stimmt ja, das Mädchen in Kambodscha … «.

»Dann gehst du also wirklich?« Schlagartig wurde Leonies Herz wieder schwer.

»Nur für ein Jahr, Mama«, versuchte Caspar, sie zu beruhigen. »Ich muss die Chance nutzen, jetzt, da ich einen würdigen Vertreter gefunden habe, der sich noch nicht einmal an einem Kaffeefleck auf deiner Bluse stört. Das muss wahre Liebe sein!«

Das Lachen der drei hallte bis hinaus auf den Flur. Fee und Daniel, die gerade in der Nähe vorbeigingen, horchten auf.

»Klingt so, als ob uns da jemand Konkurrenz machen wollte«, bemerkte Felicitas zufrieden.

»Ausgeschlossen.« Unvermittelt blieb Daniel stehen und nahm sie in die Arme. »Du bist konkurrenzlos«, erklärte er und küsste sie, bevor sie auch nur daran denken konnte zu widersprechen.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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