Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 21

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»Wenn ich überlege, wie schwer die Platten früher waren.« Dr. Daniel Norden stand am Operationstisch und wog das Stück Metall in der Hand. »Heute sind sie aus Titan.« Er beugte sich über das Operationsfeld und setzte den Eingriff fort. »Schauen Sie gut zu, Sophie, sonst lernen Sie nichts.«

Die neue Assistenzärztin Sophie Petzold stand ihm gegenüber und nickte.

Sie hatte Glück gehabt. Obwohl an der Behnisch-Klinik einige Assistenzarztstellen gekürzt worden waren, hatte sie einen der begehrten Plätze ergattert. Das war nur Dr. Sandra Neubeck zu verdanken. Die Freundin von Felicitas Norden war auf eigenen Wunsch ausgeschieden. Nun schlug die große Stunde der ehrgeizigen Sophie. Auf keinen Fall würde sie in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin treten und schon nach ein paar Monaten das Handtuch werfen. Ganz im Gegenteil schwebte ihr eine große Karriere vor, wie ihr Eifer jetzt schon erahnen ließ.

Daniel Norden zögerte.

»Gibt es Probleme?«, erkundigte sich der Anästhesist Arnold Klaiber.

»Die Patientin ist Bluterin. Da habe ich nicht so ein gutes Gefühl, die Platte einzusetzen.«

»Dann lassen Sie es doch!«, sagte Sophie Petzold.

Aller Augen richteten sich auf sie. Der Klinikchef runzelte die Stirn.

»Wie bitte?«

»Bohren Sie einfach drei kleine Löcher und setzen Spickdrähte ein.«

»Meine liebe Frau Petzold, diese Entscheidung überlassen Sie bitte mir«, wies er die neue Kollegin zurecht. »Ich denke, ich verfüge über genügend Erfahrung, um zu wissen, was ich tue.«

Sophie zuckte mit den Schultern.

»Ich meinte ja nur. Wenn Sie wegen der Hämophilie Bedenken haben, ist das doch genau die richtige Maßnahme. Ohne tiefe Schnitte gibt es keine Blutung. Das ist doch ganz einfach.«

Dr. Klaibers Grinsen war an den Fältchen um seine Augen zu erkennen.

Der Klinikchef holte tief Luft und ließ sich den Schweiß von der Stirn tupfen.

»Ob Sie es glauben oder nicht: Diese Methode ist mir geläufig. Aber Spickdrähte sind nicht so stabil.«

»Ich würde ja lieber dieses Risiko eingehen, statt einen toten Patienten mit bombenfester Platte im Ellbogen in die Kühlkammer zu schieben.«

Bisher hatte sich Matthias Weigand – er assistierte Dr. Norden – vornehm aus der Diskussion rausgehalten. Doch nun konnte auch er sich das Lachen nicht länger verkneifen.

Daniels strafender Blick traf ihn.

»Was sagst du dazu?«, fragte er streng.

Matthias räusperte sich.

»Nichts für ungut. Einen Versuch wäre es zumindest wert. Wenn wir die drähte richtig platzieren, dann hält es auch.«

»Na schön. Dann folgen wir dem Vorschlag unserer jungen Kollegin.« Daniel gab sich geschlagen und setzte den Eingriff fort.

Eine halbe Stunde später war alles vorbei. Dr. Norden bedankte sich bei seinen Mitarbeitern und verließ den Operationsbereich. Am Telefon verabredete er

sich mit seiner Frau Felicitas im Kiosk ›Allerlei‹, wo man unter Palmen köstliche Kaffeespezialitäten und Backwaren aus der besten ­Bäckerei der Stadt genießen konnte.

»Sieh mal einer an, du hast also schon zugeschlagen.« Er entdeckte sie an ihrem Lieblingstisch und begrüßte sie mit einem Kuss.

»Stell dir vor: Diese arme Schokoladentorte war gefangen in einem Glaskasten. Sie hat mich so flehentlich angesehen, dass ich sie einfach befreien musste«, erwiderte Fee mit einem mitfühlenden Blick auf ihren Teller.

»Unter Einsatz deines Lebens, versteht sich!«

»Unter Einsatz deines Gehalts«, korrigierte sie ihn und klopfte auf den freien Stuhl neben sich. »Komm, setz dich zu mir, damit ich euch bekannt machen kann.« Sie hielt ihm die Gabel vor den Mund.

Willig ließ sich Daniel ein Stück Torte verabreichen.

»Köstlich.« Genüsslich schloss er die Augen, um sich dem Genuss ganz hinzugeben. »Ich frage mich, wie Tatjana es schafft, bei diesem Beruf rank und schlank wie eine Tanne zu bleiben. Ich an ihrer Stelle würde wahrscheinlich einem schönen, dicken Hefezopf Konkurrenz machen.«

»Deshalb bist du auch Klinikchef geworden. In dieser Eigenschaft hast du kaum Zeit zu essen, geschweige denn, dich adäquat um deine Frau zu kümmern.«

»Höre ich da eine gewisse Kritik heraus?«, fragte er und bestellte Latte Macchiato und Apfelkuchen bei Lenni.

Fee schüttelte den Kopf. »Nein. Zumindest nicht, solange du daran denkst, dass wir heute Abend eine Verabredung mit unserer Familie haben.«

»Ich gebe mir Mühe«, versprach Daniel und löffelte Zucker in seinen Kaffee. Während er umrührte, hing er seinen Gedanken nach. »Habe ich dir eigentlich schon von unserer neuen Assistenzärztin erzählt?«

»Die Nachfolgerin von Sandra?«

Daniel nickte und trank einen Schluck Milchkaffee.

»Mit der werden wir noch unseren Spaß haben.«

»So viel Spaß wie ich mit Lammers?« Die Taktlosigkeit, mit der ihr Stellvertreter Kollegen und Patienten behandelte, war sprichwörtlich. Nur zu gern hätte Fee darauf verzichtet, ständig die Beschwerden der Eltern ihrer kleinen Patienten abzuwehren. Der einzige Grund, ihn zu halten, waren seine bestechenden Fähigkeiten in der Kinderchirurgie, die in der Stadt ihresgleichen suchten.

Daniel wusste, was seine Frau meinte, und schüttelte den Kopf.

»Zumindest nicht, was den Umgang mit den Patienten angeht. In dieser Hinsicht ist Sophie perfekt. In puncto Respektlosigkeit sieht es allerdings anders aus.«

»Eine Assistenzärztin darf nicht zu viel Respekt haben, sonst geht sie unter in dem Haifischbecken«, gab Fee zu bedenken. Sie kratzte den letzten Rest Schokocreme zusammen.

»Bevor du den Teller mitisst, bestelle ich dir lieber noch ein Stück. So viel gibt mein Gehalt als Chefarzt gerade noch her«, bot er an.

»Ah, der Herr hat die Spendierhosen an.« Lachend schüttelte Fee den Kopf. »Aber nein, danke. Erzähl mir lieber noch mehr von dieser ominösen Sophie.«

»Sie hatte heute im OP eine gute Idee, die sie vehement verteidigt hat.« Daniel wiegte den Kopf. »Allerdings ist es mir durchaus schwergefallen, mir von diesem jungen Gemüse etwas sagen zu lassen.« Dieses Geständnis fiel ihm nicht leicht.

Fee legte die Hand auf seinen Arm. Ihr Blick war voller Liebe.

»Diese jungen Menschen sind die Zukunft. Du solltest ihr eine Chance geben.«

»So wie du Lammers?« Schon blitzte wieder der Schalk aus Daniels Augen.

Fee versetzte ihm einen Knuff in die Seite.

»Du Satansbraten! Ich sollte der jungen Querulantin dankbar sein, dass sie dich in deine Schranken verweist.« Sie leerte ihre Tasse und stand auf. »Ich freue mich jetzt schon auf neue Geschichten von Sophie Petzold.« Sie beugte sich über ihren Mann und gab ihm einen Abschiedskuss, ehe sie sich wieder auf den Weg in ihre Abteilung machte.

Daniel sah ihr aus schmalen Augen nach.

»Fragt sich, wer hier der Satansbraten ist«, murmelte er, als Lenni zu ihm an den Tisch trat und ihren ehemaligen Chef, der ihr wie ein Sohn ans Herz gewachsen war, in ein Gespräch verstrickte.

*

Der Weg in ihre Abteilung führte Dr. Felicitas Norden an einer langen Glasfront mit Blick auf den herrlichen Klinikgarten vorbei. Dieser Anblick genügte, um sie zumindest für einen kurzen Moment alles andere vergessen zu lassen. Mit den Händen in den Kitteltaschen blieb sie stehen und ließ den Blick über die Frühlingspracht schweifen. Ein bunter Blütenteppich breitete sich zu ihren Füßen aus. Frisches Grün, wohin das Auge reichte. Obwohl die Sonne um diese Uhrzeit noch nicht wärmte, saß ein Mädchen auf der Schaukel.

»Ganz schön kalt für einen Schlafanzug, findest du nicht?«

Die Stimme ihrer Freundin, der zukünftigen Pflegedienstleitung Elena, weckte Fee aus ihrer Verzauberung.

»Du hast recht. Ich hole sie rein.«

»Ich mach schon. Du musst gleich zur Visite.«

Felicitas warf einen erschrockenen Blick auf die Uhr.

»Schon so spät? Da wird Lammers wieder einen passenden Kommentar auf Lager haben.« Sie winkte der Schwester und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Nicht, dass sie sich vor dem Kollegen fürchtete. Doch die ständigen Sticheleien zerrten an ihren Nerven. Schon deshalb hatte sie ihre Strategie geändert und versuchte, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen.

Wie versprochen trat Elena hinaus in den Garten und gesellte sich zu der kleinen Romy, die tags zuvor in die Klinik gekommen war. Das Mädchen saß auf der Schaukel und schwang hin und her.

»Schöner Pullover!« Sie betrachtete das aufgedruckte Einhorn auf rosafarbenem Untergrund. »Den gleichen hat mir meine Tochter geschenkt.« Vorsichtshalber verriet sie nicht, dass dieses Geschenk ein Scherz der halbwüchsigen Lara gewesen war.

Romys Augen wurden kugelrund.

»Echt?« Sie holte neuen Schwung und schaukelte weiter.

»Ja, aber ich trage ihn nur zu Hause.« Sie fröstelte. »Es ist ein bisschen kalt. Wollen wir nicht reingehen?«

»Im Bett ist es aber langweilig.« Unverdrossen schwang Romy weiter auf und ab.

Elena dachte kurz nach.

»Also gut. Wir spielen Fli-Fla-Flu. Wenn ich gewinne, gehen wir rein.«

Tatsächlich sprang das Mädchen von der Schaukel. Vor Elena blieb sie stehen und ballte die Hand zur Faust.

»Fli-Fla-Flu! Papier wickelt Stein ein. Eins zu null für mich«, triumphierte sie im nächsten Augenblick.

»Na warte, den nächsten Punkt mache ich«, drohte Elena im Spaß. »Fli-Fla-Flu! Mist, Schere zerschneidet Papier.«

»Zwei zu null für mich.« Romy kicherte. »Fli-Fla-Flu!«

»Wenn Sie für’s Spielen bezahlt werden wollen, hätten Sie Kindergärtnerin werden sollen.« Volker Lammers Stimme dröhnte durch den Garten.

Ein paar Vögel im Gebüsch flatterten erschrocken auf. Romy legte den Kopf schief und musterte den stellvertretenden Chef der Kinderabteilung, der an der Tür zum Garten stand. Als jüngstes von vier Geschwistern hatte sie gelernt, sich zu behaupten.

»Das heißt Erzieherin und nicht Kindergärtnerin. Weißt du das nicht?«

Elena gluckste leise. Lammers Kopf wurde dagegen so rot, als wollte er gleich platzen.

»Unverschämtes Gör! Wenn du nicht sofort parierst, lege ich dich über’s Knie.«

Romy stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn feindselig an.

»Das darfst du nicht. Dann kommst du ins Gefängnis.«

Schwester Elena sah dem Arzt an, dass Gefahr in Verzug war. Noch ein freches Wort von der Kleinen, und es würde eine Katastrophe geben.

Sie beugte sich zu Romy hinunter.

»Wir sollten jetzt wirklich lieber reingehen. Frau Dr. Norden kommt gleich zur Visite. Habe ich dir schon erzählt, dass sie immer eine Zauberkiste dabei hat, aus der sich jedes Kind ein Spielzeug aussuchen darf? Das würde ich mir an deiner Stelle nicht entgehen lassen«, raunte sie ihr so leise zu, dass Lammers nichts hören konnte.

Romy überlegte einen Moment. Dann legte sie vertrauensvoll ihre Hand in die von Elena.

»Aber der Hausmeister bekommt kein Spielzeug. Der ist böse«, sagte sie laut und deutlich, als sie an Volker Lammers vorbei durch die Tür ging.

»Ich bin kein Hausmeister, sondern der Stellvertreter hier!«, stellte er wütend klar.

Schnell zog Elena das Mädchen mit sich.

»Warum hat er dann einen blauen Kittel an wie der Hausmeister in unserem Kindergarten?«, fragte Romy, als Elena sie in ihr Zimmer schob und ins Bett verfrachtete.

»Weil er gerade aus dem Operationssaal kommt.« Sie zog die Decke glatt und zwinkerte Romy zu. »Und jetzt bleibst du schön brav hier, bis Frau Dr. Norden zur Visite kommt.« Sie hielt den ausgestreckten Zeigefinger ans Ohr. »Lange kann es nicht mehr dauern. Ich höre sie schon.«

Tatsächlich waren die Schritte vieler Füße und Stimmen zu hören, die rasch näher kamen.

Doch Romys Gedanken weilten noch bei dem unfreundlichen Arzt.

»Wenn mich der Hausmeister operieren will, gehe ich nach Hause«, erklärte sie mit dem ganzen Ernst ihrer fünf Jahre und verschränkte so demonstrativ die Arme vor der Brust, dass Elena wusste: In diesem Fall war jede weitere Diskussion zwecklos.

*

Die Chefsekretärin Andrea Sander hielt den Telefonhörer noch in der Hand, als Daniel Norden zur Tür hereinkam. Nach dem Treffen mit seiner Frau war er blendender Laune und bereit für die neuen Herausforderungen des Tages.

»Ach, Chef, gut, dass Sie kommen.« Gedankenverloren reichte Andrea ihm eine Mappe mit Unterlagen der Stationspatienten, die er am Morgen verlangt hatte. »Es gab einen Brand in einem Hochhaus mit mehreren Schwerverletzten. Fünf von ihnen wurden gerade in die Klinik eingeliefert. Sie werden dringend in der Notaufnahme gebraucht.«

Daniel hielt kurz inne und dachte nach.

»In Ordnung. Bitte sagen Sie den Termin mit der Stadtverwaltung ab. Außerdem wollte der Kollege Prehm vorbeikommen, um die Kooperation mit seiner Klinik zu besprechen …«

Andrea Sander lächelte engelsgleich.

»Ich habe bereits sämtliche Vormittagstermine storniert.«

»Und am Nachmittag?«

»Steht ohnehin nur der Verwaltungsdirektor auf dem Programm.«

»Sie sind ein Schatz.« Daniel lächelte seiner Assistentin zu und verließ das Vorzimmer mit wehendem Kittel.

Auf dem Weg in die Notaufnahme kam er im Aufenthaltsraum der Ärzte vorbei, wo Sophie Petzold mit der Kollegin Christine Lekutat zusammenstand.

»Wir haben einen Brand mit fünf Schwerverletzten«, teilte er der Kollegin Lekutat mit. »Ich werde in den nächsten Stunden im OP sein.«

»Brauchen Sie mich?«, bot die junge Assistenzärztin sofort an.

»Nein, danke. Aber die Station ist unterbesetzt. Wenn Sie sich gemeinsam mit der Pflegedienstleitung darum kümmern könnten.« Er erinnerte sich an die Mappe und blätterte durch die Papiere. »Nichts Anspruchsvolles. Ein paar Verbände müssen gewechselt und die Wundheilung kontrolliert werden, Medikamenteneinstellungen, Untersuchungen, solche Dinge«, zählte er auf.

Sophies Blick flog hinüber zur Kollegin Lekutat.

»Es tut mir leid, Herr Dr. Norden. Aber ich habe keine Zeit«, erklärte sie dann mit der ganzen Gewichtigkeit ihrer noch jungen Jahre.

Die Deckel der Mappe klatschten aneinander, als Daniel sie abrupt zuklappte.

»Was soll das heißen?«, fragte er streng.

»Die Kollegin Lekutat hat einen TIA-Apoplex, den sie mir gerade vorstellen wollte.«

Dr. Norden zog eine Augenbraue hoch. Mehr war nicht von seiner inneren Erregung zu sehen.

»Der wird ihnen nicht so schnell davonlaufen.« Es kostete ihn alle Mühe, nicht laut zu werden. »Wir haben hier Patienten, die dringend versorgt werden müssen«, wiederholte er seinen Auftrag.

Sophie Petzold warf den Kopf in den Nacken und funkelte ihn kämpferisch an.

»Das mag schon sein. Aber wenn ich mich recht erinnere, stand in meiner Stellenbeschreibung nichts von ›Mädchen für alles‹.«

Daniel war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Wenn Sie nicht morgen Verbände wechseln und Essen austeilen wollen, begeben Sie sich jetzt auf direktem Weg auf Station.« Seine Stimme war leise, aber nicht minder drohend.

Sophie suchte noch nach einer Antwort, als eine Schwester hereinkam. Keuchend rang sie nach Atem.

»Hier stecken Sie!«, rief sie bei Daniels Anblick erleichtert. »Das Operationsteam ist bereit. Alle warten nur auf Sie.«

Daniel schoss einen letzten, warnenden Blick auf die Assistenzärztin, ehe er sich Schwester Nina zuwandte.

»Ich komme sofort.« Er nickte ihr lächelnd zu und ging aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

In Begleitung der Kinderärztin Carola May, zweier Schwestern und einigen anderen Kollegen war Felicitas Norden auf Visite. Unterwegs studierte sie das Krankenblatt der nächsten Patientin.

»Romy Kaulbach, fünf Jahre alt, seit gestern Nachmittag bei uns, leidet unter einem häufig wiederkehrenden Appendix vermiformis. Im vergangenen Jahr wurde sie deshalb vier Mal stationär aufgenommen.« Sie warf einen Seitenblick auf den Medizinstudenten Johannes Sondermann, der momentan ein Praktikum auf ihrer Station absolvierte. »Was können Sie mir zur Blinddarmreizung sagen?«

Nicht gewohnt, im Zentrum des Interesses zu stehen, schoss Johannes das Blut in die Wangen.

»Die Blinddarmreizung ist zunächst nicht bedrohlich.« Seine Stimme war heiser, und er räusperte sich. »Entwickelt sie sich allerdings zu einer Appendizitis, also einer Entzündung, ist eine Operation in der Regel unvermeidbar.«

»Und warum?« Felicitas legte größten Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Schützlinge.

