Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Hast du das gehört?« Aufgeregt packte Tatjana Bohde ihren Freund Danny Norden am Ärmel. Sie presste den Zeigefinger auf die Lippen und lauschte angestrengt.

»Du meinst den Vogel?«, fragte er unschuldig. »Oder die Kinder?« Ausgelassene Stimmen klangen durch das Grün gedämpft zu ihnen. Doch das meinte Tatjana nicht.

Sie verdrehte die Augen.

»Da war eine Mönchsgrasmücke, du Banause.«

»Seit wann können Mücken singen?«, fragte Danny verständnislos.

»Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.« Tatjana schüttelte den Kopf, während sie ihren Weg durch den Wald fortsetzte.

Zweige knackten unter ihren Füßen, das Laub vom Vorjahr raschelte bei jedem Schritt. Der Frühling hatte unweigerlich Einzug gehalten. Überall spross frisches Grün.

Wegen ihrer Sehbehinderung nahm Tatjana aber mehr den herb-frischen Duft nach Holz und frischen Blättern, vermischt mit Moos und Erde, wahr, der die Luft erfüllte. Und eben die Lieder der Vögel, die sich in schwindelerregenden Höhen des Lebens freuten.

Danny folgte seiner Freundin, die behände über einen umgefallenen Baumstamm sprang. Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens lief, hüpfte und tänzelte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit über den unebenen Waldboden.

»Seit wann bist du unter die Ornithologen gegangen?«, fragte er atemlos. Er hätte es nie zugegeben, aber manchmal hatte er sogar Mühe, ihr zu folgen.

»Gar nicht. Aber mir gefällt dieser verrückte Gesang der Mönchsgrasmücke«, erzählte sie. »Wusstest du, dass diese Vögel in der Lage sind, andere Vogelstimmen nachzuahmen?«

»Ich wusste bis gerade eben noch nicht einmal, dass es überhaupt einen Vogel namens Mönchsgrasmücke gibt«, gestand Danny.

Er hatte Tatjana erreicht, nahm ihre Hand und zog sie zu sich, um sie zu küssen. Statt ihren Mund traf er ihre erhitzte Wange. Sie lachte ausgelassen. Im nächsten Moment fühlte er ihre Lippen auf den seinen. Es hätte ein romantischer Kuss auf der lichtdurchfluteten Lichtung werden können. Doch die Kinderstimmen kamen näher. Das Kreischen und Schreien ließ den Traum aber zerplatzen.

»Und was ist das für ein Vogel?«, fragte Danny belustigt.

Tatjana zog eine Augenbraue hoch.

»Ich weiß ja, dass es einen bücherschreibenden Förster gibt, der für Lärm im Wald plädiert. Trotzdem verstehe ich nicht, warum Kinder immer schreien müssen. Sind ihre Ohren noch nicht vollständig entwickelt? Oder das Akustikzentrum im Gehirn?«, stellte sie eine nicht ganz ernst gemeinte Frage.

Danny schmunzelte über diese Idee.

»Das wäre ein gutes Thema für eine Doktorarbeit.« Die Stimmen kamen näher. »Allerdings müssten wir beide das doch am besten wissen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir selbst durch Wälder gestreift sind und Baumhäuser gebaut haben.«

»Tu doch nicht so, als könntest du dich daran noch erinnern, alter Mann!«, witzelte Tatjana und wappnete sich gegen seine Rache, als ein gellender Schrei die Luft zerriss.

Abrupt hielten beide inne.

»Das ist kein Spaß mehr«, prophezeite Danny und lauschte angestrengt in die folgende Stille. Er hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war.

Zum Glück blieb es nicht lange ruhig. Nur wenige Augenblicke später redeten aufgeregte Stimmen durcheinander.

»Hier lang!«, rief Tatjana und deutete nach rechts. Ihre geschärften Sinne wiesen ihr den Weg, und in Windeseile machten sich die beiden auf den Weg.

*

»Ich glaube, ich wurde als Kind von einem Alien entführt. Immer, wenn ich etwas Grünes sehe, bekomme ich eine Gänsehaut«, las der Notarzt Dr. Matthias Weigand leise vor. Er saß an diesem Sonntagnachmittag in der Notaufnahme. Im Augenblick war nichts los, und so nutzte er die günstige Gelegenheit, um in dem Buch weiterzulesen, das ihm ein Kollege ans Herz gelegt hatte.

Schwester Elena gesellte sich mit einem Kaffee zu ihm. Sie legte den Kopf schief und lächelte spöttisch.

»Bisher hatte ich dich eigentlich für ganz normal gehalten.«

Matthias’ Augen klebten an dem Text.

»Bin ich ja auch. Das hier sind Tipps eines Pickup-Artists, wie man garantiert jede Frau rumkriegt.«

»Eines was?« Elena, seit einer halben Ewigkeit glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, verstand kein Wort.

Endlich ließ Matthias das Buch sinken.

»Pickup-Artist«, wiederholte er herablassend. »Das ist ein Mann, der nicht alles dem Zufall überlässt, sondern sich durch gezielte Anwendung verschiedener Verhaltensweisen und psychologischer Methoden bessere Chancen beim weiblichen Geschlecht verschafft«, erklärte er.

»Und was hat ein Alien damit zu tun?« Elena verstand immer noch nicht. Sie stand neben Matthias am Tisch und nippte an ihrem Kaffee. Dabei versuchte sie, einen Blick in das Buch zu erhaschen.

Dr. Weigand seufzte abgrundtief.

»Mich wundert, dass du es geschafft hast, überhaupt einen Mann zu finden. Das muss in einem anderen Jahrhundert gewesen sein.«

»Nicht frech werden, Jungspund!« Mit dem Zeigefinger wackelte sie vor seiner Nase herum. Ihre lustig funkelnden Augen verrieten, dass sie ihm nicht böse war. »Wenn du zu anderen Frauen auch so uncharmant bist, wundert es mich nicht, dass du keine abkriegst.«

»Ich habe schon eine«, verriet Matthias geheimnisvoll lächelnd und griff nach einem Blatt Papier, das er aus dem Computer ausgedruckt hatte.

Elena nahm es und studierte eingehend das Foto nebst Text.

»Sympathisch. Hübsch. Und sehr jung.«

Wohlweislich überhörte Matthias den Vorwurf in ihrer Stimme.

»Deshalb brauche ich ja dieses Buch hier. Ich muss wissen, wie man heutzutage das Interesse sympathischer, hübscher und sehr junger Damen aufrecht erhält.«

»Sieh mal einer an.« Elena lachte. »Du hast eben zugegeben, dass du auch nicht mehr taufrisch bist.«

»Ich bitte dich«, empörte sich Matthias und spreizte die Federn wie ein Pfau. »Ich bin im besten Mannesalter.«

»Wenn das so ist, solltest du einfach bei der Wahrheit bleiben«, gab Schwester Elena ihm den entscheidenden Tipp und legte das Blatt mit Maritas Konterfei zurück auf den Tisch. »Sie schreibt doch sehr nett und witzig. Warum antwortest du nicht in demselben Tenor?«

Matthias sah seine Kollegen einen Moment lang sinnend an.

»Vielleicht hast du recht«, seufz­te er schließlich und schmachtete das Foto an. »Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich schon so lange Single bin. Ich bin einfach unsicher.«

»Das musst du nicht sein. Ein sympathischer, hübscher Mann im besten Alter wie du.«

Matthias musterte sie misstrauisch. Machte sich Elena etwa über ihn lustig?

Doch ihr freundliches Lächeln verriet, dass sie es ernst meinte. Sie beugte sich über ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Du solltest lieber einen Ratgeber zum Thema Selbstbewusstsein lesen als solche Schund.« Mit einem vernichtenden Blick auf das Buch wollte sie das Zimmer verlassen. Um ein Haar wäre sie mit einer Kollegin zusammengestoßen, die auf dem Weg zu Dr. Weigand war.

»Notfall. Sturz von einem Jägerstand«, verkündete sie knapp.

Matthias klappte das Buch zu und sprang auf. Jetzt zählte nur noch sein Beruf.

*

»Wunderbar!« Zufrieden erhob sich Dr. Volker Lammers von seinem Stuhl. Für den Moment war alles gesagt. »Es bleibt spannend!«

Dieter Fuchs, Verwaltungschef der Behnisch-Klinik, schob die Unterlagen zusammen und lächelte diabolisch.

»Du unterschätzt meine Fähigkeiten. Wenn ich will, frisst mir unser neuer Klinikchef aus der Hand.«

Diese Botschaft überraschte Lammers dann doch.

»Ich dachte, dein Verhältnis zu Jenny Behnisch war nicht das beste. Das weiß bestimmt auch Norden. Mit Sicherheit hat sie ihn vor dir gewarnt.«

»Natürlich.« Auch Fuchs war aufgestanden. Mit der Mappe in der Hand ging er um den Schreibtisch herum Richtung Tür. »Umso mehr Spaß macht es mir, Norden vom Gegenteil zu überzeugen und die Behnisch Lügen zu strafen.«

Volker Lammers folgte dem Freund.

»Und du glaubst wirklich, er wird deiner Idee zustimmen, die Klinik in das Gesundheitszentrum einzugliedern?«

An der Tür drehte sich Dieter Fuchs noch einmal um.

»Wenn ihm wirklich an der Entwicklung dieser Klinik gelegen ist, kann er gar nicht anders, als einem Zusammenschluss von Seniorenzentrum, Reha, Kinderklinik und so weiter zuzustimmen. Wenn ich nur an die wirtschaftlichen Vorteile denke, die so eine Kooperation mit sich bringt …« Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz. »Dem kann er sich unmöglich verweigern.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, unkte Dr. Lammers.

»Wir werden sehen!« Fuchs öffnete die Tür und spähte nach rechts und links. Wie immer an Sonntagen herrschte eine wohltuende Ruhe auf den Klinikfluren, schon gar in der Chefetage. Nur hier und da verirrte sich ein Besucher dorthin. Trotzdem war er auf der Hut. »Du tust gut daran, noch ein paar Minuten hier zu warten. Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden.«

»Für wen hältst du mich?« Manchmal ärgerte sich Lammers darüber, wie Fuchs ihn behandelte. Niemand hatte ihm Vorschriften zu machen. Auch wenn es gewisse Kollegen gab, die das nicht einsehen wollten. Der Verwaltungsdirektor war einer von ihnen.

»Ich wollte es nur erwähnt haben.« Fuchs nickte dem stellvertretenden Leiter der Pädiatrie zu und machte sich dann auf den Weg zu seinem Termin mit Dr. Daniel Norden, der schon in seinem Büro auf ihn wartete.

»Da sind Sie ja!«, begrüßte er den Verwaltungsdirektor säuerlich lächelnd. »Ich hatte schon Angst, Sie hätten doch keine Lust auf Sonntagsarbeit.« Er bot ihm einen Platz in der Besucherecke an und setzte sich ihm gegenüber. Fee war wenig erbaut darüber gewesen, dass er diesen Termin auf seinen freien Tag gelegt hatte. Doch noch nahm ihn die neue Position des Klinikchefs derart in Beschlag, dass er manche Dinge gern in seiner Freizeit erledigte. Dazu gehörten Gespräche mit Dieter Fuchs. Jenny hatte ihn vor dem Verwaltungsdirektor gewarnt. Diese Warnung nahm er sich zu Herzen. Es galt, konzentriert und vorsichtig zu sein.

»Tut mir leid. Ich wurde aufgehalten«, entschuldigte sich Dieter Fuchs und überlegte schnell, wie er Daniel auf eine falsche Fährte locken konnte. »Sie wissen ja sicher, wie Frauen so sind.«

»Ich habe davon gehört. Allerdings muss ich zugeben, dass ich solche Erfahrungen selbst nicht gemacht habe.«

»Sie Glücklicher. Aber Ihre Frau hat eben auch ganz besondere Klasse.«

Aus jedem anderen Mund hätte Daniel dieses Kompliment geschmeichelt. Doch Jenny hatte ihn gewarnt. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit waren Dieter Fuchs und sie keine Freunde gewesen. Und das Vertrauen war nicht gerade gewachsen, als sie den Verdacht schöpfte, dass Fuchs und Lammers gemeinsame Sache machten. Deshalb drängte es Daniel Norden, das Gespräch so sachlich und kurz wie möglich zu halten.

»Sicher sind Sie nicht an einem heiligen Sonntag in die Klinik gekommen, um mit mir über meine Frau zu plaudern. Um was geht es?«

Insgeheim ärgerte sich der Verwaltungschef über die unterschwellige Zurückweisung. Doch er ließ sich nichts anmerken.

»Es geht um eine Art Gesundheitszentrum«, erklärte er und legte die Mappe auf den Tisch, überzeugt davon, dass er seine Neuigkeiten nur gut genug verkaufen musste, um den neuen Klinikchef auf seine Seite zu ziehen. »Der Stadtrat hat einen Plan vorgelegt, mit Hilfe einer Investorengruppe privat geführte Gesundheitshäuser in einem Verbund zusammenzufassen.«

»Klingt interessant.« Daniel musterte seinen Gesprächspartner aufmerksam. »Und wie soll das genau aussehen?«

Dieter Fuchs lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.

»Der Stadtrat hat ein bestimmtes Gebiet im Visier. Dort befinden sich ein Senioren- und Pflegeheim, eine Kinderklinik, ein Rehazentrum und die Behnisch-Klinik. Geplant ist eine Kooperation und Vernetzung. Abteilungen könnten zusammengelegt und so effektiver ausgelastet werden. Wir würden Arbeitsplätze und Geld sparen, das wir an anderer Stelle dringend benötigen.«

Daniel wollte eine Zwischenfrage stellen. Doch Fuchs hob die Hand zum Zeichen, dass er noch nicht fertig war.

»Sehen Sie sich zum Beispiel unser Labor an. Es ist top ausgestattet, eines der modernsten in der ganzen Stadt, aber nur zu etwa achtzig Prozent ausgelastet. Die freien Kapazitäten könnten wir, natürlich gegen Gebühr, anderen Einrichtungen zur Verfügung stellen. Das Labor in der Kinderklinik und dem Pflegeheim dagegen könnte schließen, andere Stationen dafür erweitert werden. Diese Möglichkeit besteht für alle Abteilungen, die sich überschneiden.«

»Ich verstehe, was Sie meinen.« Daniel Norden nickte nachdenklich.

Fuchs stellte beide Füße zurück auf den Boden und setzte sich auf. Es war offensichtlich, dass das Thema ihn bewegte und begeisterte.

»Aber das ist noch längst nicht alles. Es geht auch um Daten. Die Zukunft sind zentral gespeicherte und verwaltete Patientendaten. Stellen Sie sich das vor: In so einem Zentrum könnten Informationen eines einzelnen Patienten von der Geburt bis zum Tod lückenlos gesammelt und verwertet werden. Alles wäre an einem Platz. So könnte beispielsweise der Reha-Arzt auf alle Operationsergebnisse zurückgreifen. Das Seniorenheim hätte Einblick in die gesamte Krankengeschichte und könnte die Behandlung individuell abstimmen.«

Daniel machte keinen Hehl daraus, dass er nicht halb so begeistert war wie der Verwaltungsdirektor.

»Mal abgesehen davon, dass es sehr schwierig ist, eine solche Menge an Daten sicher und verantwortungsbewusst zu verwahren, sehe ich ein großes Problem in dem enormen Aufwand, den so eine Umstellung bedeutet.«

»Ich gebe Ihnen recht«, räumte Dieter Fuchs ohne Zögern ein. »Aber das, mein lieber Norden, ist die Zukunft. Wenn wir nicht wettbewerbsfähig bleiben und eine andere Klinik an uns vorbeiziehen lassen, werden wir irgendwann abgehängt.«

»So schnell wird das wohl nicht passieren«, schmunzelte Daniel. »Erst gestern stand ein Artikel in der Zeitung. Die Behnisch-Klinik ist eine der beliebtesten im ganzen Umkreis. Über mangelnde Akzeptanz können wir uns nicht beklagen.«

»Im Moment vielleicht nicht«, beharrte Dieter Fuchs. Er hatte sich dieses Gespräch einfacher vorgestellt. »Aber wir müssen auch in die Zukunft blicken.«

»Wir sind beide keine Hellseher und wissen nicht, was in in ein paar Jahren passieren wird«, erwiderte Daniel Norden. Zum Zeichen, das sich das Gespräch seinem Ende entgegen neigte, erhob er sich. »Außerdem frage ich mich, welche Abteilung wir schließen müssten. Die Küche? Die Kinderstation? Das würde weder meiner Frau noch dem Kollegen Lammers oder den anderen Mitarbeitern gefallen. Und mir im Übrigen auch nicht.«

Wenn Fuchs nicht zu Dr. Norden aufblicken wollte, hatte er keine andere Wahl, als ebenfalls aufzustehen. Seine Miene war nicht mehr halb so freundlich wie noch am Anfang des Gesprächs. Woher wusste der Klinikchef von der geplanten Schließung der Kinderstation?

»Eines Tages werden Sie Ihre Angst bitter bereuen«, prophezeite er düster.

Daniel lachte und hielt ihm die Tür auf.

»Ich denke, dieser Tag liegt noch in ferner Zukunft.« Als Dieter Fuchs an ihm vorbei aus dem Büro ging, fiel ihm noch etwas ein. »Warum liegt Ihnen eigentlich so viel an unserer Beteiligung an diesem Projekt? Sie sind doch sonst kein Fan von Investitionen«, sagte er ihm auf den Kopf zu.

Dieter Fuchs schoss das Blut in die Wangen, und Daniel wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

»Manchmal muss man eben über seinen Schatten springen, um ans Ziel zu kommen«, erwiderte er.

»Große Worte, gelassen ausgesprochen.« Daniel lächelte undurchdringlich. »In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Sonntag.«

Wortlos wandte sich Dieter Fuchs ab und stapfte davon. Dr. Norden sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Sein Lächeln hatte sich längst aufgelöst, als er das Büro abschloss und sich auf den Nachhauseweg machte. Dieter Fuchs’ Plan und seine wahren Beweggründe bereiteten ihm zu Recht Sorgen. Er war froh, dass seine Frau Fee zu Hause auf ihn wartete. Schon jetzt war er gespannt darauf, was sie zu diesen Plänen sagte. Und vor allen Dingen: Teilte sie seinen Verdacht?

*

»Ich habe Leo immer gesagt, dass er nicht auf Jägerstände klettern soll. Sie könnten marode sein und zusammenbrechen«, stammelte Alexa Quadt. Nach dem Anruf von Dr. Danny Norden war sie sofort in die Behnisch-Klinik gefahren. Gemeinsam mit ihm wartete sie nun vor dem Behandlungszimmer auf Neuigkeiten. »Warum müssen Kinder immer alles selbst ausprobieren?« Obwohl sie sich darum bemühte, tapfer zu sein, schwammen ihre Augen in Tränen.

»Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe. Und ihm auch nicht«, redete Danny beschwichtigend auf sie ein. »Kinder machen nun einmal Dummheiten. Meistens gehen sie ja gut.«

»Aber manchmal eben auch nicht.« Alexa hörte Schritte hinter sich und drehte sich um.

Matthias Weigand war aus dem Behandlungszimmer getreten. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Ihr Sohn hat bei dem Sturz ein stumpfes Bauchtrauma erlitten. Verdacht auf Leberriss und Rippenfrakturen. Die Kollegen bereiten gerade alles für die OP vor. Wir hoffen, dass wir die Leber erhalten können.«

Alexa wurde blass.

»Was heißt das? Sie hoffen?« Tapfer drängte sie die Tränen zurück. Später würde sie noch genug Zeit zum Weinen haben. »Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Wie steht es wirklich um Leo?«

»Die Leber ist auf jeden Fall stark gefährdet. Die Kollegen und ich tun, was in unserer Macht steht«, versprach Dr. Weigand.

»Und was, wenn Sie seine Leber nicht retten können? Ich habe solche Angst um mein Kind.« Nun traten die Tränen doch über die Ufer. Alexa schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Matthias Weigand widerstand der Versuchung, die verzweifelte Mutter in die Arme zu schließen. Er hatte jetzt Wichtigeres zu tun und schickte Danny einen hilfesuchenden Blick. Der verstand und legte den Arm um Alexa Quadts bebende Schultern.

»Kommen Sie!«

Matthias sah den beiden nach, wie sie um die Ecke verschwanden. Dann kehrte er zurück in den Operationssaal, in den der zehnjährige Leo inzwischen gebracht worden war.

»Fertig mit dem Kaffeekränzchen?«, erkundigte sich Dr. Lammers hämisch. Ein Skalpell in der Hand, stand er am Tisch.

»Wie sieht es aus?«, stellte Matthias eine Gegenfrage und nahm seinen Platz am Operationstisch ein.

»Die Leber ist ein Schlachtfeld. Viel schlimmer, als es im Ultraschall zu erkennen war«, erwiderte Dr. Lammers. »Absaugen!«, fuhr er die Schwester an. »Geschieht ihm recht, dem Bengel. Was hat er auch auf einem Jägerstand verloren!«

Dr. Volker Lammers war berüchtigt für seine patientenverachtende Art.

»Versuchen Sie gefälligst, wenigstens den rechten Leberlappen zu erhalten.« Nur mit Mühe konnte sich Matthias Weigand einen noch schärferen Kommentar verkneifen.

»Sie haben mir nicht zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Oder wollen Sie übernehmen?« Lammers hielt dem Notarzt das Skalpell hin.

Matthias atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass es um das Leben eines Kindes und nicht um verletzte Gefühle ging.

»Schon gut.«

Lammers’ Augen blitzten kalt vor Genugtuung. Er beugte sich wieder über das schlafende Kind.

»Statt euch zu streiten, solltet ihr lieber etwas tun, damit die Blutung nachlässt«, verlangte der Anästhesist Dr. Klaiber streng. »Der Kleine wird instabil. Lange kann ich ihn nicht mehr halten.«

»Wir sollten über eine Leberdialyse nachdenken«, knurrte Lammers. »Bauchtücher!«, befahl er im nächsten Satz von der Schwester.

»Mir gehen langsam die Konserven aus.« Im Normalfall die Ruhe in Person, klang Arnold Klaiber nun gereizt.

»Keine Chance! Die Leber wird sich nicht wieder erholen.« Volker Lammers ärgerte sich. »Wie kann man nur so blöd sein!«, schimpfte er wieder auf Leo. »Wie stehe ich da, wenn ich das Organ nicht erhalten kann?«

Klaiber und Weigand tauschten ungläubige Blicke. Sie waren einiges von Lammers gewohnt. Doch so schlimm wie diesmal war es noch nie gewesen.

»Ich setze mich mit Medtransplant in Verbindung«, beschloss Matthias Weigand, als sich wenig später abzeichnete, dass Leos Organ tatsächlich nicht erhalten werden konnte.

»Schön, dass Sie sich auch mal nützlich machen«, schickte Lammers ihm nach.

Matthias antwortete nicht darauf.

*

»Du möchtest mehr über mich erfahren? Also gut. Ich bin 1,85 groß, 89 Kilogramm schwer und bestehe zu mehr als 50 Prozent aus Wasser. Ich habe mit meinen 35 Jahren das erste Lebensviertel mehr oder weniger erfolgreich hinter mich gebracht und verfüge über ein Hirn und einen Körper, den ich als Arbeitsgerät verwende.« Renate Schober stand vor dem Computer ihrer Freundin und blickte auf die geöffnete Seite des Dating-Portals. »Das ist ja mal eine nette Antwort«, bemerkte sie lächelnd. »Und gutaussehend ist er auch noch. Zumindest das, was man erkennen kann. Wann trefft ihr euch?« Sie drehte sich um und hielt Ausschau nach Marita.

Das Chaos in der kleinen Wohnung war unbeschreiblich. Das nahm nicht wunder, denn Marita Wonnegut bekam eine neue Küche. Dementsprechend sah es in den übrigen Zimmern aus. Überall stapelten sich Kisten und Schachteln mit Küchenutensilien. Töpfe und Pfannen, die keinen Platz mehr gefunden hatten, standen genauso auf dem Esstisch wie die Lebensmittel des täglichen Bedarfs. Auf dem Balkon diente ein kleiner Campingkocher als Übergangsherd.

Dort machte sich Marita gerade zu schaffen.

»Oh, keine Ahnung. So weit sind wir noch nicht«, rief sie. An ihrer Stimme erkannte Renate, dass ihr die Frage peinlich war.

Sie trat an die Balkontür und musterte Marita, die in Arbeitskleidern am Gasherd stand und in einem Topf rührte.

»Was ist los? Du verheimlichst mir doch irgendwas!«

Marita stellte die Gasflamme aus und verteilte Nudeln aus dem Topf auf zwei Teller. Damit gesellte sie sich zu Renate. Die beiden Frauen suchten sich in all dem Durcheinander einen Platz.

»Guten Appetit«, wünschte Marita und schob eine Gabel Spaghetti mit Tomatensauce in den Mund.

»Ebenfalls. Und jetzt raus mit der Sprache«, verlangte Renate. »Was ist los? Ist der Kerl verheiratet? Oder siebenfacher Vater?« Die Frage war nicht ganz ernst gemeint.

»Nein! Laut seinem Profil ist er Single, hat studiert, ist weder ein Muttersöhnchen noch nimmt er Drogen. Zumindest behauptet er das.«

»Kling wie ein echter Glücksgriff«, freute sich Renate ehrlich für ihre Freundin. Doch ein Rest Skepsis blieb. »Wo ist der Haken?«

Marita wischte sich mit einer Serviette die Tomatensauce vom Mund und trank einen Schluck Schorle.

»Der Haken bin ich«, gestand sie endlich mit schiefem Lächeln.

»Das verstehe ich nicht.«

»Er hat keine Ahnung, dass ich älter bin als er«, gestand sie schließlich.

»Wie kann das sein? Du hast doch bestimmt ein Foto ins Internet gestellt.« Ein aberwitziger Gedanke kam Renate in den Sinn, und sie schnappte nach Luft. »Sag bloß, du hast gelogen.«

Marita schwankte zwischen Verzweiflung und Belustigung. Sie warf das krause Haar in den Nacken, dass die selbstgebastelten Ohrringe nur so klimperten.

»Ich habe mich doch nur für meinen neuen Artikel in diesem Portal angemeldet. Wir wollten ­beweisen, dass es Männern, die im Internet nach einer Partnerin suchen, entweder nur um das Eine geht, oder sie aber irgendeinen Makel haben, der ihnen die Partnersuche im richtigen Leben schwer macht.«

Ungläubig schüttelte Renate den Kopf.

»Was für ein ausgemachter Unsinn! Wie seid ihr denn auf diesen Blödsinn gekommen?«

Mit jedem Wort ihrer Freundin sank Marita ein Stück mehr in sich zusammen. Verlegen zupfte sie an einem Faden ihres selbstgestrickten Pullovers.

»Das ist auf Elviras Mist gewachsen. Und du kennst sie ja. Wenn sich Frau Chefredakteurin etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird das gemacht. Oder man fliegt.«

»Meiner Ansicht nach wäre das die bessere Wahl gewesen.« Renate wickelte Nudeln auf ihre Gabel und steckte sie in den Mund. Eine Weile herrschte Schweigen.

Marita war dankbar dafür. Sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Und konnte es doch nicht ändern.

»Was soll ich denn machen? Im Augenblick bin ich auf diesen Job angewiesen.«

»Papperlapapp. Wenn du ein bisschen mutiger wärst, könntest du schon längst als selbstständige Journalistin arbeiten. Deine Reisereportagen sind genial. Das weißt du genau.«

»Mag sein. Jedenfalls habe ich jetzt dieses Problem an der Backe.« Marita warf einen bedeutungsvollen Blick hinüber zum Computer, von dem ihr Matthias’ Konterfei entgegenlachte. Es war ein Urlaubsfoto mit Bart und Sonnenbrille. Seine Gesichtszüge waren nur zu erahnen. »Das Schlimme ist, dass mir wirklich gefällt, was er schreibt«, seufzte sie sehnsüchtig. »Es ist so lange her, dass ich einen netten Mann kennengelernt habe.«

»Was hält dich ab?« Renates Augen blitzten abenteuerlustig.

»Das uralte Foto, das ich ins Netz gestellt habe. Und meine Alterslüge.« Marita schob die letzte Gabel in den Mund und stellte den Teller mangels irgendeiner anderen Möglichkeit auf einen Farbeimer. Dann stand sie auf. Höchste Zeit, die Pause zu beenden. Und vor allen Dingen das Thema zu wechseln. »Kommst du?« Sie sah erwartungsvoll auf Renate hinab. »Da sind noch ein paar schwere Kisten in der Küche. Die müssen raus, bevor die Handwerker morgen kommen.«

»Schade, dass wir keine starken Männer haben«, seufzte Renate ein paar Minuten später und bückte sich.

»Selbst ist die Frau!«, erwiderte Marita kämpferisch. »Auf drei. Eins, zwei … Auaaaaaaa!« Mit einem Schrei ging sie in die Knie.

Renate erschrak so sehr, dass sie die Kiste fallen ließ. Mit Getöse landete sie wieder auf dem Boden. Doch darauf achtete sie im Augenblick nicht. Ihre einzige Sorge galt ihrer Freundin, die auf dem Boden kniete und sich vor Schmerzen krümmte.

»Was ist? Wo tut es weh?«

»Die Schulter, das Miststück«, stöhnte Marita.

Renate wusste, dass ihre Freundin im Normalfall hart im Nehmen war. Deshalb dachte sie blitzschnell nach.

»Heute ist Sonntag, da hat kein Arzt offen. Ich bringe dich in die Klinik«, erklärte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

*

Matthias Weigand hatte den Vorraum des Operationssaals kaum verlassen, als Alexa Quadt auf ihn zustürzte. Danny Norden war noch immer bei ihr und sah ihr mit gerunzelter Stirn nach.

»Wie sieht es aus, Herr Doktor?«, fragte Alexa atemlos. »Ich halte diese Warterei nicht mehr aus.«

Über ihre Schulter hinweg schickte Dr. Weigand seinem Freund und Kollegen einen vielsagenden Blick. Es tat ihm in die Seele hinein weh, keine guten Nachrichten für die besorgte Mutter zu haben.

»Ich habe eben Nachricht von Medtransplant bekommen. Leider gibt es keine geeignete Spenderleber für Leo.«

Alexa erstarrte. Das Blut wich ihr aus den Wangen.

»Und … und was machen wir jetzt?« Ihre Stimme überschlug sich. »Ich meine, wir müssen doch irgendwas tun.«

»Im Augenblick ist er an die Leberdialyse angeschlossen. Aber das geht natürlich nur zur Überbrückung, bis wir ein geeignetes Spenderorgan gefunden haben.« Matthias dachte kurz nach. Dann fasste er Alexa behutsam am Ellbogen und führte sie in sein Büro. Danny folgte den beiden.

»Bitte setzen Sie sich!«, forderte der Notarzt die Mutter auf.

Zögernd folgte sie seiner Bitte. Ihr Blick klebte an ihm.

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, begann Matthias zögernd. »Dazu brauchen wir Ihre Hilfe.«

Danny wusste sofort, worauf er hinauswollte. Alexas Blick klebte an dem Notarzt.

»Ich tue alles, was Sie von mir verlangen. Wenn nur mein Sohn wieder gesund wird.«

Matthias hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen. Er beugte sich vor und nahm Alexa ins Visier.

»Die Leber ist das einzige Organ, das nachwächst. Deshalb meine Frage: Sind Sie bereit, Ihrem Sohn einen Teil Ihrer Leber zu spenden?«

Schweigen erfüllte den Raum. Plötzlich wirkte Alexa wie versteinert. Von draußen drangen die geschäftigen Geräusche der nahen Notaufnahme hinein. Hektisch gerufene Anweisungen, eilige Schritte, die auf dem Linoleumboden quietschten.

»Ich würde alles für meinen Sohn tun«, wiederholte Alexa wie ein Mantra.

»Eine Lebendspende ist die einzige Möglichkeit.«

»Worauf warten wir dann noch?« Sie hielt es nicht mehr auf dem Stuhl aus, sprang auf und sah die Ärzte herausfordernd an.

Auch Matthias erhob sich. Im selben Moment ertönte ein durchdringendes Piepen. Er zog das kleine Gerät vom Gürtel und warf einen Blick darauf. »Mist, sie brauchen mich in der Ambulanz.«

Danny zögerte keine Sekunde.

»Geh du nur. Ich übernehme das hier.« Er nickte Matthias zu.

Der lächelte dankbar und eilte aus dem Zimmer. Danny winkte Alexa Quadt mit sich.

»Wir beide suchen uns jetzt ein freies Behandlungszimmer. Dort nehme ich Ihnen Blut ab. Das wird untersucht«, erklärte er unterwegs. »Wenn die Blutgruppe Ihres Sohnes zu Ihrer passt, untersuchen wir, ob Ihre Leber für eine Lebendspende geeignet ist.« Er hielt ihr die Tür zu einem Zimmer auf und bat sie, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Alexa folgte seinen Anweisungen und krempelte den Ärmel hoch. Sie sah Danny Norden dabei zu, wie er Blut abnahm und die Röhrchen sorgfältig verschloss.

»Und was, wenn die Blutwerte nicht zusammenpassen?«, stellte sie die Frage, die ihr auf der Seele brannte, seit Dr. Weigand den Vorschlag gemacht hatte.

Danny lächelte.

»Ich kann Sie beruhigen. In den meisten Fällen stimmen die Blutgruppen von Eltern und Kindern überein.«

Alexa kämpfte mit sich. Sie senkte den Blick, während sie den Ärmel wieder herunterkrempelte. Unterdessen schickte Danny eine Schwester mit den dringenden Blutproben ins Labor.

»Und was, wenn sie doch nicht passen?«, beharrte sie auf ihrer Frage.

Einen Moment lang war Danny irritiert. Woher rührten diese Sorgen?

»Dann werden wir zur Sicherheit auch noch Leos Vater untersuchen.«

Alexas Augen weiteten sich vor Schreck.

»Das ist ausgeschlossen. Wir … wir haben uns im Streit getrennt. Ich habe keine Ahnung, wo er inzwischen lebt.« Sie dachte kurz nach und stand dann auf. »Kann ich meinen Sohn sehen?«

Danny antwortete nicht sofort. Irgendetwas stimmte nicht mit Alexa Quadt. Instinktiv spürte er, dass sie ein Geheimnis vor ihm verbarg. Doch es war nicht seine Art nachzufragen. So beließ er es bei der Ahnung und erhob sich.

»Selbstverständlich. Ich bringe Sie zu ihm. Wenn die Ergebnisse da sind, weiß ich ja, wo ich Sie finde«, erklärte er sich bereit und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

*

Fee Norden wusste auf den ersten Blick, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

»Was ist los, Dan?«, fragte sie und machte es sich auf der Couch gemütlich.

Den ganzen Vormittag hatte sie draußen verbracht und sich ihrem großen Hobby, den Rosen, gewidmet. Es war Zeit geworden, ihre Lieblinge von ihrem Winterschutz zu befreien, und ihnen Luft zum Atmen zu verschaffen. Sie hatte das restliche Laub vom Vorjahr zusammengerecht, die Erde in den Beeten aufgelockert und neuen Rindenmulch verteilt. Von der frischen Luft waren ihre Wangen gerötet. Nach getaner Arbeit freute sie sich auf ein Stück Kuchen aus Tatjanas Café und auf eine schöne Tasse Tee.

Seufzend setzte sich Daniel neben sie.

»Du hattest recht. Ich hätte doch daheim bleiben sollen«, erklärte er unwillig und schenkte zwei Becher Tee ein. Sein nachdenklicher Blick ruhte auf der Kuchenauswahl, die er auf dem Heimweg rasch in der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ besorgt hatte. »Magst du lieber Zitronentarte oder Käsekuchen?«

»Beides!«, antwortete Fee spontan. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir eine von Tatjanas Köstlichkeiten entgehen lasse.«

»Und ich? Soll ich dir etwa zuschauen?«, fragte Daniel entgeistert. »Was gibt es da zu lachen?«

»Dein Gesicht hättest du sehen sollen.« Fee kicherte noch immer, als sie nach einem Messer griff und die beiden Kuchenstücke teilte. »Keine Angst, du musst nicht verhungern.«

Daniel lächelte.

»Immerhin etwas an diesem tristen Tag.«

Fee nahm ihren Teller und lehnte sich zurück. Ohne ihren Mann aus den Augen zu lassen, ließ sie eine Gabel voll Käsekuchen im Mund verschwinden.

»War es so schlimm?«

»Viel schlimmer. Stell dir vor, was Fuchs vorhat.« In aller Ausführlichkeit berichtete er von dem ungeheuerlichen Plan.

Allmählich verstand Felicitas die Empörung ihres Mannes.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein!«, schimpfte sie, nachdem er geendet hatte. »Diesen Plan unterstützt er doch nur, weil ihm ein einflussreicher Posten versprochen worden ist.«

Daniel schob eine Gabel Kuchen in den Mund und trank einen Schluck Tee nach.

»Dann siehst du die Sache also genauso wie ich?«, fragte er vorsichtshalber nach.

»Natürlich!« Fee war so empört, dass sie den Kuchen völlig vergaß. »Die Frage ist, was du jetzt tun sollst.«

»Ganz einfach.« Daniel kratzte die letzten Reste auf seinem Teller zusammen. »Ich gebe Fuchs einen Korb und hoffe darauf, dass die Sache damit erledigt ist.«

Fees Augen waren schmal geworden. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie angestrengt nachdachte.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, erklärte sie schließlich.

Daniel sah sie verwundert an.

