Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 15

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»Das neue Gerät kann fortlaufend präzise Bilder eines Tumors während der Bestrahlung zeigen. Und das ohne zusätzliche Strahlenbelastung«, erklärte Dr. Matthias Weigand begeistert. Er hatte in einer amerikanischen Klinik an der Vorstellung dieses Geräts teilgenommen und war voller Enthusiasmus zurückgekehrt.

Nun saß er im Büro des Klinikleiters in der Besucherecke und reichte Dr. Daniel Norden den Flyer über den Tisch. Die Assistentin Andrea Sander ging durch das Zimmer, um die Unterschriftenmappe abzuholen, die sie vor ein paar Stunden gebracht hatte.

»Danke.« Daniel blätterte durch den bunt bebilderten Prospekt. »Das klingt wirklich sehr verlockend.«

»Untertreibung, dein Name ist Norden«, scherzte Dr. Weigand. »Der Apparat vereint die hervorragende Bildqualität eines Magnetresonanz-Tomographen mit einem Linearbeschleuniger.« Er warf seine ganze Überzeugungskraft in den Ring, um seinen Chef von der Notwendigkeit dieser Anschaffung zu überzeugen. »Dank dieser glücklichen Vereinigung kann ein Tumor unter Beobachtung zielgenau und hochdosiert bestrahlt werden, ohne dass umliegendes Gewebe geschädigt wird. Die Kollegen aus der Onkologie sind meine Zeugen.«

»Das Gerät eignet sich besonders für Tumoren in der Speiseröhre, des Enddarms und im Kopf-Hals-Bereich«, las Daniel laut das vor, was unter einem Foto im Flyer gedruckt stand.

Andrea Sander, die die Unterschriftenmappe auf Vollständigkeit geprüft hatte, klappte sie geräuschvoll zu.

»Aber das klingt doch ausgezeichnet. Warum legen wir uns dieses Ding nicht zu?«

»Sie sind ein Schatz, Frau Sander«, lobte Matthias. »Setzen Sie doch bitte schon einmal die Bedarfsmeldung auf.« Er zwinkerte ihr lustig zu, ehe er den Blick wieder auf Daniel richtete. »Wir wären die einzige Klinik in Deutschland, die diese Technologie anbieten kann.«

»Das ist ja alles schön und gut.« Seufzend legte Dr. Norden den Flyer zurück auf den Tisch. »Leider geht es um viel Geld. Und immer, wenn es ums Geld geht, fangen die Probleme an. Das ist in einer Klinik nicht anders als in einer Familie.« Doch das war nicht der einzige Grund, warum er sich nicht mit Feuereifer auf dieses Projekt stürzte. »Wie inzwischen durchgedrungen sein dürfte, sind die Pläne, die Klinik in ein Gesundheitszentrum zu integrieren, immer noch nicht vom Tisch. Solange Fuchs an diesem Wahnsinn festhält, gibt es auch kein Geld für Neuanschaffungen.«

Matthias Weigand schnaubte unwillig.

»Wir wollen die Menschen heilen, während andere davon träumen, möglichst viel Kapital aus den Krankheiten zu schlagen«, erklärte er bitter.

»Ich bin ganz deiner Meinung«, erwiderte Daniel Norden. Mit einem Blick auf die Uhr erhob er sich. Seine Frau Felicitas und er hatten sich gegenseitig versprochen, an diesem Abend pünktlich zu Hause zu sein. »Trotzdem muss ich dich um vornhme Zurückhaltung bitten. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass unser geschätzter Verwaltungsdirektor doch noch zur Vernunft kommt und sich gegen die Pläne des Stadtrats stellt. Bis eine endgültige Entscheidung getroffen ist, will ich ihn nicht unnötig reizen.«

»Ich bewundere dein diplomatisches Geschick«, erklärte Dr. Weigand und stand ebenfalls auf. »Aber irgendeinen Grund muss es ja geben, warum Jenny Behnisch ausgerechnet dich zum neuen Herrscher über ihr Reich auserkoren hat.« Er zwinkerte seinem Freund zu.

»Tja, es gehört eben mehr dazu, als Charme, gutes Aussehen und hervorragende medizinische Kenntnisse.«

Matthias Weigand schnitt eine Grimasse.

