Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 18

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»Sag mal, war das vorhin eine Erdbeerroulade, die du da hereingebracht hast?« Felicitas Nordens erwartungsvoller Blick ruhte auf ihrer Schwiegertochter in spe.

»Erdbeerroulade mit Sahne und frischen Bio-Erdbeeren, handgepflückt aus unserem Schrebergarten«, erwiderte Tatjana stolz. Sie stand vor dem Tisch in ihrem Café ›Schöne Aussichten‹ und wartete auf die Bestellung. Wie immer um diese Jahreszeit standen frische Blumen auf den zusammengewürfelten Tischen. Sie spiegelten sich in der Decke aus gehämmertem Silber, in deren Mitte ein halbblinder Kronleuchter prangte. So ungewöhnlich er war, so nahtlos fügte er sich in die fantasievolle Einrichtung ein. Bunt bezogene Sofas und Tische und Stühle in allen erdenklichen Farben und Formen rundeten den Stilmix ab. Bei jedem anderen hätte die Einrichtung chaotisch gewirkt. Doch Tatjana hatte ein Händchen für das richtige Maß. Das gesamte Interieur bildete eine gemütliche Einheit, die in der ganzen Stadt nach ihresgleichen suchte.

Das stellten auch Laurenz und Melanie fest, ein befreundetes Ehepaar der Nordens, die das sagenumwobene Café ›Schöne Aussichten‹ zum ersten Mal besuchten.

»Lass mich raten: Du hast die Erdbeeren gepflückt, während sich Danny im Liegestuhl von seinem anstrengenden Alltag erholt hat«, scherzte Daniel Norden gut gelaunt. An diesem Tag hatte er frei und freute sich seines Lebens. Nur seine ehemalige Haushälterin Lenni würde gegen Abend in die Klinik zu einer Routineuntersuchung kommen. Doch bis dahin war noch viel Zeit.

»Weit gefehlt. Ich lag im Liegestuhl …«

Fee sah Tatjana verwundert an.

»Danny war noch nie ein begeisterter Gärtner. Wie hast du das denn hingekriegt?«

»Ganz einfach. Ich habe ihm gedroht, dass ich ihn auf dem Stuhl festbinde und vor seinen Augen eine ganze Erdbeerroulade allein esse. Das hat gewirkt.«

Triumph im Blick wandte sich Fee an ihren Mann.

»Meine Rede! Erpressung ist das halbe Leben. Besonders in der Kindererziehung.«

Ihre drei Begleiter lachten.

»Das werde ich mir für später merken.« Zärtlich strich Melanie über die Rundung ihres Bauches. Sie war im sechsten Monat schwanger. »Du bist schließlich Expertin in Sachen Kindererziehung.«

»Da bin ich mir gar nicht so sicher. Jedes Kind ist schließlich anders. Was bei dem einen wirkt, hilft bei dem anderen noch lange nicht.« Einen Moment lang dachte Fee an die glückliche, wenn auch anstrengende Zeit zurück, als ihre fünf Kinder noch klein gewesen waren. Manchmal fragte sie sich, wie sie das alles geschafft hatte.

Tatjana stand noch immer am Tisch. Allmählich wurde sie ungeduldig. Das Café war gut besucht, und ihre Arbeitskraft wurde gebraucht.

»Ich will ja nicht stören. Aber wenn ihr heute noch etwas essen wollt, solltet ihr bestellen.«

»Also, ich nehme einen klassischen Flammkuchen.« Laurenz klappte die Karte zu. »Der lacht mich so richtig an.« Er sah seine Frau fragend an. »Und du?«

»Ich nehme nur eine Rhabarberschorle. Schließlich bin ich schon dick genug.«

Laurenz bestellte Flammkuchen und Schorle, als Melanies Überzeugung schwankte.

»Obwohl … Flammkuchen klingt schon verlockend.«

»Geht das schon wieder los!«, offenbar hatte Laurenz bereits Bekanntschaft gemacht mit dieser Unentschlossenheit.

»Melanie kann nichts dafür. Das sind die Hormone.« Fee zwinkerte ihrer Freundin zu. »Progesteron und Östrogen werden für die Launen verantwortlich gemacht. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass eine Schwangerschaft eine Zeit tiefgreifender Veränderungen ist. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.«

»Da hörst du es!« Melanie lächelte ihren Mann an. »Ich kann gar nichts dafür, dass ich mich nicht entscheiden kann.«

»Das musst du jetzt aber. Schließlich hat Tatjana noch etwas anderes zu tun«, erinnerte Laurenz seine Frau.

»Ich kann ja schon einmal die Erdbeerrouladen und den Kaffee bringen. Bis ich zurück bin, haben Sie sich sicher entschieden.«

In Gedanken versunken kehrte Tatjana an die Theke zurück. Niemand ahnte, dass sie fürchtete, selbst schwanger zu sein. Einen Arzttermin hatte sie erst in der kommenden Woche bekommen. Bis dahin sollte niemand davon erfahren. Sie musste selbst erst mit sich ins Reine kommen.

Inzwischen setzten Laurenz und Melanie ihre Diskussion fort.

»Hast du denn Hunger?«

»Keine Ahnung.« Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwie schon.«

»Dann bestelle ich dir auch einen Flammkuchen.«

»Und wenn ich doch nicht hungrig bin?«

»Dann lasst ihr ihn einpacken und nehmt ihn mit nach Hause.« Dieser pragmatische Vorschlag kam von Daniel Norden.

Hilflos sah Melanie von einem zum anderen. Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen.

»Und wenn ich morgen keine Lust auf Flammkuchen habe?«

»Dann bestelle ich dir eben Kuchen.«

Melanie riss die Hände hoch.

»Auf gar keinen Fall! Willst du, dass mir schlecht wird?«

Während die Freunde nicht dabei gewesen, hätte Laurenz längst die Beherrschung verloren. So aber riss er sich zusammen.

»Dann also doch einen Flammkuchen.«

Melanie schüttelte den Kopf.

»Nein. Gar nichts. Mir ist der Appetit vergangen.« Entschieden schob sie die Karte von sich. »Aber du könntest vorsichtshalber deinen Flammkuchen mit Gemüse bestellen, falls ich später doch hungrig bin.«

Daniel und Fee brachen in Lachen aus. In diesem Moment kehrte Tatjana an den Tisch zurück, servierte Getränke und Kuchen und nahm Laurenz’ Bestellung auf. Zu ihrer Erleichterung drehte sich das Gespräch jetzt um die Zubereitung des perfekten Flammkuchens und nicht mehr um Schwangerschaften, sodass sie kein künstliches Lächeln aufsetzen musste.

*

Auch Dr. Matthias Weigand, Notarzt in der Behnisch-Klinik, hatte an diesem Tag frei. Gemeinsam mit seiner neuen Freundin Dr. Sandra Neubeck schlenderte er durch den Englischen Garten. Die beiden waren noch nicht lange ein Paar. Sandras aufbrausende Art hatte den Start nicht ganz einfach gemacht.

Nach einer Reihe von Enttäuschungen hoffte Matthias, in ihr endlich die Partnerin gefunden zu haben, nach der er sich schon so lange sehnte. Sandra arbeitete als Assistenzärztin an der Behnisch-Klinik und wusste um den stressigen Alltag, von den kaum vorhandenen freien Wochenenden und der ständigen Abrufbereitschaft, die einem Klinikarzt drohend im Nacken saß. Im Augenblick standen die Zeichen aber günstig, dass er zwei ganze Tage mit seiner neuen Liebe verbringen konnte. Zeit, die ihm wichtig war, um Sandra endlich besser kennenzulernen.

»Du hast mir noch gar nicht erzählt, warum es dich von Freiburg ausgerechnet nach München verschlagen hat.« Hand in Hand spazierten sie am Eisbach entlang.

Der Frühling hatte mit aller Macht Einzug gehalten. Überall grünte und blühte es, und die Menschen zog es nach draußen an die frische Luft. Schon jetzt waren die Tische im Biergarten am Chinesischen Turm gut besetzt. Auf den Wiesen spielten Kinder und Hunde, hier und da hatten sich ein paar besonders tapfere Picknicker auf Decken niedergelassen. Zwischen zwei Bäumen hatten junge Leute ein elastisches Band gespannt und trainierten mit begeisterter Unterstützung der Zuschauer ihre Balance. Sandras Blick hing an den modernen Seiltänzern.

»Es gibt vieles, was ich dir noch nicht erzählt habe«, antwortete sie geheimnisvoll und dachte offenbar gar nicht daran, das Rätsel zu lösen. »Schau mal, der kann das richtig gut!« Sie deutete auf einen jungen Mann, der kühne Sprünge auf dem schmalen Band wagte und jedes Mal sicher landete.

»Das ist doch gar nicht schwer. Die Leine ist ja mindestens fünf Zentimeter breit«, behauptete Matthias in einem Anflug von Selbstüberschätzung. Er wollte Sandra um jeden Preis imponieren und trat auf die Gruppe junger Leute zu. Nach ein paar Sätzen machten sie Platz. Siegessicher winkte Matthias seiner Begleiterin zu und bestieg das federnde Band. Begleitet von Anfeuerungsrufen der Umstehenden auf der einen und Sandras spöttischen Blicken auf der anderen Seite breitete er die Arme aus. Vorsichtig schob er einen Fuß vor den anderen, als er auch schon gefährlich ins Schwanken geriet und hinunterfiel. Zur Belustigung seiner Zuschauer landete er wie ein Käfer auf dem Rücken. Ein Mann erbarmte sich seiner und hielt ihm die Hand hin.

Als Matthias wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, sah er seinem Retter ins Gesicht.

»Reinhart, was machst du denn hier!« Lachend klopfte er dem Kollegen auf die Schulter.

Sandra beobachtete die beiden mit Argusaugen. Sie war noch relativ neu an der Klinik und kannte noch nicht viele der Kollegen.

»Ich habe mir heute extra frei genommen, um unseren Notarzt vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren.«

»Du bist zu gut zu mir.« Matthias sah sich um. »Bist du allein unterwegs?«

»Wo denkst du hin? Klaiber, Gröding und die geschätzte Kollegin May sind auch mit von der ­Partie. Sie ziehen allerdings den Biergartentisch einer wackeligen Slackline vor.«

»Eine weise Entscheidung«, witzelte Matthias, als sich Sandra zu ihnen gesellte.

»Willst du mich nicht bekannt machen?«, fragte sie, ohne Reinhart aus den Augen zu lassen.

»Wie unaufmerksam von mir!« Da war es wieder, das Gefühl, das ihn in Sandras Gegenwart so oft beschlich. War er zu empfindlich, oder konnte er ihr wirklich nicht genügen? »Das ist der geschätzte Kollege Reinhart Witt aus der Radiologie. Dr. Sandra Neubeck, seit kurzem Assistenzärztin in unserer zweiten Heimat.«

Reinhart begrüßte Sandra freundlich und wechselte ein paar Worte mit ihr.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns zu den Kollegen gesellen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er das Paar mit sich. »Wir können zwar nur alkoholfreies Bier trinken, aber besser als nichts.«

Eigentlich hatte Matthias Weigand den Tag allein mit Sandra verbringen wollen. Ehe er aber Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln, lief sie schon hinter Reinhart her. Zähneknirschend heftete sich Matthias an ihre Fersen.

Mit großen Hallo wurden sie von dem Anästhesisten, der Kinderärztin und dem Chef der Onkologie begrüßt und an den Tisch gebeten.

Diesmal übernahm Sandra es selbst, sich vorzustellen.

»Warum trinkt ihr alle alkoholfrei?«, erkundigte sich Matthias und stellte ein richtiges Bier für sich und eine Limonade für Sandra auf den Tisch.

»Wir haben alle Dienst heute Nachmittag, wollten aber die schönen Stunden nutzen.« Der Anästhesist Arnold Klaiber hob sein Glas. »Auf die neue Kollegin. Prost!«

»Vielen Dank.« Sandra stieß mit der Limo an und lächelte in die Runde. »Dann sehen wir uns ja vielleicht heute Nachmittag.«

Überrascht sah Matthias seine neue Freundin an.

»Aber ich dachte, wir verbringen den Tag zusammen«, raunte er ihr zu. »Ich habe schon einen Tisch beim Griechen bestellt.«

Sandra lächelte herablassend.

»Und weil ich griechisches Essen nicht mag, habe ich mich heute zum Dienst eingetragen.« Sie tätschelte ihm die Wange. »Komm schon, sei nicht sauer. Du hat mir selbst lang und breit erklärt, dass deine bisherigen Freundinnen nie Verständnis für deinen Beruf und die Arbeitszeiten aufgebracht haben.«

Reinhart klopfte Matthias tröstend auf die Schulter.

»Komm schon! Nicht traurig sein. So bleibt die Liebe länger frisch.« Er zwinkerte Sandra zu. »Außerdem ist sie bei uns in guten Händen. Das weißt du doch, oder?«

»Bei Arnold und Gröding bin ich mir sicher. Aber du wandelst ja bekanntlich seit Neuestem wieder auf Freiersfüßen …«

»Ich bin doch nicht verrückt und spanne einem Kollegen die Frau aus!« Energisch schüttelte Reinhart den Kopf. »So schön sie auch sein mag.«

Sandra lachte geschmeichelt. Sie hatte andere Pläne, und ihre Beziehung mit Matthias hatte einen ganz anderen Grund als Liebe. Aber sie hütete sich davor, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Noch war die Zeit nicht reif dafür.

*

»Es war so schön, euch mal wieder gesehen zu haben.« Wie im Flug waren die Stunden vergangen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Zum Abschied umarmte Melanie das befreundete Ehepaar.

»Das nächste Mal kommt ihr zu uns.« Fee trat zur Seite, um der Aushilfe Platz zu machen. Florentina balancierte ein schweres Tablett, das sie sicher an den dicht besetzten Tischen vorbei manövrieren musste. »Da seid ihr bestimmt schon zu dritt.«

»Vielleicht schaffen wir es vorher ja noch einmal«, tat Laurenz seine Hoffnung kund. Er half seiner Frau in die leichte Sommerjacke.

»Versprich nicht, was du nicht halten kannst«, ermahnte sie ihn. »Du weißt selbst, wie das ist. Gerade vor der Geburt nimmt man sich alles Mögliche vor, was man gar nicht schaffen kann. Man neigt dazu zu glauben, dass das Leben vorbei ist, wenn erst ein Kind da ist.«

»Das genaue Gegenteil ist der Fall.« Lächelnd hielt Daniel seiner Freundin die Tür auf.

Gemeinsam mit Fee sah er den beiden nach, wie sie Hand in Hand davongingen.

»So ein hübsches Paar!«, murmelte Felicitas und lehnte sich an ihren Mann.

»Und vergesslich obendrein!« Tatjana trat zu ihnen und wedelte mit einem Portemonnaie durch die Luft. »Das hat Florentina gerade auf der Bank gefunden. Es gehört Laurenz.«

Fee überlegte nicht lange.

»Ich bringe es ihm!«

Ehe es sich Daniel versah, war seine Frau auch schon losgelaufen.

»Halt, Laurenz, warte! Du hast deinen Geldbeutel vergessen.« Ihre Stimme hallte fröhlich von den Häuserwänden wider.

Das Ehepaar war am Ende der Straße angelangt. Laurenz drehte sich um. Er wechselte ein paar Sätze mit seiner Frau, ehe er im Laufschritt über den Fahrradweg lief. Im selben Moment schoss ein Fahrradfahrer um die Ecke.

»Vorsicht!« Fees gellender Schrei kam zu spät. Der Zusammenstoß war unvermeidlich. Nur einen Sekundenbruchteil später geschah das Unglück. Ein Krachen, Schreien, das Scheppern von Aluminium und Blech auf dem Asphalt. Beim Aufprall zerbarst die Fahrradlampe, Scherben spritzten über den Weg.

Daniel zögerte nicht und stürzte an seiner Frau vorbei auf die beiden Männer zu, die sich stöhnend auf dem Boden wälzten. Melanie stand wie zur Salzsäule erstarrt, die Hände schützend auf den Bauch gelegt. In Windeseile bildete sich eine Menschentraube um die Verunglückten. Von dem Lärm aufgeschreckt, trat Tatjana aus der Bäckerei. Ihr eingeschränktes Sehvermögen ließ keinen Schluss auf das zu, was gerade geschehen sein mochte. In so einer Situation war sie ganz auf ihr Hörvermögen und die übrigen Sinne angewiesen. So stand sie zunächst nur da und lauschte konzentriert.

»Lassen Sie mich durch! Ich bin Ärztin«, verlangte Felicitas, als sie gleich darauf ihre Fassung wiedergefunden hatte.

Murrend machten die Menschen Platz. Einigen war anzusehen, dass sie ihre Worte für eine Lüge hielten. Zum Glück zückte niemand ein Handy, um die beiden Verletzten zu filmen.

»Ruf in der Klinik an! Wir brauchen zwei Wagen.« Über den Fahrradfahrer gebeugt, gab Daniel mit ruhiger Stimme seine Anweisungen.

Fee tat, was er von ihr verlangt hatte, ehe sie sich um den verletzten Laurenz kümmerte. Tatjana dagegen hatte die Umgebung inzwischen sondiert. Ein Geräusch war ihr besonders aufgefallen: Ein leises Weinen, das kaum gegen den Lärm ankam. Sie kannte die Stimme. Doch auch das Parfum der weinenden Frau sprach eine eindeutige Sprache.

»Melanie?« Tatjana trat auf die werdende Mutter zu, die noch immer am Ende der Straße stand. »Sie sind doch Melanie?«

»Was …, was ist mit Laurenz? Wie geht es ihm?«, fragte Melanie statt einer Antwort.

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, dass Fee und Daniel das Richtige tun«, versprach Tatjana, als sich die werdende Mutter plötzlich zusammenkrümmte.

*

»Wen haben wir?«, rief die Notärztin Frau Dr. Lekutat, als sich die Türen der Ambulanz öffneten und die Kollegen eine Liege hereinschoben.

»Laurenz Grün, 35 Jahre alt. Er wurde von einem Fahrrad angefahren. Verdacht auf Wirbelsäulentrauma mit Sensibilitätsstörungen in den Beinen.« Der Rettungsarzt Erwin Huber drückte ihr ein Klemmbrett in die Hand. »Gleich kommt noch der Fahrradfahrer, mit dem er zusammengestoßen ist. Außerdem haben wir eine Schwangere mit vorzeitigen Wehen.«

»Zum Glück ist der Kollege Weigand gerade gekommen.« Im Laufschritt überflog sie die Informationen. »Der kann den Rest übernehmen.«

Keine Minute später öffneten sich die Türen erneut und Daniel Norden kam herein. Er begleitete die Liege mit dem Fahrradfahrer, der sich neugierig umsah. Felicitas folgte den beiden auf dem Fuß. Sie schob den Rollstuhl mit Melanie, die sie direkt in die Gynäkologie brachte.