»Nicht?«

»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist nicht gut, sich gleich am Anfange Feinde zu machen. An deiner Stelle würde ich Interesse an dem Projekt bekunden. Gleichzeitig versuchen wir, mehr über die Hintergründe herauszufinden.« Ein süffisantes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich habe doch eine gute Freundin im Stadtrat. Leider haben Kerstin und ich uns schon lange nicht mehr gesehen.« Sie seufzte theatralisch. »Es wird Zeit, dass wir uns wieder einmal auf eine Tasse Kaffee im ›Schöne Aussichten‹ treffen.«

Die Darbietung seiner Frau war überzeugend. Daniel lachte belustigt auf.

»Wenn ich gewusst hätte, was für ein schauspielerisches Talent du hast, hätte ich in den letzten Jahren mehr Vorsicht walten lassen«, erklärte er und nahm ihr den Teller aus der Hand. Er stellte ihn auf den Tisch, ehe er sich über sie beugte.

»Ach ja?« Fee lehnte sich zurück und sah ihm in die Augen. »Jetzt ist es dummerweise zu spät.« Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. »Du bist mir nämlich längst verfallen«, murmelte sie an seinen Lippen. »Mit Haut und Haaren.«

»Jetzt kannst du endlich zugeben, dass du nur hinter meinem Geld her warst«, spielte Daniel das Spiel nur zu gern mit.

»Nicht nur. Auch hinter deinem Körper«, korrigierte Fee ihn zwischen zwei Küssen.

Daniel lachte laut auf.

»Für so oberflächlich hätte ich dich gar nicht gehalten«, sagte er dann.

»Ich werde dir gleich mein wahres Ich zeigen!« Mehr Worte verlor Fee nicht. Denn gab es einen Grund zu reden, wenn es eine viel bessere Sprache für zwei Liebenden gab?

*

In der Notaufnahme wurde Matthias Weigand schon sehnsüchtig erwartet.

»Eine Schmerzpatientin in der drei«, erklärte Schwester Elena und wies mit dem Kopf in Richtung des Behandlungszimmers.

»Kann das nicht ein anderer übernehmen?«, fragte er unwillig. Nach dem Gespräch mit Alexa Quadt hatte er eigentlich vorgehabt, einen Blick in den Computer zu werfen. Ob seine Internet-Bekanntschaft schon geantwortet hatte?

»Ich kann das schon machen«, lächelte Elena engelsgleich. »Solange du dich nicht darüber beschwerst, wenn ich eine ausgekugelte Schulter mit Quarkwickeln behandele …«

»Schon gut. Ich gehe ja schon.« Matthias gab sich seufzend geschlagen und machte sich auf den Weg.

Beim Anblick der beiden bunt schillernden Frauen hätte er am liebsten gleich wieder kehrtgemacht. Doch es war zu spät.

»Endlich ein Doktor«, stöhnte Marita. »Ich habe mich schon lange nicht mehr so sehr über den Anblick eines Mannes gefreut wie jetzt.«

»Da habe ich ja Glück, dass Sie nicht gleich schreiend davon laufen.« Matthias zog sich einen Hocker heran und setzte sich. »Wenn Sie bitte draußen warten wollen«, bat er Renate, die sich sofort diskret zurückzog. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, reichte er Marita ein Formular, das sie vor der Behandlung ausfüllen musste. Diese Zeit brauchte er, um sich an ihren Anblick zu gewöhnen.

Frauen mit feuerroten Lockenmähnen waren ihm per se schon suspekt. Trugen sie dann noch selbstgestrickte Pullover und eine Menge handgemachten Schmuck, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Dann lieber gar keine Frau als so eine.

Er erschrak, als sie ihn anstupste.

»Fertig.« Sie gab ihm das Klemmbrett zurück.

Widerwillig musste sich Matthias eingestehen, dass ihr Lächeln schön war. Einen Augenblick lang meinte er, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Ausgeschlossen, dass er schon einmal mit einer Frau wie dieser zu tun gehabt hatte.

»Danke.« Er warf einen kurzen Blick auf das Formular, ehe er es zur Seite legte. »Dann wollen wir mal. Wo tut es denn weh?«

»Hier, in der Schulter.« Marita zeigte auf die schmerzende Stelle.

»Und seit wann genau?«

»Ehrlich gesagt schon seit ein paar Wochen.« Sie schickte ihm einen schüchternen Blick und sah schnell wieder weg. Sie konnte den Tadel förmlich hören, auch wenn kein Wort über seine Lippen kam. »Aber heute war es plötzlich ganz schlimm. Wir wollten eine besonders schwere Kiste heben. Dabei ist es passiert. Es war grässlich.« Jetzt wagte sie es doch, den Arzt anzusehen. »Was könnte das denn sein?«

»Möglicherweise eine Entzündungsreaktion aufgrund einer Überbelastung«, erwiderte Matthias. »Aber genau kann ich das natürlich erst nach einer eingehenden Untersuchung sagen.«

»Dass das ausgerechnet jetzt passieren musste. Ich hatte doch noch so viel vor in den nächsten Tagen.« Marita seufzte so bedrückt, dass sie ihm nun doch ein wenig leid tat.

»Was denn, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Matthias, während er ein paar Notizen machte.

»Morgen bekomme ich eine neue Küche.«

»Die werden Sie ja wohl nicht selbst aufbauen«, platzte er heraus.

Marita legte den Kopf schief.

»Und warum nicht? Trauen Sie einer Frau das nicht zu?«

Schlagartig leuchteten seine Wangen in schönstem Rot.

»Natürlich. Es tut mir leid. Sie müssen denken, dass ich ein richtiger Macho bin.«

Trotz ihrer Schmerzen musste Marita lachen. Irgendwoher kam ihr dieser Mann bekannt vor. Außerdem war er ihr sympathisch. Sie hatte ihn nicht in Verlegenheit bringen wollen.

»Nein, keine Sorge. Das war nur ein Scherz. Küchenaufbau ist in der Tat nicht mein Fall. Meine Fähigkeiten liegen in anderen Bereichen.«

Matthias musterte sie wohlwollend. Mit jedem Satz fand er sie netter.

»Hoffentlich gehört Lesen zu Ihren ausgesuchten Qualitäten. Darauf werden Sie sich nämlich in den nächsten Wochen beschränken müssen. Das Einräumen der Küchenschränke werden Sie wohl oder übel Ihrer Freundin überlassen müssen.«

»Das Verbot betrifft aber nur den Arm?«, fragte sie und zwinkerte ihm belustigt zu. »Oder darf ich mich gar nicht mehr bewegen?« Das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen, wuchs mit jedem Satz. War es möglich, dass sie sein Konterfei in der Partnerbörse gesehen hatte?

Trotz seiner Vorurteile fiel es Matthias schwer, sich ihrem Charme zu entziehen. Er schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn ihr.

»Natürlich dürfen Sie sich bewegen. Sie müssen sogar.«

Ihr Herz machte einen Satz, als sie das Stück Papier nahm. Doch es war nicht etwa seine Telefonnummer, die er ihr in die Hand drückte.

»MRT?«, las sie ernüchtert vor.

»Allerdings.« Matthias Weigand erhob sich lächelnd. »Sie müssen den Flur geradeaus durchgehen bis zum Ende und dann rechts abbiegen. Die Radiologie ist ausgeschildert. Allerdings muss ich Sie warnen. Heute ist ziemlich viel Betrieb. Sie sollten sich auf etwas Wartezeit einstellen. Im Anschluss sehen wir uns wieder hier.«

Marita erhob sich und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um. Eine Idee war ihr in den Sinn gekommen.

»Sagen Sie, gibt es in der Klinik freies Internet? Ich möchte meinen Bekannten nicht zu lange auf eine Antwort warten lassen«, erklärte sie vielsagend.

»Internet gibt es leider nicht. Aber warum rufen Sie ihn nicht einfach an?«

Maritas Wangen wurden rot.

Sie war gespannt auf seine Reaktion.

»Ehrlich gesagt kenne ich ihn noch gar nicht persönlich. Wir haben uns im Internet kennengelernt.«

Matthias’ Lächeln war undurchschaubar. Nicht das leiseste Zucken verriet ihn.

»Wenn sein Interesse echt ist, wird er sich sicher gedulden.«

Marita ärgerte sich darüber, dass ihr Trick wirkungslos verpufft war.

»Da haben Sie auch wieder recht«, erklärte sie schnell und verschwand aus dem Zimmer, ehe sie sich noch mehr blamieren konnte.

*

Nachdem Marita Wonnegut fürs Erste versorgt war, holte sich Matthias Weigand einen Kaffee. Im Augenblick gab es nichts für ihn zu tun. Kein weiterer Notfall verlangte nach seiner Behandlung, und der kleine Quadt wurde von Danny Norden versorgt, sodass sich der Notarzt endlich guten Gewissens an den Computer setzen konnte. Er wollte sich gerade in seinen Account einloggen, als Danny zur Tür hereinkam. Er hielt einen Stapel Papier in der Hand, mit dem er durch die Luft wedelte.

»Hast du das schon gesehen?«

Wie ertappt schloss Matthias schnell das Internet wieder und griff nach seinem Kaffee.

»Wenn du mir verrätst, um was es geht.

»Das sind die Ergebnisse der Blutanalyse von Mutter und Sohn Quadt.« Danny legte sie vor Matthias auf den Schreibtisch. »Hältst du es für möglich, dass die irgendwer vertauscht hat?«

»Ausgeschlossen!« Ohne Zögern schüttelte Matthias Weigand den Kopf. »In unserem Labor wird immer alles doppelt und dreifach geprüft.« Er zog die Unterlagen heran und studierte die Werte. »Nach dieser Analyse wäre Frau Quadt als Spenderin völlig ungeeignet.«

»Ich habe noch nie erlebt, dass die Werte von Mutter und Sohn so stark voneinander abweichen«, bestätigte Danny. »Keiner der Tests war positiv.« Er deutete auf die entsprechenden Zahlenreihen.

Matthias nickte nachdenklich.

»Du hast recht. Da muss doch irgendwas schief gelaufen sein.«

Auf diese Bestätigung hatte Danny nur gewartet.

»Gut. Wenn du nichts dagegen hast, kläre ich das!«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Matthias, doch da war Danny Norden schon zur Tür hinaus.

Wie erwartet, fand er Alexa Quadt am Bett ihres Sohnes in der Intensivstation.

Die lebenerhaltenden Geräte piepten, schnauften und stampften unaufhörlich vor sich hin, als wollten sie die Besucher in jedem Moment daran erinnern, dass hier ein Leben am seidenen Faden hing. Angesichts dieser Geräuschkulisse wunderte sich Danny nicht, dass Alexa sein Kommen nicht bemerkte.

»Frau Quadt?«, sprach er sie leise an.

Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr zu ihm herum. Beim Anblick des Arztes atmete sie aus.

»Ach, Sie sind es.« Ihre Augen kehrten zurück zu Leo. Unzählige Kabel führten in seinen Köper. »Sehen Sie ihn nur an!« Ihre Stimme war nur ein tonloses Flüstern. »Ich wage kaum, seine Hand zu halten aus Angst, einen dieser Schläuche zu berühren.«

»Keine Sorge. Die sind gut befestigt. Da passiert nicht so schnell etwas«, versuchte Danny Norden, sie zu beruhigen. »Kann ich Sie kurz sprechen, Frau Quadt?«

Sie wusste sofort, um was es ging, und folgte ihm nach draußen.

»Haben Sie die Ergebnisse?«

Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest.

»Sie wissen, dass die Blutwerte von Leo und Ihnen völlig unterschiedlich sind«, sagte er ihr auf den Kopf zu. Wie ertappt wandte sich Alexa ab. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und ging ein paar Schritte. »Wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen?«, verlangte Danny mit erhobener Stimme. Alexa Quadt stand ein Stück entfernt mit dem Rücken zu ihm und bewegte sich nicht. »Sie sind nicht Leos leibliche Mutter, nicht wahr?«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich Alexandra endlich um. Sie wagte es nicht, Dr. Norden ins Gesicht zu sehen.

»Leos leibliche Mutter ist meine Schwester Nicole, aber er lebt schon immer bei mir«, gestand sie zögernd.

Dannys Beherrschung wurde auf eine harte Probe gestellt.

»Kann sie sich nicht selbst um ihr Kind kümmern?«

Alexa fuhr sich mit der Hand über die Augen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Sie könnte es schon … zumindest glaube ich das. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr.«

»Wenn Sie Leo helfen wollen, müssen Sie sich mit ihr in Verbindung setzen. Wir müssen herausfinden, ob sie als Spenderin geeignet ist.«

Alexa begann, unruhig im Flur auf und ab zu gehen. Allmählich verlor Danny Norden die Geduld.

»Frau Quadt, wir haben nicht ewig Zeit!«, erinnerte er die Mutter scharf. »Jede Stunde, die wir verlieren, kann entscheidend sein.«

Ihre Augen schwammen in Tränen, als sie sich ihm wieder zuwandte.

»Das ist die gerechte Strafe«, stammelte sie. »Ich habe es nicht anders verdient.«

Danny verstand kein Wort. Er wusste nur eines.

»Es geht hier nicht um Sie. Es geht um Leos Leben!«

Alexa konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

»Aber ich kann meine Schwester nicht anrufen«, schluchzte sie auf. »Sie verstehen das nicht.«

Am liebsten hätte Danny sie gepackt und geschüttelt.

»Dann erklären Sie es mir!«, verlangte er energisch und reichte ihr ein Taschentuch.

Sie nahm es und betupfte sich die Wangen.

»Es … es … ich … ich kann nicht schwanger werden. Deshalb habe ich meine Schwester und meinen Mann damals zu einem Geschäft überredet.« Alexa zerknüllte das Taschentuch in der Hand. Sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen.

Wenn sie es getan hätte, hätte sie die Fassungslosigkeit in Dannys Augen gesehen. Er fühlte sich an einen schlechten Film erinnert. Die Einzelheiten wollte er sich und Alexa ersparen.

»Leo ist das Kind Ihrer Schwester und Ihres Mannes«, fragte er, um ganz sicher zu gehen.

Alexa Quadt nickte. Wieder rannen Tränen über ihre Wangen. Doch diesmal hielt sich Danny Nordens Mitgefühl in Grenze.

»Nach der Geburt wollte Nicole den Jungen doch nicht hergeben. Es kam zu einem schrecklichen Streit und sie ist verschwunden. Mein Mann hat sich kurz darauf von mir getrennt. Seitdem bin ich mit Leo allein.« Wieder wischte sie sich Tränen weg. »Er ist mein Sohn«, erklärte sie fast trotzig.

»Und Ihre Schwester?« Diese Frage konnte Danny der Mutter nicht ersparen.

Alexa schüttelte dem Kopf.

»Ich habe nichts mehr von ihr gehört oder gesehen. Dabei wohnt sie nicht weit entfernt.«

Zumindest diese Bemerkung war ein Lichtblick. Offenbar interessierte sich Alexa doch für das Leben ihrer Schwester, hatte nach ihr gesucht.

Diese Tatsache besänftigte Danny Norden ein wenig.

»Ich kann mir vorstellen, wie schwierig die Situation für Sie alle ist. Aber ich kann Ihnen nicht ersparen, wieder Kontakt aufzunehmen. Leo hat keine andere Chance. Sie sind es ihm schuldig. Und seiner Mutter«, redete er mit Engelszungen auf sie ein.

Im ersten Moment sah Alexa Quadt aus, als wollte sie ihm eine heftige Antwort entgegen schleudern. Doch dann verzichtete sie darauf. Sie wusste, dass Dr. Norden recht hatte.

*

Als Schwester Elena ins Büro kam, saß Dr. Weigand mit Leichenbittermiene am Schreibtisch und starrte missmutig vor sich hin.

»Hey, was ist denn mit dir passiert?« Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn fragend an. Im nächsten Moment hob sie die Hände. »Nein, halt. Sag es nicht! Lass mich raten: Die Prinzessin hat nicht mehr geantwortet.«

Matthias machte gar nicht erst den Versuch zu leugnen.

»Seit drei Stunden nicht«, bestätigte er den Verdacht und griff nach dem Torso aus Plastik, der vor ihm auf dem Tisch stand. Es handelte sich um das Modell eines Oberkörpers. Zu Schulungszwecken konnte man die inneren Organe entfernen. Mit wenigen Handgriffen entfernte er das Herz der Puppe und wog es bedeutungsvoll in der Hand.

Elena lachte.

»Dich hat’s ja ganz schön erwischt. Reißt dem armen Kerl das Herz aus dem Leib.« Kopfschüttelnd nahm sie ihm Torso und Herznachbildung aus der Hand und setzte es wieder ein. »Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?«

»Das hat sie noch nie gemacht. Maria ist absolut zuverlässig«, brummte Matthias unwillig.

»Seit wann schreibst du denn mit ihr?«

Verlegen zupfte er mit den Zähnen an der Unterlippe.

»Seit gestern.«

Um ein Haar hätte Elena laut herausgelacht. Ihrem Kollegen zuliebe verzichtete sie aber auf einen despektierlichen Kommentar.

»War nicht vorhin diese rothaarige Amazone bei dir? Wäre die nicht was für dich?«, erinnerte sie sich an den Notfall vom frühen Nachmittag.

Matthias ahnte sofort, worauf sie hinauswollte.

»Nein, danke! Sie ist zwar nicht halb so schlimm, wie ich zuerst dachte. Aber diese Selfmade-Frauen sind einfach nichts für mich.« Mit zusammengekniffenen Augen sah er Elena dabei zu, wie sie Verbandmaterial aus einem Schrank holte. »Wirst du eigentlich für Kuppelei bezahlt?«

»Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ich kümmere mich lediglich um dein Seelenheil. Seit du dich im Internet herum treibst, hat dein Realitätssinn schwer gelitten.« Elena versetzte der Schranktür einen Stoß mit dem Fuß. Krachend fiel sie ins Schloss. »Denk mal darüber nach!«, empfahl sie noch, ehe sie das Büro verließ.

»Unsinn!«, rief Matthias ihr nach und wog das Plastikherz in der Hand, das er schon wieder aus dem Torso genommen hatte.

*

Danny Norden nutzte die Wartezeit, um mit seiner Freundin Tatjana zu telefonieren und ihr mitzuteilen, dass es länger dauern würde.

»Wie geht es dem Kleinen?«

»Nicht gut. Seine Leber ist völlig zerstört. Wir sind gerade auf der Suche nach einem Spenderorgan.« Diese Information musste für’s Erste genügen. Alles andere hatte Zeit bis später. »Hoffentlich machst du keine Dummheiten.«

»Niemals!«, versicherte Tatjana. Sie stand in der Küche und probierte sich an neuen Kreationen, mit denen sie ihren Kunden den Kopf verdrehen konnte. Während sie telefonierte, steckte sie den Zeigefinger in den Mund. Genüsslich verdrehte sie die Augen. »Ich bin froh, wenn ich die Schüssel mit meiner Vanille-Thymian-Creme selbst ausschlecken kann.«

»Weib, dein zweiter Name ist Hexe!«

»Komm du mir nach Hause, Herr Doktor. Dann lasse ich die Hexe aus dem Schrank!«, scherzte sie gut gelaunt.