Der Tross war inzwischen vor dem Krankenzimmer der kleinen Patientin angekommen.

»Weil …, weil …, weil die Gefahr eines Blinddarmdurchbruchs besteht.« Im letzten Augenblick hatte Johannes den rettenden Einfall.

Felicitas lächelte ihm zu.

»Sehr gut.« Sie klopfte an und öffnete die Tür. Elena war noch im Zimmer und gesellte sich zu ihren Kollegen. »Hallo, Romy. Wie geht es dir?«

Bevor das Mädchen antwortete, flog ihr Blick über die Köpfe der Anwesenden. Endlich entspannte sich ihre Miene.

»Ganz gut. Solange der Hausmeister nicht da ist.«

»Der Hausmeister?«

Elena zupfte ihre Freundin am Ärmel und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lächelnd setzte Fee das Gespräch fort.

»Dr. Carola May wird dich operieren.« Sie deutete auf die Kollegin, die neben ihr stand. »Du musst keine Angst haben. Die Operation ist nicht schlimm. Und danach bist du deine Bauchschmerzen ein für alle Mal los.«

»Außer, ich esse eine Schüssel voll Kirschen und trinke Wasser hinterher«, antwortete Romy neunmalklug.

Fee beneidete die Mutter nicht um das aufgeweckte, ganz offensichtlich diskussionsfreudige Kind.

»Das liegt aber nicht am Wasser, sondern daran, dass auf der Schale der Kirschen häufig Keime zu finden sind.«

»Außerdem bekommt man von Kirschen generell leicht Blähungen«, ergänzte Johannes. Der erste Erfolg hatte ihn mutig gemacht.

»Sehr gut.« Fee nickte und hatte gleich eine weitere Frage an den Medizinstudenten. »Apropos Kirschen. Was kannst du uns zu den Ursachen einer Blinddarmreizung sagen?«

Diesmal zögerte Johannes nicht.

»Im Wurmfortsatz des Blinddarms können sich wegen seiner zahlreichen Lymphfollikel leicht Erreger festsetzen und Entzündungen verursachen. Manchmal sind auch Fremdkörper wie Kirschkerne«, er zwinkerte Romy zu, »oder auch Weintraubenkerne Auslöser für eine Infektion. Außerdem ist es möglich, dass der Wurmfortsatz abknickt und sich deshalb entzündet.«

»Ausgezeichnet. Von mir aus kannst du dich sofort zur Prüfung anmelden«, scherzte Fee und wandte sich wieder ihrer kleinen Patientin zu. »Bevor wir dich morgen früh in den Operationssaal bringen, bekommst du von Schwester Elena eine Spritze, die dich ganz müde macht. Die richtige Narkose folgt kurz vor dem Eingriff. Und wenn du wieder aufwachst, ist alles gut.«

»Schneidet ihr mir den Bauch auf?«

»Keine Angst.« Schwester Elena trat an Romys Bett und streichelte ihr über die Stirn. »Es werden nur drei ganz kleine Schnitte gemacht. In die führen die Ärzte die Instrumente ein und entfernen den Blinddarm. Wenn du erwachsen bist, wirst du noch nicht einmal mehr die Narben sehen.«

Romy musterte Elena ehrfürchtig.

»Du weißt ja genauso viel wie ein richtiger Arzt.«

»Ich bin aber nur Krankenschwester.«

»Kein Wunder. Ich habe auch noch nie einen Doktor mit Einhorn-Pullover gesehen.«

Diesmal war es Elena, der unter den belustigten Blicken der Kollegen die Röte ins Gesicht schoss. Verlegen strich sie eine unsichtbare Strähne aus dem Gesicht.

»Na ja, ein bisschen Glitzer im Leben hat noch niemandem geschadet, oder?« Tapfer zwinkerte sie Romy zu. »Das könnte der Hausmeister auch vertragen.«

Dr. Lammers im Einhorn-Pullover! Diese Vorstellung war zu lustig. Romy giggelte und kicherte mit den Erwachsenen um die Wette, bis eine Schwester mit der versprochenen Zauberkiste ans Bett trat.

*

»Ich bin doch nicht hier, um zur beliebtesten Mitarbeiterin der Woche gewählt zu werden«, schimpfte Sophie Petzold vor sich hin, nachdem die Aufträge des Klinikchefs erledigt waren.

»Aber auch nicht, um gleich wieder gefeuert zu werden.« Selbst Christine Lekutat mit ihrer rustikalen Art ahnte, dass sich die junge Assistenzärztin mit ihrem Benehmen auf dünnem Eis bewegte. »Wenn Sie Interesse an dem Job haben, würde ich mich an Ihrer Stelle ein bisschen zusammennehmen. Unser Verwaltungschef trägt nicht umsonst den Namen ›Sparfuchs‹. Er freut sich über jede Kündigung, die er unterschreiben darf. Das haben ein paar Assistenten, deren Leistungen nicht entsprechend waren, in letzter Zeit schmerzhaft zu spüren bekommen.

»Schon gut«, murrte Sophie und sah zu Dr. Weigand, der ihnen auf dem Flur entgegenkam. Er begleitete einen Patiententransport in eines der Behandlungszimmer. Als er die junge Assistenzärztin bemerkte, winkte er sie zu sich hinüber.

»Kommen Sie bitte mit, Kollegin Petzold. Ich kann ein bisschen Hilfe und Sie eine Lehrstunde brauchen.«

Schon lag Sophie wieder ein passender Spruch auf den Lippen, als sie Christine Lekutats Hand auf dem Rücken spürte. Sie schluckte die Bemerkung hinunter.

»Natürlich.«

»Das hier ist Frau Lücke«, stellte Dr. Weigend die Patientin auf der Liege vor. »Sie ist Opfer des Brandunfalls und hat vermutlich eine Rauchvergiftung erlitten. Deshalb möchte ich sie mir genauer ansehen.«

»Aber das ist wirklich nicht nötig, Herr Doktor«, versicherte die junge Frau zum wiederholten Male. »Den Husten habe ich schon seit Jahren.«

»Dann gefällt er mir noch viel weniger«, hielt Dr. Weigand dagegen.

Die Türen des Behandlungsraums schlossen sich hinter ihnen. Während Matthias die Angaben der Patientin durchlas, wies er Sophie Petzold an, Bettina Lückes Blutdruck und Puls zu messen. Die Assistenzärztin verdrehte die Augen, tat aber kommentarlos das, was von ihr verlangt wurde. Bei der folgenden körperlichen Untersuchung war sie nur Beobachterin.

»Waren Sie schon immer so dünn?«, fragte Matthias, während Bettina das bunt gemusterte T-Shirt wieder überstreifte.

Er hatte am Schreibtisch Platz genommen und notierte die Ergebnisse.

»Seit ein paar Monaten habe ich öfter Bauchschmerzen und Durchfälle«, gestand Bettina zögernd. Von einer Rauchvergiftung war keine Rede mehr.

Matthias Weigand drehte sich zu Sophie Petzold um, die sich in einer Zimmerecke langweilte.

»Welche Untersuchungen würden Sie in diesem Fall anordnen?«

Sofort trat sie an die Liege.

»Als bildgebendes Verfahren empfehle ich zunächst eine Sonographie des Bauchraums, um mögliche Entzündungsherde ausfindig zu machen. Mithilfe von laborchemischen Untersuchungen können Entzündungswerte im Blut nachgewiesen und eine mögliche Mangelernährung ausgeschlossen werden. Eine Stuhluntersuchung auf Bakterien kann Hinweise auf eine erregerbedingte Darmentzündung bringen.«

»Lehrbuchmäßig«, lobte Dr. Weigand zufrieden.

Sophie winkte herablassend ab.

»Das ist doch Kindergartenniveau.«

»Ich weiß ja nicht, in welchen Kindergarten Sie gegangen sind. Ich für meinen Teil habe einen Großteil meiner Kindergartenzeit in der Sandkiste verbracht.«

»Tja, sehen Sie, deshalb sind Sie heute auch noch kein Professor.«

Auf diesen Kommentar fiel Matthias nichts mehr ein. Um seine Verlegenheit zu überspielen, wandte er sich wieder seiner Patientin zu.

Auch Bettina Lücke wirkte alles andere als glücklich.

»Müssen diese Untersuchungen wirklich sein, Herr Doktor?«, fragte sie bangen Herzens. »Wissen Sie, meine Schwester ist an einem Darmtumor gestorben. Ich habe solche Angst, dass auch ich …«

Dr. Weigand verstand, auch ohne dass sie den Satz beendete.

»Je früher ein Karzinom entdeckt wird, umso besser sind die Erfolgschancen.«

Bettina lächelte bitter.

»Das haben die Ärzte meiner Schwester auch gesagt. Und wissen Sie, was trotz Früherkennung passiert ist? Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Und deswegen wollen Sie sich nicht untersuchen lassen?«, mischte sich Sophie Petzold in das Gespräch ein. »Das ist doch Wahnsinn.«

Bettina Lücke drehte den Kopf zu ihrer Seite.

»Meine Schwester hat auch gedacht, dass alles gut wird. Und dann …« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Aber Sie sind hier in den allerbesten Händen«, versicherte Sophie mit einer Leidenschaft, die Matthias Weigand überraschte.

Noch mehr Tränen drängten in Bettinas Augen.

»Sie wissen doch gar nicht, wie das ist, wenn man Hoffnung hat und dann enttäuscht wird«, schluchzte sie auf. »Deshalb will ich lieber erst gar nicht wissen, wie es um mich steht.«

Diese Behauptung konnte Sophie unmöglich so stehen lassen.

»Und was ist, wenn ich Ihnen sage, dass mein Vater auch Krebs hatte und heute gesund ist? Weil er früh genug zur Vorsorge gegangen ist?« Ihre Augen funkelten herausfordernd. Es war Bettina Lücke anzusehen, dass sie keine Kraft für eine nervenaufreibende Diskus­sion hatte.

»Schon gut.« Sie schloss die Augen und winkte ab. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

»Na bitte«, wandte sich Sophie an ihren Kollegen Weigand, als eine Schwester die Patientin zum Ultraschall abgeholt hatte. »Geht doch!«

»Sie können Ihrem Vater dankbar sein. Wenn er nicht …«

Mit einer Geste schnitt Sophie ihm das Wort ab.

»Ich kenne meinen Vater gar nicht.« Sie ging zur Tür. »Er hat die Familie verlassen, als ich noch ein kleines Kind war.«

»Wo wollen Sie hin?«, rief Dr. Weigand ihr verdutzt nach.

»Zu unserer Patientin. Oder haben Sie jetzt Pause?«

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, zuckte Matthias zusammen.

»Herrje. Das kann ja noch heiter werden«, seufzte er, ehe er Anstalten machte, Sophie Petzold zu folgen.

*

Felicitas Norden saß in ihrem Büro und bereitete sich auf die Elternsprechstunde vor, als es klopfte.

»Johannes, herein mit dir!« Lächelnd bot sie dem Medizinstudenten den Stuhl vor ihrem Schreibtisch an.

Er setzte sich auf die äußerste Kante und legte einen Stapel Unterlagen auf den Schoß. Seine Finger trommelten auf dem Deckel der obersten Akte.

»Tut mir leid, wenn ich störe.«

Fee klappte die Mappe zu.

»Kein Problem, ich bin schon fertig. Also, raus mit der Sprache. Wer macht dich nervös?« Als er den Mund öffnete, um zu antworten, hob sie die Hände. »Nein, lass mich raten.« Sie beugte sich über den Tisch und winkte ihn zu sich. »Ist es die Lernschwester? Julia? Die ist wirklich süß. Aber auch auf die Gefahr hin, dich zu enttäuschen: Ich glaube, sie hat einen Freund.«

Johannes rang sich ein Lächeln ab.

»Macht nichts. Ich bin ja auch nicht solo.«

»Oh.« Felicitas lehnte sich zurück. »Wo liegt dann der Hase im Pfeffer?«

»Ich will mich ja nicht beschweren.« Endlich fasste sich Johannes ein Herz. »Aber vorhin hat mir Dr. Lammers diesen Packen Patientenakten in die Hand gedrückt und mir den Auftrag gegeben, den Schreibkram zu erledigen. Mal abgesehen davon, dass ich seine Schrift gar nicht lesen kann, bin ich damit die ganze Woche weg vom Fenster. Dabei wollte ich doch bei der OP von Dr. May dabei sein. Und noch viele andere Sache lernen.«

Felicitas sah den Medizinstudenten ungläubig an.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein!« Ohne lange nachzudenken sprang sie auf, nahm ihm die Unterlagen ab und eilte zur Tür. Dort blieb sie stehen und sah ihn auffordernd an. »Du gehst jetzt wieder zur Kollegin May. Um die Akten musst du dir keine Sorgen machen. Ich kümmere mich darum. Und um Lammers«, fügte sie drohend hinzu und machte sich auf den Weg.

Felicitas musste nicht lange suchen. Ihr Stellvertreter stand vor dem Aufzug und wartete. Als sie ihn erblickte, straffte sie die Schultern. Ihre Miene war entschlossen.

»Gut, dass ich Sie treffe, Kollege Lammers«, erklärte sie scheinheilig und hielt ihm die Akten unter die Nase. »Wissen Sie, was das ist?«

Lammers nahm ihr die Unterlagen aus der Hand und blätterte kurz darin.

»Was haben Sie mit meinen Patienten zu tun?«

»Wie kommen Sie dazu, unseren Medizinstudenten als Sekretärin zu missbrauchen?«, stellte sie eine Gegenfrage. »Er ist hier, um etwas zu lernen.«

»Immer dieser weibliche Hang zur Übertreibung!« Kopfschüttelnd schnalzte Lammers mit der Zunge. »Von Missbrauch kann ja wohl keine Rede sein. Ganz im Gegenteil lernt der Junge enorm viel dabei. Zum Beispiel, wie wichtig es ist, die medizinische Arbeit genau zu dokumentieren.«

»Ich bin dafür verantwortlich, dass der junge Mann hier praktische, klinische Arbeit lernt und nicht dafür, Sekretärinnen auszubilden«, entgegnete sie scharf.

Lammers’ Augen wurden schmal.

»Was ist Ihnen lieber? Dass ich operiere? Oder dass ich diese wunderbaren Instrumente mit Tinte beschmiere?« Selbstverliebt betrachtete er seine Hände.

Am liebsten wäre Fee an Ort und Stelle über ihn hergefallen. Zwei Schwestern, die tuschelnd an ihnen vorbei eilten, hielten sie davon ab.

»Verhalten Sie sich einfach vernünftig und kollegial. Das genügt schon.«

Ein belustigtes Kichern wehte zu ihnen herüber.

»Vielleicht können wir dieses Gespräch in Ihrem Büro fortsetzen«, zischte Lammers. Er hasste es, sich zum Gespött zu machen.

Felicitas wusste, dass sie gewonnen hatte. Zumindest dieses Mal.

»In dieser Angelegenheit gibt es nichts mehr zu besprechen.« Die Aufzugtüren öffneten sich. »Übrigens ist der Fahrstuhl da.« Sie nickte ihm zu und ließ ihn stehen. Es gab wahrlich Wichtigeres zu tun, als diesen ermüdenden Kleinkrieg zu führen.

Dr. Matthias Weigand saß am Computer und betrachtete die Lungenaufnahmen von Frau Lücke, als sich Daniel Norden nach getaner Arbeit im OP zu ihm gesellte. Suchend sah er sich um.

»Hast du unsere engagierte Nachwuchsärztin in die Kühlkammer gesteckt?«, scherzte er. Die Versorgung der Brandopfer war erfolgreich verlaufen, und er hatte allen Grund, gut gelaunt zu sein.

Ehe Matthias Weigand antworten konnte, kam eine Schwester herein und reichte ihm einen Umschlag.

»Die Ergebnisse aus dem Labor.«

»Danke.« Er öffnete das Kuvert und zog ein paar Blätter heraus, die er eingehend studierte.

Daniel schenkte sich Kaffee ein und gesellte sich zu seinem Freund.

»Was ist denn jetzt mit Frau Petzold? Wir brauchen Hilfe bei den Frischoperierten. Oder hat sie wieder ein Studienobjekt an der Angel?« Sein Blick ruhte auf dem Bildschirm.

»So könnte man es auch sagen.« Matthias reichte Daniel den Befund.

»Wer ist das?«

»Bettina Lücke – 28 Jahre alt. Sie wurde zusammen mit den Brandopfern mit Verdacht auf eine Rauchvergiftung eingeliefert.«

Betroffen starrte Daniel Norden auf den Befund und dann wieder auf den Monitor mit den Aufnahmen aus dem MRT.

»Dann werden wir die Botschaft mal überbringen«, seufzte er schließlich.

»Ich komme mit«, erklärte Matthias und stemmte sich aus dem Stuhl hoch.

Auf dem Flur begegnete ihnen Sophie Petzold, die von Christine Lekutats Patient kam.

»Gut, dass Sie hier sind.« Ohne innezuhalten, winkte Daniel sie mit sich. »Wir sind auf dem Weg zu Frau Lücke. Sie …«

»Oh, Frau Lücke!« Sofort schloss sich Sophie den beiden Ärzten an. »Bettina ist eine sehr nette Frau. Stellen Sie sich vor, wir haben das gleiche Hobby. Sie reitet auch für ihr Leben gern. Und das, obwohl es ihr schon eine ganze Weile nicht mehr gut geht. Sie ist wirklich tapfer.« Sophie bemerkte die ernsten Blicke der Kollegen und hielt inne. »Es ist doch nichts Schlimmes?«

»Kommt darauf an.« Mehr sagte Dr. Norden nicht.

Vor dem Krankenzimmer angekommen, blieben sie stehen. Stimmen waren zu hören.

»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz«, beschwor Ralf Lücke seine Frau. »Sie haben bestimmt nichts Schlimmes gefunden.«

Bettina hob die Hand und winkte müde ab.

»Egal, was passiert. Ich möchte …«

Als es klopfte, hielt sie inne. Bei Sophies Anblick huschte ein Lächeln über ihr eingefallens Gesicht.

»Schön, dass du da bist«, begrüßte sie die Assistenzärztin wie eine alte Freundin. »Das ist Ralf, mein Mann. Er hat mein Handy mitgebracht. Jetzt kann ich dir Fotos von Cherry Blossom zeigen.«

Während Matthias die Patientin im Nachbarbett bat, das Zimmer kurz zu verlassen, trat Dr. Norden zu Bettina Lücke.

Ralf musterte den Klinikchef argwöhnisch.

»Es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Leider nein.«

Auch Sophie horchte auf.

»Was fehlt Bettina?«, fragte Ralf Lücke erschrocken.

»Haben Sie den Namen ›Morbus Crohn‹ schon einmal gehört?«, wandte sich Daniel an die Patientin.

»Nein, nie.« Sie schüttelte den Kopf.

»Bei Morbus Crohn handelt es sich um eine chronische Entzündung des Verdauungstraktes. Sie verläuft meist in Schüben«, griff Sophie Petzold ihrem Chef vor.