Daniel dagegen begrüßte den Kollegen Weigand.

»Was machst du denn hier? Ich wähnte dich an einem verschwiegenen Tisch in einem schummrigen griechischen Restaurant.«

Matthias verzog das Gesicht.

»Da war der Wunsch wieder einmal der Vater des Gedanken«, seufzte er. »Sandra hat es vorgezogen, sich zum Dienst einzutragen. Und bevor ich meinen Kummer in Ouzo ertränke, mache ich mich lieber nützlich.«

»Solche ambitionierten Mitarbeiter lobe ich mir.« Daniel lachte. »Das hier ist übrigens Theo Schulte. Er hatte eine Kollision mit dem anderen Herrn.«

Matthias erinnerte sich an den lädierten Laurenz.

»Sie scheinen den größeren Dickschädel zu haben«, wagte er einen kleinen Scherz in Theo Schultes Richtung.

Der verstand nicht und tippte stattdessen zufrieden auf den Helm, der neben ihm auf der Liege lag.

»Ich würde sagen, den besseren Helm. Die Investition hat sich gelohnt.«

Hinter seinem Rücken schnitt Matthias eine Grimasse.

»Trotzdem entführe ich Sie jetzt in mein Behandlungszimmer und danach in die Radiologie, um etwaige Verletzungen auszuschließen.«

»Super! Ich war noch nie im Krankenhaus. Da kann ich meinen Kollegen was erzählen.«

Weder Dr. Weigand noch Daniel Norden beneideten die Mitarbeiter des Herrn Schulte.

»Der arme Mann kann einem richtig leid tun«, sagte er zu Schwester Linda, als Matthias mit seinem Patienten um die Ecke verschwunden war. »Wenn er sonst nichts zu erzählen hat.« Ehe Linda etwas erwidern konnte, sah er auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zu Lennis Termin. Eine halbe Stunde, die Daniel gut nutzen konnte. Er hatte kaum den Behandlungsraum betreten, in dem Melanie von Dr. Thoma untersucht wurde, als Fee auf ihn zustürzte. Sie fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich nach draußen. Jetzt, da sie die Verantwortung an einen Kollegen abgegeben hatte, begannen ihre Nerven zu flattern.

»Oh, Dan, ich mache mir solche Vorwürfe.« Sie ließ seine Hand los und begann, vor ihm auf dem Flur auf und ab zu laufen. »Als ich Laurenz gerufen habe, war der Fahrradfahrer nicht da. Das beschwöre ich. Er kam plötzlich um die Ecke geschossen. Wie aus dem Nichts.« Ihr hilfloser Blick klebte förmlich an Daniel. »Wenn ich ihn nicht gerufen hätte, wäre das alles nicht passiert.«

Daniel nahm seine Frau an den Schultern und schüttelte sie leicht.

»Beruhige dich, Feelein! Selbstvorwürfe bringen uns jetzt auch nicht weiter. Und Laurenz und Melanie schon gar nicht. Wie geht es ihr überhaupt?«

Fee zuckte mit den Schultern.

»Der Schock hat offenbar Wehen ausgelöst. Mehr weiß ich noch …«

Die Tür des Behandlungsraums klappte zu.

»Mutter und Kind sind wohlauf.« Der Gynäkologe Theo Gröding trat zu den beiden.

»Gott sei Dank!«

Doch Gröding war noch nicht fertig. »Allerdings ist wirklich eine Wehentätigkeit zu beobachten. Deshalb werde ich Frau Grün zur Beobachtung hier behalten und sie zunächst mit hoch dosiertem Magnesium behandeln.« Endlich lächelte er, wenn auch verhalten. »Schwester Regina bringt die Patientin auf ihr Zimmer.« Er nickte dem Chef und seiner Frau zu und machte sich auf den Weg auf seine Station.

Daniel sah ihm nach.

»Na, siehst du, Feelein. Alles wird gut! Du musst nur daran glauben«, sagte er sanft.

»Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen.« Unglücklich ließ sie den Kopf hängen.

»Das sollte lieber der Fahrradfahrer haben. Immerhin war er es, der einfach so um die Ecke geschossen ist.« Daniel Norden warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, sich auf Lennis Untersuchung vorzubereiten. »Tust du mir einen Gefallen?«

»Natürlich.« Fee sah ihn fragend an.

»Ich habe Lenni doch versprochen, heute den Gesundheits­check zu machen …«

»Richtig. Das hatte ich völlig vergessen.«

»Ich aber nicht.« Daniel lächelte. »Kannst du bitte bei Frau Dr. Lekutat in Erfahrung bringen, wie es Laurenz geht?«

»Natürlich.« Wenn sie ehrlich gewesen wäre, wäre Felicitas viel lieber nach Hause gelaufen, in ihr Bett gekrochen und hätte die Bettdecke über den Kopf gezogen, wie sie es als Kind getan hatte. Doch leider waren diese Zeiten ein für alle Mal vorbei. Nach einem Kuss machte sie sich auf den Weg.

*

»Guten Abend, Frau Kraft.« Die Chefsekretärin Andrea Sander stand an ihrem Schreibtisch und blickte hoch, als Lenni, die ehemalige Haushälterin der Familie Norden, eintrat. »Was kann ich für Sie tun?«

Inzwischen waren nur noch zwei der fünf Kinder zu Hause, und Fee und Daniel arbeiteten die meiste Zeit, sodass Lennis Hilfe nur noch selten gebraucht wurde. Nicht um Ideen verlegen, hatte sie sich nach einer anderen Aufgabe umgesehen und prompt im Klinikkiosk gefunden, den Tatjana neben dem Café ›Schöne Aussichten‹ betrieb. Mit ihrer schnoddrigen Art war Lenni schon bald in der ganzen Klinik bekannt und beliebt.

»Ich habe einen Termin bei Dr. Norden.«

Überrascht sah Andrea in ihren Kalender.

»Komisch. Der Chef hat doch heute frei.«

»Das ist schon alles in Ordnung. Wir zwei brauchen keinen Terminkalender.«

In ihre Worte hinein klopfte es.

»Ist Dr. Norden zu sprechen?«, fragte der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs.

»Tut mir leid, er hat heute frei«, wiederholte Andrea Sander.

»Heute kümmert er sich ausnahmsweise einmal nur um mich«, ergänzte Lenni schnippisch.

»Das werden wir ja sehen.« Dieter Fuchs ging an den beiden Frauen vorbei Richtung Bürotür, als hinter ihm Daniel Nordens Stimme erklang.

»Lenni, wunderbar! Sie sind ja schon da! Dann können wir gleich anfangen.« Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie aus dem Büro.

Fassungslos starrte Dieter Fuchs den beiden nach.

»Moment, Herr Dr. Norden, ich müsste Sie kurz in einer dringenden Angelegenheit sprechen! Es geht um die Kürzung der Assistenzarztstellen.«

Der Klinikchef steckte den Kopf noch einmal herein.

»Sobald ich fertig bin, melde ich mich bei Ihnen, Herr Fuchs.«

»Ach, Chef, was soll ich denn den anderen Besuchern sagen, die womöglich noch hereinschneien?«, schickte Andrea Sander eine Frage hinterher.

»Dass ich heute frei habe und ab morgen früh wieder zu sprechen bin.« Daniel zwinkerte ihr zu, ehe er endgültig verschwand.

»Das ist ja wohl die Höhe!« Ungläubig starrte der Verwaltungsdirektor den beiden nach.

Auf dem Weg ins Behandlungszimmer lachte sich Lenni ins Fäustchen.

»Das war großartig. Sie haben ja wirklich was von mir gelernt.«

Daniel schickte ihr einen amüsierten Seitenblick, sagte aber nichts und hielt ihr stattdessen galant die Tür auf.

»Wer kümmert sich denn inzwischen um den Kiosk?«

»Das erledigt Oskar. Hoffentlich lässt er sich nicht wieder von irgendwelchen hübschen Frauen über den Tisch ziehen.«

»Das glaube ich nicht. Dazu hat er viel zu viel Angst vor Ihnen.« Daniel schloss die Tür und komplimentierte Lenni auf die Behandlungsliege.

Während sie den Ärmel zum Blutdruckmessen hochkrempelte, musterte sie ihn misstrauisch.

»Wie meinen Sie denn das?«

Um sich nicht mit einer Antwort um Kopf und Kragen zu reden, steckte Daniel Norden schnell das Stethoskop in die Ohren und begann mit der Untersuchung.

*

»Spüren Sie das?« Christine Lekutat fuhr mit dem Kugelschreiber über das Schienbein ihres Patienten.

Laurenz schloss die Augen und konzentrierte sich.

»Nein.«

»Und das hier?« Sie versuchte es am anderen Bein.

Er schüttelte den Kopf.

»Was hat das zu bedeuten?«

Christine Lekutat zog den Bildschirm des Computers heran und deutete auf die Aufnahme aus der Radiologie.

»Durch den Aufprall hat sich dieser Wirbelknochen verschoben.« Sie umkreiste einen hellen Fleck auf dem Monitor. »An dieser Stelle hat sich im Rückenmarkskanal eine Flüssigkeitsansammlung gebildet. Aufgrund der knöchernen Anteile im Wirbelkörper kann der Kanal dem Druck nicht nachgeben. Folge ist eine Quetschung der Nervenbahnen.« Sie schob den Bildschirm wieder weg und sah Laurenz ernst, aber bestimmt an. »Sie merken ja selbst, dass die Nerven keine Reize mehr weiterleiten.«

»Und was kann man dagegen tun?« Die Sorgen standen ihm ins Gesicht geschrieben.

»Wir operieren.« Christine Lekutat stand auf, ging zum Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. Ihr Blick ruhte auf ihrem Patienten. »Dabei entfernen wir ein möglicherweise vorhandenes Hämatom und erweitern den Wirbelkanal. Nach dem Eingriff bekommen Sie abschwellende und entzündungshemmende Medikamente. Danach sollte alles wieder in Ordnung sein.« Sie wählte eine Nummer und wartete.

»Und was, wenn nicht?« Laurenz Stimme zitterte.

»Dann bekommen Sie einen hübschen Rollstuhl«, erwiderte die Chirurgin unbarmherzig. In diesem Moment meldete sich ihr Gesprächspartner. »Herr Dr. Norden? Hier spricht Lekutat. Wir müssen operieren.«

Schweigend hörte Daniel zu, was die Kollegin ihm zu sagen hatte. Mit jedem Wort wurde sein Herz schwerer.

»Ein unachtsamer Moment, und schon sind drei Leben in Gefahr«, murmelte er.

»Nichts für ungut, Chef. Aber wir wollen es mal nicht übertreiben«, wies Christine Lekutat den Klinikchef zurecht. »Ein Rollstuhl ist ja noch lange kein Todesurteil.«

»Der Mann ist werdender Vater«, brauste Daniel auf. »Können Sie sich vorstellen, dass seine Frau nicht gerade davon träumt, nicht nur einen Kinderwagen, sondern auch ihren Mann zu schieben? Vorausgesetzt, das Kind überlebt die Sache überhaupt.« An seine Frau wollte er in diesem Moment gar nicht denken. Fee würde es sich niemals verzeihen, wenn ihre Freunde nicht wieder gesund wurden. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite. Noch war nichts verloren. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich werde bei der OP dabei sein.« Er legte auf und starrte blicklos vor sich hin, ehe Leben in ihn kam.

Dr. Lekutat dagegen kehrte zu ihrem Patienten zurück.

»Na bitte! Sie haben es selbst gehört! Heute ist Ihr Glückstag. Der Chef persönlich kümmert sich um Sie.«

Laurenz stöhnte auf und schloss die Augen. Er wusste nicht, was schlimmer war. Diese Chirurgin oder die Aussicht darauf, im Rollstuhl zu landen.

*

Auch Sandra Neubeck hatte inzwischen von dem Fahrradunfall erfahren. Dieser Zufall kam ihr gerade recht. Ohne Zögern machte sie sich auf den Weg, um die frisch geschlossene Bekanntschaft vom Mittag gleich zu vertiefen. Sie suchte und fand den Gynäkologen Theo Gröding im Aufenthaltsraum der Ärzte.

Er saß allein am Tisch, eine Tasse Kaffee in der Hand und eine Patientenakte vor sich.

»So ganz allein?«, schützte sie Überraschung vor. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Natürlich.« Sofort schob Theo die Akte von sich. Im Gegensatz zu Christine Lekutat – ihr Spitzname lautete ›Feldwebel‹ – war Sandras Gesellschaft eine wahre Wohltat. »Bitte, setz dich. Auch einen Kaffee?«

»Nein, danke. Sonst brauche ich am Ende noch einen Herzspezialisten.«

»Den hast du ja schon an der Hand.«

»Du meinst Matthias?« Lächelnd winkte Sandra ab. »Wie geht es der schwangeren Frau, die vorhin eingeliefert wurde?«

»Ich hoffe, das Problem mit einer hohen Dosis Magnesium in den Griff zu bekommen.« Er musterte sie nachdenklich. »Aber warum fragst du?«

»Ich will einfach so viel Erfahrung wie nur irgendwie möglich sammeln.« Sandras Lächeln war das eines schüchternen Mädchens, denn sie wusste, welche Wirkung es auf Männer hatte. »Bestimmt kannst du mir dabei helfen.«

»Du erwartest hoffentlich keine Lehrbuchmeinungen von mir«, lachte Theo Göring und wollte eben ausholen, als sich Schritte auf dem Flur näherten.

Gleich darauf steckte Matthias den Kopf zur Tür herein.

»Störe ich?«

»Keineswegs.« Theo Gröding winkte ihn herein. »Ich wollte Sandra gerade davon überzeugen, ihren Facharzt in Frauenheilkunde zu absolvieren. Es gibt kein spannenderes Betätigungsfeld.«

»Hast du mir nicht erzählt, dass dich Gynäkologie noch nie sonderlich interessiert hat?«, wandte sich Matthias sichtlich verwundert an seine Freundin.

Theo spürte, dass ein Gewitter im Anmarsch war. Er nahm seine Tasse und stand auf.

»Ich muss mal wieder nach Frau Grün sehen. Bestimmt kommt ihr beiden wunderbar ohne mich aus.«

»Aber …«, entfuhr es Sandra.

Doch da hatte Theo das Zimmer schon verlassen.

»Frau Dr. Neubeck. Die Ärztin, bei der die Männer dahinschmelzen.« Matthias’ Stimme klang nicht halb so souverän, wie er gehofft hatte. »Gynäkologie also.« Er schlenderte an den Tisch und setzte sich.

»Was dagegen?«, fragte sie schnippisch.

»Nein, nein, natürlich nicht. Jeder von uns hatte eine Findungsphase.«

»Da bin ich ja beruhigt.« Sandras Augen wurden schmal. »Sag mal, was machst du eigentlich hier?« Und nach einer kurzen Pause: »Spionierst du mir etwa nach?«

»Ach was!« Matthias lachte gekünstelt. Er war ein schlechter Schauspieler. »Da habe ich wirklich Besseres zu tun. Zum Beispiel, mich um Laurenz Grün zu kümmern. Den Ehemann der schwangeren Melanie.«

Sandra war dankbar für diesen Themenwechsel.

»Wie geht es ihm?«

»So viel ich weiß, hat er ein Wirbelsäulentrauma erlitten und kann die Beine nicht bewegen.«

»Was heißt das?«

»Wahrscheinlich werden die Kollegen operieren.«

Sandra stand auf und begann, vor dem Tisch auf und ab zu wandern.

»Die arme Frau! Sie hat jetzt schon vorzeitige Wehen.« Sie blieb vor Matthias stehen und sah nachdenklich auf ihn hinab. »Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie vom Zustand ihres Mannes erfährt.«

Ihre Sorge rührt Matthias. Endlich erkannte er die Frau wieder, in die er sich verliebt hatte. Er erhob sich und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Sein Zustand ist stabil. Es wird schon alles gut werden.« Er beugte sich hinab und küsste Sandra auf den Mund. Zu seiner großen Erleichterung erwiderte sie seinen Kuss.

*

Als hätten sich die Gäste abgesprochen, ging es an diesem frühen Abend hoch her im Klinikkiosk. Oskar hatte alle Hände voll zu tun. Er kassierte Zeitschriften, Getränke, Süßigkeiten und kleine Mitbringsel ab. Nebenbei nahm er Bestellungen auf und servierte Getränke und Kuchen an den Tischen, die im überdachten Innenhof unter Palmen standen.

»Ist hier niemand?« Eine Kundin machte ihrem Unmut lautstark Luft. Vor der Kasse hatte sich eine Schlange gebildet.

Oskar stand draußen neben einem Tisch und wartete darauf, dass ein Gast Kleingeld für ein Wasser abgezählt hatte.

»Es tut mir leid. Ich bin im Augenblick allein«, rief er in den Kiosk, als er Lenni sah, die den Flur hinunterkam. Erleichtert atmete er auf.

»Da bist du ja endlich!«, begrüßte er sie ungeduldig. »Wo hast du denn gesteckt?«

»Ich musste etwas Dringendes erledigen.«

»Dringender als das hier?« Vorwurfsvoll deutete er auf die Schlange.

Im Normalfall hätte Lenni sich lautstark gewehrt. Doch irgendetwas war anders an diesem frühen Abend.

»Ich … Ich musste einkaufen.«

Doch Oskar hatte keine Zeit, sich zu wundern.

»Kann ich jetzt endlich bezahlen?« Die Stimme der Kundin überschlug sich. »Ich werde mich bei der Klinikleitung beschweren.«

»Kannst du das übernehmen?«, bat Oskar. »Dann mache ich die Tische hier draußen fertig.«

»Schon gut, ich fliege ja schon!«, schimpfte Lenni laut und deutlich.

»Bitteschön. Wenn es dann schneller geht«, ließ der spitze Kommentar der Kundin nicht auf sich warten.

Lenni verdrehte die Augen und machte sich an die Arbeit.

Oskar nahm das Kleingeld des Gastes in Empfang und ging ein paar Tische weiter, wo er schon sehnsüchtig von Andrea Sander erwartet wurde. Nach einem langen Arbeitstag hatte sie sich vor dem Endspurt eine Pause gegönnt.

»Ein grüner Smoothie? Macht drei Euro fünfzig, bitte.«

Andrea gab ihm vier Euro.