»Ich kann es kaum erwarten.« Ein paar Neckereien später verabschiedete sich Danny mit einem Kuss in den Hörer. Er wollte unbedingt zur Stelle sein, wenn Frau Quadts Schwester in die Klinik kam. Falls sie überhaupt mit Alexa gesprochen hatte.

Nur wenige Minuten später gesellte er sich wieder zu ihr. Sie stand am Fenster in einem der Aufenthaltsräume, die die ehemalige Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch für die Angehörigen der Patienten eingerichtet hatte. Erfrischungsgetränke standen ebenso bereit wie Gebäck, um die blankliegenden Nerven ein wenig zu beruhigen. Doch Alexa schien weder das eine noch das andere angerührt zu haben. Seine Schritte im Ohr, drehte sie sich zu ihm um.

»Und? Haben Sie Ihre Schwester erreicht?«, erkundigte er sich ihr, als ihr Blick an ihm vorbei zur Tür flog.

Danny folgte ihrer fassungslosen Miene und wandte den Kopf. Eine Frau war in der Tür erschienen. Ihre Ähnlichkeit mit Alexa Quadt war nicht zu übersehen.

»Nicole«, hauchte Alexandra ergriffen. Im nächsten Moment tauchte ein Mann auf. Alexa erstarrte. »Bertram! Was machst du denn hier?«

»Wir sind hier wegen Leo.« Bertram Quadts Stimme war sachlich. Er ging auf Danny Norden zu und reichte ihm die Hand. »Ich bin Leos Vater. Und Sie sind vermutlich der Arzt, der meinen Sohn behandelt?«

»Meine Freundin und ich haben Leo unter dem Jägerstand gefunden.« Tausend Fragen brannten Danny auf der Seele. Doch dies war nicht der Zeitpunkt, sie zu stellen. Im Augenblick gab es Dringenderes zu tun. »Kommen Sie, wir gehen hinüber ins Behandlungszimmer. Dort nehme ich Ihnen beiden Blut ab. Dann sehen wir, wer als Spender geeignet ist.« Seine Miene verriet, dass neue Hoffnung in ihm aufkeimte. »Sie warten bitte hier!«, bat er Alexa, die ihre Schwester und ihren Ex-Mann noch immer fixierte.

»Ja … ja, natürlich«, stammelte sie und sah den dreien nach, wie sie das Zimmer verließen.

Kurz darauf war alles für die Blutentnahme bereit.

»Es gibt jetzt einen kurzen Pieks«, warnte Danny den Vater, der mit undurchdringlicher Miene vor ihm saß. »Gut, dass Sie so schnell kommen konnten«, fuhr Danny Norden fort, während er seine Arbeit machte.

Bertram Quadt haderte mit sich. Es gefiel ihm nicht, die Tür zur Vergangenheit aufzustoßen.

»Als Nicky mir von dem Unglück erzählt hat, gab es für mich keine Fragen«, erwiderte er schließlich zurückhaltend.

»Sind Sie wieder verheiratet? Haben Sie noch mehr Kinder?«

Bertram zog eine Augenbraue hoch. Danny verstand den stummen Vorwurf.

»Meine Fragen haben rein medizinische Gründe«, beeilte er sich zu versichern. Unter gar keinen Umständen durfte er die Hilfsbereitschaft des Vaters in Gefahr bringen.

Bertram Quadt gab sich einen Ruck.

»Nicky und ich haben vor acht Jahren beschlossen, zusammen zu bleiben. Wir haben einen Sohn und eine Tochter.«

Diesmal war es an Danny, die Augenbraue hochzuziehen.

»Sie sind mit der Schwester Ihrer Ex-Frau verheiratet?« Er legte das letzte Röhrchen in die Nierenschale, zog die Nadel aus dem Arm und warf die Spritze in den Abfall.

»Ich weiß, wie das klingt.« Bertram lächelte bitter. »Hat Alexa Ihnen alles erzählt? Die ganze Wahrheit?«

»Jede Wahrheit hat mehrere Seiten«, gab Danny zu bedenken. »Es kommt wohl immer ganz auf den Betrachter an.«

»Mag sein.« Bertram Quadt krempelte den Ärmel herunter und stand auf. Offenbar war das Gespräch an dieser Stelle, zumindest für den Augenblick, für ihn beendet. »Ich schicke Ihnen Nicky.« Er nickte dem jungen Arzt zu und verließ den Raum.

Nur ein paar Atemzüge später betrat Nicole den Raum.

»So, Frau Quadt, dann wollen wir mal.« Danny bot ihr einen Platz an.

Nicole setzte sich lächelnd. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf.

»Keine Sorge. Ich hatte und habe nicht vor, das Chaos perfekt zu machen. Deshalb habe ich meinen Mädchennamen behalten.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Nicole Ursprung.«

»Dr. Danny Norden. Angenehm«, erwiderte Danny und machte sich an die Arbeit. Währenddessen unterhielt er sich mit Nicole. Er erkundigte sich nach den Kindern, und sie erzählte bereitwillig.

Als die Sprache auf Leo kam, erlosch das Leuchten auf ihrem Gesicht.

»In Ihren Augen bin ich wahrscheinlich eine Rabenmutter, die ihr Kind verlassen hat. Aber glauben Sie mir: Ich wollte nur das Beste für Leo. Deshalb habe ich ihn schließlich bei meiner Schwester und Bertram gelassen. Es hat mir das Herz zerrissen. Aber ich wollte einfach keinen zweiten Kaukasischen Kreidekreis.«

Danny erinnerte sich lebhaft an die Schullektüre des Theaterstücks von Bertolt Brecht. Damals hatte er es gehasst.

In diesem Moment schickte er aber eine stumme Abbitte an seinen Deutschlehrer.

»Mit dem Unterschied, dass Sie nicht der leiblichen Mutter das Kind überlassen haben«, erwiderte er dann.

Nicole lächelte matt. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf.

»Leo wird immer in meinem Herzen sein. Auch wenn Bertram und ich inzwischen zwei weitere Kinder haben, die wir ebenso lieben.«

Wie schon zuvor bei ihrem Mann, entnahm Danny Norden auch ihr ein paar Röhrchen Blut. Nicole zuckte nicht mit der Wimper, als er die Nadel aus der Vene zog und einen Tupfer auf die Einstichstelle drückte.

»Wie kam es, dass Sie und Herr Quadt …« Danny zögerte. Durfte er diese Frage stellen?

» … ein Paar wurden?«, beendete Nicole seinen Satz. »Zuerst ging es wohl mehr um Mitleid. Alexas Härte widerte Bertram an. Er wollte mich trösten. Daraus wurde irgendwann Liebe«, erzählte sie die stark verkürzte Version der Geschichte. »Natürlich war es nicht ganz so einfach, wie es jetzt klingt. Aber ich denke, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Röhrchen, die Danny eben mit Aufklebern versah.

»Sie haben recht. Ich gebe die Blutproben sofort ins Labor. Bald wissen wir mehr.« Er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

»Kann ich Leo sehen?«, rief Nicole ihm nach.

Mit dieser Frage erwischte sie ihn eiskalt. Danny Norden ahnte, dass der Junge nichts von seinem verworrenen Schicksal wusste und weder Vater noch Tante je zuvor gesehen hatte.

»Im Moment ist er nicht ansprechbar«, erwiderte er. »Um seinen Körper zu schonen, haben wir ihn in ein künstliches Koma versetzt.«

»Das macht mir nichts aus.« Nicoles Gesicht sprach von der Sehnsucht in ihrem Herzen. »Ich habe meinen Sohn seit zehn Jahren nicht gesehen.«

Danny dachte kurz nach. Dann gab er sich einen Ruck.

»Elena, bringst du Frau Ursprung bitte zu Leo Quadt?«, rief er Schwester Elena zu, die gerade über den Gang eilte.

»Natürlich.« Sie lächelte freundlich und winkte die Frau mit sich. »Sind Sie eine Verwandte?«

Nicole dachte kurz nach.

»Ich bin seine Tante«, entschied sie, die Sache nicht komplizierter zu machen, als sie war.

»Dann kommen Sie!«

Danny atmete auf, als die beiden um die Ecke bogen. Noch war alles ruhig. Doch er musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sich hier ein Familiendrama anbahnte.

*

Solange die Ergebnisse der Blutuntersuchung von Leos Eltern nicht feststanden, waren Dr. Volker Lammers die Hände gebunden. Doch er gehörte nicht zu den Menschen, die tatenlos Däumchen drehten. Er nutzte die Gelegenheit für einen neuerlichen Besuch bei seinem Verbündeten Dieter Fuchs.

»Und? Wie ist das Gespräch mit Norden gelaufen?«, fragte er, nachdem er das Büro des Verwaltungschefs ohne Vorwarnung betreten hatte.

In Gedanken versunken saß Fuchs am Schreibtisch und erschrak ob des unerwarteten Überfalls.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr er den stellvertretenden Leiter der Kinderstation an. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht einfach so hier aufkreuzen sollst. Was, wenn dich jemand gesehen hat?«

Volker Lammers lächelte herablassend.

»Du solltest mehr Vertrauen in deinen Partner haben.« Unaufgefordert ließ er sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. »Findest du nicht?«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Fuchs lehnte sich zurück und nahm Lammers ins Visier. »Du willst also wissen, wie das Gespräch gelaufen ist«, wiederholte er, wohlwissend, dass er nur Hohn und Spott ernten würde.

»Lass mich raten.« Lammers grinste breit. »Du hast dir einen Korb eingefangen.«

»Dr. Norden ist eine derart integere Persönlichkeit. An den kommt man nicht so leicht ran.« Er schickte Volker einen warnenden Blick. »Und sag jetzt bloß nicht, du hättest mich gewarnt!«

»Also gut. Dann eben nicht.« Wenn möglich, wurde das Lächeln auf Lammers Gesicht noch breiter. »Was hast du jetzt vor?«

»Was wohl? Wenn wir ihn nicht überzeugen können, müssen wir ihn loswerden.« Nervös, wie Dieter Fuchs war, konnte er nicht länger sitzen bleiben. Er stand auf und begann, im Büro auf und ab zu laufen. »Ich habe dem Stadtrat Karl Schmiedle zugesichert, dass der neue Chef keine Probleme machen wird.«

»Das war wohl ein bisschen voreilig, was?«

»Nein!« Dieter Fuchs blieb vor seinem Verbündeten stehen und sah auf ihn hinab. »Jetzt kommt Plan B zum Zug.«

»Und der lautet?« Lammers mochte das Gefühl nicht, der Unterlegene zu sein, und stand ebenfalls auf. Die beiden Männer standen sich Auge in Auge gegenüber.

»Ganz einfach. Wir müssen Norden loswerden. Am besten, indem wir ihm einen Fehler anhängen. Ihm irgendwas in die Schuhe schieben.« Fuchs musterte Lammers gedankenverloren. »Du arbeitest mit seiner Frau zusammen. Da ist es doch ein leichtes, ihr einen Behandlungsfehler unterzuschieben. Norden wird seine Göttergattin decken. Und schwupps, schon sind wir beide los. Zwei Fliegen mit einer Klappe.« Er klatschte so unvermittelt in die Hände, dass Lammers zusammenzuckte.

Gleich darauf lächelte er kalt.

»Es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen.« Er deutete eine Verbeugung an, ehe er zur Tür ging.

»Aber lass dir nicht zu viel Zeit damit«, rief Dieter Fuchs ihm nach. »Schmiedles Geduld ist begrenzt.«

Die Hand auf der Klinke, drehte sich Volker Lammers noch einmal um. »Du vergisst, dass es hier um ­Abhängigkeiten geht. Eine Hand wäscht die andere. Wir brauchen den feinen Herrn Schmiedle. Aber im selben Maß ist der gute Karl auf uns angewiesen.«

Lammers schenkte seinem Verbündeten ein teuflisches Lächeln. Dann verließ er das Büro. Endlich rückte sein großes Ziel – die Familie Norden ein für alle Mal loszuwerden – in greifbare Nähe. Und diesmal sollte nichts schief gehen auf seinem Weg zu einer einflussreichen leitenden Position.

*

Dr. Matthias Weigand hatte eben die Behandlung eines Notfallpatienten beendet, als Schwester Elena die Rückkehr von Marita Wonnegut ankündigte.

»Sie kann gleich hereinkommen«, erklärte er und wartete an der Tür auf seine Patientin. »Na, haben Sie Internet gefunden, um Ihrem Schwarm zu antworten?«

Marita schüttelte den Kopf.

»Nein.« Sie seufzte abgrundtief und sah ihm dabei zu, wie er die Tür hinter ihnen schloss. Sie wusste selbst nicht, woher das Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen rührte. Doch es fühlte sich so gut an, fast wie zwischen Freunden, dass sie sich ihm offenbarte. »Ehrlich gesagt habe ich mich auch nur rein beruflich bei dieser Partnerbörse angemeldet. Meine Chefin wollte beweisen, dass dort nur sozial gestörte Menschen unterwegs sind.« Sie reichte ihm die Unterlagen aus dem MRT und setzte sich auf die Behandlungsliege. Bei jeder ihrer Bewegungen klimperten ihre bunten Ketten und Armbänder.

»Und jetzt haben Sie dummerweise Ihren Traumprinzen gefunden«, stellte Matthias belustigt fest.

»Ja! Ist das nicht merkwürdig?«

»Nein. Gar nicht. Mir geht es nämlich ähnlich. Ich gestehe es ja nur ungern, aber ich habe mich auch in so einer Börse angemeldet. Die Frau, die ich dort getroffen habe, ist wunderbar.« Unvermittelt geriet er ins Schwärmen. »Sie sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch noch witzig und intelligent. Eine echte Traumfrau!«

»Sie sind bei einer Partnervermittlung?« Marita schüttelte den Kopf, dass ihre roten Haare hin und her flogen. »Aber das hat doch ein Mann wie Sie gar nicht nötig.«

Matthias setzte sich auf einen Hocker und rollte zu ihr hinüber. Die CD mit den Aufnahmen hielt er in den Händen.

»Vielen Dank für die Blumen.« Er rang sich ein Lächeln ab, das sofort wieder erlosch. »Leider ist es nun einmal so, dass ein Klinikarzt nicht viele Möglichkeiten hat, eine passende Partnerin kennenzulernen.«

»Aber Sie treffen doch jeden Tag haufenweise Menschen«, wandte Marita ein.

»Erstens sind das Patienten. Und zweitens muss ich erst einmal jemanden finden, der mit meinen Arbeitszeiten klarkommt. Das ist mir bisher nicht gelungen.«

»Vielleicht jetzt«, erinnerte Marita ihn an seine Internet-Bekanntschaft. »Haben Sie sie schon getroffen?«

»Nein.« Er sah seine Patientin nachdenklich an. »Und Sie? Haben Sie vor, Ihr Geheimnis zu lüften? Ich nehme an, der arme Kerl weiß nicht, dass Sie inkognito unterwegs sind.«

Schlagartig färbten sich Maritas Wangen flammend rot.

»Das ist richtig. Ich habe ein Bild aus Jugendtagen in mein Profil gestellt. Er geht davon aus, dass ich Anfang zwanzig bin. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich den Mut habe, die Wahrheit zu sagen.«

»Wenn es der Richtige ist, wird er Ihnen die Lüge verzeihen. Schließlich wurden Sie ja quasi von Ihrer Chefin gezwungen«, erwiderte Matthias und zwinkerte ihr zu. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf die CD in seinen Händen. Es wurde Zeit, wieder an die Arbeit zu denken. Er nahm die CD aus dem Umschlag und setzte sich an den Computer. Wenig später stand die Diagnose fest. »Wir haben es mit einem sogenannten Schulterengpass-Syndrom zu tun«, erklärte er nach eingehender Betrachtung der Bilder. »Dabei handelt es sich um eine schmerzhafte Einengung des Subakrominalraums, der zwischen Schulterdach und Oberarmkopf liegt. Diese Störung entwickelt sich über Wochen. Dabei werden die Weichteile in diesem Bereich durch die Enge eingeklemmt und schmerzen.«

»Und was kann man dagegen tun?« Marita saß auf der Liege. Ihr wohlwollender Blick ruhte auf dem gutaussehenden Arzt.

»Mit intensiver Physiotherapie bekommen wir das wieder in den Griff«, versprach er. »Wenn Sie wollen, können Sie die Termine hier in der Klinik abturnen.« Er suchte im Computer nach der Telefonnummer der Kollegen. »Hier. Da haben wir es ja.« Er notierte die Zahlen auf einen Zettel, den er Marita reichte. »Gute Besserung! Es war nett, Sie kennengelernt zu haben.«

Sie rutschte von der Liege und reichte ihm die Hand.

»Ganz meinerseits. Vielleicht schaue ich ja bei Gelegenheit wieder einmal bei Ihnen vorbei.« Marita steckte den Zettel ein, zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer.

Draußen wartete ihre Freundin Renate auf sie.

»Was ist denn mit dir los? Du strahlst ja wie die Sonne persönlich«, bemerkte sie argwöhnisch. »Sag bloß, du hast dich in den Arzt verguckt?«

»Ach was!« Schnell winkte Marita ab. »Erstens ist er viel zu jung für mich. Und zweitens hat er seine Traumfrau im Internet kennengelernt.«

»Ein Arzt treibt sich auf so einem Portal herum?« Renate lachte ungläubig. »Der ist mit Sicherheit alles andere als sozial gestört. Ich denke, du kannst deine Feldversuche einstellen und Elvira sagen, dass sie mit ihrem Verdacht falsch liegt.«

»Ich weiß.« Marita bedankte sich, als Renate ihr die Tür aufhielt, und trat nach draußen in den milden Frühlingsabend. »Außerdem muss ich die Karten auf den Tisch legen und meinem Flirt die Wahrheit schreiben.«

Mit einem Mal klang sie so bedrückt, dass Renate Mitgefühl hatte.

»Wer weiß. Vielleicht beeindruckt ihn deine Ehrlichkeit ja und er will dich trotzdem treffen.«

»Das glaube ich nicht.« Marita seufzte. »Trotzdem bin ich diesem Traummann das schuldig.«

Dem war nichts hinzuzufügen, und die beiden Freundinnen machten sich auf den Nachhauseweg, nicht ohne vorher noch einen Abstecher ins Café ›Schöne Aussichten‹ zu machen. Dort gab es nicht nur den besten Kuchen, sondern auch die beste heiße Schokolade der Stadt. Einen besseren Seelentröster konnte sich Marita kaum wünschen.