»Aber was hat der Husten damit zu tun?« Bettina Lücke sah von einem zum anderen.

»Bei einer Studie wurde vor ein paar Jahren ein Zusammenhang zwischen Atemwegserkrankungen und der Häufigkeit von Darmerkrankungen untersucht«, erläuterte Dr. Norden. »Bei COPD-Patienten tritt Morbus Crohn zu 55 Prozent häufiger auf als bei anderen Patienten.« Er sah Bettina fragend an. »Sind Sie Raucherin?«

»Früher habe ich mal geraucht. Wie das so ist bei jungen Leuten.« Es klang wie eine Entschuldigung.

»Bettina hat schon vor fünf Jahren aufgehört«, versicherte ihr Mann.

Daniel nickte.

»Um die 90 Prozent der COPD-Erkrankten sind aktive Raucher oder haben schon einmal geraucht.«

»Übrigens ist COPD Englisch und bedeutet übersetzt chronischobstruktive Lungenerkrankung«, nahm Sophie Petzold ihrem Chef erneut das Wort aus dem Mund.

Sein strafender Blick gebot ihr Einhalt.

»Wie schlimm ist der Husten denn? Und wie lange leiden Sie schon darunter?«, wollte er von der Patientin wissen.

Bettina dachte kurz nach.

»Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wann das losging. Das muss schon ein paar Jahre her sein.«

»Als ich dich kennengelernt habe, hattest du gerade einen Allergietest hinter dir«, erinnerte sich Ralf.

»Stimmt.« Bettina schickte ihrem Mann ein zärtliches Lächeln. »Nachdem nichts dabei herauskam, habe ich mich damit abgefunden, immer mal wieder zu husten. Richtig nervig ist es eigentlich erst mit den Bauchschmerzen geworden.«

»Manchmal braucht es keine Studie, um Zusammenhänge festzustellen«, bemerkte Matthias Weigand.

Bettina und Ralf tauschten nachdenkliche Blicke.

»Das ist ja alles schön und gut. Aber was bedeutet das alles jetzt für mich?«, stellte sie eine berechtigte Frage.

Diesmal ließ Daniel Norden der Assistenzärztin den Vortritt. Sophie verstand die stumme Aufforderung.

»Das größere Problem ist der Morbus Crohn. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Krankheit mit ihren typischen Beschwerden wie Durchfall und krampfartigen Bauchschmerzen.« Sie fing den Blick des Klinikchefs auf. Er nickte ihr zufrieden zu. Doch Sophie war noch nicht fertig. »Aber es gibt ein Verfahren, das die Symptome deutlich lindern kann. Ein amerikanischer Professor hat im Studium davon erz …«

Weiter kam sie nicht.

»Bevor wir über eine weiterführende Therapie nachdenken, versuchen wir es zunächst mit den konventionellen Methoden«, unterbrach Dr. Weigand die übereifrige junge Kollegin schnell. »Zunächst einmal behandeln wir mit Medikamenten gegen den Durchfall und Entzündungshemmern. Hier stehen uns zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung. Außerdem spielt die Ernährung eine wichtige Rolle.«

»Und wenn das alles nicht hilft?«, fragte Ralf mit bangem Herzen.

»Dann bleibt immer noch eine Operation. Aber bis dahin ist noch viel Zeit«, versprach Daniel Norden und nickte Bettina Lücke aufmunternd zu. »Wichtig ist jetzt, dass Sie die Flinte nicht ins Korn werfen. Damit das nicht passiert, schicke ich Ihnen Herrn Dr. Kranz. Er ist Psychologe an unserer Klinik und steht Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.«

Bettina biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts. Auch wenn es ein Grund zur Freude war, dass sie nicht an Darmkrebs litt, musste sie die Neuigkeit erst einmal verdauen.

*

Über ihre Unterlagen gebeugt saß Schwester Elena im Schwesternzimmer. Wie jede freie Minute in letzter Zeit nutzte sie auch diese Pause, um sich auf die Prüfung zur Pflegedienstleitung vorzubereiten. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie Dr. Lammers’ Stimme zwar hörte, seine Worte aber nicht auf sich bezog, sondern auf Schwester Julia, die Verbandmaterial in einen Schrank räumte.

»Hören Sie schlecht oder reden Sie neuerdings nicht mehr mit jedem?«

Die laute Stimme direkt neben ihrem Ohr ließ sie vor Schreck zusammenzucken. Sie starrte Lammers an und presste die Hand auf das wild schlagende Herz.

»Was fällt Ihnen ein? Ich habe Pause und muss für meine Prüfung lernen.«

»Keine Angst. Die Qualifikation für die Kindergärtnerin attestiere ich Ihnen. Im Übrigen ist Ihre Pause vorbei.«

Elena sah auf die Uhr über der Tür.

»Das stimmt nicht. Ich habe noch …«

»Wenn ich sage, dass Ihre Pause vorbei ist, dann ist das so!«, unterbrach er sie und klatschte eine Patientenakte auf den Tisch. »Gehen Sie schon mal vor. Ich bin in fünf Minuten bei der kleinen Rotznase.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Lammers ab und rauschte aus dem Zimmer.

Die junge Lernschwester sah ihm mit offenem Mund nach.

»Das lassen Sie sich doch hoffentlich nicht gefallen.«

Elena starrte ihm nach. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. Sie klappte ihre Bücher zu und griff nach den Unterlagen.

»Keine Sorge. Wenn ich erst Pflegedienstleitung bin, zahlte ich ihm alles heim. Auf Heller und Pfennig«, zischte sie und machte sich auf den Weg zu Mutter und Sohn.

»Hallo, Elias«, begrüßte sie den jungen Mann, der auf dem Bett saß. »Mein Name ist Schwester Elena.«

Annabelle Werner legte das Buch zur Seite, aus dem sie ihrem Sohn gerade vorgelesen hatte, und wollte die Schwester begrüßen, als sich die Tür erneut öffnete.

»Dr. Lammers«, erklärte der Kinderchirurg knapp und zog sich einen Hocker heran. »Du bist also wegen deinem Pferdefuß hier«, wandte er sich an den Jungen.

Entsetzt drehte sich Elias zu seiner Mutter um.

»Mami, ich habe keinen Pferdefuß.«

Annabelle und Elena waren gleichermaßen entsetzt.

»Natürlich hast du das nicht. Der Doktor meint das nicht so«, versicherte Elena schnell.

»Sie hat niemand gefragt!«, wies Lammers sie scharf zurecht, ehe er sich wieder an Mutter und Sohn wandte. Vorsichtshalber hatte sich Elias in Annabelles Arme geschmiegt. Hier geschah ihm kein Leid. »Die meisten vierfüßigen Tiere setzen den Fuß nicht mit der ganzen Sohle auf. Auch das Pferd. Deshalb wird ein Pes equinus so genannt. Kein Grund, sich deshalb aufzuregen.« Er rollte näher heran. »Jetzt zeig deinen Spitzfuß mal her.«

Elias schickte Annabelle einen hilfesuchenden Blick, ehe er mit einem Satz aus dem Bett sprang und im Bad verschwand. Annabelle entschuldigte sich und lief ihm nach.

»Komm schon, Elias, ich habe dir doch alles genau erklärt. Zeig dem Doktor deinen Fuß.«

»Ich will aber nicht. Der ist böse.«

Volker Lammers rollte mit den Augen.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Was ist denn jetzt?«, fragte er energisch.

Mit Engelszungen redete die Mutter auf ihren Sohn ein. Endlich ließ sich Elias überreden und schlich zurück. Er rutschte aufs Bett, Annabelle zog ihm die Socken aus. Doch als Volker nach dem Fuß greifen wollte, zog der Junge ihn abrupt zurück.

»Rotzlöffel!«, entfuhr es Lammers. Und zu Annabelle gewandt: »Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Sieben Jahre.« Es kostete sie alle Kraft, das sich windende Kind zu bändigen.

»So ein Spitzfuß wird normalerweise im Kleinkindalter operiert.«

»Er hat schon zwei Eingriffe hinter sich, die leider noch nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.« Elias zappelte in Annabelles Armen. »Jetzt hör doch bitte auf! Die letzten Male war es doch auch nicht schlimm.« Vor Anstrengung trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Sie lächelte Dr. Lammers entschuldigend an. »Er beruhigt sich bestimmt gleich wieder.«

»Rufen Sie mich, wenn es so weit ist.« Volker hatte keine Lust mehr zu warten und verließ das Zimmer.

Elena murmelte eine Entschuldigung, ehe sie ihm folgte.

»Was ist denn jetzt mit Elias?« Im Laufschritt eilte sie ihm über den Flur nach.

»Ein Leichtathlet wird er mit Sicherheit nie.«

Elena schnappte nach Luft. Lammers machte seinem Ruf wieder einmal alle Ehre.

»Was soll das heißen? Operieren Sie nicht?«

»Wie denn? Teleskopinstrumente gibt es noch nicht.«

Mitten auf dem Gang blieb Schwester Elena stehen und sah ihm nach.

»Sie benehmen sich wie eine beleidigte Diva!«, schleuderte sie ihm hinterher.

Ohne sich umzudrehen, machte Lammers eine wegwerfende Handbewegung und wollte um die Ecke verschwinden, als Annabelle Werner hinter Elena auftauchte.

»Herr Doktor!«, rief sie.

Diesmal blieb Volker stehen und drehte sich um.

»Was ist denn noch?«

»Elias hat doch mehr Angst vor dem Eingriff, als ich dachte. Aber er hat versprochen, jetzt brav zu sein. Ich weiß, dass Sie der beste Kinderchirurg weit und breit sind. Bitte untersuchen Sie ihn.«

Diese Worte waren Wasser auf Volkers Mühlen. Er kostete diesen Augenblick weidlich aus. Endlich gab er sich einen Ruck.

»Sie haben Glück, dass ich heute meinen großzügigen Tag habe.« Wie ein König schritt er auf Annabelle zu. Ein paar Meter vor ihr machte er Halt und blickte von oben auf sie herab. »Ohne Untersuchung keine Operation. Wir verstehen uns?«

»Natürlich«, versicherte Annabelle und eilte voraus in Richtung Elias’ Zimmer.

Schwester Elena wollte ihr folgen, doch Lammers hielt sie mit einer entschiedenen Handbewegung davon ab.

»Das schaffe ich auch ohne Kindergärtnerin«, erklärte er und ging davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

*

»Ich kann es kaum glauben, dass du wirklich an unsere Verabredung heute Abend gedacht hast.« Ein Glas Wein in der Hand stand Felicitas Norden in der Küche und musterte ihren Mann, der mit düsterer Miene am Tresen saß.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich zum Küchendienst eingeteilt werde, hätte ich es mir anders überlegt.« Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Müssen die Zwiebelscheiben wirklich so dünn sein?«

»Sonst schmeckt das Gratin nicht.« Fee stellte den Wein weg und schwenkte eine Schale geschälter Kartoffeln durch die Luft. »Janni. Dési. Ihr werdet sehnsüchtig erwartet.«

Seit drei der fünf Kinder ausgezogen waren, hatte sich die Haushälterin Lenni einen anderen Wirkungskreis im Klinik-Kiosk ›Allerlei‹ gesucht. Fee begrüßte diese Entscheidung. Im Gegensatz zu ihrer Familie liebte sie die seltenen gemeinsamen Kochabende. Sie beschloss, die mürrische Miene ihres Mannes zu ignorieren und das Positive hervorzuheben.

»Ich finde es jedenfalls toll, dass wir alle zusammen Zeit haben.«

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, unkte Janni, jüngster Sohn der Familie Norden, und rückte seine schwarzumrandete Brille zurecht. Er stand an der Arbeitsplatte und ließ seine Familie wieder einmal an seinem fundierten Wissen teilhaben.

»Sag das nicht zu laut!«, warnte seine Zwillingsschwester Dési. Sie saß neben ihrem Vater. »Sonst wird Mum oder Dad noch zu einem Notfall gerufen.«

Jan nahm sich Brettchen und Messer und begann akribisch, Kartoffelscheiben in hauchdünne Scheiben.

»Die Neigung, bedeutungsvolle Zusammenhänge in Ereignisse hineinzuinterpretieren, ist eine grundlegende biologische Eigenschaft des Menschen.« Wieder einmal machte er seinem Spitznamen alle Ehre. »Diese Eigenschaft lässt sich schon im Tierreich finden.«

»Interessant!« Nur mit Mühe gelang es Fee, ernst zu bleiben. »Können Sie uns das bitte genauer erklären, Herr Professor Norden.«

Großmütig überging Janni den spöttischen Unterton und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Er schob die Kartoffelscheiben auf den Teller, den seine Mutter ihm hinhielt, und griff nach der nächsten Knolle.

»Burrhus Skinner, ein amerikanischer Psychologe, gab hungrigen Tauben in unregelmäßigen Abständen Futter. Daraufhin suchten die Tiere instinktiv nach einem Grund für die überraschende Futtergabe und entwickelten abergläubische Verhaltensweisen«, erklärte er beiläufig.

Inzwischen war auch Daniel aufmerksam geworden.

»Die sich wie äußerten?«, hakte er interessiert nach und wischte sich mit dem Geschirrtuch die Tränen ab.

»Manche Tiere hatten zufällig immer dann auf einem Bein gestanden, wenn der Futtersegen hernieder regnete. Daraufhin begannen sie, vermehrt auf einem Bein zu stehen.«

»Das ist wirklich interessant«, erwiderte Fee. Sie hatte den ersten Teil der Kartoffeln abwechselnd mit den Zwiebeln in eine Form geschichtet. Während sie auf Nachschub wartete, hob sie ihr Glas an die Lippen.

Daniel hingegen musterte seinen Sohn mit gerunzelter Stirn.

»Wenn ich dich so reden höre, muss ich wieder an unsere neue Assistenzärztin denken«, gestand er.

Fee sah ihren Mann fragend an.

»Was ist mit Sophie Petzold?« Sie setzte sich neben ihn an den Tresen.

Bevor er antwortete, nahm er ihr das Glas Wein aus der Hand und trank einen Schluck.

»Stell dir vor: Sie wollte einer Morbus-Crohn-Patientin eine Behandlungsmethode empfehlen, die bei uns in Deutschland noch gar nicht etabliert ist.«

»Aber wenn sie hilft …«, wandte Dési ein.

»Trotzdem darf sie keine Hoffnungen schüren«, unterbrach Daniel seine Tochter. Ungeduldig warf er das Messer auf den Tisch. »Diese Zwiebeln machen mich noch wahnsinnig.«

»Dann gib schon her!«, verlangte Janni und nahm seinem Vater das Schneidebrett ab.

»Und was ist mit den Kartoffeln?«, fragte Fee kritisch.

»Längst fertig.« Jan deutete auf den Teller mit hauchfein geschnittenen Kartoffelscheiben, der auf der Arbeitsplatte stand.

Fee rutschte vom Hocker und ging hinüber.

»Unser Sohn!« Sie nahm eine Scheibe heraus und hielt sie gegen das Licht. »Der wird es noch einmal weit bringen.«

»Er ist generalistisch gebildet und lösungsorientiert«, dachte Daniel laut nach. »Er sollte Unternehmensberater werden und uns alle reich machen.«

»Und was würdest du mit so viel Geld anstellen?«, stellte Dési eine berechtigte Frage. Nachdem sie mit ihren Kartoffeln fertig war, hatte sie damit begonnen, die restlichen Scheiben abwechselnd mit den Zwiebeln in die Form zu schichten. »In Frührente gehen?« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Ohne deine Arbeit wärst du doch gar nicht glücklich.«

Daniel betrachtete seine Tochter aus schmalen Augen.

»Meinst du wirklich?«, fragte er scherzhaft.

Fee lachte.

»Wo sie recht hat, hat sie recht«, stimmte sie ihrer Jüngsten belustigt zu und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

*

Sophie Petzold saß noch im Aufenthaltsraum der Ärzte am Computer und recherchierte. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Doch sie wollte nicht eher aufgeben, bis sie alles herausgefunden hatte, was es über die neue Methode zu wissen gab.

»Die Abreibung, die mir dieser Norden verpasst hat, wird ihm noch leid tun«, murmelte sie vor sich hin, als sie ein Piepen, gefolgt von hektischen Schritten hörte. Trotz der späten Stunde war plötzlich Leben auf der Abteilung. Kurzentschlossen stand Sophie auf, um herauszufinden, was der Grund dafür war.

»Akuter Morbus-Crohn-Schub!«, rief Schwester Anila ihr schon von Weitem zu.

Sophie wusste sofort, wer damit gemeint war, und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Die junge Frau krümmte sich im Bett.

»Wir erhöhen die Schmerzmittel, schnell!«, traf die Assistenzärztin eine Entscheidung. »Und dann verlegen wir sie auf die Intensivstation.«

Sie kontrollierte sämtliche Werte, bis Anila ihre Arbeit getan hatte. Dann löste sie die Bremsen am Bett und machte sich höchstpersönlich mit ihrer Patientin auf den Weg zur ITS. Dort angekommen wollte ein Kollege übernehmen. Doch Sophie Petzold bestand darauf, sich selbst um die Patientin zu kümmern. Sie schloss Bettina an die Überwachungsgeräte an und verabreichte ihr die notwendigen Medikamente. Dann setzte sie sich an ihr Bett. Die Wirkung der starken Mittel ließ nicht lange auf sich warten. Bettina Lückes Schmerzen ließen nach, sie fiel in einen erschöpften Schlaf, über den Sophie Petzold wachte.

Sie musste selbst eingenickt sein, denn sie zuckte hoch, als sie eine Stimme hörte. Matt und leise, aber immerhin.

»Sophie … Du bist ja noch hier«, krächzte Bettina.

Sofort war die Assistenzärztin auf den Beinen. Sie warf einen Blick auf die Geräte, maß Fieber und Blutdruck und fühlte Bettinas Puls.

»Keine Angst. Die Medikamente haben gut angeschlagen. Die Entzündung geht offenbar zurück.«

Bettina lächelte fein.

»Immerhin lebe ich noch.« Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ein Glück, dass Ralf schon weg war. Der hätte sich fürchterlich aufgeregt.«

»Das wird er so auch tun. Immerhin liegst du jetzt auf der Intensivstation.«

Bettina nickte und starrte blicklos auf die Bettdecke.

»Ich hatte schon länger den Verdacht, dass ich diese komische Krankheit habe«, gestand sie leise.

Sophie, die im Augenblick nichts mehr für ihre Patientin tun konnte, setzte sich auf die Bettkante.

»Und warum bist du nicht zum Arzt gegangen?«

»Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Das, was ich im Internet über Morbus Crohn gefunden habe, war alles andere als lustig.« Sie schluckte. »Glaubst du, dass ich je wieder reiten kann?«

Wieder musste Sophie an die Standpauke des Klinikchefs denken. Durfte sie Bettina wirklich keine Hoffnung machen?

»Ich glaube, dass der Wille Berge versetzen kann«, entschied sie sich für einen goldenen Mittelweg.