»Stimmt so.« Sie stand auf und schob den Stuhl an den Tisch. »Wie geht es Ihnen eigentlich, Herr Roeckl?«

»Vielen Dank …, gut, gut, alles bestens«, erwiderte Oskar fahrig.

»Und Ihrer Lebensgefährtin hoffentlich auch.«

Er stutzte.

»Natürlich. Sie können sich selbst davon überzeugen. Lenni steht an der Kasse.«

»Ich will nicht stören. Aber es freut mich, dass alles in Ordnung ist.«

Im Normalfall war es nicht so leicht, den ehemaligen Ingenieur aus dem Konzept zu bringen. Doch Andrea Sanders Bemerkung verwirrte ihn. »Warum sollte denn nicht alles in Ordnung sein?«

»Weil sie doch vorhin den Untersuchungstermin beim Chef hatte.«

»Welchen Untersuchungstermin? Lenni war einkaufen.«

»Aber nein. Ich habe doch vorhin selbst in Dr. Nordens Büro mit ihr gesprochen«, versicherte Andrea arglos.

»Warum sollte sie mich denn anlügen?«, stellte Oskar eine berechtigte Gegenfrage.

In diesem Moment ging Andrea Sander ein Licht auf. Blitzschnell dachte sie darüber nach, wie sie ihren Fehler wiedergutmachen konnte.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr wird schon nichts fehlen.« Sie lächelte Oskar zu und machte, dass sie davonkam.

Seine fragenden Blicke brannten wie Feuer in ihrem Rücken. Am liebsten hätte er seine Lebensgefährtin an Ort und Stelle zur Rede gestellt. Doch noch immer herrschte reger Betrieb an der Kioskkasse. Zähneknirschend sah Oskar ein, dass er sich wohl oder übel bis später gedulden musste.

*

Die Operation war überstanden. Fee stand am Bett ihres Freundes Laurenz Grün. Sie kämpfte mit den Tränen.

Unwillig schüttelte er den Kopf.

»Hey, nicht doch. Immerhin bin ich ja noch am Leben.«

Beschämt fuhr sich Felicitas mit dem Ärmel über die Augen.

»Natürlich. Es tut mir leid. Ich mache mir nur solche Vorwürfe.« Sie holte tief Luft. »Wie geht es dir?«

»Als hätte mich eine Dampfwalze überfahren, und nicht nur ein Fahrrad.«

Fee rang sich ein Lächeln ab.

»Ich meinte eigentlich die Beine?«

»Bis jetzt spüre ich nichts. Daniel meinte, dass es ein wenig dauern kann, bis sich die Nerven regeneriert haben. Aber erzählt mir lieber, wie es Melanie geht. Warum war sie noch nicht hier?«

Fee erschrak.

»Du weißt es noch nicht?«

Laurenz’ Augen wurden groß. Er versuchte, sich im Bett aufzurichten. Vergeblich.

»Was ist mit Melanie? Mit unserem Sohn?«

Beschwichtigend legte Fee die Hand auf seinen Arm.

»Durch den Schock hat Melanie vorzeitige Wehen bekommen. Keine Angst, es ist nichts passiert. Aber im Augenblick bekommt sie hochdosiertes Magnesium und muss liegen.«

Laurenz wandte den Blick ab und presste die Lippen aufeinander. Diese Neuigkeit musste er erst einmal verdauen. Es war ganz still im Zimmer. Ab und zu drangen Geräusche von draußen herein, das Quietschen von Gummisohlen auf dem PVC-Boden, leise Stimmen, das Klappen einer Tür.

»Wir haben es nie jemandem erzählt«, brach Laurenz endlich mit heiserer Stimme das Schweigen. »Aber eigentlich hatten wir die Hoffnung schon aufgegeben, je ein Kind zu bekommen.«

»Und ich dachte, Melanie wollte lieber Karriere machen, als sich um ein Kind zu kümmern.«

Der Triumph leuchtete in Laurenz’ Augen auf.

»Das war unsere Absicht. Wir wollten nicht, dass jemand davon erfährt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie nervenaufreibend und anstrengend so eine Kinderwunschprozedur ist. Und dann auch noch wohlmeinende Fragen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das hätten wir nicht ertragen.«

»Verständlich.« Wenn möglich, war Fees Herz noch schwerer geworfen.

Doch Laurenz’ Gedanken weilten bei Frau und Kind.

»Melli und ich haben uns nichts sehnlicher gewünscht als dieses Kind. Und jetzt liege ich hier und kann meine Beine nicht bewegen …, und Melli …« Die Stimme versagte ihm. Er presste die Lippen aufeinander.

Als Felicitas sich über ihn beugen und ihn trösten wollte, hob er abwehrend die Hand.

»Bitte …, ich möchte allein sein.«

Fee blieb nichts anderes übrig, als sich seinem Wunsch zu beugen. Unglücklich wanderte sie den Flur hinab. Jemand ging an ihr vorbei, doch sie hob noch nicht einmal den Kopf.

»Frau Dr. Norden?« Eine Stimme sagte ihren Namen. »Sie sind doch Frau Dr. Norden?«

Widerstrebend blieb Felicitas stehen und drehte sich um. Sie blickte in ein freundliches, auffallend hübsches Gesicht, das sie schon einmal irgendwo gesehen hatte.

»Mein Name ist Sandra Neubeck. Ich bin die … Freundin von Matthias Weigand.« Sandra streckte ihr die Hand hin.

Fee ergriff sie zögernd. Sie war warm und weich.

»Matthias hat schon so viel von Ihnen und Ihrem Mann erzählt«, fuhr Sandra fort. »Ich bewundere Sie so sehr. Fünf Kinder und eine tolle Karriere … Das muss Ihnen erst einmal jemand nachmachen.«

Im Normalfall hätte sich Felicitas über diese freundlichen Worte gefreut. Doch angesichts der drohenden Katastrophe erzeugten sie nur ein flaues Gefühl im Magen.

»Für Bewunderung gibt es absolut keinen Grund«, sagte sie leise, nickte ihr zu und setzte ihren Weg fort.

Sandra überlegte nicht lange und folgte ihr.

»Entschuldigen Sie, ich will wirklich nicht neugierig sein. Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …« Das Ende des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.

Eine sympathische Frau, noch dazu Freundin des geschätzten Kollegen Weigand, ging es Fee durch den Kopf.

»Matthias hat Ihnen bestimmt von dem Fahrradunfall erzählt«, sagte sie endlich.

Sandra nickte.

»Eine schlimme Geschichte.«

»Umso schlimmer, als ich mich schuldig fühle an dem ganzen Dilemma.« Felicitas erzählte, was geschehen war. Es tat ihr gut, sich den Kummer von der Seele zu reden. »Und jetzt sind wir hier. Laurenz kann seine Beine nicht bewegen und Melanie hat vorzeitige Wehen. Wenigstens ist der Fahrradfahrer mit dem Schrecken davongekommen. Das ist aber auch der einzige Trost.«

»Moment mal!«, widersprach Sandra Neubeck energisch. »Die Schuld liegt ja wohl eindeutig bei diesem verantwortungslosen Menschen.«

Felicitas wartete, bis sich die Glastür automatisch vor ihr öffnete.

»Das macht das ganze Unglück aber nicht ungeschehen«, gab sie zu bedenken.

»Das ist richtig. Aber noch ist ja nichts passiert, was sich nicht noch zum Guten wenden könnte.« Am Ende des Flurs blieb Sandra stehen. Sie hatte beschlossen, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden. Nicht, dass die nette Kollegin noch einen Verdacht schöpfte. »Sie dürfen nicht die Hoffnung verlieren«, bat sie innig.

Fee erwiderte das Lächeln der Assistenzärztin.

»Vielen Dank. Auch für das Gespräch. Es hat gut getan, sich mal die Sorgen von der Seele zu reden.«

»Das freut mich sehr.« Sandra legte die Hand auf Fees Arm. »Wir Frauen müssen doch zusammenhalten.« Sie zwinkerte ihr zu. »Bitte melden Sie sich, wenn ich irgendwas für Sie tun kann.« Damit drehte sie sich um und ging den Flur hinunter.

Fee stand noch eine ganze Weile da und sah der jungen Kollegin sinnend nach. Sie konnte ihren Freund Matthias gut verstehen. Sandra Neubeck war wirklich eine ausnehmend nette Person. Mit ihrer Empathie und entsprechenden fachlichen Kenntnissen würde sie es im Arztberuf noch weit bringen.

*

Ein wundervoller Duft zog durch die Einliegerwohnung, die Lenni großzügig mit ihrem Auserwählten Oskar teilte. An diesem Abend hatte er den Kochlöffel geschwungen.

Schnuppernd hob Lenni die Nase.

»Der Gedanke an deine selbstgehobelten Spätzle mit angeschwitzten Zwiebeln und viel Käse hat mir heute das Leben gerettet.« Voller Vorfreude holte sie zwei Teller und Besteck aus den Schränken.

»Ich habe umdisponiert«, teilte Oskar ihr mit, während er energisch in einem Topf rührte.

Misstrauisch hob Lenni eine Augenbraue.

»Ach ja? Und warum?«

»Weil Zucchininudeln mit Risotto gesünder und fettärmer sind.« Unter ihrem skeptischem Blick verteilte er das Reisgericht auf die Teller. »Guten Appetit.«

Lenni griff nach der Gabel, steckte sie in das farblose Risotto und hob sie hoch. In Zeitlupentempo drehte sie sie um und sah zu, wie der klebrige Reis zurück in den Teller klatschte.

»Das sieht aus wie Schonkost für Magenkranke«, bemerkte sie verächtlich.

»Sei nicht albern! Das Gericht ist fettärmer, vitaminreicher und viel gesünder als Käsespätzle.«

»Und so blass wie eine Drachenfrucht.«

»Ich mache das alles nur wegen deiner Gesundheit.« Oskar griff nach dem Besteck und schob sich tapfer eine Gabel voll Reis in den Mund.

Lenni sah ihm kurz dabei zu. Dann knallte sie die Serviette auf den Tisch und stand auf. Oskar sah ihr dabei zu, wie sie die Kühlschranktür öffnete und wieder schloss und mit einer Tüte Parmesan an den Tisch zurückkehrte.

»So schmeckt das doch schon viel besser«, nuschelte sie mit vollem Mund und schob Oskar die Tüte hinüber. »Was denn? Schau mich nicht so an! Wenn ich auf Diät wäre, wüsste ich davon.«

Oskar ignorierte den Käse und aß sein Risotto.

»Du wirst mir doch wohl nicht vorwerfen, dass ich mich um dich kümmere. Ich bin zwar kein Ernährungsberater. Aber in unserem Alter schadet es nicht, ein bisschen auf die Gesundheit zu achten.«

Lenni schnaubte verächtlich.

»Es gibt Menschen, die heißen Frutarier. Die essen ihr ganzes Leben lang nur Obst, damit sie steinalt werden.« Sie beugte sich vor und nahm Oskar ins Visier. »Weißt du, woran die sterben?«

Oskar zuckte mit den Schultern.

»Bestimmt nicht an Vitaminmangel.«

»An Langeweile!«, schleuderte Lenni ihm entgegen. Demonstrativ griff sie noch einmal in die Parmesantüte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schob sie eine Handvoll Käse in den Mund.

Es kostete Oskar alle Mühe, ruhig zu bleiben.

»An mich denkst du dabei überhaupt nicht, oder?«, fragte er beleidigt. »Ich hätte schon gern noch eine Weile was von dir.«

»Du kannst mich ja einbalsamieren lassen und in die Ecke stellen.« Lenni kicherte albern. »Wie dieses Volk, diese Torajan. Ich habe da mal einen Bericht in der Zeitung gelesen …«

Klirrend landete Oskars Gabel im Teller. Reis spritzte nach allen Seiten. Doch er nahm keine Notiz davon. Mit vor Wut blitzenden Augen starrte er Lenni an.

»Wie geschmacklos. Was ist denn nur los mit dir?«

Sein Tonfall brachte sie zur Besinnung.

»Komm schon, Oskar. Das war doch nur ein Scherz.« Beschwichtigend legte sie die Hand auf seinen Arm. »Sei nicht böse. Ich wollte damit doch nur sagen, dass ich mein Leben noch ein bisschen genießen will. Wir wissen doch beide aus eigener Erfahrung, wie schnell es vorbei sein kann.«

Oskar öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Bei Lennis Worten kam ihm wieder die Bemerkung Andrea Sanders in den Sinn, und eine eiskalte Hand mit Namen Angst griff nach seinem Herz.

*

Auch nach der Operation gab es in der Klinik noch genug zu tun für Dr. Daniel Norden, sodass Fee an diesem schicksalhaften Abend allein nach Hause fahren musste. Sie warf den Schlüssel auf die Kommode im Flur und schlüpfte aus den Schuhen.

»Hallo? Ist jemand da?« Ihre Stimme hallte durchs Haus. »Dési? Jan?«

Eine Weile stand sie zwischen Wohnzimmer, Küche und Esszimmer und lauschte. Als sie keine Antwort bekam, holte sie eine Flasche Wein, entkorkte sie und setzte sich an den Esstisch. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was, wenn Melanie das Kind verlor? Oder Laurenz nie mehr laufen konnte? Ein Gedanke war schrecklicher als der andere, und sie war froh, als es klingelte. Das war bestimmt eines der Kinder, das wieder einmal den Schlüssel vergessen hatte. Doch weit gefehlt.

»Sandra …, ich meine, Frau Neubeck?« Überrascht musterte Fee die Besucherin.

»Hallo!« Eine Hand auf der Umhängetasche, stand Sandra vor der Tür. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber Ihre Geschichte hat mir keine Ruhe gelassen. Deshalb war ich vorhin bei Frau Grün. Vielleicht beruhigt es Sie ja, dass es Mutter und Kind halbwegs gut geht. Die Therapie des Kollegen Gröding scheint anzuschlagen. Die Wehentätigkeit ist deutlich zurückgegangen.«

»Sie sind extra hierhergekommen, um mir das zu sagen?« Fee konnte es nicht fassen.

»Ich sagte doch: Wir Frauen müssen zusammenhalten.«

Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, bis Felicitas sich plötzlich an ihre guten Manieren erinnerte.

»Ich bin unhöflich.« Sie trat einen Schritt zur Seite und machte die Tür weiter auf. »Bitte, kommen Sie doch herein.«

»Wenn es keine Umstände macht.«

Fee schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht!« Sie ging voraus ins Esszimmer und bot Sandra einen Platz an. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«­

Sandra entdeckte die Flasche und das halbvolle Glas Rotwein.

»Oh, ich nehme gern auch ein Glas Wein. Aber nur, wenn ich wirklich nicht störe.«

Fee ging in die Küche, um ein Glas zu holen.

»Daniel wurde in der Klinik aufgehalten, und die Kinder sind mal wieder ausgeflogen. Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich an diesem Abend nicht allein sein muss.«

»Verständlich.« Hell klangen die Gläser aneinander. »Aber Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen.«

Fee ließ den Wein im Glas kreisen und sah Sandra Neubeck sinnend an.

»Am liebsten würde ich die ganze Zeit bei den beiden bleiben«, gestand sie leise. »Aber morgen wartet ein anstrengender Tag auf mich. Der OP-Plan ist bis oben hin voll. Da bleibt mir kaum Zeit, mich davonzustehlen.«

Ohne Fee aus den Augen zu lassen, trank Sandra noch einen Schluck.

»Herr Grün liegt auf meiner Station. Ich könnte mich ein wenig um ihn kümmern, wenn Ihnen das etwas hilft.«

»Das würdest du …, ich meine …, das würden Sie tun?«

Sandra lachte leise und hielt Felicitas erneut das Glas hin.

»Warum machen wir und das Leben so schwer? Ich bin Sandra. Aber das weißt du ja längst.«

Fee zögerte kurz.

»Felicitas. Aber das weißt du ja auch schon.« Einen gnädigen Augenblick lang waren die Sorgen vergessen. Die beiden Frauen verschränkten die Arme ineinander und tranken Brüderschaft. Um die neue Freundschaft zu besiegeln, gaben sie sich zu guter Letzt links und rechts ein Küsschen auf die Wangen.

Ihr Lachen war kaum verklungen, als Fees Gedanken schon wieder zu ihren Freunden zurückkehrten.

»Melanie kann ihren Mann nicht besuchen. Das macht es nicht gerade leichter für Laurenz«, murmelte sie versonnen. »Du willst dich wirklich um ihn kümmern?«, hakte sie noch einmal nach, als könnte sie es nicht glauben.

Sandra freute sich. Am Anfang war sie nicht sicher gewesen, ob der Besuch bei der Frau des Chefs nicht doch eine Schnapsidee gewesen war. Das Gegenteil war der Fall. Es hätte gar nicht besser laufen können.

»Natürlich. Wenn es dir damit besser geht!«, erwiderte sie innig.

»Du bist ein Schatz!«, erwiderte Felicitas und fasste zum ersten Mal seit dem Unglück wieder ein wenig Zuversicht.

*

Schon vor Stunden hatte Andrea Sander Feierabend gemacht, und endlich war auch Dr. Norden so weit, nach Hause zu gehen. Er warf einen letzten prüfenden Blick auf den Schreibtisch und überlegte noch, ob er irgendetwas vergessen hatte, als er Schritte hörte.

»Herr Fuchs, was machen Sie denn um diese Uhrzeit noch hier?«, fragte er den Verwaltungsdirektor, der gleich darauf in der Tür auftauchte.

»Ich habe auf Sie gewartet, was denn sonst?« Sichtlich schlecht gelaunt trat Dieter Fuchs an den Schreibtisch. »Haben Sie endlich Zeit für mich?«

Daniel unterdrückte ein Seufzen. Er wusste, dass Fee allein zu Hause war und furchtbar unter dem Unfall litt. Eigentlich hatte er schon vor ein paar Stunden bei ihr sein wollen.

»Hat das nicht Zeit bis morgen? Meine Frau wart …«

»Solche Worte hätte Frau Dr. Behnisch niemals in den Mund genommen. Für sie stand die Klinik immer an erster Stelle«, bemerkte Fuchs verächtlich.

»Deshalb musste sie auch aus gesundheitlichen Gründen aufhören«, erinnerte Dr. Norden den Verwaltungsdirektor.

Der war auf diesem Ohr taub.

»Sie sind jetzt Chef dieser Klinik und kein kleiner Allgemeinarzt mehr. Mir scheint, Sie vergessen das ab und zu.«

Müde fuhr sich Daniel über die Augen. Er hatte weder Zeit noch Lust auf so eine Diskussion.