*

Nachdem Danny dafür gesorgt hatte, dass die Blutproben von Bertram Quadt und Nicole Ursprung ins Labor gebracht wurden, machte er sich auf die Suche nach Alexa. Er fand sie nicht im Aufenthaltsraum und vermutete sie daher auf der Intensivstation. Doch dort entdeckte er nur Nicole Ursprung. Er blieb in der Tür stehen und beobachtete sie. Obwohl er nur ihr Profil erkennen konnte, bemerkte er ihre Ergriffenheit. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hielt und streichelte sie die Hand ihres Kindes. Danny konnte nur erahnen, was in ihr vorging. Um sie nicht zu stören, löste er sich von dem Anblick und setzte seine Suche fort.

Schließlich fand er Alexandra Quadt im Garten der Behnisch-Klinik. Durch eines der großen Fenster hatte er gesehen, wie sie in der Dämmerung spazieren ging.

»Hier stecken Sie!«, bemerkte er, als er sich zu ihr gesellte. »Darf ich ein Stück mit Ihnen gehen?«

»Natürlich.« Sie hielt kurz inne und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. »Ich wundere mich, dass Sie überhaupt noch mit mir reden. Sie müssen mich für einen skrupellosen Menschen halten.«

Einen kleinen, heißen Moment lang fühlte sich Danny Norden wie ertappt. Doch das Gefühl verging schnell wieder. Er hatte kein Recht dazu, über sie zu urteilen.

»Wer frei von Fehlern ist, werfe den ersten Stein«, erwiderte er nachdenklich.

Diesmal lachte Alexandra. »Sie sind ja ein richtiger Philosoph.«

»Mein Deutschlehrer würde Sie jetzt auslachen«, gestand er, während er ihr sie prüfend von der Seite ansah. Sie wirkte erschöpft. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Alexa antwortete nicht sofort. Mit den Händen in den Jackentaschen wanderte sie neben Danny her über den Kiesweg. Die kleinen Steine knirschten unter ihren Füßen.

»Eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch. Aber im Moment habe ich nur Angst«, gestand sie endlich leise. »Angst um Leo. Angst davor, wenn er zum ersten Mal mit Nicole zusammentrifft. Immerhin ist sie seine Mutter.«

»Leo hat zehn Jahre seines Lebens mit Ihnen verbracht«, gab Danny zu bedenken. »Ich denke nicht, dass sich diese Bindung so schnell zerstören lässt. Ihre Schwester und Leo sind sich fremd. Für Leo sind Sie seine Mutter.«

Abrupt blieb Alexa stehen. Danny drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.

»Und was passiert, wenn er die Wahrheit erfährt?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Er wird mich hassen für das, was ich ihm angetan habe. Er wird sich verraten fühlen und mir vorwerfen, ihn belogen und betrogen zu haben.« Sie nahm ihren Marsch wieder auf. »Und das stimmt ja auch.«

Ein Vogel im Gebüsch erschrak und flatterte auf. Seine empörten Rufe verhallten im Abendrot. Danny Norden sah ihm nach, wie sich seine Silhouette im schwindenden Licht auflöste.

»Mit diesen Vorwürfen werden Sie zurechtkommen müssen.« Diese Sorge konnte er Alexandra nicht nehmen. »Aber ich glaube, dass Kinder ein gutes Gespür haben. Leo wird fühlen, dass Ihre Reue echt ist.«

»Ich wollte ein Kind um jeden Preis.« Plötzlich schluchzte Alexa auf. »Habe nur ganz egoistisch an mich gedacht und nicht an all die anderen, denen ich Schmerzen zufüge.«

Weinende Frauen machten Danny stets hilflos. Es kostete ihn alle Beherrschung, dem Fluchtinstinkt zu widerstehen. Händeringend suchte er nach einem Weg, um die Tränenflut einzudämmen. Schließlich beschloss er, das Thema zu wechseln.

»Im Augenblick ist es doch das Wichtigste, dass Leo überlebt. Alles andere wird sich finden.«

Der Plan des jungen Arztes ging auf. Alexa holte tief Luft und zog ein Taschentuch aus der Jackentasche. Sie ließ sich Zeit damit, die Wangen zu trocknen.

»Sie haben recht«, murmelte sie endlich. »Leos Leben ist das, was zählt. Alles andere ist zweitrangig.«

Sie hatten den Garten durchquert und waren am Anfang angelangt. Danny hielt Alexa die Tür auf. Obwohl die Temperaturen milder wurden, war ihm kalt geworden. Drinnen angekommen, rieb er sich die Hände.

»Wo ist meine Schwester eigentlich?«, erkundigte sich Alexa Quadt und sah sich suchend um.

Danny hielt in der Bewegung inne und sah sie an. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen.

»Frau Ursprung wollte unbedingt zu Leo.«

Alexa schnappte hörbar nach Luft.

»Wie bitte?« Ihre Stimme überschlug sich. Sie sah so aus, als hätte sie sich am liebsten auf Danny gestürzt. »Das haben Sie erlaubt? Ohne mich zu fragen?« Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle umgefallen.

Inzwischen besaß Danny Norden aber Erfahrung genug, um zu wissen, was eine Ausnahmesituation wie diese aus einem Menschen machen konnte. Entschlossen hielt er ihrem feindseligen Blick stand.

»Ich konnte es ihr nicht verbieten«, antwortete er mit fester Stimme, gespannt darauf, was im nächsten Moment passieren würde, als Alexa auf dem Absatz kehrtmachte und über den Klinikflur davon lief.

Ihre Schritte wurden immer leiser, bis sie schließlich ganz verhallt waren.

*

»Jetzt wird es Zeit, dass der Dienst endlich vorbei ist!« Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Uhr machte sich Schwester Elena daran, den Sterilisator im Schwesternzimmer auszuräumen.

Gerade hatte sich Matthias Weigand zu ihr gesellt. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. Ein Teller mit trockenen Keksen stand dort. Er steckte einen davon in den Mund und verzog das Gesicht.

»Direktimport aus der Sahara«, murrte er. Er trank einen Schluck Kaffee nach und zog sein Handy heraus, um seine E-Mails zu kontrollieren und nebenbei ganz schnell einen Blick in die Partnerbörse zu werfen. Vielleicht hatte sich Maria ja endlich gemeldet. »Eigentlich könnte ich meine Wohnung aufgeben. Ich sehe sie sowieso nur stundenweise«, erklärte er, während er auf dem kleinen Gerät herumtippte.

»Deshalb frage ich mich auch, warum du überhaupt nach einer Frau suchst«, erwiderte Elena. Die Scheren und Pinzetten klapperten, als sie sie in den Kasten legte. »Du hast doch eh keine Zeit.« Sie nahm die letzten Bestecke aus dem Sterilisator, legte sie zu den anderen und schloss die Tür des Geräts. Sie wunderte sich über die plötzliche Stille im Raum und drehte sich zu Matthias um. Entgeisterte starrte er auf sein Handy.

»Was ist? Hast du eine unsittliche Nachricht bekommen?«, fragte sie belustigt.

Wortlos schüttelte er den Kopf und reichte ihr das Mobiltelefon. Elena zögerte, ehe sie nach dem Gerät griff.

»Hallo Traummann«, las sie laut vor und sah Matthias an. »Klingt doch schon mal gut.«

»Lies weiter!«, befahl er mit Grabesstimme.

Folgsam blickte Elena wieder auf das Handy.

»Tut mir leid, dass ich Dich so lange warten ließ. Wegen einer Verletzung musste ich in die Behnisch-Klinik. Leider gibt es dort kein frei zugängliches Internet, sodass ich Dich warten lassen musste.« Elena schnappte nach Luft. »Die rothaarige Amazone?«

Matthias Weigand nickte düster.

»Irgendwie ist das Gespräch auf Internet-Portale gekommen. In diesem Zusammenhang hat sie mir erzählt, dass sie sich mit einem alten Foto dort angemeldet hat, um für einen Artikel zu recherchieren.«

»Und du hast unfreiwillig den Lockvogel gespielt.« Elena konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.

»Ich wüsste nicht, was daran so lustig ist«, schimpfte Matthias und nahm ihr das Handy aus der Hand.

»Ganz einfach.« Sie kam auf ihn zu, beugte sich über ihn und legte ihm die Arme um den Hals. »Offenbar hast du es mit der Wahrheit auch nicht allzu genau genommen. Sonst hätte sie dich ja erkannt«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Gib es zu: Wie alt ist das Foto, das du veröffentlicht hast?«

»Höchstens drei oder vier Jahre«, murrte Matthias. »Vielleicht auch fünf.«

»Und warum hat sie dich nicht erkannt?«, säuselte Elena weiter.

Matthias wich ihrem Blick aus.

»Vielleicht, weil ich einen Bart und Sonnenbrille trage«, gestand er unwillig. »Warum schaust du so? Sollte ich vielleicht riskieren, von einer Patientin erkannt zu werden?«

Lachend drückte Elena ihm einen Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf.

»Ich glaube, ihr seid quitt.« Sie steckte die Hände in die Kitteltaschen. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Gar nicht. Wieso fragst du?«

»Irgendwas musst du ihr doch antworten«, gab sie zu bedenken. »Mal abgesehen davon habe ich ganz genau gemerkt, dass sie dir gefällt. Auch wenn sie ein bisschen zu alt für dich ist.« Sie zwinkerte ihm zu, ehe sie wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrte.

»Niemals!«, widersprach ihr Kollege energisch. »Sie ist nett, aber leider überhaupt nicht mein Typ.«

Ohne ein weiteres Wort griff Elena nach dem Koffer mit dem sterilisierten Besteck und machte sich auf den Weg.

Dr. Matthias Weigand blieb noch einen Moment sitzen und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Er war froh, als ihn ein durchdringendes Piepen aus den Gedanken riss.

»Arbeit ist doch die bessere Alternative«, brummte er auf dem Weg in die Ambulanz. »Mit stumpfen Bauchtraumen und Knochenbrüchen kenne ich mich aus. Aber mit Herzbeschwerden habe ich so meine Probleme.«

*

Alexa Quadt stand an der Tür des Intensivzimmers. Mit verkniffener Miene sah sie ihrer Schwester dabei zu, wie sie Leos Hand hielt und unablässig streichelte.

Irgendwann spürte Nicole, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf. Als sie Alexandra erblickte, dachte sie kurz nach. Sie legte Leos Hand behutsam zurück auf die Bettdecke und kam an die Tür.

»Gibt es schon Ergebnisse?«

Alexa schüttelte den Kopf.

»Sobald Dr. Norden etwas hat, sagt er Bescheid.«

Nicole nickte und sah zu Boden. Es war offensichtlich, dass sie mit sich kämpfte. Auf einmal warf sie den Kopf in den Nacken und ließ ihrem Zorn freien Lauf.

»Wie konnte das überhaupt passieren? Warum ist Leo von einem Jägerstand gefallen? Wenn du mir schon das Kind wegnimmst, kannst du wenigstens darauf aufpassen!«

Wie von einem Peitschenhieb getroffen, zuckte Alexandra zusammen.

»Du unterstellst mir, dass ich Leo vernachlässigt habe?«, fragte sie fassungslos. »Wer hat sich denn bis zum heutigen Tag nicht um seinen Sohn gekümmert? Kein einziges Mal angerufen oder nachgefragt? Du und Bertram, ihr habt mich ganz allein gelassen.« Alexandras Atem ging schnell. Feine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. »Wahrscheinlich habt ihr diesen Plan schon vor der ganzen Sache mit Leo ausgeheckt. Und jetzt soll ich die Böse sein? Nein! Das lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben!«

Angelockt von dem Lärm kam Bertram herbei geeilt. Er hatte in einem Nebenraum gewartet.

»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er die beiden Frauen an. »Hier liegen schwerkranke Menschen.«

Alexa holte tief Luft, als wollte sie noch einmal aufbegehren. Doch plötzlich sank sie in sich zusammen. Sie hatte ihr Pulver verschossen.

»Natürlich. Tut mir leid«, murmelte sie. Sie wandte sich ab und ging davon.

Bertram fasste Nicole am Ellbogen und folgte Alexa. Sie hatte die Intensivstation verlassen und wartete auf dem Flur auf die beiden.

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber.

»Als ich gerade bei Leo am Bett stand, ist mir klar geworden, dass ich ihn nie hätte verlassen dürfen«, erklärte Nicole endlich mit tränenerstickter Stimme. Sie suchte nach einem Taschentuch und nahm dankbar die Packung, die Bertram ihr reichte. »Ich hätte um ihn kämpfen müssen.«

Alexandra sah so aus, als hätte sie sich am liebsten auf sie gestürzt.

»Hast du denn immer noch nicht genug? Reicht dir mein Mann nicht? Willst du mir auch noch das Letzte wegnehmen, was mir lieb und teuer ist?«, setzte sie sich verzweifelt zur Wehr.

Nicole funkelte sie wütend an.

»Wessen Idee war das denn mit der Affäre?« Sie dachte nicht daran, diese Anschuldigung auf sich sitzen zu lassen. »Du selbst hast deinen Mann doch in meine Arme getrieben!«

»Vielleicht, weil ich gespürt habe, dass euch mehr verbindet, als mir lieb ist.«

»Schluss jetzt!« Bevor sich die Schwestern die Augen auskratzen konnten, ging Bertram mit einem Machtwort dazwischen. »Hört endlich auf mit diesen alten Geschichten! Sie spielen keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählt, ist Leo. Wir sind hier, um sein Leben zu retten. Und wir können nur beten, dass einer von uns«, er sah seine Frau durchdringend an, »als Spender geeignet ist.«

Heftig atmend standen sich Alexandra und Nicole gegenüber. Jede der beiden haderte mit sich, den ersten Schritt zu tun. In dem Moment, in dem Alexa ihrer Schwester die Hand reichen wollte, wurde die Tür zur Intensivstation aufgerissen.

»Hier stecken Sie!« Dr. Danny Norden hatte die ganze Station nach Leos Familie abgesucht. »Wir haben die Ergebnisse.«

Schlagartig war der Streit vergessen. Alle Aufmerksamkeit gehörte dem jungen Arzt.

»Und?«, ertönte es in schönster Eintracht aus aller Munde.

Dannys Blick fiel auf Bertram.

»Ihre Werte passen perfekt zu denen von Leo, Herr Quadt. Wenn Sie damit einverstanden sind, würden wir noch heute operieren.«

Instinktiv griff Nicole nach der Hand ihres Mannes. Doch Bertram Quadt zögerte nicht.

»Natürlich. Ich bin froh, wenn ich Leo helfen kann.« Er schickte Alexandra einen durchdringenden Blick, bis Danny Norden zur Eile drängte.

*

Daniel und Fee Norden hatten den Rest des Nachmittags zu einem Spaziergang genutzt und waren am Ende im Café ›Schöne Aussichten‹ eingekehrt. Tatjana war nicht da.

Doch die Aushilfskraft Marla hatte alles im Griff und servierte gut gelaunt sämtliche Köstlichkeiten, die Backstube, Getränkekühlschrank und Kaffeemaschine hergaben. Nach dem Kuchen am Nachmittag entschieden sich die Nordens für Gemüsequiche und Rhabarberschorle. Während sie aßen, unterhielten sie sich – wie so oft in letzter Zeit – über Daniels neue Herausforderung als Chef der Behnisch-Klinik.

»Machst du dir immer noch Gedanken über Fuchs’ Vorschlag, die Klinik in das Gesundheitszentrum zu integrieren?«, fragte Felicitas, nachdem sie ihrem Mann eine Weile dabei zugesehen hatte, wie er gedankenverloren in der Quiche herumstocherte.

Wie ertappt sah Daniel hoch.

»Ehrlich gesagt sehne ich mich ein bisschen nach den Zeiten in der Praxis zurück. Dort war ich mein eigener Chef, meine Mitarbeiter waren loyal, ich musste keine Intrigen fürchten, hatte mehr oder weniger geregelte Arbeitszeiten …«

Fees Lachen unterbrach ihn.

»Du bist der lebende Beweis dafür, dass der Mensch unangenehme Erinnerungen verdrängt.«

»Dabei handelt es sich um einen reinen Überlebenstrieb«, rechtfertigte er sich.

»Der scheint mir seltsamerweise zu fehlen. Zumindest erinnere ich mich sehr gut an die vielen Nächte, die ich allein in unserem Bett verbracht habe, weil du bei irgendeinem Notfall warst. Ich weiß auch noch genau, wie die Krankenkasse dir die Approbation entzogen hat wegen angeblichen Kassenbetrugs. Und dann erst …«

»Stop! Halt! Du kannst aufhören!« Daniel schnitt eine Grimasse. »Ich hätte wissen müssen, dass es ein Fehler ist, einer Frau zu widersprechen.«

»Ganz im Gegenteil.« Felicitas beugte sich vor und legte die Hand auf seinen Arm. »Diese kleinen Hinweise sollen dich nur daran erinnern, dass du mit der Klinikleitung die richtige Entscheidung getroffen hast.« Sie sah ihm tief in die Augen. »Und von einem Dieter Fuchs lässt sich ein Dr. Daniel Norden doch nicht ins Bockshorn jagen, oder?«

Wenn sie geahnt hätte, welch dunkle Wolken über ihnen schwebten, hätte sie anders gesprochen. So aber nahm sie sich die Pläne des Verwaltungschefs nicht sonderlich zu Herzen.

Daniel war kein Feigling, ganz im Gegenteil. Er liebte die Herausforderung, und die Leitung der Klinik war die Krönung seiner Karriere. In diesem Punkt war er einer Meinung mit seiner Frau. Was allerdings die Pläne des Verwaltungschefs betrafen, war er noch nicht sicher.

»Und was ist mit der Warnung, die Jenny uns mit auf den Weg gegeben hat?«, stellte er eine berechtigte Frage.

»Jenny war einfach erschöpft und überarbeitet. Es wurde Zeit, dass sie die Klinikleitung abgibt.« Ein weiteres Mal war Felicitas nicht um eine Begründung verlegen.

»Und was hat das zu bedeuten, dass sie Lammers erwischt hat, als er von Fuchs gekommen ist?«

»Lammers und ich haben über die Anschaffung eines neuen Atem­unterstützungsgeräts für Kinder diskutiert. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er beim Verwaltungschef vorstellig wurde.« Fee sah ihren Mann fragend an. Die Skepsis in seinem Blick gefiel ihr nicht. »Wenn es dich beruhigt, kann ich es herausfinden.«

»Das würde es in der Tat.«

Daniel lächelte. Die Worte seiner Frau hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Wahrscheinlich sah er wirklich nur Gespenster! Derart beruhigt, bemerkte er, wie hungrig ihn der Spaziergang gemacht hatte, und endlich machte er sich über die Gemüsequiche her.

*

»Wenn ich heute noch einen Krümel esse, platze ich«, seufzte Daniel schließlich. Nach einem Blick auf die Uhr sah er Fee fragend an. »Hast du noch einen Wunsch?«

»Einen Abend mit dir auf der Couch bei einem schönen Glas Wein.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl.«

Nachdem Daniel die Rechnung beglichen hatte, traten sie nach draußen in die Dämmerung und genossen die kühle Luft auf den erhitzten Wangen. Ein gedämpftes Klingeln ließ Felicitas aufhorchen.