Bettina musterte Sophie nachdenklich.

»Was … Was war das vorhin für eine Therapie, die du erwähnt hast?«

Die Assistenzärztin biss sich auf die Lippe. Sie sah sich um, ob sie einen Zuhörer hatte. Doch das Zimmer war leer, und auch auf den Gängen der Intensivstation herrschte um diese Uhrzeit fast gespenstische Stille.

»Einer meiner Professoren an der Uni hat lange Zeit in den USA gearbeitet«, erwiderte sie endlich zögernd. »Daher stammt diese Methode. Aber du hast es ja selbst gehört. Dr. Norden will zunächst die üblichen Behandlungen ausprobieren, bevor er neue Wege gehen will.«

Zitternd suchte Bettinas Hand die der jungen Ärztin.

»Und was, wenn ich diese neue Methode ausprobieren will?«

Sophie Petzold erschrak. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Dann müsste ich die Kollegen davon überzeugen.«

»Würdest du das für mich tun?«

Sophie antwortete nicht sofort. Wenn sie zustimmte, setzte sie ihre Stelle aufs Spiel. Falls es ihr aber gelang, die Kollegen und allen voran Daniel Norden zu überzeugen, war das ihre große Chance.

»Also gut. Ich versuche es. Aber ich kann dir nichts versprechen.« Sie drückte Bettinas Hand und stand auf. Zeit, nach Hause zu gehen.

»Danke!«, hörte sie Bettina noch leise sagen. Doch da hatte sie das Zimmer schon verlassen.

Früh am Morgen war der Himmel noch voller Wolken gewesen. Doch nach und nach gewann die Sonne an Kraft und riss immer mehr Löcher in die graue Decke. Ein besonders vorwitziger Sonnenstrahl fiel auf Elias Bett, der geduldig darauf wartete, dass seine Mutter die Taschen fertig gepackt hatte. Um sich die Zeit zu vertreiben, blätterte er in seinem Buch.

»Eine wunderschönen guten Morgen«, begrüßte Felicitas Norden den kleinen Patienten. Tags zuvor hatte sie keine Zeit gefunden, den Neuankömmling zu besuchen.

Annabelle hielt in ihrer Arbeit inne. Ein T-Shirt in der Hand, richtete sie sich auf und sah sie an. Fee bemerkte das Misstrauen in diesem Blick.

»Mein Name ist Dr. Felicitas Norden. Ich bin die Chefin der Pädiatrie«, stellte sie sich vor. »Ich weiß, dass Sie gestern zu uns gekommen sind, um Elias’ Spitzfuß operieren zu lassen. Merkwürdigerweise habe ich in den Unterlagen keinen Untersuchungsbericht gefunden.« Wie zum Beweis schlug sie Elias’ Akte auf, die sie mitgebracht hatte. Bis auf die Aufnahmeformulare war sie leer.

»Die Untersuchung hat nicht stattgefunden. Und es wird keine Operation geben.« Die Enttäuschung stand Annabelle ins Gesicht geschrieben. Sie beugte sich wieder über die Tasche und legte das T-Shirt zu den anderen Kleidern. »Wir wurden gebeten, ein anderes Krankenhaus aufzusuchen.«

»Warum das denn?«

»Weil mein Sohn sich nicht von Dr. Lammers untersuchen lassen will.«

Lammers! Natürlich! Wie konnte es anders sein?

Einen Moment lang dachte Felicitas über die richtige Strategie nach.

»Stimmt das?«, wandte sie sich freundlich an Elias.

Angestrengt starrte der Junge in sein Buch und nickte kaum merklich.

Obwohl sich Fee wieder einmal maßlos über ihren ungehobelten Stellvertreter ärgerte, wurde das Lächeln auf ihren Lippen tiefer. Ihre jahrelange Erfahrung mit Kindern kam ihr ebenso zugute wie ihre psychologischen Kenntnisse. Es hatte keinen Sinn, Kindern Lügen aufzutischen. Deshalb entschied sie sich für die Wahrheit.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie sanft.

Wieder nickte Elias, und sie setzte sich auf die Bettkante.

»Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?«

Diesmal erntete sie einen schüchternen Blick. Und sogar Annabelle spitzte die Ohren.

»Was denn für eins?«

»Als ich Dr. Lammers zum ersten Mal gesehen habe, fand ich ihn auch ziemlich komisch. Bis ich ihn besser kennengelernt und festgestellt habe, dass er es gar nicht so meint.«

»Warum ist er dann so ätzend?«

»Elias!«, tadelte Annabelle die Wortwahl ihres Sohnes.

Doch Felicitas winkte ab.

»Du hast schon recht. Und ehrlich gesagt habe ich noch nicht herausgefunden, warum er so ist. Ich denke, es liegt daran, dass er nicht gelernt hat, wie man Freunde findet.«

Elias Augen wurden groß und rund.

»Er hat keine Freunde? Keinen einzigen?«

Bedauernd schüttelte Fee den Kopf.

»So viel ich weiß nicht. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm für ihn, weil er deshalb sehr viel Zeit hat, sich mit seiner Arbeit zu beschäftigen. Und ich kann dir eines versprechen: Dr. Lammers ist der beste Kinderchirurg, den ich jemals kennengelernt habe.«

Diese Worte ließ sich Elias durch den Kopf gehen. Annabelle hielt die Luft an. Würde es der Ärztin gelingen, ihren Sohn umzustimmen?

»Aber er war gemein zu mir.«

Wortlos schüttelte seine Mutter den Kopf. Mit einem Ruck zog sie den Reißverschluss der Tasche zu.

Doch Felicitas wollte noch nicht aufgeben. Einen Trumpf hatte sie noch im Ärmel.

»Soll Dr. Lammers dein Freund werden oder dein Bein gesund machen?«, stellte sie die alles entscheidende Frage.

»Der und mein Freund? Niemals!«, schnaubte Elias verächtlich. »Ich will, dass er mein Bein gesund macht, damit ich endlich mit meinen Freunden Fußball spielen kann und nicht immer nur im Tor stehen muss.«

Fee lachte und erhob sich von der Bettkante.

»Siehst du, dafür ist Dr. Lammers genau der Richtige«, erklärte sie innig. »Aber damit er dich gesund machen kann, muss er dich untersuchen. Darf er das? Auch wenn er nicht dein Freund werden will?«

Elias sah hinüber zu seiner Mutter. Annabelle verstand die stumme Frage und nickte ihm zu.

»Also gut«, erwiderte er gedehnt.

Felicitas lächelte.

»Ich wusste von Anfang an, dass du ein schlauer Junge bist.« Zufrieden tippte sie ihm auf die Nase, ehe sie das Zimmer mit dem Versprechen verließ, so schnell wie möglich und in Begleitung von Volker Lammers zurückzukehren. Wie sie das anstellen sollte, davon hatte sie allerdings noch keinen blassen Schimmer.

*

In ihr Lehrbuch vertieft betrat Schwester Elena an diesem Morgen die Behnisch-Klinik.

»Haftung bedeutet: Individuen müssen für die Folgen ihres Handelns oder Nicht-Handelns die Verantwortung tragen.« Sie war so vertieft in die Wiederholung ihres Prüfungsstoffes, dass sie Matthias Weigand nicht bemerkte, der sich zu ihr gesellte und den Flur mit ihr hinunterwanderte. »Grundvoraussetzung der Haftung ist, dass durch die Handlung oder Unterlassung immaterielle oder materielle Schäden entstanden sind. Die Konsequenzen können sowohl zivilrechtlich …«

Matthias beschloss, dem Selbstgespräch ein Ende zu bereiten.

»Seit wann müssen Kindergärtner denn so was wissen?«, fiel er ihr ins Wort.

Vor Schreck schrie Elena auf und ließ das Buch fallen. Matthias schnitt eine Grimasse.

»Du liebe Zeit. Ich wusste nicht, dass sich meine Wirkung auf Frauen so dramatisch verändert hat.« Er bückte sich nach dem Buch und hielt es ihr hin.

»Kein Wunder, dass keine länger als vier Wochen bei dir bleibt«, schnaubte Elena und riss ihm das Lehrwerk aus der Hand. »Und woher hast du das mit der Kindergärtnerin?«

»Die Klinik-Flüsterpost hat mir verraten, dass Lammers dich so nennt«, gestand er. »Ich fand das witzig.«

»Einen seltsamen Sinn für Humor hast du.« Elena packte das Buch in ihre Tasche und ging weiter.

Auch Matthias setzte sich wieder in Bewegung.

»Komm schon! Sei nicht sauer! Als Wiedergutmachung biete ich dir an, dich abzufragen.«

Elenas Miene erhellte sich. Ganz offensichtlich ahnte ihre Freund und Kollege nicht, was er da gesagt hatte.

»Könnte durchaus sein, dass ich auf dein großzügiges Angebot zurückkomme«, erwiderte sie, ehe sich ihre Wege an einer Glastür trennten. Elena bog nach rechts ab, Matthias musste den linken Flur wählen.

Auf dem Weg in die Notaufnahme kam er an einem Aufenthaltsraum vorbei. Die Tür stand halb offen, und er war schon vorbeiegangen, als er stutzte. Er sah auf seine Armbanduhr und kehrte noch einmal zurück.

»Sophie, was machen Sie denn schon hier?«

»Nach was sieht es denn aus?«, fragte sie, ohne sich ablenken zu lassen. Sie saß am Tisch vor einem Laptop und studierte einen Text.

Matthias Weigand überlegte nicht lange und trat hinter sie.

»Dachte ich es mir doch.«

Sophie seufzte.

»Bettina Lücke lässt mir keine Ruhe. Sie hatte heute Nacht einen Schub. Und ehrlich gesagt bin ich nicht Ärztin geworden, um die Hände in den Schoß zu legen und tatenlos dabei zuzusehen, wie meine Patienten leiden.«

»Das verlangt ja auch keiner von Ihnen.«

»Dr. Norden verlangt es«, behauptete sie trotzig und klickte zur nächsten Seite.

Matthias schob die Hände in die Jackentasche und lächelte.

»Dummerweise scheinen Sie vergessen zu haben, dass ich bei dem Gespräch dabei war«, erinnerte er sie. »Er hat Ihnen lediglich ans Herz gelegt, sich an die konventionellen Methoden zu halten und der Patientin keine unbegründete ­Hoffnung zu machen.« Er dachte kurz nach. »Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass neue Medikamente und Behandlungsmethoden immer schneller zugelassen werden und auf den Markt kommen, ohne dass ihre Sicherheit und Zuverlässigkeit ausreichend geprüft wäre. Diese Beschleunigung ist von der Industrie gewollt und wird sogar teilweise gefördert. Deshalb befinden wir Mediziner uns im Blindflug, weil wir keine Einsichten über die Wirksamkeit und den richtigen Einsatz haben.« Oft genug hatte Matthias Weigand mit Daniel Norden über dieses Thema diskutiert, dass er seinen Standpunkt kannte und vertreten konnte.

Sophie versetzte dem drehstuhl einen Schub und fuhr zu ihrem Kollegen herum. Ihre Augen schossen wütende Blitze.

»Wenn jeder Arzt solche verstaubten Ansichten hätte, würde die Forschung niemals Fortschritte machen.«

Ein belustigtes Lächeln spielte um Matthias Weigands Lippen. Schon jetzt freute er sich auf das Gesicht seines Freundes, wenn er ihm von diesem Gespräch erzählte.

»Ihr Ehrgeiz gefällt mir.« Er zog sich einen Hocker heran und setzte sich. »Dann erzählen Sie mal! Was haben Sie herausgefunden?«

Einen Moment lang meinte Sophie Petzold, dass er sich über sie lustig machte. Schließlich gab sie sich aber einen Ruck.

»Das hier ist ein Artikel über die Methode, die mein Professor in den USA kennengelernt hat. Sie kann die Symptome eines Morbus Crohn lindern. Ich denke, dass das eine Möglichkeit für Bettina wäre.«

Matthias überflog den Artikel.

»Hier steht allerdings, dass eine der gefürchteten Komplikationen ein künstlicher Darmausgang ist.« Er sah Sophie eindringlich an. »Und das will Frau Lücke mit Ende zwanzig sicher nicht riskieren.«

Sophie biss sich auf die Unterlippe.

»Nein, Sie haben recht. Trotzdem finde ich, dass Bettina ein halbwegs normales Leben verdient hat.«

Matthias Weigand stand auf. Es wurde Zeit, seinen Dienst anzutreten.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen bei dem Unterfangen, den Chef umzustimmen.« Er ging zur Tür.

»Danke«, erwiderte Sophie Petzold und beugte sich wieder über ihre Notizen.

Schon eine ganze Weile stand Felicitas Norden in der Tür zu Volker Lammers’ Büro und beobachtete ihn beim Frühstück.

Während er in einem Fachmagazin blätterte, ließ er sich ein Croissant schmecken. Schließlich fasste Felicitas sich ein Herz.

»Gut, Sie zu sehen.« Sie betrat das Büro.

Vor Schreck fiel Lammers das letzte Stück Croissant aus der Hand.

»Was ist?«, erkundigte er sich misstrauisch. »Wollen Sie kündigen und mir Ihren Posten anbieten? Mich für meine herausragenden Dienste auszeichnen?«, fragte er todernst.

Innerlich verdrehte Fee die Augen. Es sah ihm ähnlich, dass er solche Dinge ernst meinte.

»Es geht um Elias Werner, den Jungen mit dem Spitzfuß.«

Augenblicklich verdüsterte sich Lammers’ Miene. Demonstrativ beugte er sich wieder über das Magazin.

»Ich habe nichts mehr dazu zu sagen.«

»Das ist bedauerlich.« Felicitas wanderte durch das Büro. Auf dem Sideboard entdeckte sie eine kleine Holzstatue. Sie nahm sie hoch und begutachtete sie eingehend, ehe sie sie wieder an ihren Platz zurückstellte und ihren Rundgang fortsetzte. »Dabei ist Elias so ein netter kleiner Kerl.«

»Da muss ich wohl irgendetwas verpasst haben«, bemerkte Volker und blätterte um.

»Jetzt mal im Ernst, Kollege Lammers.« Fee nahm sich einen Keks aus der Schale auf dem Tisch und kehrte zum Schreibtisch zurück. »Sie sind Kinderchirurg. In dieser Eigenschaft sollten Sie selbst am besten wissen, dass Kinder Angst vor Operationen haben.« Als sie in den Keks beißen wollte, stellte sie fest, dass er steinhart war.

»Die sind noch vom letzten Jahr«, erklärte Volker ungefragt.

»Ich dachte, aus dem vorigen Jahrhundert.« Felicitas schnitt eine Grimasse und ließ das Gebäck in der Kitteltasche verschwinden. »Was ist denn jetzt mit Elias?«

Endlich lehnte sich der Kinderchirurg zurück und sah sie aus schmalen Augen an.

»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie eine Nervensäge sind?« Unwillig schüttelte er den Kopf. »Bisher hat sich noch jeder Rotzlöffel von mir untersuchen lassen.«

»Ich möchte Sie trotzdem bitten, sich noch einmal mit dem Jungen zu unterhalten.« Eine Idee schoss Fee durch den Kopf. »Am besten vielleicht ohne die Mutter. Meine Kinder waren früher immer viel entspannter, wenn ich nicht dabei war.«

»Das wundert mich nicht«, erwiderte Lammers ungerührt.

Allmählich war Felicitas mit ihrer Geduld am Ende. Am liebsten hätte sie ihm einen passenden Kommentar um die Ohren gehauen und das Büro mit fliegenden Fahnen verlassen. Doch dann würden die Probleme erst anfangen. Bisher hatte sich Lammers noch nicht geweigert, ein Kind zu operieren. Doch Felicitas war sicher: Wenn er diesen Machtkampf ein Mal für sich entschied, wäre das der Anfang vom Ende ihrer Karriere als Chefin der Pädiatrie. So weit wollte sie es nicht kommen lassen. So zählte sie in Gedanken bis drei, um sich zu beruhigen.

»Bringen Sie Elias dazu, sich untersuchen zu lassen, und operieren Sie ihn. Dann sorge ich dafür, dass Sie keinen Schreibkram mehr erledigen müssen.« Sie wusste selbst nicht, wie sie dieses Versprechen einlösen sollte. Aber es war das einzige Angebot, mit dem sie ihn ködern konnte.

Ein Lächeln huschte über Lammers’ Gesicht, erlosch aber im nächsten Moment wieder.

»Verlockender Gedanke, aber leider zu spät«, seufzte er in gespielter Enttäuschung. »Mutter und Sohn sind nämlich schon weg. Aber das Angebot mit der persönlichen Sekretärin nehme ich trotzdem an.«

Um ein Haar hätte Felicitas laut aufgelacht.

»Erstens war nie die Rede von einer persönlichen Assistenz. Und zweitens sind Elias und seine Mutter noch da. Ich habe sie überredet zu bleiben.« Sie machte eine einladende Handbewegung. »Wenn ich bitten darf!«

Volker Lammers zögerte, erhob sich dann aber doch. Die Aussicht, den Papierkram ein für alle Mal loszusein, überwog den Unwillen, der Aufforderung seiner Chefin nachzukommen.

*

»Thank you so much«, bedankte sich Sophie Petzold, bevor sie das Telefonat mit dem amerikanischen Kollegen beendete. Sie legte den Hörer auf und zögerte keine Sekunde, raffte sämtliche Unterlagen zusammen, die sie über die neue Methode zusammengesucht hatte, und machte sich auf den Weg zu Bettina Lücke. Schon von Weitem sah sie Dr. Norden über den Flur eilen. Er kam direkt auf sie zu. Im ersten Moment dachte sie an Flucht. Anders als von Matthias Weigand empfohlen, hatte sie sich für einen Alleingang entschieden. Wenn sie Bettina erst von der neuen Methode erzählt hatte, würde es einfach sein, den Chef der Behnisch-Klinik zu überzeugen. Zumindest war das ihre Annahme. Sie setzte ein freundliches Lächeln auf und ging entschlossen auf Dr. Norden zu.

»Guten Morgen, Frau Petzold«, begrüßte Daniel die rebellische Assistenzärztin und blieb kurz vor ihr stehen. »Ich hoffe, Sie nehmen mir die gestrige Abreibung nicht übel.«

»Schon vergessen!«, winkte Sophie ab und wollte weitergehen.

»So war das nicht gemeint«, erlaubte sich Daniel einen Hinweis. »Ich bin immer noch der Ansicht, dass es falsch war, Frau Lücke eine andere Behandlung als die geläufigen in Aussicht zu stellen. Aber ich denke auch, dass Sie intelligent genug sind, um das einzusehen.«

»Natürlich.« Es kostete Sophie unendlich viel Mühe, ihrem Chef in die Augen zu sehen.

Daniel war in Eile und bemerkte ihre Verlegenheit nicht.