»Erstens bin ich nicht Dr. Behnisch. Und zweitens denke ich nicht, dass ich mir von Ihnen vorschreiben lassen muss, wie ich meine Arbeit zu tun habe.« Er schob ein paar Unterlagen zusammen und löschte die Schreibtischlampe.

Dieter Fuchs musste wohl oder übel einsehen, dass er so nicht weiterkam. »Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich!«, verlangte er und folgte Daniel ins Vorzimmer, das still und dunkel dalag. »Meinetwegen können Sie arbeiten, wann und wie Sie wollen. Wenn ich eine Entscheidung habe wegen der Assistenzarztstellen. Wie Sie wissen, wurden unsere Mittel gekürzt. Wir können unmöglich alle Assistenzärzte weiterbeschäftigen. Daher bitte ich Sie, die Kandidaten unter die Lupe zu nehmen, die noch in der Probezeit sind. Suchen Sie die beiden vielversprechendsten Kollegen aus. Andernfalls entscheidet das Los.«

»Wie lange habe ich Zeit?« Daniel schloss die Tür zu seinem Büro ab.

»In einer Woche muss ich dem Gremium Rede und Antwort stehen.«

»Gut.« Auf dem Flur verabschiedete sich Dr. Daniel Norden von Dieter Fuchs. »Sie hören rechtzeitig von mir.« Er wandte sich ab, als ihm noch etwas einfiel. »Ach, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte: Ich habe eine Assistentin, der Sie solche Informationen auch geben können. Frau Sander und ich pflegen eine rege Kommunikation.« Diesen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen. Ein Lächeln auf den Lippen machte er sich endlich auf den Weg.

Dieter Fuchs blieb im Flur zurück, die Hände vor Zorn geballt. Der neue Chef würde niemals sein Freund werden, das hatte er von Anfang an gewusst. Doch es nützte alles nichts. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass er Dr. Norden nicht so leicht los wurde. Er musste sich gut mit ihm stellen, wenn er seine Ziele durchsetzen wollte.

*

Am nächsten Tag war Oskar schon früh auf den Beinen. Lenni schlief noch tief und fest, sodass er beschloss, den Kiosk allein aufzuschließen. Wie jeden Morgen gab es viel zu tun. Die alten Zeitungen und Zeitschriften mussten durch die neue Lieferung ersetzt und für die Rücklieferung verpackt werden. Der Getränkekühlschrank musste aufgefüllt und die Vitrine mit Tatjanas noch warmen Backwerken bestückt werden. Und nicht zuletzt musste die Kundschaft versorgt werden, die nicht lange auf sich warten ließ. Oskar stellte benutztes Geschirr an einem der Tische vor dem Kiosk auf ein Tablett, als seine Liebste endlich auftauchte.

»Da bist du ja endlich!« Er hob das Tablett und machte Anstalten, in den Kiosk zu verschwinden.

»Lass das Tablett Tablett sein«, verlangte Lenni und hielt ihn kurzerhand am Ärmel fest. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Wie bitte?« So etwas passte nicht zu der Lenni, die Oskar kannte.

»Du hast schon richtig gehört. Und jetzt setz dich hin!«

»Aber die Kunden …« Oskar deutete auf den Herrn, der sich im Kiosk umsah.

»Im Gegensatz zu mir braucht der dich noch nicht. Es dauert nicht lange.« Ungeduldig drückte Lenni ihren Lebensgefährten auf den Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. Sie machte eine geheimnisvolle Miene. »Ich sage nur ›Bayerischer Hof‹.«

»Du warst Kaffeetrinken im ›Bayerischen Hof‹, während ich hier nicht weiß, wo mir der Kopf steht?« Oskar schnappte nach Luft. »Das kann doch wohl nicht wahr …«

»Halt mal die Luft an!« Sie zog zwei Tickets aus der Tasche und legt sie zwischen sich und Oskar auf den Tisch. Dazu lächelte sie triumphierend. »Na, was sagst du jetzt?«

Oskar griff nach den Karten.

»Tanz in den Mai mit den Singing Swings, Hotel Bayerischer Hof«, las er laut vor.

»Und? Wie findest du das?«

»An diesem Tag war irgendwas.« Oskar stand auf und holte den Terminkalender. Auf dem Rückweg an den Tisch blätterte er darin. »Hier steht es. Da feiert Dr. Berninger seinen Abschied, und Daniel Norden hat uns gebeten, die Gäste zu versorgen.« Er hielt Lenni den aufgeschlagenen Kalender unter die Nase.

Mit einer energischen Handbewegung wischte sie die Bedenken weg.

»Dann muss das eben Tatjana machen.«

»Tatjana hat selbst immer so viel zu tun mit der Bäckerei. Das weißt du doch.«

Lenni saß ihrem Liebsten gegenüber und musterte ihn aus schmalen Augen.

»Du gehst doch gern zum Tanzen, oder? Warum sonst würdest du mich ständig zu diesen Tanztees schleppen?«

»Natürlich! Ich liebe Tanzen.«

»Also gehen wir in den ›Bayerischen Hof‹. Keine Widerrede.«

»Aber …«, wollte Oskar aufbegehren.

In diesem Moment wurde es Lenni endgültig zu bunt.

»Da will ich dir ein Mal eine Freude machen, und dann das!«, rief sie so energisch, dass sich die Gäste nach ihr umdrehten. Doch das störte Lenni herzlich wenig. »Denkst du denn, wir hätten ewig Zeit? Irgendwann sind wir tot. Das war’s dann mit Unternehmungen. Dann sitzen wir im Himmel herum und fragen uns, was wir mit unserem kostbaren Leben angestellt haben. Wir müssen die Zeit nutzen, solange wir noch gesund und munter sind. Irgendwann ist es zu spät.« Feine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Ihr Atem ging schnell.

Aus den Reihen ihrer Zuhörer erklang vereinzelt wohlwollende Zustimmung, ein Gast applaudierte.

Obwohl ein Meister des Verdrängens, bekam Oskar es doch wieder mit der Angst zu tun. Wieder dachte er an die Untersuchung vom vergangenen Tag; an die Lüge, die Lenni ihm aufgetischt hatte. Steckte wirklich etwas Ernstes dahinter?

»Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist so komisch seit gestern.«

»Komisch bist du«, schleuderte Lenni ihm entgegen und marschierte Richtung Kiosk davon.

*

Dr. Sandra Neubeck nahm ihr Versprechen vom vergangenen Abend sehr ernst. Sie hatte die Klinik kaum betreten, als sie sich auch schon auf den Weg in die Gynäkologie machte. Theo Gröding kam ihr entgegen. Er wirkte müde und abgespannt.

»Je früher der Tag, umso schöner die Gäste«, begrüßte er Sandra und rang sich ein Lächeln ab. »Im Gegensatz zu mir scheinst du eine ordentliche Portion Schlaf abbekommen zu haben. Du strahlst wie die Sonne persönlich.«

»Was ist passiert?« Seite an Seite setzten sie ihren Weg fort.

»Frau Grüns Zustand hat sich verschlechtert. Heute Nacht hatte sie eine Blutung. Zum Glück ist es uns gelungen, sie zu stoppen.«

»Weiß sie vom Zustand Ihres Mannes?«, erkundigte sich Sandra.

»Natürlich fragt sie, warum er sie nicht besucht. Wir halten uns so bedeckt wie möglich. Aber Frau Grün ist ja nicht dumm.«

»Und wie geht es ihr jetzt?«

Die Antwort fiel Theo sichtlich schwer.

»Sollte sich Frau Grüns Zustand nicht in den nächsten Tagen stabilisieren, müssen wir das Kind holen.«

Wie angewurzelt blieb Sandra stehen. Dr. Gröding bemerkte es und drehte sich zu um.

»Aber sie ist erst im sechsten Monat. Das Risiko für das Kind wäre dabei sehr groß.« Ihre Stimme hallte über den Flur. Theo legte den Finger auf die Lippen. Leiser fuhr Sandra fort. »Fee Norden hat mir erzählt, wie sehr sich das Ehepaar Grün auf dieses Kind freut. Es war nicht leicht für Melanie, überhaupt schwanger zu werden.«

Theo verzog das Gesicht.

»Ich weiß.« Er seufzte. »Aber du weißt ja, wie das ist. Das Leben der Mutter steht über dem des Kindes.«

Das war beileibe nicht das, was Sandra Neubeck zu hören gehofft hatte.

»Danke«, murmelte sie betreten.

Auf dem Weg zu Laurenz Grün dachte sie angestrengt nach, ohne wirklich eine Lösung zu finden.

»Mein Name ist Dr. Sandra Neubeck«, begrüßte sie den Patienten wenig später.

Laurenz lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte blicklos an die Wand gegenüber. Als die Ärztin zu ihm trat, drehte er langsam den Kopf.

»Wenn Sie gute Nachrichten bringen, können Sie bleiben.« Seine Stimme war schleppend. »Ansonsten will ich niemanden sehen.«

Sandra hatte beschlossen, sich ganz auf ihre Intuition zu verlassen. Sie nahm allen Mut zusammen und lächelte auf Laurenz hinab.

»Ihre Frau wird gerade untersucht. Das Baby ist noch da, wo es hingehört. So viel ich weiß, geht es beiden gut.« Das war zumindest keine ganze Lüge. »Und Sie? Wie fühlen Sie sich?«

»Meine Beine sind immer noch taub.« Er schlug mit der Faust auf die Matratze. »Ein einziger, dummer Augenblick, und mein Leben, unser aller Leben ist zerstört. Und schuld daran ist nur Felicitas Norden.«

Sandra zuckte erschrocken zusammen. Zum Glück hatte sie sich schnell wieder im Griff. Sie setzte sich auf die Bettkante und zögerte kurz, ehe sie Laurenz’ Hand zwischen die ihren nahm.

»Ich kann verstehen, dass Sie verbittert sind«, sagte sie sanft. »Felicitas macht sich schreckliche Vorwürfe. Dabei konnte sie den Fahrradfahrer selbst nicht sehen. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände.«

Laurenz starrte sie an.

»Hat Fee Sie geschickt, um Schönwetter zu machen?« Unsanft zog er seine Hand fort. Seine Augen schossen wütende Blitze. »Eine schöne Strategie, die sie sich da ausgedacht hat. Aber das kann sie vergessen. Wenn sie glaubt, sich so aus der Verantwortung stehlen zu können, dann hat sie sich getäuscht. Wenn meiner Frau oder dem Kind etwas passiert oder wenn ich nicht wieder gesund werde, dann lernt sie mich richtig kennen.« Tränen stiegen ihm in die Augen. »Dann …, dann …«

Sandra dachte nicht lange nach. Sie folgte ihrer Intuition und beugte sich über Laurenz, um ihm mit einem Papiertuch die Tränen von den Wangen zu tupfen.

»Herr Grün, bitte! Ich kann Ihnen versichern, dass Sie hier in den allerbesten Händen sind. Die Kollegen tun alles dafür, dass Sie in Zukunft als glückliche Familie durchs Leben gehen können.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Bitte geben Sie die Hoffnung nicht auf. Und sinnen Sie nicht auf Rache. Damit ist keinem geholfen.«

Ihr Worte blieben nicht ohne Wirkung. Oder war es der Trost ihrer Nähe, ihrer menschlichen Wärme? Nach und nach beruhigte sich Laurenz Grün. Schließlich lächelte er sie matt an.

»Das war nicht Felicitas, die Sie geschickt hat. Es war der Himmel«, sagte er heiser. »Danke, Engel.«

Diese letzten beiden Worte schnappte Matthias Weigand auf, der unbemerkt ins Zimmer gekommen war. Ganz kurz rang er mit der Fassung.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, schickte er einen aufgesetzt freundlichen Gruß ins Zimmer.

Erschrocken rutschte Sandra von der Bettkante und fuhr zu Matthias herum.

Er gab vor, sie erst jetzt zu erkennen.

»Ach, Sandra, hier steckst du. Ich habe dich schon überall gesucht.« Sein Blick war undurchdringlich. »Wartest du bitte in meinem Büro auf mich? Ich muss etwas mit dir besprechen.«

Im Gegensatz zu ihm hatte sich Sandra schnell wieder im Griff.

»Tut mir leid, aber ich habe gleich einen Termin.« Sie ging zur Tür. »Auf Wiedersehen. Und alles Gute, Herr Grün.« Ihr Lächeln galt allein dem Patienten.

»Bitte kommen Sie bald wieder«, bat Laurenz noch, ehe sich die Tür hinter Sandra schloss.

*

Getrieben von seiner Sorge um Lenni nutzte Oskar die ruhige Stunde vor Mittag, um sich aus dem Kiosk davonzustehlen. Sein Ziel war das Büro des Klinikchefs.

»Herr Roeckl, was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Andrea Sander. Sie saß an ihrem Schreibtisch und faltete die Briefe aus der Unterschriftenmappe, um sie in Kuverts zu stecken.

»Es geht um Lenni«, gestand Oskar, nachdem er sich versichert hatte, keine unliebsamen Zuhörer zu haben. »Seit sie gestern bei Dr. Norden zur Untersuchung war, ist sie wie ausgewechselt.« Seine Stirn war sorgenzerfurcht. »Allein, dass sie mir nicht gesagt hat, dass sie einen Termin hat, gibt mir zu denken. Irgendwas stimmt da nicht.« Er sah Andrea flehend an. »Ich muss unbedingt mit Daniel sprechen. Können Sie ihm sagen, dass ich hier bin?«

Andrea Sander zog den Terminkalender heran und blätterte darin.

»Tut mir leid, im Augenblick ist er in einer Besprechung bei Herrn Fuchs. Und auch den Rest des Tages sieht es ganz schlecht aus.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf ein leeres Kästchen. »Morgen könnte ich Sie vielleicht reinschieben.«

»Aber ich muss ihn heute sprechen.«

Andrea tat ihm den Gefallen und sah noch einmal nach.

»Das geht leider nicht.« Bedauernd schüttelte sie den Kopf.

Nervös wanderte Oskar vor ihrem Schreibtisch auf und ab.

»Ich verstehe das nicht. Warum verheimlicht sie so etwas vor mir? Schließlich sind wir doch ein Paar.« Er machte vor dem Schreibtisch Halt und sah Andrea Sander an. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wofür hat man denn einen Partner, wenn man ihm nichts sagt?«

»Das fragen Sie die Falsche. Ich lebe seit Jahren allein«, gestand sie.

»Vielleicht hätte ich auch lieber allein bleiben sollen. Dann müsste ich mir jetzt keine Sorgen machen.«

»Und hätten aber auch niemanden, mit dem Sie sich freuen können«, gab Andrea zu bedenken.

»Das stimmt auch wieder.« Oskar nickte gedankenvoll. »Aber wenn ich daran denke, dass Lenni unheilbar …« Mitten im Satz hielt er inne. Daran wollte er noch nicht einmal denken.

Andrea Sander starrte Oskar an.

»Sie glauben doch nicht etwa …?«

»Sie denken auch, dass sie schwer krank ist, nicht wahr?«, unterbrach er sie. Sein Atem ging schwer. Die Aufregung trieb ihm das Blut ins Gesicht.

Händeringend suchte Andrea nach einem Ausweg.

»Bitte beruhigen Sie sich, Herr Roeckl«, beschwor sie ihn. »Sobald der Cher zurückkommt, rede ich mit ihm. Er wird sich so schnell wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen. Aber bis dahin dürfen Sie die Flinte nicht ins Korn werfen. Versprechen Sie mir das?«

Oskar konnte nicht mehr sprechen. Er begnügte sich mit einem stummen Nicken, drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten und gesenktem Kopf aus dem Zimmer. So oft hatte er sich in der Vergangenheit gefragt, warum er eigentlich mit dem Drachen, der Lenni sein konnte, zusammen war. Warum er sich all ihre Schi­kanen gefallen ließ. Der Gedanke, sie zu verlieren, gab jedoch eine eindeutige Antwort: Es musste Liebe sein! Anders war nicht zu erklären, warum er sich fühlte, als stünde er am Rande eines tiefen Abgrunds.

*

»Ich hoffe, dein Termin war erfolgreich.« Dr. Matthias Weigand stand mit einer Tasse Kaffee im Aufenthaltsraum der Ärzte. Sein durchdringender Blick klebte an Sandra Neubeck, die gerade hereingekommen war.

»Ja, vielen Dank. Und um gleich deine nächste Frage zu beantworten: Ich habe mir von Reinhart ein paar Sachen erklären lassen.«

Ein eifersüchtiger Stich fuhr in Matthias’ Herz. Er war so glücklich gewesen, nach all den Enttäuschungen endlich diese tolle Frau gefunden zu haben. Und nun stellte sich heraus, dass auch sie es offenbar nicht ernst meinte mit ihm. Dieser Verdacht machte einen anderen Mann aus ihm.

»Du lässt nichts anbrennen, was?«, fragte er sarkastisch.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging Sandra an ihm vorbei zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse voll ein. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, waren ihre Augen schmal.

»Jetzt mach mal halblang, Matthias.«

»Mach du mal halblang!«, fauchte er, dass die Schwester, die eben auf dem Flur vorbeiging, die Ohren spitzte. »Mich einfach so abzuservieren, noch dazu vor einem Patienten, das hat noch keine gewagt.«

Sandra lachte kalt.

»Du machst mir eine Szene, weil ich mich mit Reinhart getroffen habe?«

»Nicht nur mit Reinhart. Auch mit Theo. Und nicht genug damit, wirfst du dich jetzt auch noch an Patienten ran.« Matthias bemerkte nicht, dass seine Stimme immer lauter geworden war.

Sandras Augen schossen wütende Blitze.

»Hast du noch alle Tassen im Schrank?«, rief sie empört. »Nur weil wir ein paar Nächte zusammen verbracht haben, bin ich noch lange nicht dein Eigentum. Ich kann mit meiner Zeit anstellen, was ich für richtig halte.«

Matthias atmete schwer.

»Und ich kann nur hoffen, dass das zwischen dir und den Kollegen nichts Ernstes ist.«

Die beiden standen sich gegenüber wie zwei Boxer im Ring. Ohne Matthias aus den Augen zu lassen, machte Sandra einen Schritt auf ihn zu. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Doch es war keine Intimität zwischen ihnen. Ganz im Gegenteil.

»Und wenn ich eine Affäre mit dem Hausmeister hätte, könnte es dir egal sein«, zischte sie wie eine Schlange, knallte die Tasse auf den Tisch, dass der Kaffee überschwappte, und rauschte aus dem Zimmer, ehe Matthias begriffen hatte, was geschehen war.

Er stand noch immer wie betäubt mitten im Raum, als Felicitas Norden hereinkam.