»Ist das dein Handy oder meines?«, erkundigte sie sich bei ihrem Mann. Gleichzeitig machte sie sich auf die Suche nach ihrem Mobiltelefon.

»Alle beide.« Daniel war bereits fündig geworden und warf einen Blick auf das Display. »Das ist Danny.«

Auch Fee hatte inzwischen Erfolg gehabt. »Was will denn Lammers von mir?« Sie schickte Daniel einen fragenden Blick, ehe sie das Telefonat annahm.

Ihr Mann tat es ihr gleich. Wenige Augenblicke später waren beide Gespräche beendet und Daniel drehte sich wieder zu seiner Frau um.

»Jetzt passiert genau das, was ich gefürchtet habe, als ich die Leitung der Klinik übernommen habe.« Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich muss in die Klinik. Eine Transplantation.«

»Ach ja?« Statt enttäuscht oder gar böse zu sein, lächelte Felicitas. »Dann muss ich ja keine Schuldgefühle haben. Mein Typ wird nämlich auch verlangt. Wir operieren parallel.«

Daniel wandte sich in die Richtung, in der die Klinik lag.

»Lohnt es sich, nach Hause zu gehen und den Wagen zu holen? Oder sind wir von hier aus schneller in der Klinik?«

»Kommt darauf an, wie gut du zu Fuß bist, alter Mann«, scherzte Felicitas und griff nach seiner Hand.

Diese Bemerkung konnte Daniel natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

»Der alte Mann wird dir gleich zeigen, wo der Hammer hängt.« Er zog Fee zurück und überholte sie.

»He, das ist unfair!« Mit den Ellbogen drängte sie sich wieder an ihm vorbei.

In diesen fröhlichen Wettstreit vertieft, war der Weg zur Klinik ein Katzensprung. Völlig außer Atem kam Daniel dort an. Fee folgte ihm auf den Fersen.

Danny erwartete seinen Vater schon ungeduldig. Bei seinem Anblick stutzte er.

»Was ist denn mit dir passiert? Hast du noch schnell einen Saunagang eingelegt?«

»Deine Mutter hat mich zum Wettlauf herausgefordert«, gestand Daniel. Er deutete auf seine Frau, die sich keuchend zu ihnen gesellte, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Der Junior bedachte seine Eltern mit einem Kopfschütteln und machte sich auf den Weg. Die Vorbereitungen waren in vollem Gang. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.

»Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich? Solltet ihr nicht langsam vernünftig werden?«, fragte er, während sie Seite an Seite den Flur hinunter eilten.

»Dafür haben wir später noch genügend Zeit.« Fee blinzelte ihren Mann an. »Nicht wahr, Dan!«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, dass es überhaupt einmal so weit kommen wird. Du bist mein Jungbrunnen. Mit dir an meiner Seite werde ich jeden Tag jünger, aber nicht unbedingt vernünftiger.«

»Sprachen der Klinikchef und die Leiterin der Pädiatrie.« Danny stöhnte auf. »Ein Glück, dass euch keiner zuhört.«

Daniel und Fee lachten.

»Nachdem wir das jetzt geklärt hätten, können wir uns den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden.«

Sie näherten sich dem Operationsbereich, wo die beiden Patienten auf den Eingriff vorbereitet wurden.

»Bevor ich Lammers treffe, brauche ich ein paar Details über den Jungen«, bat Felicitas.

Bereitwillig gab Danny die gewünschten Informationen, wenn auch nur in kurzer Form. Das ganze Ausmaß des Dramas musste bis später warten.

»Die Werte von Vater und Sohn passen perfekt zusammen. Wir erwarten keine Komplikationen«, beendete er seinen Bericht. »Die beiden Teams stehen bereit. Wir haben zwei nebeneinanderliegende OPs gewählt. Dad, du operierst mit Dr. Lorentz, die Kollegin Neubeck assistiert. Die Anästhesie übernimmt Frau Dr. Räther.«

»Perfekt.« Daniel Norden war einverstanden. Aller Schalk war aus seinen Augen verschwunden. Doch die vergnüglichen Stunden mit seiner Frau waren nicht ohne Wirkung geblieben. Voller Energie und Optimismus betrat er den OP-Bereich und begann, sich auf den Eingriff vorzubereiten.

Unterdessen wandte sich Danny an seine Mutter.

»Lammers hat euer Team zusammengestellt. Ihr beide operiert mit Frau Dr. May. Anästhesist ist Dr. Klaiber.«

»Lammers und May?« Fee schickte einen Stoßseufzer in den Himmel. Seit dem Ende ihrer Affäre waren sich Volker Lammers und Carola May spinnefeind. »Wenn das mal gut geht!«, orakelte sie, ehe sie es ihrem Mann gleichtat und sich umzog. In Operationskleidern ging sie zum Waschbecken. Auch Danny steckte inzwischen in kleidsamem Grün.

»Welche Rolle übernimmst du?«, erkundigte sie sich bei ihrem Ältesten.

»Ich bleibe bei dir und werde die beiden Streithähne trennen, falls es zu bunt wird«, beantwortete er die Frage seiner Mutter und zwinkerte ihr zu.

Daniel war inzwischen ans Bett von Bertram Quadt getreten. Er hatte sich vorgestellt und den Ablauf der Operation erläutert.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er am Ende seiner Erläuterungen.

»Ehrlich?« Bertram lächelte gequält.

»Sie müssen nicht den Helden spielen. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir unser Bestes geben, damit die Familie am Ende wieder glücklich vereint ist.«

»So weit wird es wohl nicht kommen«, erwiderte Bertram Quadt geheimnisvoll. »Aber ehrlich gesagt bin ich schon froh, wenn Leo und ich die Klinik auf unseren eigenen Beinen verlassen können.«

»Dann sind wir ja schon mal zu zweit!« Dr. Daniel Norden nickte seinem Patienten aufmunternd zu, Er trat zu seiner Frau und wünschte ihr mit einem Kuss viel Glück. Eine Schwester half ihm in den Kittel und verknotete die Gesichtsmaske im Nacken. Derart vorbereitet, betrat Daniel den Operationssaal, wo das Team schon auf den Klinikchef wartete.

*

»Ach, du liebe Zeit!« Fassungslos starrte Marita auf den Bildschirm des Computers. »War ja klar. So was kann auch nur mir passieren.«

»Was ist los?«

Renate, die beschlossen hatte, bei ihrer Freundin zu bleiben und ihr zu helfen, bahnte sich einen Weg durch das Chaos hinüber zum provisorischen Schreibtisch. »Hast du etwa Antwort von deinem Märchenprinz?«

Marita saß auf dem Stuhl. Sie hatte die knallroten Wangen in die Hände gelegt und starrte auf die Zeilen, die ihr Flirt ihr geschrieben hatte. Ihre Hände waren eiskalt, ihre Wangen glühten wie Feuer.

»Und ob«, stöhnte sie. »Wo ist das Loch, in dem ich mich für den Rest meines Lebens verstecken kann?«

Renate ahnte immer noch nicht, worum es ging. Sie nahm sich die Freiheit, beugte sich über Maritas Schulter und überflog den Text. Im Gegensatz zu ihrer Freundin begann sie haltlos zu prusten.

»Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt«, fauchte Marita. Sie wusste nicht, ob sie mitlachen oder in Tränen ausbrechen sollte. »Du könntest ruhig ein bisschen Mitgefühl haben.«

»O Liebes, das ist zu schön!« Renate lachte und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Der Arzt und die Journalistin fallen auf alte Fotos im Internet herein. Daraus könntest du einen Roman machen.«

»Als Warnung an meine Mitmenschen, auch in der digitalen Welt die Anstandsregeln zu wahren und keine falschen Spiele zu treiben«, murmelte Marita, während Renates Idee schon in ihrem Kopf zu arbeiten begann. »Denn hier wie dort haben wir es mit ganz normalen Menschen zu tun, die ein Herz und Gefühle haben.«

Renate richtete sich auf und fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, um die Tränen zu trocknen. Ihre Gedanken waren schon weitergeeilt.

»Das ist ein schöner Schlusssatz für deinen Roman.«

»Und was ist mit dem Happyend?« Auch Marita hatte sich inzwischen gefangen. Wieder und wieder überflog sie Matthias’ freundlichen Text. »Er findet mich sympathisch und könnte sich eine Freundschaft vorstellen. Mehr aber auch nicht.«

»Erstens ist das schon eine ganze Menge. Freunde kann man nie genug haben«, gab Renate zu bedenken. »Und zweitens: Wenn du ehrlich bist, ist er doch gar nicht dein Typ Mann. Das hast du dir nur eingeredet, weil es so schön gewesen wäre. Die große Liebe, gefunden im Internet!« Schwärmerisch verdrehte sie die Augen. »Elvira hätte dich hochkant rausgeworfen.« Schon wieder musste Renate kichern.

»Das muss sie vielleicht gar nicht.« Marita wandte sich dem Computer zu. Sie schloss die Sei­te der Partnerbörse, öffnete ein neues Dokument und wollte drauflos tippen.

Der stechende Schmerz in ihrer Schulter erinnerte sie an Matthias’ Arbeitsverbot. »Kannst du mal bitte für mich schreiben?«, bat sie ihre Freundin und stand auf.

Renate rutschte auf den Stuhl und sah sie fragend an.

»Der Internet-Märchenprinz«, diktierte Marita. »Ein modernes Märchen.« Sie nickte zufrieden. »Gar nicht schlecht für den Anfang. Ein Roman mit Flirttipps extra für Internetportale. Das wird mein erster Bestseller«, versprach sie und lächelte. »Zum Glück habe ich eine blühende Fantasie.« Einen kleinen, heißen Moment lang hatte sie Matthias’ Gesicht vor Augen; sein freundliches Lachen; den Schalk in seinem Blick. Ganz kurz fragte sie sich, ob er nicht doch ihr Typ gewesen wäre. Doch ihre Chance war verspielt. Auf diese Frage würde sie keine Antwort mehr bekommen.

*

Während im Operationssaal unter Zeitdruck gearbeitet wurde, schien die Zeit vor den Türen beinahe stillzustehen. Zuerst saßen Alexandra und Nicole auf unterschiedlichen Bänken an den entgegengesetzten Enden des Flures. Irgendwann erhob sich eine nach der anderen, und sie wanderten aneinander vorbei auf dem Gang auf und ab. Dabei vermieden sie es, sich direkt anzusehen. Schließlich standen die Schwestern nebeneinander vor den Türen und warteten mit bangen Herzen auf das Ende der Operation. Immer wieder schickten sie sich verstohlene Seitenblicke. Es war schließlich Alexandra, die das Schweigen brach.

»Hast du Angst um Bertram?«

»Natürlich. Er ist mein Mann und der Vater meiner Kinder«, erwiderte Nicole gereizt. Als sie bemerkte, wie Alexa zusammenzuckte, taten ihr ihre Worte leid. »Aber es ist etwas anderes, als wenn eine Mutter um ihr Kind bangt«, fuhr sie versöhnlich fort. Das lag auch an dem Anliegen, das sie hatte. Sie wollte schon fortfahren, als Alexa ihr zuvorkam.

»Erinnerst du dich noch an Großmutters Worte?«, fragte sie versonnen. »Ein Mann geht von der Seite. Aber ein Kind geht vom Herzen.«

»Ich entsinne mich gut.« Diese Bemerkung kam Nicole gerade recht. »Leo wurde mir auch aus dem Herzen gerissen. Und jetzt, da ich ihn wiedergesehen habe, weiß ich, wie sehr er mir gefehlt hat. Ich will ihn so gern kennenlernen.« Sie spürte, wie ihre Schwester neben ihr erstarrte. Bevor Alexa explodieren konnte, fuhr sie schnell fort. »Könntest du dir vorstellen, uns, also Bertram und mir, die Gelegenheit zu geben, Teil eures Lebens zu werden?«

Alexandra starrte ihre Schwester an, als hätte die von ihr verlangt, sich die rechte Hand abzuhacken.

»Das ist nicht dein Ernst!« Vor Schreck war ihr das Blut in die Beine gesackt. Ihr wurde schwindlig. Haltsuchend stützte sie sich an der Wand ab. »Leo ist alles, was ich noch habe. Du kannst ihn mir nicht wegnehmen. Ich liebe ihn doch so sehr.« Alexa atmete tief, um die drohende Ohnmacht abzuwehren. »Ich bin Bertram sehr dankbar. Er hat seinem Kind zum zweiten Mal das Leben geschenkt. Das werde ich ihm nie vergessen.« Sie sah Nicole an, die neben ihr stand und schwieg. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Haben wir alle nicht genug zerstört? Kann das nicht irgendwann vorbei sein?«, fragte sie flehend. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Nicoles Miene wurde hart.

»Ich wüsste nicht, was ich zerstört haben sollte. Du hast diese alberne Geschichte eingefädelt. Es war alles deine Idee!«

»Ich war verzweifelt und wünschte mir nichts mehr als ein Kind. Da kommt man schon mal auf dumme Gedanken«, verteidigte sich Alexandra leidenschaftlich. »Und glaube mir, diese Dummheit habe ich teuer bezahlt. Du dagegen hast alles. Das war schon immer so. Die hübsche, clevere, raffinierte Nicole.« Sie bedachte ihre Schwester mit einem letzten, verschwommenen Blick aus rotgeweinten Augen, ehe sie sich abwandte.

*

Während die beiden Frauen vor dem Operationssaal stritten, kämpften die Ärzte drinnen um Leos Leben. Eine gefühlte Ewigkeit später fiel die Anspannung vom gesamten Team ab. Es war, als ob der Raum aufatmete.

»Lass mich, Arzt! Ich bin durch!«, verlangte Dr. Klaiber von seiner Kollegin Fee Norden.

Sie lachte auf und machte Platz, damit er seine Handschuhe in den Abfall werfen konnte. Auch die anderen Kollegen lachten. Sie begannen zu plaudern und zu scherzen.

Dr. Volker Lammers ließ sich von einer Schwester den Mundschutz entfernen.

»Gute Arbeit, Herrschaften«, lobte er das Team.

Schlagartig verging Fee das Lachen.

»Ich kann mich dem Urteil des Kollegen Lammers nur anschließen«, presste sie durch die Lippen. So sehr sie sich über die erfolgreiche Operation freute, so sehr ärgerte sie sich darüber, dass ihr Stellvertreter ihre Aufgaben an sich riss. »Das nächste Mal überlassen Sie mir es, den Kollegen meine Anerkennung auszusprechen«, fauchte sie ihn an, nachdem die Kollegen gegangen waren.

Sie rechnete damit, wieder einmal Hohn und Spott zu ernten. Zu ihrer großen Überraschung heuchelte Lammers Bestürzung.

»Oh, Entschuldigung, habe ich Sie brüskiert? Das lag ganz und gar nicht in meiner Absicht.«

Felicitas konnte es nicht glauben. Forschend musterte sie sein Gesicht, um seine wahren Gedanken zu lesen. Vergeblich. Offenbar meinte er es wirklich so, wie er sagte. Und das war noch lange nicht alles.

»Darf ich Sie als Wiedergutmachung auf einen Kaffee in unseren schönen Kiosk einladen?« Er meinte es ernst. Der Gedanke daran, sie endlich bald loszusein, bewirkte wahre Wunder.

Felicitas dagegen war in diesem Moment wirklich davon überzeugt, dass Volker Lammers krank war.

»Sie sollten mal beim Kollegen Weigand vorbeischauen und sich untersuchen lassen«, empfahl sie, nickte ihm zu und verließ den Vorraum, um nach ihrem Mann zu sehen.

Daniel stand neben dem Bett von Bertram Quadt, der langsam wieder zu sich kam.

»Herr Doktor.« Noch sichtlich verwirrt blinzelte er ins helle Licht.

Daniel ahnte, was sein Patient wissen wollte.

»Es ist alles gut gegangen.« Beruhigend lächelte Dr. Norden auf seinen Patienten hinab. »Sie sind im Vorraum des OPs und werden gleich in den Wachraum gebracht. Wenn es heute Nacht keine Probleme gibt, können Sie morgen früh auf die Station umziehen.«

Langsam erinnerte sich Bertram Quadt wieder daran, was passiert war.

»Wie geht es Leo?«, fragte er. Vom Tubus war seine Stimme rau.

Daniel und Fee waren von Herzen froh, gute Nachrichten überbringen zu können.

»Die Operation ist gut verlaufen«, erwiderte Felicitas. »Jetzt müssen wir abwarten, ob Leos Körper das Organ annimmt.« Sie lächelte den Vater freundlich an. »Im Augenblick sieht alles gut aus. Es gibt keine Anzeichen für eine Abstoßungsreaktion. Aber morgen früh wissen wir mehr.«

Bertram nickte müde. Er konnte die Augen kaum mehr offen halten. Nach der guten Botschaft sehnte er sich nur noch nach Schlaf.

»Danke!« Zu mehr fehlte ihm die Kraft. Kurz darauf verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

Seite an Seite standen Dr. Daniel Norden und seine Frau am Bett ihres Patienten und wachten über seinen Genesungsschlaf. Sie bemerkten nicht, dass sie sich an den Händen hielten, um diesen stillen Moment zu teilen. Schon oft waren beide an die Grenzen ihrer ärztlichen Kunst gestoßen. Ein Mensch war keine Maschine, die ein Arzt einfach auseinanderbauen, reparieren und wieder zusammensetzen konnte. In jeder Sekunde einer Operation konnten unvorhergesehene Dinge passieren. Umso dankbarer waren sie, wenn Komplikationen ausblieben und ein Leben weiterleuchten durfte wie ein hoffnungsvolles Licht in der Nacht.

*

Erschöpft von den anstrengenden Stunden im Operationssaal kehrte Volker Lammers in sein Büro zurück. Es gab keinen Grund, an diesem Sonntagabend nach Hause zu gehen. Anders als viele seiner Kollegen wurde er von niemandem erwartet. Er machte Licht und ging direkt hinüber zum Sideboard, wo der Kaffee auf der Warmhalteplatte der Maschine vor sich hin schmorte. Inzwischen war das Gebräu bitter und passte perfekt zu seiner Stimmung.

»Und? Wie hat sich Frau Dr. Norden geschlagen?«

Lammers erschrak so sehr, dass er zusammenzuckte. Der heiße Kaffee schwappte über den Rand der Tasse und verbrannte seine Haut. Wütend stellte er den Becher zur Seite und drehte sich um.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fauchte er den Verwaltungsdirektor an. »Was soll das? Was hast du hier zu suchen? Und überhaupt: Wie bist du hier hereingekommen?«

In aller Seelenruhe nahm Dieter Fuchs die Füße vom Schreibtisch und stand auf. Selbst umd diese Uhrzeit war er noch immer korrekt gekleidet. Die Krawatte saß tadellos, auch wenn sie nicht zum Cordsakko und dem karierten Hemd passte. Scheinheilig lächelnd kam er um den Schreibtisch herum und ging auf Volker Lammers zu.