»Gut, dass wir uns verstehen.« Er nickte ihr zufrieden zu und beschloss, sein erstes, hartes Urteil über die rebellische Assistenzärztin zu revidieren. »Übrigens habe ich gleich eine interessante OP-Besprechung. Wenn Sie interessiert sind, können Sie gern mitkommen.«

Händeringend suchte Sophie nach einer Ausrede.

»Ich … Ich habe Dr. Weigand versprochen, diese Unterlagen wegzubringen.«

Daniel zuckte mit den Schultern.

»Ein Wort ist ein Wort. Da kann man nichts machen. Dann bis später!« Er hob die Hand zum Gruß und eilte weiter.

Sophie Petzold atmete tief durch, ehe auch sie ihren Weg fortsetzte.

*

Mit genügend Sicherheitsabstand – Volker Lammers wollte Kindern nur in schlafendem Zustand nahe kommen – saß der Kinderchirurg im Zimmer seines kleinen Patienten.

»Mit so einem Fuß wie deinem kann man viele tolle Sachen nicht machen«, sagte er, während er eingehend seine Fingernägel betrachtete.

Elias schickte ihm einen argwöhnischen Blick.

»Weiß ich schon.«

»Ich rede ganz bestimmt nicht von Fußballspielen.« Verächtlich verzog Dr. Lammers den Mund. »Aber stell dir mal vor, du willst später Arzt werden …, ein humpelnder Doktor, wie sieht das denn aus?«

»Ich will doch nicht so was sein wie du. Wenn, dann werde ich Feuerwehrmann und rette Menschen aus brennenden Häusern.«

»Tja, auch dann brauchst du mich, denn nur ich kann dafür sorgen, dass aus deinem Pferdefuß ein anständiger Männerfuß wird, mit dem man was anfangen kann.«

»Ich habe keinen Pferdefuß!«, schimpfte Elias wütend. »Du bist genauso blöd wie die Kinder aus meiner Klasse. Die ärgern mich auch die ganze Zeit.«

»Ja und? Glaubst du, das ist etwas Besonderes?«, erwiderte Lammers ungerührt. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Leute hier arbeiten, die mich ärgern.«

Elias’ Augen wurden groß und rund vor Staunen.

»Echt?«

»Hast du gedacht, du bist der Einzige?« Volker stand auf und trat ans Bett. »Das geht genauso weiter, dein ganzes Leben lang. Das kannst du mir glauben. Wenn sie dich nicht wegen deinem Fuß fertig machen, dann wegen deinem Charakter. Oder wegen deiner Nase.«

Unwillkürlich fasste sich Elias ins Gesicht.

»Was ist denn mit meiner Nase?« Er war so erschrocken über diese Hiobsbotschaft, dass er ganz vergaß, sich gegen die Untersuchung zu wehren. Volker zog ihm den Socken aus.

»Die ist ganz schön dick für dein Alter«, erwiderte er ungerührt, während er den Spitzfuß gründlich untersuchte. »Dabei wächst die immer weiter. Dein ganzes Leben lang. Wenn du ein alter Mann bist, siehst du wahrscheinlich aus wie Pinocchio.« Er hatte die Untersuchung beendet. »Du kannst die Socke wieder anziehen.«

Doch der Junge hörte ihn nicht. Er starrte den Arzt mit großen Augen an. Selbst als seine Mutter in Begleitung von Felicitas Norden hereinkam, betastete er noch immer seine Nase.

»Ich bin fertig«, wandte Lammers sich triumphierend an seine Chefin. »Wir operieren morgen früh. Und denken Sie bitte an meine Sekretärin. Da gibt es ein paar Briefe, die unbedingt geschrieben werden müssen«, erklärte er, als er an Fee und Annabell vorbei aus dem Zimmer eilte.

Fragend sahen ihm die beiden Frauen nach, als eine Stimme hinter ihnen ertönte.

»Mama, stimmt es, dass meine Nase immer weiter wächst, bis sie so lang ist wie die von Pinocchio?« Diese bange Frage ihres kleinen Patienten lenkte Felicitas fürs Erste von der Sorge ab, wie sie ihr leichtsinnig gemachtes Versprechen erfüllen konnte.

*

Sophie Petzold war mehr als erleichtert darüber, ihre Patientin allein vorzufinden. Bettina saß halb aufrecht im Bett und lächelte sie an. Sie war noch immer blass, schien aber guter Dinge zu sein. Wäre nicht die Sauerstoff-Nasenbrille gewesen, hätte man nicht vermutet, dass sie so schwer krank war.

»Guten Morgen, Bettina.« Sophie warf einen Blick auf das Krankenblatt. »Das sieht ja alles ganz gut aus.«

»Dank deiner Behandlung geht es mir auch viel besser als heute Nacht.«

»Leider verläuft diese Krankheit in Schüben. Deshalb müssen wir damit rechnen, dass du in den kommenden Stunden oder Tagen eine oder mehrere weitere Attacke haben wirst.«

Bettina schluckte.

»So schlimm wird das? Bist du sicher?«

Verlegen drehte Sophie ihre Mappe mit den Unterlagen in den Händen.

»Ich darf dir nichts vormachen.«

»Aber was ist mit der Behandlung, die du erwähnt hast?«

Sophie hatte gedacht, es würde ein Leichtes sein, sich über die Anordnung des Chefs hinwegzusetzen. Doch so einfach war es nicht, seine berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht wusste, ob sie die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen konnte.

»Bitte, Sophie!«, bat Bettina flehentlich. »Wenn ich nicht mehr reiten und mich um Cherry Blossom kümmern kann, das wäre das Schlimmste für mich. Du als Reiterin kannst das doch verstehen, oder?«

Die Assistenzärztin räusperte sich. Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Doch es war nur eine Schwester, die kurz ins Zimmer kam, eine Entschuldigung murmelte, und sich gleich wieder zurückzog.

»Ich habe lange recherchiert und vorhin auch mit den amerikanischen Kollegen telefoniert. Diese Methode ist recht kompliziert. Falls du dich dafür entscheidest, muss dir klar sein, dass mehrere Eingriffe erforderlich wären.«

»Das ist mir ganz egal«, erklärte Bettina Lücke ohne Zögern. »Wenn ich geheilt werden kann …«

Energisch schüttelte Sophie Petzold den Kopf.

»Morbus Crohn ist nicht heilbar. Aber wenn alles gut geht, hast du zumindest die Chance, dass es dir wesentlich besser geht. Dass du auch weiterhin dein Hobby ausüben kannst.«

»Reiten ist viel mehr für mich als nur ein Hobby. Mein großer Traum ist es, gemeinsam mit meiner besten Freundin einen Stall zu eröffnen und Reitlehrerin zu werden. Den passenden Hof haben wir schon gefunden und den Pachtvertrag unterschrieben. Diesen Plan gebe ich nicht so einfach auf. Das habe ich Carina versprochen«, versicherte Bettina leidenschaftlich. Auf ihren Wangen zeigten sich ­hektische rote Flecken. »Ich will diese Methode ausprobieren. Unbedingt …«

Sophie Petzold zögerte.

»Die Sache hat nur einen Haken«, kam sie nicht umhin zu gestehen. »Bei diesen Eingriffen kann es unter Umständen zu Komplikationen geben, die einen künstlichen Darmausgang zur Folge haben können.« Dieses Geständnis fiel ihr nicht leicht, und sie rettete sich in eine berufliche Distanz.

Es war Bettina anzusehen, wie wenig ihr diese Vorstellung gefiel.

»Dann wäre mein Traum ein für alle Mal ausgeträumt.«

Dieser Feststellung hatte die Assistenzärztin nichts entgegenzusetzen.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden. Denke in Ruhe darüber nach«, erwiderte Sophie, während sie den Fluss der Infusion regulierte.

Bettina sah ihr dabei zu.

»Habe ich denn eine Wahl?«, fragte sie bitter. »Wenn ich es nicht versuche, kann ich meine Pläne gleich an den Nagel hängen. Mit den Operationen habe ich wenigstens noch eine Chance.« Sie musterte Sophie nachdenklich. »Es gibt nur ein Problem. Ralf …, er hätte kein Verständnis dafür, dass ich bereit bin, so ein Risiko einzugehen.«

Sophie zog eine Augenbraue hoch.

»Es ist dein Leben, oder etwa nicht?«, fragte sie streng.

»Doch, schon. Aber weißt du, sein Vater ist bei einer komplizierten OP gestorben. Das war ein ziemlicher Schock für ihn.«

»Eine Operation birgt immer ein Risiko. Das vergessen die meisten Menschen leider allzu gern«, erklärte die Assistenzärztin nüchtern.

»Mag sein. Aber jetzt hat Ralf nur noch mich. Deshalb hat er auch so große Angst.«

Sophie Petzold klemmte sich die Mappe unter den Arm und steckte die Hände in die Kitteltaschen. Bettinas Bedenken erinnerten sie an ihren Chef. Nicht auszudenken, was er zu ihrem Vorstoß sagen würde. Fast wünschte sie sich, sie wäre nicht so vorgeprescht. »Das ist eine Sache zwischen dir und deinem Mann. Ich kann dir die Eingriffe anbieten. Mit Ralf musst du selbst sprechen.«

»Ich weiß.« Bettina seufzte tief. Doch plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Du hast recht, es ist mein Leben. Ich mache es auf jeden Fall.«

»Also gut. Dann spreche ich mit den Kollegen.« Obwohl sie ihr Ziel erreicht hatte, fühlte sich Sophie nicht wohl in ihrer Haut. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Noch etwas. Sprich bitte mit keinem anderen Arzt darüber, bis ich alles geklärt habe. Wie schon gesagt, ist die Methode recht neu. Ich muss das erst mit Dr. Norden diskutieren.«

Bettina nickte lächelnd.

»Dann haben wir ja beide eine Aufgabe«, murmelte sie, ehe sie die Augen schloss und von einer Zukunft mit ihren geliebten Pferden träumte.

*

»Hallo, Andrea.« Mit einem verlegenen Lächeln begrüßt Felicitas Norden die Assistentin ihres Mannes, die am Schreibtisch saß und Briefe schrieb. »Ist der Chef da?«

Andrea Sander schaltete das Diktiergerät aus und lächelte die Kinderärztin an.

»Der Sparfuchs ist gerade bei ihm«, verriet sie hinter vorgehaltener Hand. »Soll ich etwas ausrichten?«

»Ach, ich weiß ja auch nicht.« Zögernd kam Fee näher und strich mit dem Zeigefinger über die Schreibtischkante. »Wahrscheinlich kann Dan mir auch nicht helfen. Diese Suppe werde ich wohl selbst auslöffeln müssen.«

»Hast du einem jugendlichen Verehrer versprochen, mit ihm auszugehen?«

»Viel schlimmer.« Lachend winkte Fee ab. »In einem Anfall von Leichtsinn habe ich Lammers versprochen, jemanden zu organisieren, der ihm den Schreibkram abnimmt.«

Es fiel Andrea Sander nicht weiter schwer, das Problem an diesem Versprechen zu erraten.

»Und nun findest du niemanden, der diese ehrenvolle Aufgabe zusätzlich übernehmen kann.«

»Stimmt auffallend. Der Verwaltungsdirektor wird kaum Geld für meinen Übermut locker machen.« Felicitas sah sie fragend an. »Hast du eine Idee, wie ich aus diesem Schlamassel herauskomme?«

»Wie wäre es mit einem Praktikanten?«, wagte Andrea einen Vorschlag.

Tadelnd wackelte Felicitas mit dem Zeigefinger vor Andrea Sanders Nase herum.

»Sieh mal einer an. Du gehörst also auch zur Riege der Ausbeuter, die in einem Praktikanten nur eine billige Arbeitskraft sehen.«

Ungerührt zuckte Andrea mit den Schultern.

»Wie heißt es so schön: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Mal abgesehen davon soll der Praktikant ja keine Kochrezepte abschreiben, sondern sich mit medizinischen Inhalten beschäftigen. Ich denke schon, dass ich das verantworten könnte.«

Seufzend ließ Fee die Schultern hängen.

»Dann bin ich wohl allein auf weiter Flur mit meiner Überzeugung, dass ein Praktikant bei mir möglichst viel über den Alltag lernen soll, der ihn dereinst erwartet, statt den Kollegen Arbeit abzunehmen.«

Andrea Sander konnte nicht anders, als leise zu lachen.

»Was ist? Warum lachst du mich aus?«, fragte Fee gereizt.

Immer noch lachend schüttelte die Chefsekretärin den Kopf.

»Ich lache dich nicht aus, sondern an. Außerdem bewundere ich euren Idealismus. Der Chef und du, ihr stammt unverkennbar aus einer Familie. Das ist wunderbar.« Sie stand auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte Fee herzlich. »Lass mich nur machen«, raunte sie ihrer Freundin ins Ohr. »Ich melde mich bei dir.«

Überrascht drückte Fee sie an sich, fragte aber nicht weiter nach. Dieter Fuchs’ dröhnende Stimme hallte bis ins Vorzimmer. Und plötzlich hatte sie eine Ahnung, was Andrea Sander vorhatte. Ein wissendes Lächeln auf den Lippen verabschiedete sie sich und machte sich auf den Rückweg in ihre Abteilung. Dort wartete jede Menge Arbeit auf sie.

Felicitas Norden suchte und fand ihren Praktikanten Johannes Sondermann in einem der Aufenthaltsräume, wo er neben Dr. May am Modell eines Torsos stand.

»Über einen Hautschnitt …, ungefähr hier«, er deutete auf den rechten Unterbauch des Modells, »werden die Arbeitsinstrumente in die Bauchhöhle eingeführt.«

»Moment! Romy springt dich trotz Narkose an, wenn du die Instrumente direkt in ihren Bauch schiebst«, warnte Carola ihren Schützling.

Sofort wurden seine Wangen flammend rot.

»Natürlich werden die Instrumente durch Führungshülsen eingeführt«, korrigierte er sich.

Dr. May zwinkerte Felicitas zufrieden zu.

»Na bitte, geht doch. Und was tun Sie dann?«

Johannes war so konzentriert, dass er die Chefin der Pädiatrie nicht bemerkte.

»Wenn ich den Wurmfortsatz erreicht habe, verkoche ich die Gefäße elektrisch und unterbinde sie mit einem Faden. Anschließend lege ich eine Schlinge um den Appendix, ziehe fest zu und entferne ihn über die Führungshülse.«

»Perfekt!« Fee klatschte Beifall, und Johannes fuhr erschrocken zu ihr herum.

»Wirklich?«, fragte er und wurde wenn möglich noch verlegener.

»So perfekt, dass du später Romy operieren wirst. Die Kollegin May wird dir assistieren.«

»Aber …, aber …« Johannes schnappte nach Luft. »Das geht doch nicht. Ich kann doch nicht …« Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, als er das lustige Funkeln in Fees Augen bemerkte.

»Keine Angst. Das war ein Spaß. Dr. May leitet den Eingriff und du wirst ihr dabei zusehen«, versicherte sie, als sie ein leises Husten hörte.

Sie drehte sich um und lächelte Elias an, der im Jogginganzug in der Tür stand.

»Hallo, du Fußballstar, was kann ich für dich tun?«

»Ich hab Bauchweh. Ganz schlimm.« Wie zum Beweis presste er die Hand auf den Bauch.

Carola May lächelte.

»Mit der Ausrede wollte ich mich früher auch immer drücken«, raunte sie Johannes zu. »Zum letzten Mal vor meiner ersten OP.« Sie zwinkerte ihm zu.

Nur Felcitias lächelte diesmal nicht. Sie nahm die Behauptung ihres kleinen Patienten ernst.

»Ich sehe mir das mal an. Komm!« Sie legte die Hand auf Elias’ Schulter und brachte ihn in ein Behandlungszimmer. »Seit wann hast du denn diese Schmerzen?«, erkundigte sie sich und begann, seinen Bauch abzutasten.

»Seit gestern Abend.«

»Okay.« Fee drückte in die linke Seite. »Tut es hier weh?«

»Ja, ganz schlimm.«

»Und hier?« Sie drückte in die andere Seite.

Elias krümmte sich zusammen.

»Da ist es noch viel schlimmer«, stöhnte er filmreif.

Allmählich machte sich Felicitas ernsthafte Sorgen.

»Gut. Wenn das so ist, muss ich dir noch einmal Blut abnehmen. Wenn du wirklich eine Blinddarmentzündung hast, müssten die Entzündungswerte in deinem Blut deutlich erhöht sein«, erklärte sie, während sie eine Manschette um seinen Oberarm legte. »Vorsicht, jetzt piekst es ein bisschen.« Sie sah dabei zu, wie sich Röhrchen um Röhrchen mit Blut füllte. »So, das war es schon.« Fee stand auf und brachte die Nierenschale mit den Röhrchen zu einem Tisch, wo sie sie mit einem Aufkleber versah. »Wenn das tatsächlich der Fall ist, müssen wie die Operation an deinem Fuß natürlich absagen.«

Doch was war das? Sie ahnte den unterdrückten Freudenschrei mehr, als dass sie ihn hörte. Fee zögerte kurz, ehe sie sich mit betont ernster Miene zu ihrem Schützling umdrehte.

»Bevor ich die Proben ins Labor gebe, möchte ich noch einen allerletzten Test machen«, erklärte sie.

Elias nickte ergeben, als sie wieder an die Liege trat. »Weißt du, bei einer akuten Blinddarmentzündung ist man nicht mehr kitzlig.« Im selben Augenblick beugte sie sich über ihn und kitzelte ihn an den Seiten.

Elias strampelte und bog sich vor Lachen. Lachtränen rannen ihm übers Gesicht.

»Aufhören, bitte, bitte aufhören!«, flehte er japsend um Gnade.

Lächelnd kam Fee seiner Bitte nach. Sie steckte die Hände in die Kitteltaschen und musterte ihn forschend.

»Der Test hat eindeutig bewiesen, dass du keine Blinddarmentzündung hast.«

Schlagartig verging Elias das Lachen. Verlegen wich er ihrem Blick aus. Er presste die Lippen aufeinander und starrte ein Loch in die Luft.

»Kann es sein, dass du Angst vor der Operation morgen hast?«, fragte sie sanft.

Noch immer wagte der Junge nicht, sie anzusehen. Er nickte verhalten.

Fee dachte kurz nach.

»Soll ich dir noch einmal erklären, was bei der Operation genau passiert?«, bot sie an. Wie auch ihr Mann setzte sie bei ihren Patienten auf umfassende Aufklärung. Ihrer Erfahrung nach war das das Beste Mittel, um Ängste in den Griff zu bekommen.

Elias schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich schon alles.«

Fee überlegte weiter. Plötzlich hatte sie die rettende Idee.

»Hier in der Klinik liegt ein Mädchen. Sie heißt Romy und wird in einer Stunde am Blinddarm operiert. Sie hat überhaupt keine Angst. Willst du kurz mit ihr sprechen?«

»Au ja, das wäre total cool«, stimmte Elias kurz entschlossen zu.

Fee lächelte erleichtert.