»Hallo, Matthias!«, begrüßte sie ihn und ließ ein Glas mit Wasser volllaufen, ehe sie sich zu ihm gesellte. Sie trank einen großen Schluck und sah ihn dabei an. »Stimmt was nicht? Du bist so blass.«

»Alles gut. Ich habe nur schlecht geschlafen heute Nacht«, redete er sich heraus.

»Und welchen Grund hat das?«

Matthias haderte mit sich. Sollte er Fee sein übervolles Herz ausschütten? Sie war seine Freundin. Abgesehen davon war ihm nicht entgangen, dass sie sich ausnehmend gut mit Sandra verstand.

»Sandra ist heute Nacht nicht zu mir gekommen, obwohl wir verabredet waren.«

»Und das hat dir den Schlaf geraubt?«

»Nicht nur«, gestand er. Er hob die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. Angewidert verzog er den Mund. Der Kaffee war kalt. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich lächerlich mache: Ich habe das Gefühl, dass sich Sandra jedem Mann an den Hals wirft, der nicht bei drei auf dem Baum ist.«

Fee lachte ungläubig.

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie kommst du denn auf so was?«

»Ganz einfach.« Einmal angefangen, fiel es Matthias nicht schwer fortzufahren. »Ich war ihr erstes Opfer.«

»Fragt sich, wer da wen erlegt hat«, scherzte Fee.

Matthias schickte ihr einen tadelnden Blick.

»Gestern habe ich sie im vertraulichen Gespräch mit Theo erwischt. Heute hatte sie einen Termin bei Reinhart aus der Radiologie.« Er haderte mit sich, ob er sein letztes Geheimnis auch noch preisgeben sollte. »Der Abschuss ist aber ihr Techtelmechtel mit deinem Freund Laurenz Grün.«

Schlagartig wurde Fee ernst.

»Augenblick! Jetzt gehst du ein bisschen zu weit. Ich selbst habe Sandra gebeten, sich um Laurenz zu kümmern, weil ich heute den ganzen Tag Termine habe.« Sie trat zu ihrem Freund und nahm ihn ins Visier. »Warum bist du so misstrauisch? Ihr beide seid doch erst so kurz ein Paar. Ihr solltet glücklich verliebt sein und euch nicht gegenseitig das Leben schwer machen. Und euch schon gar nicht die Luft zum Atmen rauben«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

Matthias verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sehr wohl.

»Ich kenne mich ja selbst nicht mehr«, gestand er zerknirscht. Er war vor Fees bohrendem Blick geflohen und schüttete den Kaffee in den Ausguss. »Bisher war Eifersucht immer ein Fremdwort für mich.« Er öffnete den Geschirrspüler und stellte die Tasse hinein. »Aber mit Sandra ist alles anders. Nie zuvor habe ich mich so unsicher in einer Beziehung gefühlt.«

Felicitas hatte aufmerksam zugehört. In ihrer Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte sie sich mit vielen Abgründen der menschlichen Psyche beschäftigt. Diese Fachkenntnis erlaubte es ihr, auch bei Matthias unter die Oberfläche zu blicken.

»Anders als für viele Menschen ist Eifersucht für mich eine wechselseitige Angelegenheit«, versuchte sie, ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Es liegt nicht nur an dir allein«, musste sie zugeben. »Offenbar gibt Sandra dir Grund, dich nicht sicher bei ihr zu fühlen.«

»Ich hätte es nicht treffender sagen können.« Mit den Händen in den Kitteltaschen lehnte Matthias an der Arbeitsplatte. Er ließ sich Fees Worte durch den Kopf gehen. »Natürlich habe ich kein Problem damit, dass sie andere Männer trifft.«

»Wir sind ja auch befreundet, und Sandra macht dir keine Szene, wenn wir uns unterhalten«, warf Felicitas ein.

»Richtig.« Matthias nickte zustimmend und kratzte mit seiner Schuhspitze an einem unsichtbaren Fleck auf dem Boden. »Anders als ich macht sie aber aus jedem Ding ein Geheimnis.« Ratlos kratzte er sich am unrasierten Kinn. »Elena hatte recht.« Wieder einmal erinnerte er sich an das Gespräch, das er mit der befreundeten Schwester geführt hatte. Im Nachhinein konnte er nur den Kopf über sich selbst schütteln. »Wie konnte ich nur behaupten, dass Geheimnisse spannend seien?«

»Manche Dinge muss man eben erst am eigenen Leib erfahren, bevor man wirklich weiß, wie sie sich anfühlen.«

»Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen.« Matthias schnitt eine Grimasse, ehe er Anstalten machte, den Aufenthaltsraum zu verlassen.

Auch für Fee wurde es höchste Zeit, wieder an die Arbeit zurückzukehren.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie, als sich ihre Wege auf dem Flur trennten.

»Ich wüsste gern, was Sandra eigentlich von mir will«, gestand er. »Und von all den anderen.«

»Dann frag sie!« Das war der einzig vernünftige Rat, den Felicitas ihrem Kollegen geben konnte.

Matthias versprach, darüber nachzudenken. Er bedankte sich bei ihr für das Gespräch und verabschiedete sich.

*

In Gedanken versunken eilte Dr. Daniel Norden den Flur hinab. Von der anderen Seite kam Dr. Theo Gröding. Er trug einen Stapel Bücher und blätterte im obersten Band. Dabei übersah er den Chefarzt. Der Zusammenstoß war unvermeidlich. Die Bücher fielen ihm aus der Hand und landeten auf dem Boden.

»Nicht so stürmisch, junger Mann!« Nach dem ersten Schreck bückte sich Daniel lächelnd, um die Unterlagen gemeinsam mit Theo wieder einzusammeln.

»Tut mir leid, Chef. Das war mein Fehler. Jedem kleinen Kind bringt man bei, nicht zwei Dinge auf einmal zu tun.«

»Schon gut. Es ist ja nichts passiert.« Daniel richtete sich auf und legte die Bücher in den Arm des Oberarztes. »Übrigens gut, dass ich Sie treffe. Wie geht es Melanie Grün?«

Eine steile Falte erschien auf Grödings Stirn.

»Sie macht sich große Sorgen um ihren Mann. Aus diesem Grund kam es heute Nacht zu Blutungen. Wenn sich ihr Zustand nicht langsam stabilisiert, werden wir das Kind mit Kaiserschnitt holen müssen.« Theos Blick war mehr als besorgt. »Ich muss Ihnen nicht sagen, welches Risiko für das Baby besteht.«

Diese Nachricht war nicht das, was Daniel zu hören gehofft hatte.

»Wenn es uns nur gelänge, Laurenz wieder auf die Beine zu bringen«, dachte er laut über das Problem nach. »Dann könnte er seine Frau besuchen. Aber solange wir ihn im Rollstuhl zu ihr fahren müssen, wird sie ein Besuch nur noch mehr aufregen.« Unwillig schüttelte Dr. Norden den Kopf. Leider gab es für manche Probleme keine einfache Lösung. »Wenn mir etwas einfällt, melde ich mich bei Ihnen. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, bat er Theo Gröding noch und wollte sich wieder auf den Weg machen, als ihm noch etwas einfiel. »Ach, übrigens: Könnten Sie heute Nachmittag gegen fünfzehn Uhr bei mir vorbeischauen? Es geht um die Assistenzärzte, die sich noch in der Probezeit befinden. In dieser Angelegenheit muss ich etwas mit Ihnen und den Oberärzten der anderen Abteilungen besprechen.«

»Ich denke, das lässt sich einrichten«, stimmte Theo Gröding nach kurzem Zögern zu.

»Danke.« Daniel Norden nickte dem Kollegen zu und machte sich wieder auf den Weg.

Kurz nach seiner Frau betrat er das Vorzimmer seines Büros.

Fee begrüßte ihn mit einem Lächeln.

»Oh, Dan, gut, dass du hier bist. Hast du fünf Minuten?«, fragte sie.

Damit war sie nicht allein.

»Ich müsste Sie auch kurz sprechen«, erklärte auch Andrea Sander.

Daniel sah von einer zur anderen.

»Welches Parfum habe ich heute benutzt, dass die Frauen auf mich fliegen?«, scherzte er. »Sie verstehen doch sicher, dass ich meiner Frau den Vortritt lasse«, sagte er zu Andrea.

Ergeben sank sie auf den Stuhl zurück. Was hätte sie auch dagegen einwenden können?

Fee schloss die Tür hinter sich. Auf dem Weg zu ihrem Mann hatte sie sich das Gespräch mit Matthias Weigand noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

»Ich mag Sandra Neubeck wirklich gern. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie es nicht ehrlich mit Matthias meint.«

»Wie kommst du darauf?« Daniel schenkte zwei Tassen Tee ein und reichte eine davon seiner Frau.

Sie dankte ihm mit einem Lächeln.

»Er hat mir vorhin sein Herz ausgeschüttet.«

Ohne seine Frau aus den Augen zu lassen, trank Daniel einen Schluck.

»Was hat er gesagt?«

»Dass er den Eindruck hat, dass sie nicht nur an ihm interessiert wäre, sondern auch an anderen Kollegen.«

»Zum Beispiel?«

»An Reinhart Witt, Theo Gröding.« Sie machte eine Pause. »Und an meiner Wenigkeit.«

Die letzte Bemerkung brachte Daniel zum Schmunzeln.

»Du meinst, Sie hätte dir den Hof gemacht?« Mit seiner Tasse kehrte er an den Schreibtisch zurück.

Fee setzte sich auf die Tischkante. Nachdenklich drehte sie die Tasse in den Händen.

»Nicht so, wie du mit deiner schmutzigen Männerfantasie jetzt denkst«, witzelte sie, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich sie gestern auf dem Flur getroffen habe.«

»Ich bin ihr jetzt noch dankbar, dass sie dich getröstet hat.«

Felicitas stellte die Tasse auf den Schreibtisch und verschränkte die Finger ineinander. Sie sah ihren Mann fragend an.

»Findest du es nicht komisch, dass sie mich noch am selben Abend zu Hause besucht hat? Ich will ja nicht undankbar sein, und ihre Anteilnahme hat mir wirklich gutgetan.« Sie erinnerte sich an Matthias’ Bemerkung über Laurenz. »Aber so im Nachhinein ist es schon komisch. Bis vor ein paar Tagen hat sie mich kaum eines Blickes gewürdigt. Und plötzlich tut sie so, als wäre ich ihre beste Freundin.« Sie seufzte. »Irgendwas ist faul an der Sache.«

»Schon möglich«, räumte Daniel ein, ehe er seine Tasse leerte. »Könnte dein Eindruck aber auch daran liegen, dass du seit dem Unfall extrem angespannt bist?«, stellte er eine berechtigte Frage, über die Fee gründlich nachdachte.

»Ich fürchte, du hast recht«, seufzte sie endlich und rutschte von der Tischkante. »Wenn ich nämlich ganz ehrlich bin, finde ich nicht nur die Sache mit Sandra komisch. Auch Lenni ist meiner Ansicht nach irgendwie anders.« Sie winkte ab und küsste ihren Mann zum Abschied. »Offenbar sehe ich wirklich an jeder Ecke Gespenster.«

»Sorgen solltest du dir erst machen, wenn aus den Gespenstern weiße Mäuse werden«, scherzte Daniel und brachte sie zur Tür.

»Mach dich nur lustig über mich«, beschwerte sie sich, und sofort wurde Daniel ernst.

»Das würde ich niemals tun«, raunte er in ihr Ohr und küsste sie. »Ich will dich nur zum Lachen bringen. Dich so verzweifelt zu sehen, ist das Schlimmste für mich.«

Sie rieb ihre Wange an der seinen.

»Ich liebe dich«, sagte sie leise, wohlwissend, dass diese drei Worte noch nicht einmal ansatzweise das auszudrücken vermochten, was sie wirklich für ihn empfand.

*

Wie ein Luchs lauerte Andrea Sander darauf, dass Felcitias Norden das Büro des Chefs endlich verließ. Den Stimmen, die von drinnen zu ihr hallten, entnahm sie, dass der Abschied kurz bevorstand.

Als Fee die Tür öffnete, lag Andreas Hand schon auf der Klinke.

»Sie haben es aber eilig.« Fee lachte belustigt auf.

»Die Zeit des Chefs ist so knapp, dass man jede Minute nutzen muss«, erwiderte die Chefsekretärin mit gewichtiger Miene. »In genau fünf Minuten muss er sich schon wieder auf den Weg zur nächsten Besprechung machen.«

Fee drehte sich zu ihrem Mann um und lachte.

»Hoffentlich muss ich jetzt kein schlechtes Gewissen haben, zu viel von deiner kostbaren Zeit vergeudet zu haben.«

»Von vergeuden kann überhaupt keine Rede sein.« Daniel zwinkerte seiner Frau zu, ehe er Andrea Sander hereinbat. »Wir sollten uns nicht immer so sehr von Terminen bedrängen lassen, sondern uns auch ab und zu Zeit nehmen und durchatmen«, erklärte er und kehrte auf seinen Chefsessel zurück. »Schließlich haben wir alle nur dieses eine Leben.«

Andrea trat an den Schreibtisch. Mit einem Mal schien sie es gar nicht mehr so eilig zu haben. Obwohl sie sich genau überlegt hatte, wie sie ihren Chef auf Lennis Gesundheit ansprechen sollte, wusste sie in diesem Augenblick nicht mehr, wie sie das Gespräch beginnen sollte, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. Schließlich entschied sie sich für einen Umweg.

»Sie haben ja so recht«, seufzte sie und knetete verlegen ihre Finger. »Umso schlimmer stelle ich es mir vor, einem Patienten ins Gesicht sagen zu müssen, dass er schwer krank ist.«

Dr. Norden nickte.

»Der Tod ist leider unser ständiger Begleiter. Wer sich mit dieser Tatsache nicht anfreunden kann, hat den falschen Beruf gewählt.«

Nachdenklich wischte Andrea Sander über die blanke Ecke des Tisches.

»Besonders schwierig ist es sicher, wenn man einem Bekannten oder gar Freund eine schlechte Botschaft überbringen muss.«

Diese Bemerkung erinnerte Daniel an Laurenz und Melanie Grün.

»Da haben Sie recht.« Er hatte kaum ausgesprochen, als das Telefon klingelte. »Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, was ich für Sie tun kann.«

»Ach, schon gut.« Andrea Sander winkte ab. »Gehen Sie nur an den Apparat.«

Verwundert sah Daniel Norden ihr nach, wie sie aus seinem Büro eilte. Dann griff er nach dem Hörer, bevor der Anrufer die Geduld verlor und wieder auflegte.

*

»Was mir Sorgen macht, ist die Tatsache, dass Sie die Beine immer noch nicht bewegen können«, erklärte Dr. Lekutat, nachdem sie Laurenz Grün einer weiteren Untersuchung unterzogen hatte. »Bei einem Dickerchen würde ich ja nichts sagen. Aber bei einem sportlichen, hübschen Kerl, wie Sie einer sind … Jammerschade.«

Laurenz traute seinen Ohren kaum. Selbst wenn Christine Lekutat eine schlanke Schönheit gewesen wäre, hätte er für diese Worte kein Verständnis aufgebracht. Dass sie das genaue Gegenteil war, brachte das Fass zum Überlaufen.

»Was erlauben Sie sich! Ich werde mich bei Dr. Norden beschweren.«

»Meine Güte, da macht man schon mal ein Kompliment und dann so was.« Beleidigt presste Dr. Lekutat die Lippen aufeinander und setzte ihre Tests schweigend fort.

Sie hatte ihre Arbeit beendet, als sich Daniel Norden zu ihnen gesellte.

»Hallo, Laurenz, wie geht es dir?«

»Frag mich das lieber, wenn ich wieder laufen kann und unser Kind gesund auf der Welt ist.«

Daniel nickte stumm. Was hätte er dazu auch sagen sollen? Sein fragender Blick wanderte weiter zu seiner Kollegin.

»Wie sieht es aus?«

»Der junge Mann leidet immer noch unter einer Parese der unteren Extremitäten. Er spürt seine Beine nicht. Sie zeigen weder eine Reaktion auf Reize noch reagieren sie auf Reflexe.«

Daniel Norden ging hinüber zum Schreibtisch und rief die Aufnahmen von Laurenz im Computer auf. Nachdenklich studierte er die Bilder.

»Merkwürdig. So wie es aussieht, ist der Eingriff gelungen. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, warum die Lähmungserscheinungen nicht zurückgehen.«

Schweigend hatte Laurenz gelauscht.

»Was schlägst du vor?«, fragte er, obwohl er nicht sicher war, ob er die Antwort hören wollte.

»Offensichtlich liegt eine Blockade vor, deren Grund wir herausfinden müssen.« Daniel erhob sich und kehrte zu seinem Freund zurück. »Deshalb halte ich es für sinnvoll, eine Kernspintomographie durchzuführen. Danach wissen wir mehr.«

Laurenz ballte die Hand zur Faust.

»Na bravo! Das alles habe ich deiner Frau zu verdanken.« Wenn möglich wurde seine Miene noch düsterer. »Bezahlst du sie eigentlich dafür, dass sie für neue Patienten sorgt? Ganz schön raffiniert, muss ich sagen.«

Angesichts der Verachtung, die ihm entgegenschlug, blieb Daniel die Luft weg.

Christine Lekutat dagegen lachte laut auf.

»Hat man da noch Worte? Und über mich regen Sie sich auf! Dabei sind Sie auch nicht besser.« Tröstend klopfte sie ihrem Chef auf die Schulter. »Wir sollten uns lieber um jemanden kümmern, der unseren Einsatz zu schätzen weiß.«

Dr. Norden verdrehte die Augen gen Himmel und mahnte sich zur Ruhe. Manchmal war es nicht leicht, die Nerven zu behalten. Vernünftig, wie er war, beschloss er, sämtliche Bemerkungen zu ignorieren.

»Bitte sorgen Sie dafür, dass Herr Grün in die Radiologie gebracht wird. Sobald die neuen Aufnahmen da sind, besprechen wir das weitere Vorgehen«, erklärte er ruhig, aber bestimmt. »Inzwischen bitte ich alle Beteiligten um Vernunft. Die Augen können wir uns immer noch auskratzen, wenn unsere Bemühungen fehlschlagen.«

Er nickte Laurenz zu, ehe er das Krankenzimmer verließ. Auf dem Weg zur Besprechung mit den Oberärzten fragte er sich, ob er Fee nicht unrecht getan hatte. Einige Leute benahmen sich wirklich sehr sonderbar, und er war sich ganz sicher, dass er sich das nicht nur einbildete.