»Haben Sie gewusst, dass Ihr Chef ein eingebildeter Fatzke ist?«, rief er hinüber zu Andrea Sander, die wieder an ihrem Schreibtisch saß.

In diesem Augenblick betrat Fee die Bühne.

»Das trifft wohl eher auf den geschätzten Kollegen Lammers zu«, wagte sie einen Einwurf. Wieder einmal stand ihr der Ärger über ihren Stellvertreter ins Gesicht geschrieben.

»Was ist passiert? Soll ich dich rächen?« Matthias fuhr zu ihr herum und zückte ein imaginäres Schwert. »Euer Musketier D’Artagnan ist bereit, euch mit seinem Leben zu verteidigen.« Sein Arm wirbelte durch die Luft, und Fee musste lachen.

»Das ist lieb von dir. Aber dieser Tunichtgut ist es nicht wert, dass du für ihn sein Leben aufs Spiel setzt. Er hat nur Glück, dass er ein so großartiger Kinderchirurg ist. Sonst hätte ich ihn längst an die frische Luft gesetzt. Grund genug hätte ich.«

»Darüber unterhalten wir uns auf dem Heimweg.« Daniel tippte mahnend auf seine Armbanduhr. »Wir wollen doch nicht, dass Viola und ihre Tochter vor verschlossenen Türen stehen.«

»Natürlich nicht. Du hast recht.« Felicitas verabschiedete sich von Matthias Weigand und wartete geduldig an der Tür, bis Daniel seine Siebensachen zusammengesucht hatte. Gemeinsam verließen sie das Büro.

»Bis morgen, Andrea!« Am Schreibtisch seiner Assistentin blieb Dr. Norden noch einmal stehen. »Ich hoffe, Sie finden den Weg nach Hause auch noch.«

Über diese Bemerkung konnte Andrea nur müde lächeln.

»Nichts für ungut, aber im Gegensatz zu Jenny Behnisch ist die Zusammenarbeit mit Ihnen der reinste Urlaub.«

Daniel wusste, dass diese Bemerkung nicht auf Jennys Führungsqualitäten abzielten. Vielmehr hatte seine langjährige Freundin und Kollegin für die Klinik gelebt und Tag und Nacht gearbeitet. So weit wollte Daniel Norden es nicht kommen lassen. Doch schon nach den ersten Wochen als Klinikchef wusste er, dass das ein hehres Ziel war. Genauso wie die Anschaffung des neuen Geräts.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, erkundigte sich Fee, während sie Seite an Seite durch den Flur Richtung Ausgang strebten.

»Bei dem Gerät, das Matthias sich in Florida angesehen hat«, gestand Daniel. »Das wäre eine große Sache für unsere Klinik.«

»Aber solange die Sache mit dem Gesundheitszentrum aktuell ist, musst du dir deinen attraktiven Kopf nicht darüber zerbrechen.« Sie blieb stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Denk lieber an unseren netten Besuch. Diese kleinen Dinge sind es doch, die im Leben wirklich zählen«, mahnte sie ihn liebevoll. »Die sollten wir uns nicht von den Profilneurotikern Lammers, Fuchs und Co vermiesen lassen.«

Zuvorkommend hielt Daniel ihr die Tür auf.

»Du hast wie immer recht.«

»Deshalb passen wir ja gut zusammen«, lachte sie und lief voraus zum Wagen.

Allmählich mussten sie sich beeilen, wenn Daniels Jugendfreundin und ihre Tochter nicht wirklich vor ihnen zu Hause sein sollten.

*

Auch der Verwaltungschef der Behnisch-Klinik war im Begriff, die Klinik zu verlassen. Aber nicht etwa, um seinen Feierabend anzutreten. Ganz im Gegenteil ging die Arbeit für ihn erst los. Doch schon in der Lobby wurde er von seinem Verbündeten Volker Lammers abgefangen. Die beiden hatten sich vor vielen Jahren bei einem Segeltörn kennengelernt, eine angenehme Zeit miteinander verbracht und sich schließlich wieder aus den Augen verloren. Der Zufall wollte es, dass sie sich an der Behnisch-Klinik wiedergetroffen hatten.