»Ganz schön viele Fragen für einen Sonntagabend. Findest du nicht?«

»Nein.« Volker ging an ihm vorbei zum Waschbecken. Er befeuchtete ein Stofftaschentuch mit kaltem Wasser und wickelte es um die verbrühte Hand.

Der Verwaltungschef sah ihm voller Genugtuung dabei zu. Diese Reaktion war beabsichtigt gewesen. Fuchs wusste um Volker Lammers’ Sehnsucht nach Macht und ahnte, dass ihm ein solcher Verbündeter gefährlich werden konnte. Deshalb hatte er beschlossen, an seiner Position keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

»Warum so unfreundlich?«, fragte er, als Volker zu ihm zurückkehrte. »Wir haben heute Nachmittag einen Plan geschmiedet«, erinnerte er Lammers. »Nachdem du vorhin ein paar Stunden mit unserer geschätzten Kinderärztin zusammen warst, wollte ich mich nach dem Stand der Dinge erkundigen.«

Volkers Augen wurden schmal vor Argwohn.

»Woher weißt du von der Transplantation?«, fragte er scharf.

Dieters Lächeln wurde breiter. Die Verunsicherung in Lammers’ Augen war ihm nicht entgangen. Schon jetzt liebte er dieses Spiel.

»Ich habe meine Informanten. Als Verwaltungsdirektor muss ich doch wissen, was in dieser Klinik passiert.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Also, wie ist die Transplantation gelaufen? Hat sich unser Schätzchen irgendeinen Fehler erlaubt?«

Wohl oder übel musste Lammers einsehen, dass er seinem Verbündeten hilflos ausgeliefert war. Fuchs verfügte über die nötigen Verbindungen zum Stadtrat. Ohne ihn war er machtlos.

»Nein, nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Felicitas Norden ist eine erstaunliche Ärztin. Wenn sie als Hausfrau nur halb so begabt wäre wie in der Chirurgie, hätte sie niemals den Job gewechselt.« Lammers meinte es ernst.

Doch Fuchs warf den Kopf in den Nacken und lachte dröhnend.

»Der war wirklich gut.«

Volker musterte ihn verständnislos.

»Das ist nicht lustig. Das ist ein Problem. Wie sollen wir ihr einen Fehler in die Schuhe schieben, wenn sie ihn zu verhindern weiß? Bei dem Eingriff vorhin ist ihr ein winziges Leck in einem Gallengang aufgefallen. Kein anderer hätte das erkannt.«

Damit hatte er recht, und Fuchs wusste es. Sein Lächeln versickerte wie Wasser auf staubtrockenem Boden. Sein Blick wurde drohend.

»Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern!«, entgegnete er scharf. »Es reicht, wenn ich Schmiedle hinhalten muss. Der wird jetzt schon ungeduldig und will sich eine andere Klinik für den Zusammenschluss suchen.« Er nahm seinen Partner ins Visier. »Wir haben nur noch zwei Wochen Zeit. Bis dahin muss etwas passieren. Haben wir uns verstanden?«

Diese Nachricht war alles andere als erfreulich. Lammers runzelte die Stirn.

»Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Das will ich hoffen!«

Einen Moment lang standen sich die beiden wie Feinde gegenüber. Es war schließlich Lammers, der dem bohrenden Blick nicht länger standhielt und zu Boden sah. Er wusste, dass es klüger war nach­zugeben. Der Verwaltungsdirektor saß am längeren Hebel. Das war auch Dieter Fuchs klar. Siegessicher verabschiedete er sich von Dr. Lammers, wünschte einen schönen Sonntagabend und verließ das Büro.

Volker wusste nicht, wie lange er mitten im Büro gestanden und ihm nachgesehen hatte. Als er aus seiner Trance erwachte, riss er das Stofftaschentuch von seiner Hand. Mit einem wütenden Klatschen landete es auf der Tischplatte.

*

Endlich war auch Matthias Weigands Dienst zu Ende. Er packte seine Siebensachen zusammen, tauschte Kittel und Hose gegen seine Straßenkleider und verabschiedete sich von den Kollegen der Spätschicht. »Wartet Ihre Freundin schon sehnsüchtig auf Sie?«, erkundigte sich die Assistenzärztin Sandra Neubeck neckisch, als er den Kopf zur Tür hereinsteckte. Sie saß noch am Schreibtisch und schrieb an einem Bericht.

Matthias hatte schon eine ganze Weile ein Auge auf sie geworden, aber nicht den Mut gehabt, sie anzusprechen.

»Welche meiner Freundinnen meinen Sie? Die Chipstüte? Die Fernbedienung? Oder etwa die Flasche Bier?«, fragte er missmutig zurück.

Verwundert zog Sandra eine Augenbraue hoch.

»Ein Kerl wie Sie ist noch allein?«

»Sagen wir mal so: Immer mal wieder.« Er ließ nicht durchblicken, wie sehr ihn diese Bezeichnung verletzte. Er war kein ›Kerl‹, sondern ein anständiger, hart arbeitender Mann! Sofort verwarf er den Gedanken, die Kollegin am nächsten Morgen auf einen Kaffee in den Kiosk ›Allerlei‹ einzuladen. »Ich wünsche einen schönen Abend!« Ehe Sandra noch eine Frage stellen konnte, zog er sich beleidigt zurück.

Einen Moment lang sah Sandra ihm verwundert nach.

Hatte sie sich die begehrlichen Blicke der vergangenen Tage nur eingebildet?

»Schade. Das hätte nett werden können«, murmelte sie und beugte sich wieder über ihre Arbeit. Einen Moment zögerte sie noch. »Aber vielleicht ist es besser so. Ich habe keine Lust auf eine Schlagzeile in der Klinikflüsterpost.« Damit konzentrierte sie sich wieder auf den Bericht.

Matthias dagegen schlenderte den Klinikflur hinunter und tat sich selbst leid. Was für eine ungerechte Welt! Zu allem Überfluss traf er am Ausgang auch noch auf ein händchenhaltendes Pärchen.

»Immer noch frisch verliebt wie am ersten Tag, was?«, spottete er gutmütig und folgte Daniel und Fee nach draußen.

»Nur kein Neid, Herr Kollege«, erwiderte Daniel. Demonstrativ legte er den Arm um die Schulter seiner Frau. »Wenn dir das Alleinsein so wenig gefällt, sei die Frage erlaubt, warum du dir nicht endlich eine Partnerin suchst.«

Matthias lachte freudlos auf.

»Ihr ewig Verliebten stellt euch das immer so einfach vor. Dabei ist es alles andere als das.«

»Schlechte Erfahrungen gemacht?«, fragte Fee mitfühlend.

Matthias dachte kurz nach und beschloss dann, seinen Freunden die Wahrheit zu sagen.

»Stellt euch vor, ich habe mich sogar überwunden, mich in einer Partnerbörse anzumelden. Die Frau, mit der ich geschrieben habe, war witzig und intelligent. Auf dem Foto war sie bildschön.«

»Ich ahne, was passiert ist«, warf Daniel ein. »Das Bild war nicht echt.«

»Das schon. Aber uralt«, korrigierte Matthias ihn. »Die Frau ist mindestens zehn Jahre älter als ich. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Inzwischen hat sie hennarote Haare und trägt selbstgestrickte Pullover und Schlabberhosen.«

Daniel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Fee dagegen war ehrlich entrüstet.

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass ihr euch gut versteht.«

»Ja, schon«, erwiderte Matthias gedehnt. »Aber das allein reicht nicht.«

»Seit wann bist du so oberflächlich?«, fragte sie verständnislos und zog den Schal enger um den Hals. Obwohl es Frühling war, wurde es abends oft noch empfindlich kalt. »Kein Wunder, dass du mit dieser Einstellung keine Frau findest«, schalt sie ihn. »Hat dir noch niemand erzählt, dass es den perfekten Partner nicht gibt? Eine Beziehung besteht nun einmal aus Kompromissen. Aber die jüngeren Generationen verstehen das nicht mehr.« Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Daran ist das Internet mit seiner großen Auswahl schuld. Ist einer nicht ganz passend, wird er einfach gegen den Nächsten ausgetauscht.«

Matthias konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Jetzt hast du mir aber den Kopf gewaschen.«

Fee erwiderte sein Lächeln.

»Wenn es etwas nützt …«

»Ich werde mal darüber nachdenken«, versprach Matthias. Er hob die Hand zum Gruß und machte sich endgültig auf den Nachhauseweg.

Fee und Daniel schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Eine Weile wanderten sie schweigend nebeneinander her. Der Gleichklang ihrer Schritte hallte von den Häuserwänden.

»Sag mal, meintest du das vorhin ernst, dass es keinen perfekten Partner gibt?«, erkundigte sich Daniel unterwegs.

»Natürlich«, erwiderte Fee todernst. Nur das Blitzen in ihren Augen verriet sie. »Warum fragst du?«

»Ich denke gerade darüber nach, welche Kompromisse du mit mir eingehen musst.«

Felicitas antwortete nicht sofort. Nach ein paar Metern blieb sie stehen. Daniel drehte sich zu ihr um und musterte sie im Schein einer Straßenlaterne.

»So schlimm?«, fragte er sichtlich besorgt.

»Da fragst du noch? Immer setzt du dich auf die rechte Seite der Couch, obwohl du weißt, dass das mein Lieblingsplatz ist. Nie machst du die Zahnpastatube zu. Wenn du den Frühstückstisch deckst, legst du die Serviette immer auf den Teller statt daneben. Und dann isst du ständig die Cashewkerne aus dem Studentenfutter und lässt mir nur die Haselnüsse übrig. Dabei weißt du genau, dass ich keine Haselnü…« Weiter kam sie nicht.

»Halt, stopp, du kannst aufhören!«, fiel Daniel ihr lachend ins Wort. »Ich habe verstanden, dass das Leben mit mir ein einziger Albtraum ist.« Immer noch lachend schloss er sie in die Arme und küsste sie, bis ihr die Luft wegblieb.

Als er Fee wieder losließ, strahlten ihre Augen wie zwei Sterne.

»Ganz genau«, bestätigte sie seinen Verdacht. »Deshalb muss ich dir leider mitteilen, dass ich beschlossen habe, auch noch den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen.« Sie küsste ihn noch einmal, ehe sie sich bei ihm einhängte, um endlich mit dem Mann ihres Lebens nach Hause zu gehen.

*

Als Marita Wonnegut das Klingeln an der Tür hörte, wusste sie sofort, dass sie verschlafen hatte.

»Die Männer mit der neuen Küche!« Sie schoss hoch und fiel mit einem Schrei gleich wieder zurück in die Kissen. »Die Schulter! Die habe ich total vergessen.« Nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde stand der Termin beim Physiotherapeuten an. »Wenigstens das schaffe ich!« In ihre Gedanken hinein ­klingelte es erneut. »Ich komme gleich!«

Dieses Mal war Marita vorsichtiger beim Aufstehen und vermied es, sich auf den linken Arm zu stützen. Notdürftig mit einem Morgenmantel bekleidet, öffnete sie die Tür. Und schnappte nach Luft.

»Math… Ich meine … Matthias … Herr Dr. Weigand … Was machen Sie denn hier?«, stammelte sie. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Bestimmt leuchteten sie jetzt so rot wie ihr Haar! Istinktiv zog sie den verwaschenen hellblauen Morgenmantel enger um sich. In diesem schrecklichen Moment erinnerte sie sich daran, dass er zu allem Überfluss mit dunkelblauen Herzchen bedruckt war. Konnte es noch schlimmer kommen?

Es konnte.

»Wenn ich mich nicht irre, bringe ich eine neue Küche mit.« Matthias drehte sich um und deutete auf die beiden Handwerker, die hinter ihm standen. Der eine grinste anzüglich. Zum Glück hatte der andere mehr Anstand.

»Guten Morgen, junge Frau. Sieht so aus, als ob Sie noch zehn Minuten bräuchten.«

»Das wäre wundervoll.« Marita schickte ihm einen dankbaren Blick. »Unten um die Ecke ist ein kleines Café. Dort gibt es den besten Kuchen der Stadt. Und der Kaffee ist ein Gedicht.« Sie verschwand, um kurz darauf mit einem Zwanzigeuroschein zurückzukehren, den sie dem Handwerker reichen wollte. Lächelnd schüttelte Frank Maschke den Kopf.

»Wir sind in einer Viertelstunde wieder hier.« Er sah Matthias forschend an, ehe er seinem Kompagnon ein Zeichen gab und gemeinsam mit ihm im Hausflur verschwand. Ihre Schritte hallten auf der Treppe wider und verklangen bald.

Matthias und Marita waren wieder allein. Um das verlegene Schweigen zu brechen, hielt er die Tüte mit den Croissants hoch, die er vorhin im Café ›Schöne Aussichten‹ erstanden hatte.

»Es war wohl etwas gedankenlos, mich auf ein Frühstück bei Ihnen einzuladen.«

»Ja … also … Ich meine … Ich hatte doch erzählt, dass ich eine neue Küche bekomme.« Noch immer kämpfte Marita mit sich. Doch schließlich siegte ihr gesundes Selbstbewusstsein. Sie atmete einmal tief durch, warf die hennaroten Haare in den Nacken und streckte Matthias die Hand hin.

»Ich bin Marita. Komm rein. In fünf Minuten bin ich ein neuer Mensch«, versprach sie. »Aber du darfst nicht erschrecken. Hier sieht es aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte.«

Die halbe Nacht hatte Matthias über Fee Nordens Worte nachgedacht und beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Doch schon als Marita die Tür geöffnet hatte, war ihm klar geworden, welch furchtbaren Fehler er gemacht hatte. Dieses Gefühl wurde noch schlimmer, als er sich in der kleinen Wohnung umsah. Abgesehen von dem Chaos wusste er sofort, dass ihn sein erster Eindruck nicht getäuscht hatte. Marita und er lebten auf zwei verschiedenen Sternen.

»Lass mich raten!« Die Stimme hinter ihm ließ ihn herumfahren.

Marita trug jetzt einen bunten Blumenpullover zu einer engen Jeans. Um den Hals hatte sie eine Menge Ketten gehängt und ein Tuch in die roten Haare geschlungen. An ihren Ohren baumelten lange Ohrringe. Matthias hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie vorher schlimmer ausgesehen hatte. Zum Glück überstrahlte ihr herzliches Lächeln alles andere.

»Du fühlst dich gerade, als wärst du mit deiner Raumsonde auf einem falschen Stern gelandet.« Ihre Offenheit war entwaffnend.

»Bist du mir böse, wenn das stimmt?«

»Nein, mein Guter. Mir geht es genauso. Hier in meiner Wohnung wirkst du wie ein Marsmensch. Klein und grün und schleimig.«

Matthias kniff die Augen zusammen. »So schlimm?«

»Ja! So schlimm.« Sie winkte ihn mit sich und führte ihn durch das Chaos hinüber zum Tisch, wo sich zwischen Geschirr, Töpfen und Lebensmitteln der Wasserkocher versteckte. Sie stellte ihn an, löffelte Kaffeepulver in zwei Tassen und wartete, bis das Wasser kochte. »Warum hast du es dir überhaupt anders überlegt?«, fragte sie, als sie in schönster Eintracht auf zwei umgedrehten Wäschekörben saßen, den heißen Kaffee schlürften und die Croissants aßen.

Matthias dachte kurz nach.

»Ich habe einer Freundin von dir erzählt, und sie hat mich oberflächlich genannt. Das will ich auf keinen Fall sein«, erzählte er dann bereitwillig. Sie hatten einander schon genug vorgegaukelt. Jetzt war es an der Zeit, ehrlich zu sein.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nippte Marita an ihrem Kaffee.

»Allein für diesen Satz könnte ich mich in dich verlieben«, seufzte sie. »Aber vermutlich würde es nur für ein Strohfeuer reichen. Und das haben wir beide nicht verdient.«

»Dann täuscht mich mein Bauchgefühl also nicht?« Matthias steckte das letzte Stück Croissant in den Mund und leerte seine Tasse.

»Nein.« Entschieden schüttelte Marita den Kopf, dass die Ohrringe leise klimperten. »Du kannst ihm ruhig vertrauen, deinem Bauch.«

Matthias stand auf. Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. Marita brachte ihn zur Tür. Dort angekommen stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn spontan auf die Wange.

»Du bist echt ein netter Kerl!«

Schon wieder dieses Wort! Schlagartig wurde seine Miene düster.

»Warum sagt ihr Frauen so was? Kerl! In meinen Ohren klingt das wie ein Schimpfwort. Ich nenne dich doch auch nicht ›Tussi‹«, entrüstete er sich.

Einen Moment lang starrte Marita ihn fassungslos an. Dann brach sie in haltloses Lachen aus.

»Das männliche Pendant zu ›Tussi‹ ist ›Macker‹. Wenn ich einen Mann ›Kerl‹ nenne, dann ist das ein Kompliment.«

Sofort musste Matthias an Sandra Neubeck denken. Vor Schreck schnappte er nach Luft. »Sehen das andere Frauen auch so?«

»Ich denke schon.«

Schritte und Stimmen hallten im Treppenflur. Die Handwerker kehrten zurück. Frank Maschke bog um die Ecke. Beim Anblick von Marita blieb er wie elektrisiert stehen. Wie gebannt starrte sie zurück.

Matthias sah von einem zum anderen. »Ich glaube, ich gehe jetzt«, erklärte er.

Marita konnte kaum den Blick von Frank lösen. Die offene Bewunderung in seinem Gesicht war überwältigend.

»Ich schreib dir!«, versprach sie Matthias und öffnete weit die Tür, um ihn hinaus und die Handwerker hereinzulassen.

Matthias dagegen konnte es kaum erwarten, in die Klinik zu fahren. Auf eine Art hatte Felicitas Norden doch recht behalten: Er warf die Flinte vorschnell ins Korn. Nun galt es, das Missverständnis so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Er konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät dazu war.

*

Bevor Dr. Daniel Norden an diesem Morgen zu seinem Patienten ging, begleitete er seine Frau auf die Kinderstation. Auch Fees erste Sorge galt dem transplantierten Jungen.

»Wie geht es Leo Quadt?«, erkundigte sie sich bei Schwester Kathrin, die die Nachtschicht übernommen hatte. »Gab es Probleme?«

»Er hat geschlafen wie ein Engel«, lautete die erleichternde Antwort. »Keine Anzeichen einer Abstoßungsreaktion, kein Hinweis auf eine Infektion. Heute früh war er kurz wach, aber jetzt schläft er wieder.«

Damit war Fee zufrieden.

»Gesundschlafen ist das Beste, was er tun kann.«

»Ach, übrigens … Die Mutter ist schon sehr früh heute Morgen gekommen. Sie möchte mit Ihnen sprechen.«

»Natürlich.« Fee wandte sich an Daniel. »Die Arbeit ruft. Du hast es selbst gehört.« Mit einem Kuss verabschiedete sie sich von ihrem Mann, um sich im nächsten Moment ganz auf die neuen Herausforderungen zu konzentrieren.