Dr. Felicitas Norden stand im Flur und sah einem kleinen Patienten nach, der, flankiert von seinen Eltern, die Klinik verlassen konnte. Mutter und Vater spielten ›Engelchen flieg‹ mit ihm und schwenkten ihn hoch durch die Luft. Der Kleine kreischte vor Vergnügen. Im Normalfall waren Fee diese Augenblicke lieb und teuer. Doch diesmal hatte sie Laurenz’ und Melanies Bild vor Augen. Würden sie die Klinik jemals zu dritt und auf ihren eigenen Beinen verlassen können?

»Ach, Fee, gut, dass ich dich treffe. Kann ich dich kurz sprechen?«

Oskar Roeckls Stimme riss sie aus ihren bangen Gedanken.

»Natürlich.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Was kann ich für dich tun?«

»Es geht um Lenni«, erwiderte er so ernst, dass sie einen Schrecken bekam.

Die ehemalige Haushälterin begleitete sie nun schon so lange, dass sie sich gar nicht mehr an die Zeit ohne sie erinnern konnte. Inzwischen gehörte die resolute, aber herzensgute Frau zur Familie und war nicht mehr wegzudenken aus dem täglichen Leben. Nur so war es zu erklären, dass Fees Stimme leise zitterte, als sie fragte: »Was ist mit ihr?«

Oskar sah sich um, als ob er fürchtete, dass die Wände Ohren haben könnten.

Diese Angst war nicht unbegründet. Felicitas Nordens ungeliebter Stellvertreter Volker Lammers ließ keine Gelegenheit aus, um seine Chefin bloßzustellen oder lächerlich zu machen. Dieser Gefahr wollte Oskar sie nicht aussetzen.

»Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«

Felicitas überlegte nicht lange.

»Gehen wir in mein Büro.« Sie ging vor und hielt ihm die Tür auf. »Also, was ist los?«, wiederholte sie ihre Frage, kaum dass sie in der Besucherecke Platz genommen hatten. »Jetzt mach es nicht so spannend!«

Nervös rutschte Oskar vor an die Sofakante.

»Also, Lenni … Ich fürchte, es geht ihr nicht besonders gut. Um ehrlich zu sein … Ich glaube, dass es ziemlich schlimm um sie steht.«

Mit allem hatte Fee gerechnet, nur nicht damit. Seit ihrer Herzoperation vor ein paar Jahren erfreute sich Lenni bester Gesundheit. Das bestätigten Daniels halbjährliche Untersuchungen jedes Mal aufs Neue. Entsprechend groß war ihr Schrecken.

»Um Gottes willen. Was fehlt ihr denn?«

»Hat Daniel nicht mit dir darüber gesprochen?«

»Kein Wort.«

»Sie … Ich … Ach …« Oskar versagte die Stimme.

Am liebsten wäre Fee aufgesprungen und hätte ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt.

»Jetzt rede endlich mit mir!«, verlangte sie energischer als beabsichtigt.

Angesichts ihrer Verzweiflung war es auch um Oskars Beherrschung geschehen. Er kämpfte mit den Tränen und schüttelte nur stumm den Kopf. Tausend Gedanken, einer schlimmer als der andere, schossen Fee durch den Kopf. Eines war klar: Wenn der sonst so nüchterne Oskar weinte, war Gefahr in Verzug. Wegen der Geschichte mit Melanie und Laurenz lagen ihre Nerven ohnehin schon blank. Was musste denn noch alles passieren? Sie presste die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien.

»Wann … Wann hat sie dir gesagt, dass sie krank ist?«, fragte sie endlich tonlos.

Oskar schluckte an seinen Tränen und hatte sich schließlich so weit gefasst, dass er wieder sprechen konnte.

»Das ist ja das Schlimme! Dieser alte Sturkopf spricht nicht darüber!« Die Unsicherheit machte ihn wütend. »Sie macht nur so komische Andeutungen und benimmt sich ganz seltsam. Stell dir vor: Heute früh hat sie mir sogar Karten für den Tanz in den Mai im ›Bayerischen Hof‹ geschenkt.«

»Das ist wirklich ein Alarmsignal!«, entfuhr es Felicitas. Sie eilte zum Telefon, um Daniel zur Rede zu stellen.

Doch Andrea Sander konnte ihr nur sagen, dass der Chef im Augenblick nicht zu sprechen war.

*

Daniel Norden hatte die Riege seiner Oberärzte um sich versammelt, in deren Abteilung ein Assistenzarzt arbeitete, der sich noch in der Probezeit befand. Theo Gröding war ebenso gekommen wie der Radiologe Reinhart Witt und der Oberarzt der Onkologie, Walter Köhler.

Auch Matthias Weigand als Chef der Inneren Medizin und Christine Lekutat für die Chirurgie waren anwesend. Sie alle hatten sich um den Besprechungstisch im Büro des Klinikchefs versammelt und warteten gespannt darauf, was Dr. Norden ihnen zu sagen hatte.

»Meine Herrschaften, durch die nicht eingeplante Anschaffung eines in Deutschland bisher einzigartigen Geräts zur Optimierung unserer Krebstherapien ist unser Finanzhaushalt in Schieflage geraten. Deshalb hat der Verwaltungschef Dieter Fuchs Sparmaßnahmen verordnet.«

»Hört, hört!«, unkte Reinhart Witt. »Sollen wir in Zukunft auf eine Narkose verzichten und die Patienten mit Whiskey und einem Holzkeil zwischen den Zähnen ruhig stellen?«

»Whiskey ist viel zu teuer«, warf Matthias grinsend ein. »Wahrscheinlich schafft der Sparfuchs einen Holzhammer für alle an.«

Alle lachten. Bis auf Daniel Norden.

»So lustig ist die Sache leider nicht«, fuhr er fort. Das Raunen und Tuscheln verstummte. »Die Stellen unserer Assistenzärzte stehen auf dem Prüfstand. In Ihren Abteilungen arbeiten junge Kollegen, die allesamt noch in der Probezeit sind.« Er ließ den Blick über die Runde schweifen. »Ich habe Sie heute hergebeten, um darüber zu diskutieren, welcher der Kollegen oder Kolleginnen das Zeug zu hervorragenden Ärzten haben. Oder anders herum gesagt: Welcher Vertrag vorzeitig aufgelöst werden soll.«

Damit hatte keiner der Anwesenden gerechnet. Betroffenes Schweigen machte sich in der Runde breit. Die Ärzte tauschten fragende Blicke.

Es war schließlich Theo Gröding, der den Reigen eröffnete.

»Das ist starker Tobak, den der verehrte Herr Fuchs da von uns verlangt. Wir haben jetzt schon personelle Engpässe.«

Die Kollegen nickten zustimmend.

»Ich weiß.« Dr. Norden seufzte. »Trotzdem muss ich Sie bitten, in sich zu gehen.«

»Ich für meinen Teil kann so eine weitreichende Entscheidung nicht übers Knie brechen«, stellte Reinhart Witt klar. »Allerdings gibt es eine Kandidatin, die unbedingt die Chance verdient hat, ihren Facharzt bei uns zu machen.« Sein Blick flog zu Matthias Weigand, der in Gedanken versunken am Tisch saß. »Sandra Neubeck besticht nicht nur durch ihr fundiertes Wissen, sondern auch durch ihren Eifer und ihre Empathie. Sie wird eine hervorragende Ärztin werden.« Er grinste Matthias an. »Ich sage es ja nicht gern. Aber du hast Geschmack, Matse.«

»Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn«, warf Christine Lekutat ein. Jeder andere hätte Applaus erhalten. Nicht so die Chirurgin. Sie erntete lediglich Augenrollen.

»Danke.« Matthias erwiderte Reinharts Lächeln. »Das sehe ich übrigens auch so.«

»Ich schließe mich der Meinung an«, meldete sich der Gynäkologe Theo Gröding zu Wort. »Sandra ist eine ausnehmend engagierte junge Frau, die es noch weit bringen wird.«

»Sofern der Kollege Weigand sie nicht direkt schwängert«, platzte Dr. Lekutat heraus.

Diesmal landete sie einen Treffer. Alle lachten. Lediglich Matthias Weigand und Dr. Norden blieben ernst.

»Das werden alle Beteiligten zu verhindern wissen«, knurrte der Notarzt. Er ärgerte sich nicht so sehr über die Bemerkung. Vielmehr war ihm eine böse Ahnung in den Sinn gekommen, die Daniel nur noch bekräftigte.

»Im Übrigen ist meine Frau Felicitas derselben Ansicht.« Daniel hatte beschlossen, Christine Lekutats Einwurf zu ignorieren. »Auch sie hält Frau Neubeck für eine äußerst talentierte und sehr menschliche Kollegin. Eine Fähigkeit, die nicht hoch genug geschätzt werden kann.« Er zog Block und Stift heran und setzte Sandras Namen an die oberste Stelle auf der Liste. »Gut, halten wir fest: Sandra Neubeck bleibt bei uns. Was ist mit Ihrem Kandidaten, Kollege Witt?«, wandte sich Daniel Norden an den Radiologen.

Der hatte inzwischen Zeit ­gehabt, über die Qualifikation seines Assistenzarztes nachzudenken, und tat seine Meinung kund, die lebhaft diskutiert wurde. Nur Matthias Weigand schwieg beharrlich. Er war so sehr in seine Gedanken an Sandra und seiner bösen Ahnung versunken, dass das Gespräch der Kollegen an ihm vorbeirauschte. Erst, als sich die Runde auflöste und Stühle gerückt wurden, erwachte er aus seiner Erstarrung. Auf dem Weg nach draußen nahm Daniel seinen Freund zur Seite.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Alles bestens!«, versicherte Matthias, ehe er sich mit einer Ausrede verabschiedete.

*

Daniel Norden blieb nicht viel Zeit, sich Gedanken über das Gespräch zu machen. Kaum hatten die Kollegen sein Büro verlassen, kam Andrea Sander mit einer CD herein.

»Das hat eine Schwester aus der Radiologie vorbei gebracht.« Sie reichte Daniel die CD. »Sie hat gesagt, es sei dringend.«

Daniel Norden warf einen Blick auf die Hülle. Er las den Namen seines Freundes, und sein Herz wurde schwer.

»Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Andrea fürsorglich.

»Doch, doch, alles in Ordnung.« Daniel zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und zog sich an seinen Schreibtisch zurück.

Nur fünf Minuten später war er auf dem Weg zu Christine Lekutat.

»Sehen Sie sich das an!«, verlangte er und reichte ihr den Datenträger.

Im Stehen schob sie die CD ins Laufwerk.

»Sieh mal einer an. Da haben wir ja den Störenfried.«

»Dann sehen Sie es also auch?« Daniel hatte gefürchtet, sich zu irren. Die Bestätigung der Chirurgin gab ihm neue Hoffnung.

»Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass ein Blutgerinnsel auf das Rückenmark drückt.« Sie zwängte sich auf den Stuhl, rief die anderen Bilder auf und studierte sie eingehend. »Aber eines ist sicher: So, wie das Ding liegt, wird die OP kein Spaziergang.«

Trotz der Warnung fackelte der Klinikchef nicht lange.

»Wir haben keine Wahl. Je länger wir warten, umso kleiner werden unsere Erfolgschancen.« Mit großen Schritten durchmaß Daniel das Zimmer.

An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Bitte besorgen Sie einen freien OP und trommeln Sie ein ordentliches Team zusammen. Klaiber, Weigand … und den Orthopäden Kohler hätte ich auch gern dabei«, zählte er einen Wunschkandidaten nach dem anderen auf. »Und natürlich Schwester Elena. Sie hat am meisten Erfahrung von allen Schwestern im Haus.«

»Und Sie? Gönnen Sie sich inzwischen ein Tässchen Kaffee, während ich die Arbeit mache?«, fragte Christine Lekutat aufreizend.

»Ich gehe zu meinem Freund Laurenz und erkläre ihm unseren Plan.«

»Dann verschweigen Sie ihm aber nicht, dass seine Chancen gut stehen, im Rollstuhl zu landen.«

Daniel verdrehte die Augen.

»Ich werde ihm sagen, dass ich mit ihm am Stadtlauf teilnehmen will«, erwiderte er und eilte aus dem Zimmer.

Dr. Lekutat sah ihm kopfschüttelnd nach.

»Unbelehrbarer Optimist!«, schimpfte sie, ehe sie sich daran machte, seinen Arbeitsauftrag in die Tat umzusetzen.

*

Die klinikeigene Flüsterpost funktionierte wieder einmal perfekt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht über Lennis schwere Erkrankung, natürlich hinter ihrem Rücken. Sie wischte gerade einen Tisch ab, als Schwester Elena vorbeikam.

Sie hatte sich spontan mit ihrer Freundin Fee Norden und Andrea Sander auf eine schnelle Tasse Kaffee im Kiosk ›Allerlei‹ verabredet. Ihre Kolleginnen saßen schon unter den Palmen und steckten die Köpfe zusammen. Trotzdem machte Elena kurz bei Lenni Halt.

»Hallo, Lenni, schön, Sie zu sehen!«, begrüßte sie sie überschwänglich. »Wie geht es Ihnen denn?«

Überrascht blickte Lenni auf.

»Sehr gut, danke der Nachfrage«, erwiderte sie sichtlich verwirrt. »Ich frage mich nur, warum sich neuerdings die halbe Klinik für mein Wohlbefinden interessiert.«

»Wir nehmen eben an Ihrem Leben teil«, redete sich Elena schnell heraus.

»Und? Was hat sie gesagt?«, fragte Andrea, kaum dass sich Elena gesetzt hatte.

»Dass es ihr sehr gut geht«, erwiderte sie schulterzuckend.

»Du kennst doch den alten Haudegen. Lieber hackt sie sich eine Hand ab, als dass sie eine Schwäche zugibt«, raunte Andrea besorgt.

Noch immer hatte Felicitas keine Gelegenheit gehabt, mit ihrem Mann zu sprechen.

»Ich kenne Lenni.« Sie seufzt abgrundtief. »Sie will uns nicht zur Last fallen.« Sie warf einen unauffälligen Blick hinüber in den Kiosk. Oskar war seiner Liebsten entgegengeeilt.

»Das ist doch viel zu schwer für dich.« Kurzerhand nahm er ihr das Tablett aus der Hand.

»Was ist denn in dich gefahren?« Lennis empörtes Schnauben hallte durch den Kiosk. »Ich werde schon nicht zusammenbrechen.«

»Das kann man nie wissen.« Er wies mit dem Kopf auf den kleinen Tisch in der Ecke. »Setz dich lieber hin und kümmere dich um die Abrechnung.«

»Du überlässt mir freiwillig die Rechnungen? Bist du krank?« Mit energischem Griff nahm Lenni ihrem Liebsten das Tablett wieder aus der Hand. »Was ich angefangen habe, mache ich auch zu Ende. Und jetzt geh mir aus dem Weg! Ich muss das Geschirr aufräumen.«

»Das kann ich genauso gut machen. Gib mir das Tablett!«, verlangte Oskar so ärgerlich, dass sich auch noch die letzten Gäste nach dem streitenden Paar umdrehten.

»Lass mich in Ruhe und kümmere dich um deinen eigenen Kram! Die Frau da drüben möchte bezahlen.«

Oskar sah sich um. Auf diese Gelegenheit hatte Lenni nur gewartet und flüchtete mit dem Tablett Richtung Küche.

Als er bemerkte, dass er auf einen Trick hereingefallen war, stampfte Oskar mit dem Fuß auf wie ein kleines Kind.

»Wie kann man nur so störrisch sein?«

Fee, Andrea und Elena drehten sich wieder um.

»Ehrlich gesagt kann ich Lenni ganz gut verstehen«, stellte Andrea fest. »Wenn ich schwer krank wäre, würde ich auch so lange weitermachen, wie es geht.«

»Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als ob alles in Ordnung wäre«, wandte Fee ein. »Schlimm genug, dass ich Laurenz und Melanie nicht helfen kann. Da kann ich doch nicht auch noch tatenlos dabei zusehen, wie es mit Lenni bergab geht.«

»Du hast vollkommen recht. Wenn sie schon nicht auf sich achten will, dann müssen es wenigstens die Menschen machen, die sie lieben«, murmelte Schwester Elena.

Felicitas seufzte unglücklich.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich das anstellen soll.«

»Vielleicht mit sanfter Gewalt?«, machte Elena einen Vorschlag.

Andrea Sander schüttelte energisch den Kopf.

»Ausgeschlossen. Wir sollten sie ganz normal beha …« Aus den Augenwinkeln sah sie, das Lenni auf ihren Tisch zusteuerte. Sie verschluckte den Rest des Satzes und setzte ein freundliches Lächeln auf.

»Habt ihr keine Arbeit, oder warum sitzt ihr hier so lange untätig herum?«, schimpfte sie und wollte nach Fees Tasse greifen.

»Schon gut, ich mache das schon.«

»Sie sollen sich nicht überanstrengen«, ergänzte Schwester Elena.

»Gönnen Sie sich doch auch mal eine Pause.« Während Fee mit Lenni um die Tasse rangelte, lächelte Andrea Sander freundlich und stand auf. »Bitte, setzen Sie sich doch.«

Doch Lenni dachte nicht im Traum daran, das Angebot anzunehmen.

»Was ist denn in euch gefahren?«, schimpfte sie aufgebracht und zog so energisch an der Tasse, dass Fee unvermittelt losließ. Die Tasse fiel zu Boden und zersprang in hundert Scherben. Sofort bückten sich Fee, Andrea und Elena und sammelten die Bruchstücke auf.

Wie versteinert stand Lenni daneben und starrte auf die drei Frauen hinab.

»Ich muss unbedingt mit dem Chef reden«, murmelte sie auf dem Rückweg in den Kiosk, wo sie Kehrblech und Besen holen wollte. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Allmählich wird diese Klinik ein Irrenhaus.«

*

»Bevor ich meine Zustimmung gebe, will ich Melanie sehen!« Nachdem Daniel Norden mit ihm über die geplante Operation gesprochen hatte, starrte Laurenz Grün seinen Freund trotzig an.

Mit allem hatte der Klinikchef gerechnet. Nur nicht damit.

»Damit setzt du das Leben eures Kindes aufs Spiel! Melanie erträgt keine Aufregung mehr. Sie hatte heute Nacht eine Blutung. Wenn es uns nicht gelingt, ihren Zustand zu stabilisieren, müssen wir das Kind auf die Welt holen. Dann kann ich für nichts mehr garantieren«, redete Daniel leidenschaftlich auf seinen Freund ein.

In Laurenz’ Blick lag all die Verachtung, die er in diesem Moment für Daniel empfand.