»Gut. Dann besorge ich dir einen Rollstuhl, und wir fahren zu ihr. Warte kurz.« Zufrieden mit dieser Idee verließ sie das Zimmer.

Doch als sie fünf Minuten später mit einem Rollstuhl zurückkehrte, war die Untersuchungsliege leer.

*

»Lassen Sie mich durch! Ich muss sofort mit dem Chef sprechen!«

»Aber das geht jetzt nicht. Dr. Norden befindet sich in einer wichtigen Telefonkonferenz.«

»Das ist mir egal.«

Daniel saß am Schreibtisch und versuchte, sich auf seine Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zu konzentrieren. Doch der Streit nebenan lenkte ihn zu sehr ab.

Er entschuldigte sich bei den amerikanischen Kollegen, beendete das Gespräch und stürmte zur Tür.

»Darf ich erfahren, was hier los ist?«, fragte er ungehalten. »Ich habe mein eigenes Wort am Telefon nicht mehr verstanden.«

Andrea Sander musterte ihn verlegen.

»Es tut mir leid, Chef.«

Ralf Lücke dagegen zögerte nicht. Er stürmte auf Daniel zu.

»Na endlich! Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Und zwar sofort.«

Andrea verstand den stummen Blick ihres Chefs sofort.

»Das ist Herr Lücke. Seine Frau wurde gestern mit Morbus Crohn hier eingeliefert.«

Daniel hatte sofort das Bild der unglücklichen jungen Frau vor Augen. Trotzdem schätzte er solche Überfälle nicht.

»Für diese Fälle gibt es meine Sprechstunden für die Angehörigen.« Er teilte dem Ehemann die Termine mit.

Doch Ralf dachte nicht daran, sich vertrösten oder gar wegschicken zu lassen.

»Ich kann nicht warten. Meine Frau will sich so schnell wie möglich operieren lassen. Wie kommen Sie überhaupt dazu, Bettina so einen Eingriff vorzuschlagen?«

Dieser Vorwurf machte Daniel Norden hellhörig. Eine Ahnung durchzuckte ihn.

»Also gut. Unterhalten wir uns in Ruhe darüber. Bitte kommen Sie herein.« Er ließ Ralf eintreten. Ehe er die Tür schloss, wandte er sich noch einmal an Andrea. »Und Sie finden bitte heraus, wo unsere Assistenzärztin Sophie Petzold steckt. Sie soll sofort hierher kommen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, schloss er die Tür.

»Von welchem Eingriff haben Sie gerade gesprochen?«, wandte er sich an den besorgten Ehemann, der im Zimmer auf und ab wanderte.

»Tun Sie doch nicht so scheinheilig!« Empört fuhr Ralf zum Klinikchef herum. Den angebotenen Platz hatte er ausgeschlagen. Er war zu aufgebracht zum Sitzen. »Bettina hat mir alles erzählt. Das ist doch Wahnsinn, was Sie da vorhaben! Wie können Sie ihr eine Methode empfehlen, die in Deutschland noch gar nicht etabliert ist?«

Um Zeit zu gewinnen, trat Daniel ans Fenster. Auf dem Kinderspielplatz unter ihm herrschte gähnende Leere. Was für ein deprimierender Anblick! Er drehte sich wieder um.

»Es ist richtig, dass diese Methode in Deutschland noch nicht verbreitet ist. Aber ich habe gerade mit zwei amerikanischen Kollegen telefoniert, die solche Eingriffe an deutschen Kliniken mehrfach und erfolgreich durchgeführt haben«, redete er mit Engelszungen auf Ralf ein. »Ihre Frau ist sehr krank und braucht jetzt Ihre ganze Unterstützung. Falls sich Bettina für den Eingriff entscheidet, stehen uns die Kollegen mit Rat und Tat zur Seite.« Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen. Als er das Gefühl hatte, dass sich Ralf ein wenig beruhigte, fuhr er fort. »Bitte, Herr Lücke, ist es so schwer zu verstehen, dass sich Ihre Frau ein halbwegs normales Leben wünscht?«

»Das hat mein Vater auch getan. Und trotz der Versprechen Ihrer Kollegen ist er gestorben.« Plötzlich schwamm Ralfs Stimme in Tränen. »Ich habe niemanden mehr außer Bettina. Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dieses wahnsinnige Vorhaben zu unterbinden.« Er fuhr herum und stürmte aus dem Zimmer, vorbei an Andrea Sander und an Sophie Petzold, die mit angehaltenem Atem vor der Tür gewartet hatte.

*

»Wenn Sie so gut basteln können wie backen, wird das wohl nichts mit der Karriere als Kindergärtnerin«, bemerkte Dr. Lammers und legte den angebissenen Muffin zurück auf den Teller.

»Nachdem Sie so einen schlechten Geschmack haben, wundert es mich nicht, dass Sie hier keine Freunde finden«, konterte Schwester Elena, als Fee ins Zimmer stürmte.

»Habt ihr einen kleinen Jungen gesehen? Sieben Jahre alt, braune Haare, blaue Augen. Etwa so groß.« Sie hielt die Hand an die Seite.

»Sagen Sie bloß, Ihnen ist der kleine Hosenscheißer abhanden gekommen?«, feixte Volker Lammers.

»Vielen Dank für den hilfreichen Kommentar. Also, was ist?«, hakte Fee nach.

Sofort stand Elena vom Stuhl auf.

»Ich helfe dir suchen.«

»Ich nicht, tut mir leid. Ich bin doch nicht blöd und laufe meiner Arbeit auch noch nach.« Volker Lammers sah den beiden Frauen nach. Als er sich allein wähnte, griff er wieder nach dem Muffin. »Umso besser, wenn ich den Bengel morgen nicht operieren muss.«

Elena steckte den Kopf noch einmal zur Tür herein. Sie sah gerade noch, wie er den kleinen Kuchen blitzschnell hinter dem Rücken verschwinden ließ.

»Sieh mal einer an! Sind meine Backkünste doch nicht so miserabel, was?« Sie lächelte herablassend. »Ich würde übrigens auch Fersengeld geben, wenn ich wüsste, dass Sie mich operieren sollen.« Sie lächelte engelsgleich, ehe sie endgültig verschwand, um Felicitas auf ihrer Suche zu helfen.

»Hast du eine Vorstellung davon, wo er hingelaufen sein könnte?«, fragte sie, während sie mit Fee den Flur hinunter eilte.

»Keine Ahnung. Zuerst dachte ich, dass er mit dem Spitzfuß nicht so schnell ist. Aber offenbar legt er ein ordentliches Tempo an den Tag.« Am Ende des Gangs blieben die beiden Frauen stehen.

»Ich nehme den Spielplatz und den Kiosk«, erklärte Elena und machte sich auf den Weg.

Im Laufschritt eilte sie davon und schlitterte um die nächste Ecke.

Der Pfleger Jakob, der einen Essenswagen vor sich herschob, hatte keine Chance. Ehe er auch nur den Mund zu einer Warnung öffnen konnte, stieß Elena ungebremst mit dem Wagen zusammen. Das Gefährt krachte Jakob in die Beine. Ein beißender Schmerz durchzuckte sein Knie. Er schrie auf.

Elena dagegen hatte Glück. Ihr gelang es im letzten Moment, sich mit den Händen am Wagen abzustützen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Jakob zu Boden ging.

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so unglaublich leid«, wiederholte sie wie ein Mantra und kniete sich neben ihn.

»Angesichts des Pflegenotstands sollten Sie etwas pfleglicher mit Ihrem Personal umgehen«, ächzte Jakob und umklammerte mit beiden Händen sein Knie. »Steht davon nichts in Ihren Büchern?«

»Um das zu wissen, brauche ich kein Buch«, erwiderte Elena und half Jakob, zur Wand zu rutschen und sich dort anzulehnen. »Ist es sehr schlimm?«

»Das wird Dr. Weigand sicher gleich feststellen.« Jakob schielte hinüber zu dem Notarzt, der zufällig des Weges kam. »Zum Glück sitze ich hier an der Quelle.«

Erleichtert atmete Elena auf.

»Was ist denn hier passiert?« Matthias blieb an der Unglücksstelle stehen.

»Schwester Elena will Ihre Kenntnisse auf den Prüfstand stellen.«

»Stimmt das?« Matthias musterte seine Kollegin kritisch.

»Nein, natürlich nicht. Ich war auf der Suche nach Lammers’ Patient und habe dabei Jakob übersehen.«

»Das ist in der Tat eine reife Leistung.« Matthias’ Blick ruhte auf dem großgewachsenen Pfleger. »Im Übrigen habe ich Fee vorhin in Begleitung eines jungen Mannes getroffen«, fuhr er fort, während er Jakobs Knie in Augenschein nahm. »Das sieht nach zwei Wochen Urlaub aus.«

Jakob verdrehte die Augen.

»Bitte nicht. Meine Wohnung wird gerade renoviert. Ich bin froh über jede Minute, die ich in der Klinik verbringen kann.«

»Eines ist sicher«, erwiderte Dr. Weigand, während er dem Pfleger aufhalf. »Arbeiten können Sie mit diesem Knie nicht. Aber darüber unterhalten wir uns später. Jetzt geht’s erst einmal in die Radiologie. Geht das, wenn ich Sie stütze?«

Jakob überragte den Arzt um einen ganzen Kopf. Er legte den Arm um Matthias’ Schultern und hüpfte auf einem Bein davon. Elena sah den beiden Männern nach. Wäre der Anlass nicht so traurig gewesen, hätte das Bild durchaus Grund zum Lachen geboten.

*

Nachdem Felicitas Norden ihren Schützling bei Romy gefunden hatte, brachte sie ihn in den Klinik-Kiosk, um ihn dort auf eine Tasse heiße Schokolade einzuladen.

»Warum hast du denn nicht auf mich gewartet? Ich hätte dich doch begleitet?«

»Ich habe gedacht, das ist eine Falle«, gestand Elias mit gesenktem Kopf. »Ich will nicht, dass dieser Fiesling an mir herumschnippelt.« Trotzig warf er den Kopf in den Nacken.

Felicitas konnte ihn zu gut verstehen. Sie kannte genügend Erwachsene, die ihre liebe Not mit Volker Lammers hatten. Was mochte da erst in einem Kind vorgehen?

»Kannst du mir sagen, wovor genau du Angst hast?«

Elias löffelte einen Klecks der extradicken Sahnehaube vom Kakao, den Lenni ihm serviert hatte, und schob ihn in den Mund.

»Davor, dass er mich nicht mehr aufwachen lässt. Der mag mich nämlich nicht.«

Insgeheim atmete Fee auf.

»Wenn das so ist, kann ich dich beruhigen. Dr. Lammers ist nämlich nicht für die Narkose verantwortlich. Einschlafen lässt dich unsere Frau Dr. Räther. Das ist eine sehr nette Frau, die selbst drei Kinder hat.«

Elias schickte ihr einen schiefen Blick.

»Echt?«

»Ganz echt. Du hättest sie heute Abend sowieso kennengelernt. Aber wenn du willst, können wir auch gleich zu ihr gehen.«

Dieses Angebot ließ sich Elias kurz durch den Kopf gehen. Zu Fees großer Erleichterung nickte er schließlich.

»Aber zuerst will ich noch meine heiße Schokolade austrinken.«

»Dann hast du also keine Bauchschmerzen mehr?«, fragte Fee zwinkernd, ehe sie gemeinsam mit Elias loslachte.

*

Als Dr. Daniel Norden sicher sein konnte, dass Ralf Lücke weit genug entfernt war, gab es kein Halten mehr. Endlich konnte er seinen wahren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen.

»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«, herrschte er die Assistenzärztin Sophie Petzold an. »Wissen Sie, was Sie diesem Ehepaar damit antun?«

Doch statt sich einschüchtern zu lassen, warf die junge Ärztin den Kopf in den Nacken und verschränkte ihre Arme vor dem Oberkörper.

»Sind Sie so stolz darauf, was Sie für Bettina tun?«, fragte sie trotzig zurück.

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass dieses Verhalten Konsequenzen haben wird.«

»Ach ja? Weil Sie auf den altmodischen Verfahren bestehen, während ich versuche, neue Wege zu gehen? Deshalb wollen Sie mich feuern? Damit bekommen Sie vor keinem Arbeitsgericht der Welt Recht.«

Daniel war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Nicht deswegen, nein! Sondern weil Sie hinter meinem Rücken agieren, statt mich mit Argumenten zu überzeugen.«

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, beharrte Sophie. »Wollen Sie Bettina zusehen, wie sie leidet? Ich jedenfalls nicht. Ich will ihr helfen.«

»Stellen Sie sich vor, das will ich auch. Deshalb habe ich mich heute mit den amerikanischen Kollegen unterhalten.«

Sophie Petzold schnappte nach Luft. Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Im Ernst?«

»Im Ernst.« Mit auf dem Rücken verschränkten Händen wanderte Daniel Norden im Zimmer auf und ab. »Wenn Frau Lücke immer noch einverstanden ist, bekommt sie die Behandlung, die Sie ihr vorgeschlagen haben.«

Triumphierend stieß Sophie die Faust in die Luft. Doch ihre Freude währte nicht lange. Daniel bleib vor ihr stehen und musterte sie mit strengem Blick.

»Sie sind mit sofortiger Wirkung von dem Fall entbunden. Ohne die Anleitung eines Oberarztes werden Sie keine Hand mehr an die Patientin legen. Ich habe bereits mit Dr. Weigand gesprochen.« Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Sie haben Glück, dass ich Ihnen nicht fristlos kündige, wie ich es eigentlich müsste. Im Grunde genommen gefallen mir engagierte, frische, leidenschaftliche Kollegen.« Während er sprach, wurde sein Ton wieder strenger. »Was mir allerdings überhaupt nicht gefällt, sind eigenmächtige Entscheidungen und Ignoranz. Wir arbeiten hier als Team. Entweder, Sie halten sich in Zukunft daran. Oder unsere Wege trennen sich.« Er sah Sophie fest in die Augen. »Haben wir uns verstanden?«

Die Assistenzärztin hatte alle Mühe, dem Blick standzuhalten. Doch klein beigeben war nicht ihre Sache. Sie nickte tapfer, ehe sie sich abwandte und das Zimmer hoch erhobenen Hauptes und ohne ein weiteres Wort verließ.

*

Der Streit mit ihrem Mann hatte Bettina Lücke viel Kraft gekostet. Nachdem Ralf das Zimmer verlassen hatte, war sie in einen erschöpften Schlummer gefallen, sodass sie den Besucher nicht bemerkte, der an ihr Bett trat. Erst als sie ein leises Husten hörte, kehrte sie aus wirren Träumen zurück und blinzelte ins helle Tageslicht. Einen Moment lang befürchtete sie, dass Ralf zurückgekehrt war. Umso größer war die Freude, als sie erkannte, wer sie besuchen kam.

»Carina, was machst du denn hier?«

»Ich muss doch mal nach dem Rechten sehen, was nicht so einfach ist.« Carina beugte sich hinab und küsste ihre beste Freundin auf die Wange. »Sie haben dich ganz gut versteckt hier.«

Schuldbewusst sah sich Bettina um.

»Ich hatte heute Nacht einen Schub. Deshalb war es sicherer, mich auf die Intensivstation zu bringen.«

»Mir ist alles recht, wenn sie dich nur wieder hinkriegen.« Carina hielt einen Prospekt in Händen, den sie Bettina reichte. »Ich habe mir schon mal Gedanken über unsere Werbung gemacht. Hast du Zeit, einen Blick auf den Flyer zu werfen?« Sie zögerte. »Oder hast du es dir inzwischen anders überlegt? Wegen deiner Krankheit?«

»Ganz im Gegenteil.« Mit leuchtenden Augen betrachtete Bettina die bunten Bilder. »Da kann Ralf so viel mit mir streiten, wie er will. Ich will meinen, unseren Traum nicht aufgeben. Deshalb werde ich mich operierenl assen.«

Carina atmete erleichtert auf.

»Du bist sehr mutig.«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Bettina den Kopf.

»Ganz und gar nicht. Ich will einfach ein lebenswertes Leben führen. Das ist alles.«

Carina nahm die Tasche von der Schulter und zog ihre Jacke aus. Sie ging hinüber zu einem Stuhl in der Ecke, um beides dort abzulegen. Als sie zurückkehrte, wirkte sie sehr ernst.

»Warum hast du mir nie erzählt, wie schlimm es wirklich ist mit deiner Krankheit?«

Bettina lächelte matt. Der Bauch tat ihr weg, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen.

»Damit du unsere Pläne begräbst? Oder dir gleich eine andere Partnerin suchst?«

Carina schnaubte.

»Nein, du Dummerchen. Damit ich weiß, was mit dir los ist. Damit ich dir helfen und dich unterstützen kann.«

Betroffen sah Bettina zur Seite.

»Na schön«, entschloss sie sich, endlich die ganze Wahrheit über ihr Leid zu sagen. »In letzter Zeit habe ich oft Bauchschmerzen. Ich habe kaum Appetit und bin immer müde. Wenn es ganz schlimm ist, brauche ich ein privates WC. Am besten im Erdgeschoss, weil ich sonst die Treppe hoch hechle wie eine alte Frau. Das ist kein schöner Anblick, kann ich dir sagen.«

»Kein Problem.« Carina kehrte zur Tasche zurück und kam mit einem Papier wieder. Sie breitete es auf der Bettdecke aus. »Dann wird das hier eben nicht die Futterkammer, sondern deine eigene Toilette. Direkt neben deinem Büro.«

Bettina war zu Tränen gerührt. Sie lachte und weinte gleichzeitig und streckte die Arme aus, um Carina zu umarmen.

»Du bist wirklich die beste Freundin der Welt«, murmelte sie in ihre Bluse. »Ich wünschte, Ralf wäre ein bisschen wie du.«

Sanft löste sich Carina aus der Umarmung.

»Was soll das heißen?«

Bettinas Augen füllten sich mit Tränen.

»Wenn ich mich operieren lasse, will er mich nicht mehr sehen«, schluchzte sie auf.

Carina konnte es nicht glauben.

»Ich hatte ihn ja mal für einen netten Kerl gehalten. Aber wenn er das tut …« Den Rest des Satzes sprach sie nicht laut aus. Das war auch nicht nötig. Ihre geballte Faust sagte alles.

*

»Ich gehe das Verfahren noch einmal detailliert mit den Kollegen durch«, versprach Dr. Norden und beendete das Telefonat, das er unterwegs geführt hatte. Er schob das Mobiltelefon in die Kitteltasche, als ihm der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs den Weg vertrat.

»Haben Sie einen Moment?«

»Alle Achtung! Heute haben Sie ja einen regelrechten Narren an mir gefressen.« Daniel lächelte amüsiert.

»Machen Sie keine Witze, Norden!«, wies Dieter Fuchs ihn zurecht.