Daniel tat es ihr nach und machte sich auf den Weg zu Bertram Quadt. Seine Frau Nicole war bei ihm. Sie saß am Bett und hielt seine Hand. Als er eintrat, wollte sie aufstehen. Doch Daniel bedeutete ihr, sitzen zu bleiben.

»Sie sehen ja schon wieder recht munter aus«, wandte er sich an Bertram.

Der lag in seinem Bett und hatte das Kopfteil ein wenig hochgestellt.

»Kein Wunder bei der guten Pflege.« Bertram Quadt drückte die Hand seiner Frau.

»Haben Sie Schmerzen?«

»Heute Nacht war es irgendwann ziemlich übel«, gestand Bertram und sah Dr. Norden dabei zu, wie er nach seinem Handgelenk griff. Die Augen auf die Armbanduhr gerichtet, zählte Daniel den Puls. Bertram wartete geduldig, bis er fertig war. »Zum Glück hat mir die Schwester ein anständiges Schmerzmittel gegeben. Seitdem ist es besser.«

Daniel notierte den Wert im Krankenblatt und nickte bedauernd.

»Es ist leider völlig normal, dass im Bereich des Operationsgebietes und der Nähte recht starke Schmerzen auftreten. Die verschwinden allerdings im Zuge des Heilungsprozesses«, erklärte er, um seinen Patienten zu beruhigen. »In fünf bis sieben Tagen sind Sie wieder so weit hergestellt, dass Sie die Klinik verlassen dürfen.«

Doch Bertram brannte ein ganz anderes Anliegen auf der Seele.

»Ich halte alles aus, wenn nur Leo wieder gesund wird«, gestand er und maß den Klinikchef mit forschendem Blick. Auch Nicoles Augen klebten förmlich an dem Klinikchef.

»Die Zeichen stehen gut.« Daniel freute sich über das Strahlen in den Augen seines Patienten. Einen kleinen Wermutstropfen gab es jedoch. »Leider dürfen Sie ihn im Augenblick noch nicht sehen. In den kommenden zwei Tagen müssen Sie strikte Bettruhe einhalten.«

»Das ist vielleicht ganz gut so. Wir müssen ohnehin nachdenken, wie es jetzt weitergehen soll.« Sein Blick huschte zu Nicole, ehe er zu Daniel zurückkehrte. »Haben Sie Kinder, Herr Doktor?«

»Ja, fünf. Und fragen Sie mich jetzt bitte nicht, ob ich auch noch ein anderes Hobby habe.« Er zwinkerte Bertram Quadt zu.

Der lachte kurz auf.

»Alle Achtung.« Im nächsten Augenblick war er schon wieder ernst. »Ehrlich gesagt habe ich mir in den vergangenen Jahren nicht allzu viele Gedanken über die Situation gemacht. Meine Frau und ich«, wieder sah er hinüber zu Nicole, »wir hatten uns damit arrangiert, dass Leo nicht bei uns lebt. Zumindest dachten wir das.«

Daniel konnte nachvollziehen, was in dem Ehepaar vorging. Aber was hätte er dazu sagen sollen? Während er noch über eine Antwort nachdachte, fuhr Bertram fort.

»Leos Unfall hat alles verändert. Nicht nur für meine Frau. Auch für mich.« Seine Augen ruhten auf Daniel. »Wie denken Sie darüber? Hat ein Kind nicht das Recht darauf, die Wahrheit seiner Herkunft zu erfahren? Sie dürfen nicht denken, dass wir Alexa das Kind wegnehmen wollen«, fügte er schnell hinzu. »Leo und sie gehören zusammen. Wir wünschen uns nur das Beste für unseren Sohn.«

Daniel Norden schickte einen stummen Dank an seine Frau, die psychologische Fachkenntnisse besaß. Von ihr hatte er viel über die menschliche Psyche gelernt. Andernfalls hätte er gestehen müssen, nie zuvor über dieses Thema nachgedacht oder gar diskutiert zu haben.

»Doch, das sehe ich genauso.« Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich denke, wir Erwachsenen neigen dazu, Kinder zu unterschätzen. Unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen, belügen wir sie oder verschweigen Dinge. Dabei vergessen wir, dass Kinder ein sehr feines Gespür haben. Viel verletzender als die Wahrheit ist die Ahnung, belogen zu werden.«

Schweigend hatten Bertram und Nicole zugehört. Die Bewunderung für die weisen Worte des Klinikchefs stand beiden ins Gesicht geschrieben.

»Dann denken Sie auch, dass Leo erfahren sollte, was wirklich passiert ist?«, fragte Nicole fast schüchtern.

»Wenn Ihnen daran liegt, dass Ihr Sohn anderen Menschen und allen voran seiner Familie vertrauen kann: Ja!«

Bertram seufzte auf und wandte den Kopf ab. Sein Blick fiel aus dem Fenster hinaus in den Klinikgarten, den die ehemalige Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch nach eigenen Plänen hatte anlegen lassen. Überall spitzte junges Grün neugierig hervor. Es war ein hoffnungsvoller Anblick, der auch Bertram Mut machte, den schweren Weg einzuschlagen.

»Können Sie mit meiner Ex-Frau sprechen? Ich denke, eine neutrale Person ist dazu besser geeignet als Nicky oder ich.«

»Trotz bester Vorsätze sind Alex und ich nach ein paar Sätzen immer kurz davon, uns die Augen auszukratzen«, gestand Nicole kleinlaut.

»Da sind wohl zu viele Emotionen im Spiel«, fügte Bertram hinzu.

Daniel Norden gefiel die Einsicht des Ehepaares. Unter diesen Voraussetzungen wollte er nur zu gern helfen.

»Wenn Sie einverstanden sind, bespreche ich das mit meiner Frau. Sie ist die Fachfrau. Alles Weitere würde ich gern ihr überlassen.«

»Natürlich! Sie haben unser volles Vertrauen.«

»Danke. Ich weiß das zu schätzen.« Daniel erwiderte Bertrams Lächeln, ehe er sich von dem Ehepaar verabschiedete. Sein nächster Weg führte ihn wieder in die Pädiatrie. Bevor er sich den Aufgaben des Tages widmete, wollte er diese Sache vom Tisch haben.

*

»Nanu, was machst du denn schon wieder hier?«, begrüßte der Pfleger Jakob den Notarzt Matthias Weigand. Gleichzeitig deutete er auf den Dienstplan an der Wand. »Du bist erst heute Nachmittag dran«, klärte er ihn auf, als ihm ein anderer Gedanke in den Sinn kam. »Oder ist dir etwa langweilig so ganz allein zu Hause? In diesem Fall hätte ich einen Tipp: Beziehungsstatus ändern! Das hilft ungemein.« Sein bewundernder Blick folgte einer jungen Lernschwester, die mit einem Packen Akten an ihnen vorbei eilte.

»Schön, dass ihr alle so besorgt um mich seid.« Matthias schnitt eine Grimasse. »Aber stell dir vor: Genau deshalb bin ich jetzt schon gekommen.« Mit diesen Worten ließ er Jakob stehen. Er hatte schon viel zu viel Zeit verschwendet. Jetzt sollte ihn nichts mehr aufhalten. Vor dem Aufzug blieb er stehen und drückte den Knopf. Während er wartete, trat er nervös von einem Bein auf das andere. Schließlich hielt er es nicht länger aus.

»Treppensteigen ist eh gesünder«, murmelte er und lief zum Treppenhaus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er hinauf. Er hatte schon sein Ziel vor Augen und wollte eben durch die Glastür im zweiten Stock laufen, als ihm ausgerechnet die Frau entgegenkam, wegen der er es so eilig hatte.

»Ach du Sch …« Weiter kam er nicht. Der Aufprall war unvermeidlich. Er stolperte rückwärts und streckte noch haltsuchend die Hände aus.

»Matthias!« Sandras Schrei und ihr entsetztes Gesicht begleiteten seinen Sturz. Er fühlte einen harten Schlag. Dann wurde es Nacht um ihn.

Das erste, was Dr. Matthias Weigand wieder spürte, waren dröhnende Kopfschmerzen.

»O mein Gott, ich habe doch gestern gar nichts getrunken«, stöhnte er und wollte sich in seinem Bett aufrichten, als er bemerkte, dass es sich mitnichten um eine weiche Matratze, sondern um eine harte Liege handelte, auf der er bäuchlings lag.

»Wirklich nicht? Auch keine winzig kleine Flasche Bier?«, fragte eine weibliche Stimme spöttisch. »An deiner Stelle würde ich übrigens liegenbleiben. Ich glaube kaum, dass du mit halb vernähter Platzwunde herumlaufen willst.«

Stöhnend sank Matthias wieder auf seine harte Liegestatt. Die Wirklichkeit war noch viel schlimmer als der schlimmste Albtraum.

»Sandra?«, fragte er verlegen und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Aber nur so lange, bis ihm der süße Duft eines bislang unbekannten Parfums in die Nase stieg. Gleichzeitig spürte er die Wärme eines menschlichen Körpers auf seiner Schulter. Vorsichtig öffnete er die Augen und schielt durch die Armbeuge zu seiner Kollegin hinauf. Sie beugte sich so dicht über ihn, dass er sie hätte küssen können. Um ein Haar wäre Matthias wieder in Ohnmacht gefallen. Es war ihrer spöttischen Stimme zu verdanken, dass er wach blieb.

»Oh, entschuldige. Wenn dir das zu intim ist, kannst du auch gern wieder Frau Dr. Neubeck sagen.«

»Nein, nein, das ist wunderbar«, versicherte er schnell, und Sandra lachte leise.

»Da hatte ich gestern aber einen anderen Eindruck«, erklärte sie, während sie Stich um Stich machte. »Da warst du sehr reserviert.«

»Dafür habe ich dich heute fast umgerannt.«

»Machst du immer Kehrtwenden um 180 Grad?« Sie verknotete den letzten Faden und schnitt ihn mit der Schere ab. »Fertig.«

»Schade!«, entfuhr es Matthias.

Noch einmal beugte sich Sandra über ihn, um ihre Arbeit zu kontrollieren. Sie war zufrieden und zog die Handschuhe aus. Mit zielsicherem Wurf landeten sie im Abfall. Doch statt aufzustehen, blieb sie neben ihrem Patienten sitzen und musterte ihn nachdenklich.

»Warum hattest du es eigentlich so eilig vorhin?«

»Ich …« Matthias hielt inne. Fee Nordens Stimme klang ihm im Ohr. Gleichzeitig spürte er in sich hinein. Das Erlebnis mit Marita reichte ihm. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben. Doch sein Bauchgefühl gab ihm klare Anweisungen. »Ich habe dich gesucht, weil ich dich fragen wollte, ob du mit mir einen Kaffee trinken willst.«

»Wie bitte?« Nach der Abfuhr vom vergangenen Abend hatte Sandra mit allem gerechnet. Aber nicht mit einer Einladung von Dr. Matthias Weigand. Irritiert schielte er zu ihr hinüber.

»Kaffee. Im ›Allerlei‹«, wiederholte er seine Einladung. Augenblicklich fühlte er seine Hoffnung schwinden. »Oder ist das zu intim?«

Sandra brach in belustigtes Lachen aus. Entgegen ihrer spontanen Absicht, ihm einen Korb zu geben, gab sie sich seiner Offenheit und seinem Sinn für Humor geschlagen. Doch ein wenig Strafe muss sein.

»Tut mir leid«, erwiderte sie.

Matthias fiel in sich zusammen.

»Schade …«

»Aber ich trinke keinen Kaffee. Wenn es auch Tee sein darf, dann gern.« Ihr belustigtes Glucksen begleitete ihre Zusage.

Matthias hätte zu gern eingestimmt. Doch die Platzwunde erstickte dieses Bedürfnis im Keim. So begnügte er sich damit, vor sich hin zu grinsen und im Übrigen Fee Norden einen stillen Dank zu schicken. Ohne ihre Standpauke wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, Sandra eine zweite Chance zu geben. Und so, wie es aussah, wäre das ein sehr großer Fehler gewesen.

*

» … in sechs bis acht Wochen die Klinik verlassen.« Felicitas Norden hatte ihre Ausführungen zu Leos weiterer Behandlung beendet und lächelte Alexa Quadt freundlich an, als es klopfte. Eine Schwester steckte den Kopf herein und teilte ihr mit, dass ihr Mann sie zu sprechen wünschte.

»Bitte entschuldigen Sie mich kurz.« Fee nickte Alexandra zu und verließ das Büro.

Die Unterredung dauerte nicht lange. Ihre Miene war ernst, als sie an den Schreibtisch zurückkehrte.

Alexa erschrak.

»Gibt es schlechte Nachrichten?« Die Angst um ihren Sohn stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Keine Sorge, Leo geht es gut.«

»Gott sei Dank.« Alexas Seufzen kam aus tiefstem Herzen. Doch das war noch nicht das gewesen, was Fee eigentlich sagen wollte.

»Als angehende Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie möchte ich aber noch etwas mit Ihnen besprechen.«

Alexa schluckte. »Ja?«

Obwohl Felicitas sich schon während des kurzen Gesprächs mit Daniel Gedanken gemacht hatte, fiel ihr der Einstieg schwer. Schließlich beschloss sie, den Stier schlicht bei den Hörnern zu packen.

»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Leo die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen?«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich Alexandras Augen mit Tränen füllten.

»Sie wollen mir mein Kind wegnehmen!«, schluchzte sie auf und wollte aufspringen, als Felicitas entschieden den Kopf schüttelte.

»Nein, natürlich nicht«, versicherte sie schnell. »Das wäre nicht in Leos Interesse. Und darum sollte es uns allen gehen. Ihnen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager. Und nicht zuletzt uns Ärzten.«

Alexa zögerte. Sie war auf die äußerste Stuhlkante gerutscht, jederzeit bereit zur Flucht.

»Wenn ich Leo sage, dass ich nicht seine Mutter bin, wird er mich für den Rest seines Lebens hassen.«

»Natürlich wird er nicht begeistert sein«, räumte Fee ein. »Sie werden viele Gespräche führen müssen, um sein Vertrauen zurückzugewinnen. Aber er wird Ihnen auch hoch anrechnen, dass Sie sich überwunden haben und ehrlich zu ihm waren. Das wird Ihre Bindung stärken und letztlich Ihre Beziehung zueinander retten. Möglicherweise spürte er schon sein ganzes Leben lang, dass etwas nicht in Ordnung ist.« Sie machte eine kunstvolle Pause. »Aufrichtigkeit stärkt das Vertrauen von Kindern in ihre Eltern.«

Mit ausdrucksloser Miene hatte Alexa die Worte der Ärztin angehört. Fee ahnte nicht, was in der Mutter vorging. Alexandra sagte es ihr schließlich selbst.

»Verlangen Sie von mir, ihm ausgerechnet jetzt, in dieser schwierigen Phase, die Wahrheit zu sagen? Was, wenn Leo das nicht verkraftet? Wenn er nicht wieder gesund wird und stirbt? Dann werde ich mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen.«

Mit diesen Einwänden hatte Felicitas gerechnet.

»Im Augenblick muss er in der Tat nichts anderes als gesund werden. Aber eines Tages wird er Ihnen Fragen stellen. Wer ist der Mann, der einen Teil seiner Leber hergegeben hat? Der sein Leben für ihn riskiert hat? Wollen Sie ihn dann wieder anlügen?«

Alexa konnte nicht sprechen. Weinend schüttelte sie den Kopf.

Fee nutzte die Gunst der Stunde und fuhr fort.

»Natürlich kommt es darauf an, mit welchen Worten ihm der Sachverhalt vermittelt wird. Aber keine Angst! Bei diesem schwierigen Prozess werden Sie alle von einer psychologischen Fachkraft begleitet.« Erleichtert bemerkte sie, wie sich Alexandras abwehrende Körperhaltung veränderte.

Sie rutschte ein Stück auf dem Stuhl zurück und trocknete sich die Tränen. Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Fee gab der verzweifelten Mutter die Zeit, die sie brauchte.

»Es muss doch einen Weg geben, der für uns alle gut ist«, murmelte Alexa irgendwann. Sie starrte auf ihre Hand, in der sie das nasse Taschentuch zusammengeknüllt hatte. »Sie ahnen ja nicht, wie schwer es manchmal ist, allein all die Verantwortung für ein Kind, für unser beider Leben zu tragen. Wie oft ich mich einsam und verlassen fühle. Wie sehr ich meine Schwester vermisse. Mich danach sehne, wieder eine Familie zu haben«, gestand sie schließlich leise. »Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie Leo dieses Durcheinander je begreifen soll.«

In diesem Moment wusste Felicitas, dass die Schlacht gewonnen war. Sie lächelte erleichtert.

»Vielleicht war es gar nicht so schlecht, so lange geschwiegen zu haben«, versuchte sie, Alexa zu beruhigen. »Die Zeit hat für Sie gespielt. Überlegen Sie doch mal, wie viele Kinder in ungewöhnlichen Verhältnissen aufwachsen, mit biologischen oder Zieheltern. Mit zwei Müttern oder zwei Vätern. Ausgetragen von Leihmüttern in anderen Ländern. Gezeugt mit Hilfe von Samenspenden. Heutzutage ist alles denkbar und fast alles möglich. Das war in Kriegszeiten übrigens kaum anders. Wie viele Kinder sind in Zweckgemeinschaften der verschiedensten Konstellationen groß geworden und waren trotzdem glücklich. Weil sie geliebt wurden.« Fees Lächeln wurde tiefer. »Ich denke, ob und wie Kinder die Wahrheit erleben, hängt davon ab, wie die Erwachsenen damit umgehen. Ob sie mit dem Schmerz und den Konflikten zurecht kommen, die solche Konstellationen immer mit sich bringen. Aber eben auch das Glück annehmen können, das ja immer Teil von allem ist.« Fee Norden war am Ende ihrer leidenschaftlichen Rede angelangt. Mehr hatte sie nicht zu sagen. Es lag nun allein an Alexandra Quadt, was sie daraus machte. Sie hatte ihre und die Zukunft ihres Kindes in der Hand. Wie würde sie sich entscheiden?

Gebannt beobachtete Felicitas das Mienenspiel der Mutter, das ihm Gegensatz zu vorhin sehr bewegt war. Nach einer gefühlten Ewigkeit verzogen sich Alexas Lippen zu einem Lächeln.

»Ich möchte mit meiner Schwester sprechen«, sagte sie mit ruhiger, entschiedener Stimme und stand auf.

Fee begleitete sie zur Tür. Dabei hatte sie das Gefühl, auf Federn zu gehen, so befreit und erleichtert fühlte sie sich.

»Nicole wartet draußen auf Sie«, erwiderte sie und öffnete die Tür.

Das Bild, wie sich die beiden Schwestern wortlos in die Arme fielen, gehörte zu dem Schönsten, was sie seit langer Zeit gesehen hatte. Schon jetzt brannte sie darauf, Daniel davon zu erzählen und ihr Glück mit ihm zu teilen. Denn erst dann war es komplett.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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