»Auf deine Garantien pfeife ich!«, erwiderte er wegwerfend. »Wenn deine Frau nicht gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert. Dann würde Melanie jetzt zufrieden zu Hause auf dem Sofa liegen und ihre Vorabendserie anschauen, statt mitten in einem Horrortrip zu stecken.« Bei dieser Vorstellung brannten Tränen in seinen Augen.

»Laurenz, bitte, beruhige dich doch. Die Sache wird nicht besser, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen.«

»Stimmt.« Laurenz wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Einen Augenblick lang hatte Daniel die Hoffnung, dass er endlich zur Vernunft kam. »Ich werde nämlich nicht zulassen, dass ihr unserer kleinen Familie noch einmal ein Leid zufügt«, presste Laurenz hasserfüllt durch die Lippen. »Du und deine Frau, ihr legt keine Hand mehr an mich oder Melanie. Haben wir uns verstanden?«

Die Verweigerung traf Daniel wie ein Donnerschlag.

»Aber …«

»Kein Aber«, unterbrach Laurenz Grün ihn unbarmherzig. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. Endlich beruhigte sich sein Herzschlag. Er hatte seine Entscheidung getroffen. »Ich will jetzt zu Melanie. Und danach können deine Kollegen ihr Glück an mir versuchen. Aber du bleibst draußen.«

Daniel warf einen Blick auf die Uhr. Wenn er den Zeitplan einhalten wollte, wurde es Zeit.

»Also gut«, gab er sich notgedrungen geschlagen. »Ich schicke jemanden zu Melanie, um sie auf deinen Besuch vorzubereiten. Du hast fünf Minuten Zeit. Danach bringen dich die Kollegen in den OP. Jede Minute, die wir verlieren, ist eine zu viel.«

Doch Laurenz schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Er hatte sich im Bett zurückgelegt und die Augen geschlossen. Als wollte er eine lästige Fliege vertreiben, wedelte er mit der Hand.

Seufzend verließ Daniel das Zimmer.

Er war so in Gedanken versunken, dass er Sandra Neubeck nicht bemerkte, die ihm auf dem Flur entgegenkam. Als sie die Leichenbittermiene des Chefs sah, durchfuhr sie der Schreck wie ein Stromstoß.

»Ist was mit Laurenz Grün?«

Dr. Norden war so deprimiert, dass er noch nicht einmal daran dachte zu leugnen. Er erzählte Sandra, was geschehen war. Zu seiner großen Verwunderung blitzten ihre Augen kämpferisch auf.

»Das haben wir gleich«, versprach sie und machte sich auf den Weg zu Laurenz.

Keine drei Minuten später stand sie wieder neben ihrem Chef.

»Herr Grün ist bereit«, verkündete sie triumphierend. »In welchem OP operieren wir?«

Daniel konnte es nicht glauben.

»Und der Besuch bei seiner Frau?«

»Ist gestrichen.«

»Wie haben Sie das denn geschafft?«

Sandra zwinkerte ihm zu.

»Mit den Waffen einer Frau.« Mehr verriet sie in diesem Augenblick nicht.

*

Auf dem Rückweg in seine Abteilung kam Matthias Weigand am Kiosk vorbei. Als er Felicitas Norden auf dem Boden knieend entdeckte, schoss ihm eine Idee durch den Kopf.

»Kann ich dich kurz sprechen?«

»Natürlich.« Mit hochrotem Kopf tauchte sie hinter dem Tisch auf. Sie strich sich eine hellblonde Strähne aus der Stirn und sah ihn fragend an.

»Gehen wir ein Stück?«, fragte er mit bedeutungsvollem Blick auf Andrea und Elena.

Fee verstand und verabschiedete sich von den beiden.

»Ich wollte eh gerade in meine Abteilung zurück, bevor Lammers mich wieder an den Pranger stellt. Also, wo drückt der Schuh?«

»Ich komme gerade von einer Besprechung mit deinem Mann.«

»Ach, du bist also der Übeltäter, der mir Daniel weggeschnappt hat«, bemerkte sie. »Ich muss ihn unbedingt sprechen. Aber ich komme einfach nicht an ihn ran.«

Matthias schnitt eine Grimasse.

»Kein Wunder. Als Chef dieser elitären Einrichtung ist er ein begehrter Mann.« Seite an Seite wanderten sie den Flur hinunter.

»Wie wahr.« Fee dachte an das Gespräch vor einigen Stunden. »Hoffentlich hattest du bei deiner Freundin mehr Glück als ich bei meinem Göttergatten.«

»Das ist es, worüber ich mit dir reden wollte.« Matthias machte eine Pause. Wenn er nur daran dachte, zog sich sein Magen zusammen. »Ich glaube, dass Sandra nur deshalb mit mir zusammen ist, um ihre Stelle in der Klinik zu sichern.«

»Wie bitte?« Fee sah ihn überrascht an. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«

»Nicht alle neuen Assistenzärzte werden die Probezeit überstehen. Sandra gehört zu denen, die bleiben werden. Das hat nicht nur mit mir zu tun, liegt aber auch daran, dass ich sie mit vielen Kollegen bekannt gemacht habe. In der kurzen Zeit hat sie erstaunlich viele Fürsprecher gewonnen.«

Fee bat ihn in ihr Büro. Gleichzeitig wunderte sie sich über den bitteren Klang seiner Stimme. Natürlich erinnerte sie sich an ihre eigene Skepsis Sandra gegenüber. Doch Daniels Worte hallten ihr noch im Ohr. Laurenz’ Unfall hatte sie wirklich durcheinandergebracht. Auf keinen Fall wollte sie vorschnell urteilen.

»Sie ist ja auch eine sympathische Frau«, stellte sie fest und bot Matthias einen Platz an.

Doch er war zu nervös, um zu sitzen. Er blieb vor Fee stehen und sah sie aus schmalen Augen an.

»Nichts für ungut. Aber ich fürchte, dass Sandra deine Freundschaft nur sucht, weil sie ihren Stand in der Klinik sichern will.«

»Ich weiß nicht, ob du dich da nicht in etwas verrennst.«

»Komm schon, Fee! Du bist doch sonst nicht so naiv«, entfuhr es ihm. »Hast du dich nicht darüber gewundert, dass Sandra so hartnäckig deine Freundschaft sucht?«

Natürlich lag Matthias richtig. Doch Fee ärgerte sich viel zu sehr über seine erste Bemerkung, als dass sie das zugegeben hätte.

»Entschuldige mal. So schrecklich bin ich nun auch wieder nicht. Manche Menschen mögen mich einfach«, fauchte sie. »Ob du das dir vorstellen kannst oder nicht.« Sie verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und begann, im Büro auf und ab zu wandern.

»Und warum, glaubst du, hat Sandra dir angeboten, sich um Laurenz zu kümmern?«

»Stop. So war das nicht. Ich habe sie um diesen Gefallen gebeten. Und stell dir vor: Ich bin wahnsinnig froh, dass sie mich wegen Laurenz auf dem Laufenden hält. Und das solltest du auch sein. Denn nur ihr haben wir es zu verdanken, dass wir dieses Gespräch führen können. Andernfalls würde ich nämlich jede freie Minute nutzen, um am Bett meines Freundes zu sitzen.«

»Der dich überhaupt nicht sehen will«, platzte Matthias heraus.

Mit einem Schlag wurde es still im Zimmer. Nicht das kleinste Geräusch war mehr zu hören. Sogar die Vögel draußen schienen das Singen vergessen zu haben. Einen Moment lang meinte Fee, die Welt würde stillstehen.

Matthias erging es ähnlich. Er konnte nicht glauben, dass er das gerade wirklich gesagt hatte. Händeringend suchte er nach einer Erklärung für sein unmögliches Verhalten, als ein durchdringendes Piepsen ertönte. Beide Ärzte zogen gleichzeitig das kleine Gerät aus der Tasche.

»Das bin ich«, stellte Matthias verwundert fest. »Was soll ich denn bitte in OP 3?«

»Geh hin und finde es heraus«, erwiderte Fee schroff.

Zögernd kam Matthias ihrer Aufforderung nach. Auf dem Flur drehte er sich noch einmal um.

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht …«

»Du wirst gebraucht! Und danach redest du mit Sandra statt über sie«, gab sie dem Kollegen einen Tipp.

Beim Zufallen klackte die Tür leise. Reglos stand Fee im Zimmer. Ihr schwirrte der Kopf angesichts all der Probleme, die wie ein unbezwingbarer Berg vor ihr lagen. Laurenz und Melanie, Lennis Krankheit, Sandra … Im selben Moment erkannte Fee, dass sie im Grunde nicht besser war als ihr Freund Matthias. Ein Teil ihrer Probleme war hausgemacht. Statt mit Lenni selbst redete sie mit ihren Kolleginnen über die vermeintliche Erkrankung ihrer ehemaligen Haushälterin. Und auch mit Sandra war sie nicht offen. Am liebsten hätte sich Felicitas sofort auf den Weg gemacht, um all die wichtigen Gespräche zu führen. Doch die Sprechstunde stand unmittelbar bevor.

Wohl oder übel musste sie die Wahrheitsfindung verschieben.

*

Laurenz Grün lag bäuchlings auf dem Operationstisch. Er schlief tief und fest.

»Durchleuchtung ist bereit. Wir bleiben bei einem Zugang?«, fragte Dr. Sandra Neubeck. Dabei vermied sie es, Matthias anzusehen, der ihr neben Dr. Lekutat gegenüberstand.

»Ja, eine Kanüle reicht.« Die Chirurgin beugte sich über das Operationsfeld, um an den Orthopäden zu übergeben.

»Blutdruck stabil. 90 zu 65«, teilte der Anästhesist Arnold Klaiber seinen Kollegen mit. »Herzfrequenz 100.«

»Ich führe jetzt die Kanüle in die betreffende Region ein«, erklärte Dr. Kohler. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Feine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Tupfer.«

Schwester Elena trocknete seinen Schweiß. Aller Augen ruhten auf dem Monitor, der ein Bild des Operationsfeldes zeigte. Das Blutgerinnsel lag beängstigend nah am Rückenmark.

»Herr Kollege!« Weigands warnende Stimme schnitt durch den Raum.

»Ja, ich sehe es«, erwiderte Kohler und atmete tief durch. »Die Kanüle liegt falsch. Ich ziehe zurück und orientiere neu.« Langsam zog er das Instrument zurück und schob es erneut durch den Hautschnitt. Alle Kollegen starrten unentwegt auf den Bildschirm.

»Sitzt!«

»Na bitte. Warum nicht gleich so?«, fragte Christine Lekutat. »Sie haben wohl einen Hang zum Drama, was?«

Die vernichtenden Blicke ihrer Kollegen ignorierte sie wohlweislich.

»Tupfer«, befahl Dr. Kohler erneut.

Wieder war Schwester Elena zur Stelle.

Eine Weile arbeitete das Ärzteteam schweigend. Die Überwachungsgeräte piepten, leise klapperten die Instrumente.

»Ich sauge jetzt das Blutgerinnsel ab«, erklärte Dr. Kohler endlich.

»Wie sage ich immer?«, meldete sich Christine Lekutat erneut zu Wort. »Chirurgie ist wie Schreinerei. Nur nicht so kunstvoll.«

»Warum sind Sie dann nicht Schreiner geworden?«, konnte sich Matthias Weigand eine Frage nicht verkneifen.

Nur mit Mühe gelang es Sandra, ein nervöses Kichern zu unterdrücken.

»Damit ich nicht in die Verlegenheit komme, solche Banausen wie Sie bedienen zu müssen«, schnappte Christine zurück.

»Kinder, könnt ihr eure Zankereien nicht auf später verschieben?«, fragte Bernhard Kohler. Inzwischen wirkte er deutlich entspannter. »Während ihr euch hier kabbelt, habe ich die Arbeit gemacht.« Behutsam zog er die Kanüle aus der Operationswunde. »Was halten Sie davon, sich zur Abwechslung mal nützlich zu machen und die Wunden zu schließen?«, fragte er Dr. Lekutat, ehe er den restlichen Kollegen zunickte und den OP verließ.

»Das ist ja wohl Ihr Job, nicht wahr?«, gab Christine die Aufgabe postwendend an Sandra weiter und rauschte ebenfalls hinaus.

Sandra Neubeck zögerte nicht lange und machte sich an die Arbeit, die bohrenden Blicke ihres Kollegen Weigand hartnäckig ignorierend.

Inzwischen erstattete Bernhard Kohler seinem Chef wie versprochen Bericht.

»Der Eingriff war viel riskanter, als ich gefürchtet habe«, teilte er Daniel am Telefon mit. »Ich musste verdammt nah ans Rückenmark heran. Zum Glück ist alles glatt gegangen.«

Vor Erleichterung hätte Daniel am liebsten laut aufgeseufzt. Doch eine wichtige Information fehlte noch.

»Was denken Sie? Wird er wieder laufen können.«

Über die Antwort auf diese Frage musste Dr. Kohler nicht lange nachdenken.

»Er hat verdammt viel Glück gehabt, die Nerven sind intakt, aber ziemlich angeschlagen. Es liegt ein langer Weg vor ihm. Aber ja, ich denke, dass Herr Grün in ein paar Monaten wieder auf den Beinen ist.«

Endlich erlaubte sich Daniel den Seufzer. »Ich danke Ihnen«, sagte er noch, ehe er das Telefonat beendete, den Kopf zurücklegte und die Augen schloss.

*

Dr. Sandra Neubeck verließ den Operationssaal als letzte. Erleichtert stellte sie fest, dass der Vorraum leer war. Sie zog die Handschuhe aus. Leise klatschend landeten sie im Abfalleimer. Sie nahm die Maske vom Gesicht und warf sie hinterher, ehe sie an eines der großen Edelstahlwaschbecken trat, um sich die Hände zu waschen. Sie liebte dieses Ritual nach einer Operation. Die Seife fühlte sich weich und samtig an.

»Sandra!«

Erschrocken fuhr sie herum und starrte Matthias an, der unbemerkt hinter sie getreten war.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, brauste sie auf, als er den Zeigefinger auf die Lippen legte.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich hätte dich ja um ein Gespräch gebeten. Aber ich wusste, dass du ablehnen würdest.«

Sandras Miene entspannte sich.

»Du scheinst mich gut zu kennen.« Sie griff nach einem Handtuch.

»Das genaue Gegenteil ist der Fall. Du bist ein einziges großes Rätsel für mich. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier stehe.« Matthias hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Ich … Ich wollte mich bei dir für mein Benehmen heute entschuldigen. Mir ist einfach die Sicherung durchgebrannt.«

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, warf Sandra das Handtuch in den Wäschekorb.

»Mir tut es auch leid. Normalerweise bin ich nicht so gehässig.«

Matthias atmete auf. Er wagte ein vorsichtiges Lächeln.

»Das ist eben manchmal so in Beziehungen. Vor allen Dingen, wenn man sich noch nicht so richtig kennt.« Er wollte die Arme um sie legen und sie an sich ziehen.

Doch Sandra wich ihm aus.

»Ich fürchte, ich muss da etwas klarstellen.«

»Bitte lass uns diesen Streit doch einfach vergessen. Es war ein riesiges Missverständnis. Nichts weit …«

»Darf ich auch mal etwas sagen?«, unterbrach sie ihn.

»Ja, natürlich.« Matthias klappte den Mund wieder zu. Plötzlich war seine Kehle trocken. »Entschuldige.«

»Schon gut.« Sie lächelte. »Es tut mir wirklich leid, dir das sagen zu müssen. Aber das mit uns …, das funktioniert nicht.« Es fiel ihr nicht leicht, seinem ungläubigen Blick standzuhalten.

»Wie meinst du das?«

»Du und ich, wir sind zu verschieden. Deshalb ist es besser, wenn wir in Zukunft getrennte Wege gehen.«

Matthias fühlte sich wie nach einem Magenschwinger.

»Dann stimmt es also doch!« Seine Stimme war heiser vor Enttäuschung. »Du hast mich nur benutzt, um möglichst viele Kollegen kennenzulernen und deine Position hier zu festigen.«

»Wie bitte?« Sandra schüttelte den Kopf. »Was redest du denn da?«

Es kam selten vor, dass Matthias wütend wurde. Doch in diesem Moment ballte er die Hände zu Fäusten.

»Tu doch nicht so, als ob du nicht genau wüsstest, dass Assistenzärzte entlassen werden.«

»Das ist das Erste, das ich höre.«

Sie klang so überrascht, dass Matthias’ Überzeugung ins Wanken geriet.

»Du hast nicht mit Dieter Fuchs gesprochen?«

»Mit dem Verwaltungsdirektor? Wie käme ich dazu?«

Matthias stöhnte auf und fuhr sich durch’s Haar. Was war nur los mit ihm? Wenn die Liebe imstande war, ihn derart zu verwirren, war es wohl wirklich besser, die Finger davon zu lassen.

»Jetzt weiß ich auch nicht mehr so genau, wie ich auf diese Idee gekommen bin«, gestand er zerknirscht. »Es lag wohl an meiner Verzweiflung. Mir gegenüber warst du immer so geheimnisvoll und distanziert. Ganz im Gegenteil zu den Kollegen. Die hast du sofort um den kleinen Finger gewickelt. Mit ihnen gelacht und gescherzt.« Er hielt inne und sah Sandra hilflos an. »Ich habe angefangen, nach Gründen für dein Verhalten zu suchen. Als Daniel Norden in der Besprechung heute von den geplanten Kündigungen sprach, ging mir plötzlich ein Licht auf. Ich war mir ganz sicher, dass du mich nur …, nur ausgenutzt hast …« Er steckte die Hände in die Taschen seiner Operationshose und starrte auf den Boden.

Warm und weich legte sich Sandras Hand auf seine Wange.

»Süßer Matthias!« Sie lachte leise und ein bisschen traurig. »Im Gegensatz zu dir kenne ich mich. Deshalb habe ich dich von Anfang an vor mir gewarnt. Erinnerst du dich?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte, ich könnte dich zähmen.«

Diesmal lachte Sandra lauter.

»Glaub mir, das haben schon andere versucht. Und genau das ist der Fehler.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Der Moment ging viel zu schnell vorüber. Ehe es sich Matthias versah, stand sie an der Tür. »Ich habe mir wirklich gewünscht, dass es klappt mit uns.« Da war es schon wieder! Dieses Gefühl, immer alles falsch zu machen. Schon war Matthias drauf und dran, sich zu entschuldigen. Im letzten Moment verzichtete er darauf. Sandra hatte recht. Es passte einfach nicht.

Er rang sich ein Lächeln ab.