Diese Bemerkung war ihm schon deshalb peinlich, weil er unlängst versucht hatte, den neuen Klinikchef auf elegante Art und Weise loszuwerden. Der Plan war kläglich gescheitert, woraufhin Fuchs beschlossen hatte, aus der Not eine Tugend zu machen und sich mit dem Klinikchef gut zu stellen. Sehr zum Ärger seines Verbündeten Volker Lammers. Doch das kümmerte Dieter Fuchs nicht. Das gute Ansehen der Klinik und entsprechende Zahlen, etwas anderes interessierte den Verwaltungschef nicht.

»Es geht um die Bitte von Frau Sander, eine Sekretärin für die Pädiatrie einzustellen.«

Daniel unterdrückte ein Seufzen. Er hatte wirklich Wichtigeres zu tun. Zumindest im Augenblick. Doch er hatte auch schon eine Idee, wie er sich elegant aus der Affäre ziehen konnte.

»Das ist wirklich eine äußerst prekäre Angelegenheit, die wir in aller Ruhe diskutieren müssen.«

»Ich freue mich, dass Sie das ebenso …« Als Dr. Norden ihn sanft am Arm fasste und mit sich führte, hielt er inne.

»Das tue ich«, fuhr Daniel fort. »Im Augenblick habe ich aber eine Sache, die Sie noch viel mehr interessieren dürfte.«

Der vertrauliche Tonfall gefiel Dieter Fuchs.

»Ach ja?«

»An dieser Klinik wird gerade ein außerordentlicher Eingriff geplant. Es geht um die Krankheit Morbus Crohn. Wir wollen sozusagen Pionierarbeit leisten. Die OP-Besprechung beginnt in wenigen Minuten. Ich finde, Sie sollten diesem Ereignis unbedingt beiwohnen.«

»Das sehe ich genauso.« Der Verwaltungschef sah auf die Uhr. »In Zukunft wünsche ich allerdings, früher über solche Ereignisse informiert zu werden.«

»Das war leider nicht möglich. Die Patientin hat sich erst kurzfristig dazu entschlossen.«

»Ach so, na ja, in diesem Fall komme ich natürlich mit.«

Auf dem Weg in den Besprechungsraum unterdrückte Daniel Norden das Lächeln, das um seine Lippen spielte. Er freute sich diebisch über das gelungene Ablenkungsmanöver und hielt Fuchs die Tür auf.

Die Kollegen hatten sich bereits versammelt, allen voran Dr. Weigand und der Anästhesist Arnold Klaiber. Der Klinikchef begrüßte die Anwesenden, bedankte sich für das Erscheinen und erläuterte mit Hilfe einer Power-Point-Präsentation die Umstände des Falls. Obwohl er sehnsüchtig darauf wartete, den Chef unter vier Augen zu sprechen, hörte Matthias Weigand aufmerksam zu.

»Wie willst du vorgehen?«, fragte er, als die Sprache auf die Operationsmethode kam.

»Ich hatte an die Salamitechnik gedacht.« Daniel warf ein neues Bild an die Wand. »Das heißt, dass erkrankte Bereiche des Darms äußerst sparsam entfernt werden.«

Der Gastroenterologe Dr. Ringelstetter konzentrierte sich auf die Aufnahmen.

»Wenn das gelingt, dann müsste kein künstlicher Darmausgang gelegt werden.«

»Falls doch, dann nur vorübergehend.«

Dieter Fuchs lehnte sich zurück und nickte zufrieden.

»Wenn Ihr Plan aufgeht, wäre das ein Hauptgewinn für unsere Klinik. Die Patienten würden aus ganz Deutschland anreisen, um sich hier behandeln zu lassen.« Wie immer dachte er nur ans Geschäft.

Hinter seinem Rücken verdrehte Matthias Weigand die Augen.

»Wir sollten zunächst den Operationsverlauf abwarten«, mahnte auch Daniel Norden zur Zurückhaltung. »Die Krankheit ist nach wie vor unheilbar und der Eingriff kompliziert. Es kann jede Menge schief gehen.«

»Papperlapapp.« Mit einer Geste wischte Dieter Fuchs diese Bedenken beiseite. »Wenn es um Ihre Arbeit geht, sind Sie der größte Tiefstapler, der mir je untergekommen ist.« Der Verwaltungsdirektor hatte genug gehört. Es drängte ihn, die neue Methode sofort in die Kalkulation und in den Leistungskatalog aufzunehmen. Er stand auf und klopfte Dr. Norden kameradschaftlich auf die Schulter. »Sie werden Erfolg haben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Halten Sie mich auf dem Laufenden!« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Falls das Ihren Ehrgeiz anstachelt: Unter diesen Umständen können wir natürlich auch über eine Schreibkraft für die Pädiatrie reden.«

Ungläubig sah Daniel ihm nach, wie er durch die Tür verschwand.

»Hat man da noch Worte«, seufzte er, ehe er kopfschüttelnd an seinen Platz zurückkehrte, um mit den Kollegen die schwierigen Details zu besprechen.

*

»Tun Sie mir einen Gefallen, Lammers, und gehen Sie erst rein, wenn Elias schläft«, bat Felicitas Norden im Vorraum zum OP.

»Seit wann können Sie Gedanken lesen?«, fragte er zurück und ließ sich von einer Schwester die OP-Haube im Nacken verknoten.

Sie verzichtete auf eine Antwort, wünschte ihm viel Glück und betrat den OP, um kurz nach ihrem Schützling zu sehen.

»Vergessen Sie meine Sekretärin nicht!«, rief Volker ihr nach, ehe er den Mundschutz anlegte.

Elias lag auf der Liege und wartete auf den Eingriff. Die Anästhesistin Ramona Räther war bei ihm.

»Dr. Lammers kommt erst, wenn du schon schläfst. Und er ist ganz sicher wieder weg, wenn du aufwachst«, versprach sie.

»Wenn ich überhaupt wieder aufwache«, brummte der Junge missmutig.

»Aber, aber …« Tadelnd schüttelte Ramona den Kopf. »Zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?«

Elias senkte den Blick.

»Ich weiß nicht.«

Das war das Zeichen für Fee. Sie zog einen kleinen Teddybären aus der Tasche und zeigte ihn Elias.

»Weißt du, was das ist?«

»Ein Stoffbär.«

»Richtig. Aber das ist auch ein Glücksbringer. Den hat mir meine älteste Tochter Anneka geschenkt, als ich einmal sehr krank war. Ich dachte, dass ich nie mehr gesund werden würde. Es waren wirklich viele schwarze Tage voller Angst, in denen ich im Bett lag. Doch wann immer es mir richtig schlecht ging, habe ich den Bären in die Hand genommen. Sein weiches, kuscheliges Fell sollte mich an die Wärme und Liebe meiner Familie erinnern, die so sehnsüchtig zu Hause auf mich gewartet hat.«

»Hat es geklappt?«, fragte Elias neugierig.

»Sitze ich hier an deinem Bett?«, stellte Fee mit lachenden Augen eine Gegenfrage. »Und jetzt nimmst du Lui – so heißt der Bär – ganz fest in die Hand. Sein weiches Fell fühlt sich an wie die Hand deiner Mama, die dich streichelt.«

Folgsam griff Elias nach dem Plüschtier und hielt es fest.

Fee nickte Ramona Räther zu. Die verstand die stumme Aufforderung.

»Und jetzt erzählst du mir, was du als Allererstes machen möchtest, wenn du nach der Operation aufstehen darfst«, verlangte sie, während sie ein Narkosemittel in den Zugang auf seinem Handrücken spritzte.

»Zu allererst will ich in den Kiosk gehen und noch einmal so eine heiße Schoko … Schoko …, lade …« Mitten im Satz fielen Elias die Augen zu, und zufrieden verließ Fee den OP.

Ihre Arbeit an diesem Fall war beendet. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass auch Volker Lammers seine Arbeit ordentlich machte.

*

Nachdem sich Felicitas Norden von ihrem Schützling verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Andrea Sander. Noch immer lag ihr das Versprechen im Magen, das sie ihrem Stellvertreter gegeben hatte. Unterwegs kam sie an einem Behandlungszimmer vorbei.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schlecht mein Gewissen ist.«

Elenas Stimme wehte hinaus auf den Flur. Neugierig steckte Fee den Kopf durch die Tür und musterte Jakob, der auf einer Behandlungsliege lag. Sein linkes Knie war deutlich angeschwollen und leuchtete in den schönsten Farben.

»Autsch!«, entfuhr es ihr.

»Sieht schlimmer aus, als es ist«, winkte Jakob ab. »Nur eine Prellung.«

»Trotzdem dürfen Sie mindestens eine Woche lang nicht arbeiten«, erklärte Schwester Elena. Nach der Untersuchung durch Matthias hatte sie höchstpersönlich die Versorgung der Verletzung übernommen. »Und dass ich schuld daran bin, macht es nicht besser.«

»Gegen Ihr schlechtes Gewissen habe ich nichts«, erwiderte Jakob. »Dass ich aber nicht arbeiten darf, ist allerdings der unerfreuliche Teil der Geschichte.« Er sah hinüber zu Fee. »Ich hatte einen Wasserschaden in meiner Wohnung, der im Augenblick repariert wird. Außerdem bekomme ich nächste Woche neue Fenster. Sie können sich vorstellen, dass ich momentan überall lieber bin als auf meiner persönlichen Großbaustelle.«

»Sie können sich ins Schwesternzimmer setzen und für uns den Alleinunterhalter geben«, machte Elena einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag.

Doch Felicitas hatte einen anderen Vorschlag. Ihr erschien Jakob mit seinem lädierten Knie wie eine Rettungsinsel.

»Wenn Sie partout nicht zu Hause bleiben wollen, kann ich Ihnen ein Angebot machen.« Sie sah ihn forschend an. »Können Sie mit dem klinikeigenen Textverarbeitungsprogramm umgehen?«

»Ich beherrsche sogar das Zehn-Finger-System«, prahlte Jakob und streckte beide Händen in die Luft.

»In diesem Fall hätte ich einen Job für Sie. Allerdings werden Sie nicht begeistert sein.«

»Ich nehme alles, wenn ich nur kommen darf. Oder am besten gleich hierbleiben.«

»Kann ich das bitte schriftlich haben?«, scherzte Felicitas.

»Sie machen es aber spannend. Raus mit der Sprache! Was haben Sie vor?«

»Unser allseits geschätzter Kollege Lammers braucht dringend eine Assistentin, die ihm den Schreibkram abnimmt.« Felicitas rechnete mit einer deutlichen Absage. Umso überraschter war sie, als sie das Funkeln in Jakobs Augen bemerkte.

»Lammers braucht eine Sekretärin? Echt?«, fragte er aufgekratzt. »Die kann er haben. Gleich heute Nachmittag, wenn Sie wollen.«

Obwohl Fee ahnte, dass Jakob nichts Gutes im Schilde führte, sagte sie nichts. Stattdessen freute sie sich schon diebisch über Lammers’ Gesicht. Denn dass Jakob nicht die Schreibkraft war, die ihm vorschwebte, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

*

»Wir sehen uns dann in einer Stunde in OP 3«, beendete Daniel die Besprechung und verabschiedete sich von den Kollegen.

Er kehrte an den Schreibtisch zurück, als er Dr. Weigand bemerkte, der noch im Zimmer stand.

»Was kann ich für dich tun?«

Matthias zögerte, ehe er an den Schreibtisch trat.

»Dir ist es also ernst damit, Sophie Petzold den Fall zu entziehen?«

Daniel saß vor der geöffneten Unterschriftenmappe und gab vor, ein Schreiben zu studieren. In Wahrheit dachte er über die richtige Antwort nach. Schließlich legte er den Kugelschreiber beiseite und lehnte sich zurück. Sein verwunderter Blick ruhte auf seinem Freund und Kollegen.

»Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Schon.« Matthias machte eine Pause. »Aber dass Sophie noch nicht einmal bei der Operation dabei sein darf …«

»Ich habe den Eindruck, dass sie diesen Fall um jeden Preis gewinnen muss«, erwiderte Daniel kühl. »Bettina Lückes Wohlergehen interessiert sie dabei doch gar nicht. In Wahrheit geht es Frau Petzold um ihre Karriere. Zumindest ist das der Eindruck, den sie vermittelt.«

Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort.

»Ich sehe das anders«, widersprach Matthias endlich. »Sophie wollte Bettina helfen. Vielleicht auf die falsche Art …«

»Das klang aber vorhin ganz anders.« Daniel stand auf. »Sie hat sich über meine Anweisungen hinweg gesetzt. Der Patientin Hoffnungen gemacht. Wer weiß, was ihr als Nächstes eingefallen wäre.« Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Matthias sah ihm dabei zu.

»Aber diese neue Methode ist wirklich eine gute Idee von ihr. Das weißt du selbst, sonst würdest du es nicht versuchen.«

»Schon richtig.« Daniel blieb vor Matthias stehen und sah ihn an. »Das Problem ist nur, dass diese Tatsache genügt, dass Frau Petzold sich als Genie fühlt und uns anderen wie inkompetente Amateure behandelt. So ein überhebliches Benehmen kann ich einfach nicht durchgehen lassen. Wehret den Anfängen, wie es so schön heißt.«

Zu Daniels großer Überraschung lachte Matthias laut heraus.

»Weißt du eigentlich, dass ihr beiden euch im Grunde ziemlich ähnlich seid?«

»Wie bitte?« Empört schnappte Daniel Norden nach Luft. »Diese Überheblichkeit …«

»Natürlich hat sie sich schlecht verkauft«, unterbrach Weigand ihn. »Das meine ich auch gar nicht. Ich denke viel mehr an die Leidenschaft, mit der ihr beide nach Lösungen für eure Patienten sucht. Wer weiß, vielleicht bist du gegenüber deinen Lehrherren früher ähnlich selbstbewusst aufgetreten. Das vermag ich nicht zu beurteilen.«

»Ich war niemals so respektlos wie diese Frau Petzold.« Daniel hatte seinen Marsch wieder aufgenommen. Er wanderte durch das Zimmer hinüber zum Fenster. Ein Mädchen saß auf der Schaukel und schwang fröhlich auf und ab, bis es sich todesmutig und kreischend in die Arme seines Vaters stürzte. Dieser Anblick besänftigte Daniel. Ein feines Lächeln auf den Lippen drehte er sich um.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sag Frau Dr. Petzold Bescheid. Sie soll sich für den Eingriff fertig machen.«

Matthias nickte anerkennend.

»Du bist ein kluger Mann.«

»Ach was!« Daniel winkte ab. »Ich habe nur lästige Freunde und Ratgeber, die keine Ruhe geben, bis sie ihren Willen bekommen.« Er zwinkerte seinem Freund zu, ehe er zur Eile drängte.

Höchste Zeit, sich auf den schwierigen Eingriff vorzubereiten.

*

Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen saß Annabelle Werner am Bett ihres Sohnes. Elias hatte die Operation überstanden und war vor einer halben Stunde aus der Narkose aufgewacht.

»Jetzt kannst du nicht nur Feuerwehrmann oder Fußballer werden«, erklärte sie überglücklich. »Du kannst auch Bergsteigen gehen. Oder ganz einfach nur auf Bäume klettern …«

Die Tür öffnete sich, und sie hielt inne, um zu sehen, wer sich die Ehre gab.

»Und runterfallen. Das lässt du schön bleiben. Ich habe keine Lust, dich noch einmal zu operieren«, erklärte Dr. Lammers und trat ans Bett.

Sofort verfinsterte sich Elias’ Miene.

»Frau Dr. Fee hat mir versprochen, dass ich dich nicht mehr sehen muss.«

Annabelle erschrak. Sie schickte ihrem Sohn einen tadelnden Blick.

Ungerührt schlug Lammes die Decke zurück und prüfte, ob der Verband richtig saß und das Bein geschwollen war.

»Glaub mir, ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt«, erklärte er ernst. »Aber du bist nun einmal mein Patient, und ich muss mich um dich kümmern. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?«

Elias schüttelte den Kopf und starrte an ihm vorbei. Annabelle Werner wollte den Fauxpas ihres Sohnes wieder gut machen.

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Herr Dr. Lammers«, erklärte sie innig und in bester Absicht.

»Schon gut. Wenn Sie wirklich so begeistert sind von meiner Arbeit, können Sie sich gern erkenntlich zeigen. Eine Flasche Chateauneuf du Pape ist jederzeit willkommen.«

Angesichts dieser dreistigkeit blieb endlich auch Annabelle der Mund offen stehen.

Volker Lammers ignorierte ihren ungläubigen Blick und verabschiedete sich.

»Ich habe dir doch gesagt, dass er ein Ekel ist«, hörte er Elias noch sagen, ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

»Warum sind Kinder nur so unsäglich dumm?«, fragte er sich kopfschüttelnd.

Vollkommen zufrieden mit sich und seiner Leistung machte er sich auf den Weg in sein Büro. Er öffnete die Tür und stutzte.

»Hallo.« Sein ungläubiger Blick ruhte auf der attraktiven Frau, die an seinem Schreibtisch saß. Sie warf die langen, blonden Haare in den Nacken und lächelte ihn lasziv an. »Wer sind Sie und was haben Sie in meinem Büro verloren?«, fragte Volker viel freundlicher als beabsichtigt.

Die herbe Schönheit lächelte.

»Sie haben sich eine Sekretärin gewünscht? Hier bin ich!« Ihre Stimme war ungewöhnlich tief, was sie in Lammers’ Augen nur noch attraktiver machte.

Er räusperte sich und trat näher. Obwohl er seine Mitmenschen zutiefst verachtete, war auch Volker letztlich nur ein Mann und beileibe kein Kostverächter.

»Kaum zu glauben, dass in dieser Klinik etwas so schnell funktioniert«, erwiderte er. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau …« Er sah sie fragend an.

»Nennen Sie mich Jacky.« Sie klimperte mit ihren langen Wimpern, stand aber nicht auf. »Stets zu Ihren Diensten.«

»Das gefällt mir.« Lammers leckte sich über die Lippen und kam um den Schreibtisch herum. Er blieb neben Jacky stehen und beugte sich hinunter. Plötzlich stutzte er. »Moment mal.« Es lag nicht an der Verkleidung des Pflegers, dass er den Schwindel durchschaute. Mit perfektem Makeup, einer Echthaarperücke und schlanken, langen Beinen in Leggins sah Jakob so täuschend weiblich aus, dass selbst Felicitas ihn nicht erkannt hatte. Es lag vielmehr an dem Lachen, das Jakobs Lippen zucken ließ. Nicht mehr lange, und es würde vorbei sein mit seiner Beherrschung. Das erkannte auch Volker Lammers. »Sie … Sie sind … Sie sind ja gar keine Frau«, platzte er empört heraus. »Sie sind ein Mann!«

»Aber ich beherrsche das Zehn-Finger-System«, japste Jakob, ehe er nicht länger an sich halten konnte. Er lachte und lachte, bis sich die Tränen eine Spur in sein kunstvolles Makeup gruben.

»Raus!« Lammers Befehl klang wie ein Urschrei.

»Aber Sie brauchen doch jemanden für den Schreibkram.« Jakob lachte noch immer, als er sich nach den Krücken bückte, die er unsichtbar neben dem Schreibtisch deponiert hatte. »Ich bin wirklich gut.«

»Raus habe ich gesagt!«, wiederholte Lammers seinen Befehl.