»Es wird mir nicht leicht fallen, in dir nur die Kollegin zu sehen. Aber wie heißt es so schön: Die Zeit heilt alle Wunden.«

»Mit Sicherheit. Auch wenn ich nicht deine Kollegin bleiben werde.«

»Nicht?« Matthias legte den Kopf schief und sah sie fragend an.

»Nein. Ich habe beschlossen, meine Facharztausbildung abzubrechen.« Matthias wollte etwas einwerfen. Doch Sandra hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Keine Diskussion. Ich habe mir die Sache gründlich durch den Kopf gehen lassen. Deshalb auch die Gespräche mit deinen Kollegen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Klinik ist einfach nichts für mich. Der Stress im Arbeitsalltag, die Dienste, Wochenendschichten. All das zehrt nicht nur an meinen Nerven, sondern auch an meiner Gesundheit. Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, ob der Job dieses Opfer wert ist.« Ihr Kopfschütteln nahm die Antwort vorweg. »Ich will das alles nicht. Die Kündigung habe ich schon geschrieben. Ich muss sie nur noch bei Dr. Norden abgeben.« Dem gab es nichts hinzuzufügen. Sie schickte ihm einen letzten Handkuss, drehte sich um und verschwand aus dem Vorraum des OPs. Noch lange stand Matthias da und hing seinen Gedanken nach, ehe eine Schwester hereinkam und ihn an seine Pflichten erinnerte.

*

»Ist er da?«

»Ja.«

»Allein?«

»Ja.«

»Kann ich ihn sprechen?«

»Wenn du dich beeilst, damit ihn dir kein anderer wegschnappt.« Wie das Gespräch zuvor wehte Andrea Sanders Lachen hell in Daniels Büro.

Er öffnete die Augen und setzte sich auf, bereit, seine Frau zu empfangen.

»Endlich!«, seufzte Fee und ließ sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen. »Weißt du eigentlich, dass ich schon den ganzen Nachmittag hinter dir herjage? Fast wie bei einer Schnitzeljagd.«

»Habe ich dir schon einmal erzählt, dass ich als Kind immer enttäuscht war, dass es am Ende einer Schnitzeljagd nie Schnitzel gab?«, fragte Daniel zurück.

Im ersten Moment dachte Felicitas, er meinte es ernst. Doch dann bemerkte sie das lustige Blitzen in seinen Augen.

Im Normalfall hätte sie laut losgelacht. Angesichts von Lennis Krankheit konnte sie das aber nicht.

»Gibt es einen Grund für deine gute Laune?«, fragte sie verschnupft.

Daniel beugte sich vor und nahm seine Frau ins Visier.

»Ist die Tatsache, dass Laurenz die Operation gut überstanden hat und wieder laufen wird, ein guter Grund?«

»O Dan!« Mit einem Satz war Fee auf den Beinen. Sie lief um den Schreibtisch herum und umarmte ihn stürmisch. »Ist das wahr? Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Hoppla!«

In letzter Sekunde gelang es Daniel, seine Lesebrille vor dem Absturz zu bewahren. Doch er war seiner Frau nicht etwa böse. Ganz im Gegenteil freute er sich noch einmal mehr mit ihr über die gute Nachricht.

Mit Schwung setzte sie sich auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und sah ihn fragend an.

»Wer hat dieses Wunder vollbracht?«

Daniel unterdrückte ein Gähnen. Die Anspannung der vergangenen Tage steckte ihm in den Knochen, und er sehnte sich nach ein wenig Luxus.

»Was hältst du davon, wenn ich dir die ganze Geschichte bei einer schönen Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen im ›Allerlei‹ erzähle?« Schon wollte er sie mit sanfter Gewalt von seinem Schoß komplimentieren, als das Lachen auf ihrem Gesicht erstarb.

»Davon halte ich rein gar nichts.« Plötzlich war ihre Stimme so ernst, dass sich Daniel nur wundern konnte.

»Was ist passiert?«

»Es geht um Lenni«, erwiderte sie mit Grabesstimme.

Daniel verstand kein Wort.

»Ja und? Was ist mit ihr?«

»O Dan, bitte! Ich halte diese Geheimnistuerei nicht länger aus. Du musst mich nicht schonen. Wirklich nicht«, versicherte Fee mit Nachdruck und rutschte von seinem Schoß. »Wir haben schon so viel gemeinsam geschafft, dann bekommen wir das auch noch hin.«

»Davon bin ich felsenfest überzeugt. Trotzdem weiß ich nicht, wovon du sprichst.«

Felicitas war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Sie baute sich vor Daniel auf und stemmte die Hände in die Hüften.

»Was fehlt Lenni? Wie krank ist sie? Du hast doch diesen Gesundheitscheck gemacht.«

Verwundert sah Daniel seine Frau an.

»Das stimmt. Aber bis auf ein paar altersbedingte Abnutzungserscheinungen ist Lenni kerngesund.«

Fees Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum hat sie sich denn dann untersuchen lassen?«

»Sie will mit Oskar in Zukunft öfter das Tanzbein schwingen und war sich nicht sicher, ob ihr Knie das mitmacht. Aber pssst, das soll eine Überraschung für Oskar sein.« Fees fassungslose Miene machte Daniel stutzig. »Ich habe doch hoffentlich nichts übersehen.«

»Moment, Moment, Moment!«, bat Fee und hob die Hände. »Nur noch einmal zum Verständnis: Lenni ist wirklich nicht krank?«

»Wirklich nicht. Und jetzt möchte ich bitte erfahren, was hier los ist. Wie kommst du denn auf diesen Unsinn?«

Fee ging um den Schreibtisch herum und sank kraftlos auf den Stuhl. Sie brauchte ein paar Sekunden, um ihre Gedanken zu sortieren.

»Durch einen dummen Zufall hat Oskar von Lennis Besuch bei dir erfahren. Als sie ihm dann auch noch in einem Anfall von Freundlichkeit die Karten für den ›Tanz in den Mai‹ schenkte, hat er Panik bekommen.«

»Und in der ganzen Klinik herumerzählt, dass sie sterbenskrank ist?«, fragte Daniel ungläubig.

Betreten senkte Felicitas die Augen. Sie fühlte sich nicht ganz unschuldig an dem Dilemma.

»Du weißt doch, wie das mit der Flüsterpost an dieser Klinik ist. Einer fängt mit ›Kirschtorte‹ an und am Ende kommt ›Schweinebraten‹ heraus.« Sie sah ihn so unschuldig an, dass Daniel nicht länger an sich halten konnte. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Er schmunzelte noch immer, als er seine Frau ein paar Minuten später zur Tür brachte.

»Ich hoffe, dass sich dieses Missverständnis so schnell aufklärt, wie es entstanden ist.«

»Und dass so etwas nicht öfter passiert«, ergänzte Fee über die Maßen erleichtert. »Das halten meine Nerven nämlich nicht aus.« Sie zwinkerte ihrem Mann zu und ging dann zu Andrea Sander, die die frohe Botschaft wenig später bei Oskar und in der Klinik verbreitete.

*

Die Schwester stellte den Rollstuhl ab und öffnete die Tür zum Krankenzimmer.

Melanie Grün öffnete die Augen. Zum Glück war sie vorgewarnt. Sonst wäre sie beim Anblick ihres Mannes vor Freude aus dem Bett gesprungen.

Die Schwester bugsierte Laurenz’ Rollstuhl ans Bett.

»Ich hole Sie in einer Viertelstunde wieder ab«, sagte sie. »Und bitte denken Sie daran, dass sich ihre Frau nicht aufregen darf.«

Sie nickte dem Ehepaar zu und verließ das Zimmer auf leisen Sohlen.

Auf diesen Augenblick hatte Laurenz hingefiebert, seit er in der Klinik lag.

»Melli!« Seine Stimme war heiser.

»Laurenz.« Ein Leuchten huschte über ihr sorgenvolles Gesicht. »Wie geht es dir?«

Er streckte den Arm aus und griff nach ihrer Hand.

»Stell dir vor: Ich kann meine Beine wieder spüren. Und ich werde wieder laufen können.«

»Das ist großartig.« Sie drückte seine Hand. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Noch ahnte sie nicht, dass ihr Glück tatsächlich am seidenen Faden gehangen hatte. Aber das machte nichts. Später, wenn das Baby erst gesund auf der Welt war, würde noch Zeit genug sein, sämtliche Geheimnisse zu lüften.

»Wie ich mir um euch beide. Richtig gut geht es mir erst, wenn du auch wieder auf den Beinen bist. Du und unser Baby …« Laurenz’ Stimme versagte, und es kostete ihn alle Beherrschung, nicht zu weinen.

»Wir sind auf dem Weg der Besserung. Genau wie du.« Melanie lächelte. »Seit Frau Dr. Neubeck mir gesagt hat, dass du die Operation gut überstanden hast, hatte ich keine einzige Wehe mehr. Dr. Gröding, der Chef hier, ist sicher, dass wir die kritische Phase überwunden haben.« Sie verschwieg, dass Sandra ihr noch mehr gestanden hatte.

Jetzt rannen die Tränen doch über Laurenz’ Gesicht.

»Das … Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe«, schniefte er und wollte sich mit dem Ärmel über die Augen fahren.

Melanie kam ihm zuvor und zupfte ein Papiertuch aus dem Spender. Dankend nahm Laurenz es an und bedeckte die Augen damit. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprechen konnte.

»Hättest du mich wirklich verlassen?«, stellte er die Frage, die ihm schon auf der Seele brannte, seit Sandra ihm diese Nachricht überbracht hatte.

Nur mit Mühe konnte sich Melanie ein verräterisches Lächeln verkneifen.

»Warum sollte ich dich verlassen?«, fragte sie scheinheilig.

»Ich wollte dich vor der zweiten Operation unbedingt noch einmal sehen. Gegen Daniels Rat.« Im Nachhinein schüttelte Laurenz den Kopf über seinen blinden Egoismus. »Auch auf die Gefahr hin, dass du dich so sehr aufregst, dass …« Der Rest des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft. Laurenz wollte noch nicht einmal mehr daran denken, was er seinen Liebsten angetan hätte.

»Und wer hat dich davon überzeugt, es nicht zu tun?«

»Frau Dr. Neubeck«, gestand er schuldbewusst. »Sie hat mir gedroht, dass du mich verlässt, wenn ich unser Kind mit meinem Egoismus in Gefahr bringe.«

»Eine kluge Frau.« Melanies Tonfall verriet sie.

Laurenz bemerkte es. Es war nicht schwierig, eins und eins zusammenzuzählen.

»Moment mal! Sie hat sich das alles nur ausgedacht?«

Lächelnd griff Melanie nach der Hand ihres Mannes und betrachtete sie sinnend.

»Du darfst ihr nicht böse sein. Sie hat genau das Richtige getan.«

Laurenz nickte langsam.

»Du hast recht. Es tut mir leid. Aber der Unfall und diese fatalen Folgen … Ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit, und schon ist alles zerstört.« Er konnte es immer noch nicht fassen. »Das hätte ich Felicitas niemals verziehen.«

Melanie runzelte die Stirn.

»Was kann denn Fee bitte dafür?«, fragte sie so schroff, dass Laurenz erschrak. »Wenn wir schon von Schuld sprechen müssen, dann war es deine eigene. Immerhin hast du dein Portemonnaie im Café liegen gelassen.«

»Aber …«:

Doch Melanie war noch nicht fertig.

»Übrigens hat mich die Polizei vorhin angerufen. Der Fahrradfahrer ist vollumfänglich geständig. Er hat alle Schuld auf sich genommen.«

»Ich habe trotzdem ein furchtbar schlechtes Gewissen und hätte es mir nie verziehen, wenn einer von euch einen dauerhaften Schaden erlitten hätte.« Unbemerkt war Fee ins Zimmer gekommen und hatte die letzten Worte aufgeschnappt. Zögernd trat sie neben Laurenz ans Bett. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh und dankbar ich bin, dass alles noch einmal gut gegangen ist.«

Diesmal war es Melanie, die Tränen in den Augen hatte.

»O Fee, es tut mir so leid, dass das alles passieren musste. Wollen wir trotzdem Freunde bleiben?«

Fee schickte Laurenz einen fragenden Blick.

»Von mir aus natürlich«, erwiderte sie, unsicher, was sie von Laurenz` Miene halten sollte. »Aber …«

»Haben wir euch eigentlich schon erzählt, wie unser Sohn heißen soll?«, fiel er ihr unvermittelt ins Wort.

»Nein.«

Laurenz schickte seiner Frau einen fragenden Blick. Sie gab lächelnd ihr Einverständnis.

»Daniel«, verkündete er stolz.

Im nächsten Moment lagen sich die Freunde in den Armen und lachten und weinten ob der überstandenen Krise.

»Eine gute Wahl«, stellte Felicitas endlich fest, während sie sich die Tränen trocknete.

*

Nach diesem aufregenden Tag machten sich Oskar und Lenni endlich auf den Nachhauseweg. Obwohl Oskar die frohe Botschaft von Andrea Sander bekommen hatte, konnte er es immer noch nicht glauben.

»Lenni, geht es dir auch wirklich gut?«, erkundigte er sich, kaum dass sie die Straße vor der Klinik überquert hatten. »Willst du dich ein bisschen ausruhen? Da drüben ist eine Bank.« Er nahm sie an der Hand und wollte sie mit sich ziehen.

Wie ein störrischer Esel blieb sie mitten auf dem Gehweg stehen.

»Wir sind doch gerade erst losgegangen.« Sie musterte ihren Liebsten aus schmalen Augen. »Wenn du mir nicht endlich verrätst, was los ist, gehe ich keinen Schritt weiter.«

»Ich weiß gar nicht, wovon du redest.«

»Raus mit der Sprache!«, verlangte sie und verschränkte die Arme vor dem Körper.

Oskar wand sich wie eine Schlange. Vergeblich.

»Also schön«, seufzte er endlich abgrundtief. »Es geht um deine Krankheit.«

Lenni sah ihn aus großen Augen an.

»Welche Krankheit denn?«

Ein Lächeln stahl sich auf Oskars Gesicht.

»Dann stimmt es also, was Frau Sander mir gesagt hat? Dass du nur bei Dr. Norden warst, um dein Knie untersuchen zu lassen?«

Schlagartig schob sich eine Gewitterwolke vor Lennis Gesicht.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich habe dem Chef extra das Versprechen abgenommen, kein Sterbenswörtchen zu sagen.«

»Das hat Daniel auch nicht«, versicherte Oskar schnell. »Das war meine Schuld. Ich habe mir solche Sorgen gemacht und mit Frau Sander und Fee darüber gesprochen.«

»Ach, jetzt verstehe ich endlich«, erwiderte sie gedehnt. »Deshalb hat mich die halbe Klinik wie ein rohes Ei behandelt. Sie dachten, ich sei krank.«

Dieser Gedanke war schmeichelhaft und brachte sie zum Lächeln. Eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Oskar zerknirscht. Lenni fuhr zu ihm herum.

»Was denn? Dass die Leute nett zu mir sind?«, fauchte sie empört.

Im ersten Moment wollte Oskar widersprechen. Doch dann beschloss er, es gut sein zu lassen. Lenni war gesund. Das war die Hauptsache. Kurz entschlossen drückte er ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Aber Oskar!«, wollte sie eine weitere Schimpftirade auf ihn loslassen.

Doch dieses eine Mal hielt sie sein glückliches Strahlen davon ab.

*

Bevor Felicitas Norden in den wohlverdienten Feierabend aufbrach, machte sie noch einen Abstecher in die Innere Medizin. Sie suchte und fand Sandra Neubeck im Aufenthaltsraum der Ärzte. Sie war allein. Um sie nicht zu erschrecken, klopfte sie an die offene Tür.

»Störe ich?«

Sandra drehte sich um. Im nächsten Moment erhellte ein Lächeln ihr Gesicht.

»Felicitas! Wie schön. Komm doch rein. Kaffee?«

»Nein, danke. Ich hatte heute schon genug davon.«

»Als Arzt an einer Klinik läuft man Gefahr, koffeinsüchtig zu werden.« Sandra setzte sich zu Fee an den Tisch. »Aber das ist nur einer der Gründe, warum ich gekündigt habe.«

Fee war wie vom Donner gerührt.

»Du hast was?«

Sandra sah sie verwundert an.

»Ich dachte, deshalb bist du hier.«

»Keineswegs. Eigentlich wollte ich dich zu deiner kleinen Notlüge beglückwünschen. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen.« Fee rang mit der Fassung. »Aber dass du gekündigt hast …, davon hat Dan kein Wort gesagt.«

»Ich habe ihm die Kündigung vorhin erst gebracht«, gestand Sandra.

»Ist es wegen Matthias?« Diese Vermutung lag nahe.

Doch Sandra schüttelte nur stumm den Kopf.

»Aber warum dann?«, fuhr Fee leidenschaftlich fort. »Du hast das Zeug dazu, eine richtig große Ärztin zu werden. Dein fachliches Wissen wird von den Kollegen gelobt. In meinen Augen ist es allerdings deine Empathie, die dich so besonders und unschlagbar macht. Das ist ein …«

Als Sandra lächelnd die Hand auf den Arm ihrer neuen Freundin legte, hielt Fee inne.

»Ich denke nicht erst seit gestern über diese Entscheidung nach«, erklärte die junge Assistenzärztin sanft. »Sie ist langsam in mir gereift, wie man so schön sagt.« Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich bin nicht halb so aufopfernd wie Daniel und du und die meisten unserer Kollegen. Ich will nicht mein ganzes Leben in den Dienst anderer Menschen stellen, sondern auch noch eine gehörige Portion Spaß haben.«

»Das kann man doch verbinden«, warf Felicitas ein.

Sandra schüttelte den Kopf.

»Nicht so, wie ich mir das vorstellte. Wir haben einfach unterschiedliche Lebensentwürfe.«

Fee bemerkte, wie ernst es Sandra mit ihren Worten war. Sie hatte sich längst aus der Klinik verabschiedet.

Beide erhoben sich. Es wurde Zeit für den Abschied.

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich bei dir zu bedanken. Du warst in diesen schweren Stunden eine echte Stütze für mich.« Fee beugte sich vor und umarmte Sandra.

»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Sandra von Herzen. »Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn wir auch in Zukunft Freundinnen bleiben könnten.«

Mit diesem Angebot hatte Fee nicht im Traum gerechnet. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, Sandra Berechnung unterstellt zu haben.

»Das wäre großartig!«, stimmte sie begeistert zu. »Es interessiert mich brennend, was du jetzt vorhast.«

»Als Allererstes plane ich, ein Glas Wein mit dir trinken zu gehen.« Sandra zwinkerte ihr zu.

»Einverstanden!«

Das fröhliche Lachen der beiden Frauen hallte bis hinaus auf den Flur. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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