Jakob humpelte zur Tür.

»Ich kann wirklich …«

»Rede ich eigentlich chinesisch?« Volker machte Anstalten, den Pfleger höchstpersönlich aus dem Zimmer zu jagen.

So schnell ihn Bein und Krücken trugen, machte Jakob, dass er davonkam.

Lammers blieb allein in seinem Büro zurück. Er setzte sich an den mit Akten überhäuften Schreibtisch und lehnte sich zurück. Je mehr sein Zorn verrauchte, desto klarer sah er, welche Chance er gerade vertan hatte.

*

»Sie haben mich rufen lassen?« Sophie Petzolds Stimme war genauso provokant wie der Blick, den sie Daniel Norden schickte.

Um ein Haar hätte er seine Entscheidung wieder rückgängig gemacht.

»In Ihren Augen sind wir alle erzkonservative Dinosaurier, die sich gegen jede Innovation sträuben, was?«, fragte er, während er in den Operationskittel schlüpfte.

»Was wollen Sie denn noch von mir?«, fauchte sie gereizt. »Den Fall haben Sie mir doch schon weggenommen.«

Am liebsten hätte Daniel sie an den Schultern gepackt und geschüttelt.

»Sie haben Glück, dass ich nicht Ihr Vater bin. Dieses überhebliche, respektlose Gehabe würde ich Ihnen schon austreiben«, schimpfte er. »Und jetzt gehen Sie und ziehen sich um, bevor ich es mir anders überlege. Ich will, dass Sie bei der Operation assistieren.« Er nickte ihr zu, ehe er die Haube aufsetzte und im OP verschwand.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Sophie sich von ihrer Verwunderung erholt hatte.

»Na bitte!«, murmelte sie, als sich die Türen öffneten und Bettina Lücke hereingeschoben wurde. Beim Anblick der Assistenzärztin huschte ein Lächeln über ihr angespanntes Gesicht.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, du lässt mich im Stich. Genau wie Ralf«, fügte sie leise hinzu und kämpfte mit den Tränen.

Sophie trat ans Bett und griff nach Bettinas Hand.

»Hat er sich nicht mehr gemeldet?«

»Nein.« Bettina biss sich auf die Lippe. »Aber dafür bist du ja jetzt da. Ich habe gehört, du hattest Ärger.« Sie sah Sophie fragend an.

»Nur ein Missverständnis.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Letztlich musste mein Chef einsehen, dass er auf eine Ärztin wie mich nicht verzichten kann.«

Diesen einen Satz schnappte Matthias Weigand auf, der um die Ecke am Waschbecken stand und nur den Kopf schütteln konnte. Angesichts solcher Aussagen war er nicht mehr sicher, ob er Daniel nicht furchtbar unrecht getan hatte.

»Frau Petzold!« Mit einem Handtuch in der Hand trat er zu ihr. »Machen Sie sich jetzt bitte fertig.«

Sophie hatte nicht damit gerechnet, einen Zuhörer zu haben. Sie fuhr erschrocken herum. Ihre Wangen leuchteten in schönstem Rot, als sie mit gesenkten Augen an ihm vorbei hastete.

Lächelnd nahm Matthias ihren Platz ein.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Lücke. Dr. Norden und die Kollegen verstehen ihr Handwerk.«

»Und Sie?«

»Ich natürlich auch. Und ich verspreche, dass ich gut auf Sie aufpassen werde.«

Unwillkürlich kehrten Bettinas Gedanken zu Ralf zurück.

»Wenn es mein Mann schon nicht tut …«

Matthias’ mitfühlendes Herz zog sich zusammen.

»Was hat er gesagt?«

»Es meinte, es sei meine Entscheidung, und hat mir viel Glück gewünscht.«

Innerlich verdrehte Matthias die Augen. Als ewiger Single konnte er nicht verstehen, wie ein Mensch seine Liebe so leichtsinnig aufs Spiel setzen konnte. Doch kein Wort des Tadels kam über seine Lippen. Stattdessen sagte er: »Wenn alles vorbei ist, wird er überglücklich sein.«

Bettina verzog das Gesicht.

»Ich glaube, Sie verstehen nicht.« Ihre Kehle war eng. »Wir werden uns nicht wiedersehen.«

Matthias Weigand rang noch mit der Fassung, als sich die Türen öffneten und Daniel Norden herauskam.

»Es ist alles bereit. Wir warten nur noch auf die Hauptdarstellerin«, verkündete er und legte so viel Zuversicht in sein Lächeln, wie es ihm angesichts der schwierigen Operation und des ungewissen Ausgangs nur möglich war.

*

»Das. Ist. Eine. Unverschämtheit!« Volker Lammers Stimme echote von den Wänden in Felicitas Nordens Büro wider. »Diesmal sind Sie eindeutig zu weit gegangen. Ich erwarte eine offizielle Entschuldigung.«

Seelenruhig saß Fee am Schreibtisch und wartete, bis er sich ausgetobt hatte.

»Ich verstehe Ihren Ärger«, erwiderte sie dann. »Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe: Warum wenden Sie sich an mich? Habe ich mich etwa als Mann verkleidet als Sekretär zur Verfügung gestellt?« Allein bei der Vorstellung an Jakobs Auftritt zuckte es verdächtig um ihre Mundwinkel.

»Sie sind für diese Frechheit verantwortlich!«, sagte Lammers ihr auf den Kopf zu.

Allmählich verging Felicitas das Lachen.

»Mein lieber Kollege Lammers …«

»Ich bin nicht Ihr lieber Kollege«, schrie er so laut, dass zwei Schwestern auf dem Flur kichernd und tuschelnd die Köpfe zusammen steckten.

»Also schön, Lammers. Ich habe Ihnen Unterstützung bei Ihren Schreibarbeiten versprochen und den Pfleger Jakob gefunden. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, diesen Dienst in den kommenden Tagen für Sie zu übernehmen. Das ist alles. Mehr habe ich mit dieser Angelegenheit nicht zu tun.«

Diese Versicherung vermochte den Kinderchirurgen nicht zu beschwichtigen. Wie Rumpelstilzchen persönlich fegte er noch immer durch das Büro.

»Tun Sie doch nicht so unschuldig! Ich weiß doch, dass Sie jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um mich in die Pfanne zu hauen.« Lammers regte sich so sehr auf, dass Fee die Ader sehen konnte, die auf seiner Stirn pulsierte.

Bedauernd schüttelte sie den Kopf.

»Das ist nicht richtig, und das wissen Sie so gut wie ich. Es tut mir leid, dass Sie nicht damit klarkommen, dass Ihr Chef eine Frau ist.« Ihre Stimme war gefährlich freundlich. »Das rechtfertigt aber noch lange nicht Ihr Verhalten mir gegenüber. Wenden Sie sich an Jakob. Beschweren Sie sich bei ihm und bei seiner Vorgesetzten …«

»Die steckt ja mit Ihnen unter einer Decke!«, behauptete er.

Felicitas lächelte.

»Schwester Elena ist meine Freundin und geschätzte Kollegin. Nicht mehr und nicht weniger. Und Sie hätten hier mit Sicherheit auch einen besseren Stand und müssten nicht solche Streiche über sich ergehen lassen, wenn Sie Ihren Mitmenschen gegenüber etwas mehr Wohlwollen zeigten.«

Lammers sah sie an, als hätte er am liebsten vor ihr ausgespuckt.

»So eine absurde Idee kann auch nur von Ihnen kommen«, fauchte er und stapfte zur Tür. »Sie werden schon noch sehen, was Sie von Ihren weiblichen Führungsqualitäten haben.«

Er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

»Bis jetzt habe ich keinen Grund zur Beschwerde.« Diesen Satz ließ sich Fee auf der Zunge zergehen. »Im Gegensatz zu Ihnen. Das sollte Ihnen zu denken geben.« Sie zuckte zusammen, als die Tür krachend hinter ihm ins Schloss fiel. Doch der Schrecken währte nur kurz. Schnell gewann der Gedanke wieder Oberhand, von den Kollegen wertgeschätzt und anerkannt zu werden.

Diese Freude wollte Felicitas mit ihrem Mann teilen. Andrea Sander teilte ihr aber mit, dass Dr. Norden gerade im OP bei einem schwierigen Eingriff sei. Sofort hatte Felicitas alles andere vergessen und schickte ein Stoßgebet in den Himmel, um Daniel mit aller Kraft zu unterstützen.

*

Im Laufe des Vormittags hatten sich die Wolken immer weiter über dem blauen Himmel zusammengeschoben. Irgendwann am Nachmittag begann es zu regnen. Das war genau das Wetter, das zu Ralf Lückes Stimmung passte. In der Eile hatte er den Regenschirm vergessen und hastete durch die breiten Glastüren in die Klinik. Wasser tropfte von seinem Haar in den Kragen. Doch er nahm keine Notiz davon. Stattdessen hielt er Ausschau nach der nächsten Schwester.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine freundliche Stimme. Ralf drehte sich um.

»Entschuldigen Sie, ich bin auf der Suche nach meiner …« Mitten im Satz hielt er inne und starrte Carina an.

In den bangen Stunden des Wartens hatte sie sich alles Mögliche ausgedacht, was sie ihm an den Kopf werfen wollte, wenn sie ihn jemals wieder zu Gesicht bekam. Doch nun war jeder gehässige Gedanke wie weggeblasen.

»Du bist ja doch gekommen.«

»Ich … Ich …« Tränen der Verzweiflung glitzerten in Ralfs Augen. »Ich habe solche Angst um Bettina«, stammelte er, ehe er das Gesicht in den Händen vergrub.

Carina überlegte nicht lange. Sie fasst ihn sanft am Arm und führte ihn zu einer Sitzgruppe. Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander. Nach und nach beruhigte sich Ralf und trocknete seine Tränen.

Ärzte und Schwestern eilten vorüber, Angehörige unterhielten sich leise. Als ein strahlendes Paar an ihnen vorbei Richtung Ausgang strebte, war seine Geduld am Ende.

»Wie lange wartest du eigentlich schon hier?«, fragte er und sprang auf.

Rastlos wanderte er vor Carina auf und ab. Sie sah ihm dabei zu.

»Keine Ahnung. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, gestand sie. »Es dauert, so lange es dauert.«

Einen kurzen Moment sah Ralf so aus, als hätte er sich am liebsten auf sie gestürzt. Zum Glück überlegte er es sich anders und setzte schließlich seinen Marsch fort. Carina beobachtete ihn eine Weile. Irgendwann zog sie ihre Tasche zu sich und holte den Flyer und die Pläne für den Stall heraus. Ralf beobachtete sie, wie sie die Unterlagen betrachtete. Er kehrte zu ihr zurück und setzte sich neben sie.

»Ist das die Werbung für den Reitstall?«

»Und die Pläne für den Umbau.« Sie reichte ihm die Unterlagen.

»Das ist Bettinas großer Traum. Der gibt ihr Kraft, wenn alles andere versagt.«

»Schon verstanden.« Ralf nickte betreten.

Carina lachte leise.

»Das sollte kein Vorwurf sein. Vielmehr ein Hinweis darauf, dass wir noch Hoffnung haben können.« Sie machte eine kunstvolle Pause. »Egal, was passiert, sie will dieses Ziel unter allen Umständen erreichen«, erklärte sie innig. Sie legte die Hand auf Ralfs Arm und nickte ihm zu zum Zeichen, dass auch er nicht aufgeben durfte.

*

Das Klappern der Operations­ins­trumente vermischte sich mit dem leisen Piepen der Überwachungsgeräte. Obwohl sich mehrere Personen um den Operationstisch versammelt hatten, sprach niemand ein Wort. Die Anspannung war förmlich mit Händen greifbar.

»Darmklemme!«, verlangte Dr. Ringelstetter. Die Operationsschwester reichte ihm das Gewünschte. Der nächste Befehl ließ nicht lange auf sich warten. »Kauter!«

Dr. Klaibers Blick ruhte abwechselnd auf seinem Patienten und den Monitoren, die unablässig die Vitalfunktionen aufzeichneten.

»Alles in Ordnung«, verkündete er.

Daniel Norden ließ sich den Schweiß von der Stirn tupfen und sah hinüber zu dem Kollegen Ringelstetter. Der verstand die stumme Frage und trat zurück.

»Frau Petzold, Sie durchtrennen den Dann.«

Sophies Augen verrieten ihren Schrecken.

»Worauf warten Sie noch?«, fragte Dr. Norden schärfer als beabsichtigt. »Brauchen Sie eine schriftliche Einladung?«

»Oder ist diese Aufgabe zu profan für Sie?«, setzte Matthias Weigand noch einen drauf.

Über den Operationstisch hinweg sah Daniel seinen Freund und Kollegen verwundert an. Doch Matthias hatte den Blick schon wieder gesenkt.

Sophie schnaubte und griff nach Schere und Kauter und beugte sich über das Operationsfeld. Die Gerätschaften schmatzten leise, kurz darauf zischte es. Ein helles Piepen ließ die Ärzte aufhorchen.

»Blutdruckschwankung«, erklärte Dr. Klaiber. »Verliert sie Blut?«

»Ja, alles hochentzündlich«, antwortete der Kollege Ringelstetter.

»Halten Sie Strom drauf!«, befahl Dr. Norden.

Der Assistenzärztin stand der Schweiß auf der Stirn.

»Das Gewebe reißt ein!« Sophies Stimme bebte vor Aufregung.

»Ist der Eingriff doch nicht so ein Spaziergang, wie Sie dachten, was?«, konnte sich Weigand einen zynischen Kommentar nicht verkneifen.

»Matthias!«, mahnte Daniel Norden streng. Und zu Sophie Petzold gewandt sagte er: »Ganz ruhig. Wir bekommen das hin.«

Sie atmete durch, nickte und arbeitete hochkonzentriert weiter.

»Die Blutung steht!«, konnte sie wenig später verkünden.

»Blutdruck wieder stabil.« Auch Arnold Klaiber war zufrieden. »Hb-Wert 5,4.«

»Klemme!«, verlangte Dr. Norden, der neben Sophie stand und jeden ihrer Handgriffe im Blick hatte.

Endlich holte er Luft und entspannte sich.

»Sehr gut, Frau Petzold«, lobte er.

An dieser Stelle war der Eingriff für ihn beendet. Den Rest konnte er ruhigen Gewissens den erfahrenen Kollegen überlassen. Auf ihn wartete eine andere Aufgabe, und er machte sich unverzüglich auf den Weg.

Als er Ralf Lücke neben Bettinas Freundin Carina sitzen sah, lächelte er.

»Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.« Er begrüßte die beiden. »Es war ein komplizierter Eingriff.«

»Wie geht es Bettina?« Das war alles, was Ralf im Augenblick interessierte.

»Den Umständen entsprechend gut. Sie ist stabil.«

»Kein künstlicher Darmausgang?« Es war Carina, die diese bange Frage stellte.

Daniel schüttelte den Kopf.

»Glücklicherweise nicht.« Dennoch gab es einen Wermutstropfen. »Aber ob unsere Methode langfristig Erfolg haben wird, wird sich allerdings erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Es sind noch einige Eingriffe notwendig. Sie müssen Geduld haben.«

Ralfs Augen wurden schmal.

»Was soll das heißen? Einige Operationen?«, hakte er misstrauisch nach. »Ich dachte, mit diesem einen Eingriff wäre alles gut.«

»Leider ist dem nicht so.« Daniel bedachte den Ehemann mit forschendem Blick. »Und ich kann nur ahnen, wie schwer diese Situation für Sie zu ertragen ist. Ich habe erfahren, was mit Ihrem Vater passiert ist. Aber …«

Mit einer Geste unterbrach Ralf den Klinikchef.

»Kein Wort mehr darüber!«, erklärte er in aller Entschiedenheit. »Ich bin nicht zurückgekommen, um gleich wieder zu gehen.« Er blinzelte verlegen zu Carina hinüber. »Ich bin gekommen, um zu bleiben und notfalls als Stallbursche zu arbeiten«, fuhr er sanfter fort. »Und das, obwohl ich Pferde nicht ausstehen kann.«

»Das klingt nach wahrer Liebe!«, lachte Daniel, ehe er sich verabschiedete.

Das Stichwort »wahre Liebe« hatte ihn an etwas erinnert, woran er schon viel zu lange nicht mehr gedacht hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es höchste Zeit wurde, Feierabend zu machen. Aber nicht etwa, um zu Hause Zwiebeln zu schneiden.

»Heute Abend gönnen wir uns ein feudales Menü«, versprach er seiner Frau, als er Arm in Arm mit Fee die Klinik verließ. »Nur wir zwei. Ohne schlaue Sprüche von unserem Sohn. Und ohne geschwisterlichen Zwist.«

»Das klingt verlockend. Wohin willst du mich denn entführen?« Sie schmiegte sich eng an ihn.

»Wie wäre es mit dem neuen Sterne-Restaurant gleich um die Ecke?«

»Zu nobel. Das kannst du dir mit deinem Chef-Gehalt nicht leisten.«

»Du sprichst schon wie Dieter Fuchs. Und an den will ich gerade überhaupt nicht erinnert werden.« Daniel wartete, bis sich die Glastür vor ihnen öffnete. Er ließ Fee den Vortritt.

»Na gut. Wir können auch von Lammers reden, wenn dir das lieber ist«, erwiderte Fee übermütig. »Ich habe eine lustige Geschichte auf Lager.«

»Lammers und lustig?« Daniel schickte Fee einen verwunderten Seitenblick. »Das ist ein Widerspruch in sich.«

»Stimmt«, gab sie unumwunden zu. Sie trat an den Wagen und wartete darauf, dass ihr Mann die Schlösser aufschnappen ließ. »Dafür ist ›Felicitas liebt Daniel‹ eine unerschütterliche Wahrheit.« Als er ihr die Beifahrertür aufhielt, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

»Das klingt mehr als vielversprechend«, murmelte er an ihren Lippen. »Wohin darf ich dich zum Essen entführen? Oder soll ich dich doch lieber gleich heim ins Schlafzimmer bringen?«

»Zuerst zum Essen.« Lachend ließ sich Fee auf den Beifahrersitz fallen. »Weder Lammers noch Fuchs haben etwas in unserem Allerheiligsten verloren.«

»Sophia Petzold übrigens auch nicht.«

Fee schickte ihrem Mann einen belustigten Seitenblick.

»Dabei ist sie wirklich süß.«

»Nicht halb so süß wie du!«

»Dann bin ich ja zufrieden.« Fee lehnte sich zurück. Ihre linke Hand lag auf Daniels Oberschenkel, während er sie durch die Stadt zu ihrem Lieblingsitaliener brachte. Dabei war das Ziel gar nicht so wichtig. Dies war einer dieser Abende, an denen sie einfach mit ihm bis ans Ende der Welt und noch weiter hätte fahren können. Gesprächsstoff genug hatten sie auf jeden Fall.

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