Schnell hatten die beiden Männer festgestellt, dass sie in erster Linie ihre Unbeliebtheit bei den Kollegen verband. Und nun auch noch die Abneigung gegen den neuen Klinikchef, der sich mit aller Macht gegen die Eingliederung in das Gesundheitszentrum sperrte. Dagegen wollten sie mit vereinten Kräften etwas unternehmen. Doch der letzte Coup war mit Pauken und Trompeten gescheitert, sodass Dieter Fuchs inzwischen Zweifel an der Aktion hatte. Ganz im Gegensatz zu Lammers.

»Da bist du ja! Ich muss dringend mit dir sprechen«, sprach er den Verwaltungschef an.

»Um was geht es? Ich habe überhaupt keine Zeit.«

»Um was wohl?« Volker Lammers verdrehte die Augen. Als ob Fuchs und er viel Gesprächsstoff gehabt hätten! »Um Nord …«

»Nicht hier!«, fuhr Fuchs ihm über den Mund. Er packte ihn am Ärmel und zog ihn in eine ruhige Ecke. »Hast du völlig den Verstand verloren? Du weißt genau, dass wir nicht zusammen gesehen werden sollen!«

Volkers Magen zog sich vor Ärger zusammen. Er hasste es, von Dieter Fuchs ständig wie ein Schuljunge behandelt zu werden.

»Wie sollte ich denn mit dir sprechen? Seit der Geschichte mit dem kleinen Kronseder wimmelt mich deine Sekretärin ab.«

»Zu Recht, findest du nicht?«, fragte der Verwaltungschef sarkastisch. »Nie zuvor habe ich mich so blamiert. Das brauche ich nicht noch einmal.«

»Woher sollte ich denn wissen, dass Norden mit solchen Mitteln arbeitet? Homöopathie! Das ist ja lachhaft.«

»Mag sein. Das tut hier aber nichts zur Sache. Fakt ist, dass er den Jungen nicht als Versuchskaninchen für Medikamententests missbraucht hat, wie du behauptet hast.« Aufgeregt wanderte Dieter Fuchs in dem abgedunkelten Zimmer auf und ab. »Wenn wir nichts finden, womit wir Norden vom Thron stoßen können, dann platzt der Deal mit dem Stadtrat.«

Lammers traute seinen Ohren kaum. Er lief hinter Fuchs her und stellte sich ihm in den Weg.

»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte er empört. »Dass du nicht Verwaltungschef des Gesundheitszentrums und ich nicht Chef der Kinderklinik werde. Willst du diese einmalige Chance wirklich wegwerfen?« Lammers konnte und wollte es nicht glauben. All das, wofür er seit Jahren kämpfte, stand auf dem Spiel.

»Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« Fuchs musterte sein Gegenüber aus schmalen Augen. Er war ein gutes Stück kleiner als Lammers und musste zu ihm aufblicken. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich ihm überlegen zu fühlen. Und es auch zu sein. Immerhin hatte er den Posten als Verwaltungsdirektor inne. Volker Lammers dagegen war noch nicht einmal Abteilungsleiter. »Es ist nicht meine Schuld, dass wir Norden nichts anhängen können. Offenbar ist er everybodys darling. Der Mann scheint keine Feinde zu haben.«

»Hör doch auf!«, schnaubte Volker Lammers. »Das klingt ja ganz danach, als stünde er kurz vor seiner Heiligsprechung.«

»Schon möglich. Zusammen mit seiner Frau!« Fuchs wusste um Lammers Hass auf seine Chefin und konnte sich diesen Kommentar nicht verkneifen.

»Sehr witzig«, entfuhr es dem Kinderchirurgen. Er war kurz davor zu explodieren.

Dieter Fuchs sah auf die Uhr.

»Wie auch immer, ich muss jetzt los. Schließlich will ich nicht zu spät zur Besprechung mit Karl Schmiedle kommen. Vielleicht ist ja doch noch etwas zu retten.«

Zähneknirschend machte Dr. Lammers den Weg zur Tür frei. Er sah dem Verwaltungsdirektor nach, als er grußlos den Raum verließ. Es kam nicht oft vor, dass er mit seinem Latein am Ende war. An diesem Abend war es so weit. Einen kurzen Moment lang haderte Volker mit sich, ob er nicht einfach die Kündigung einreichen und sich aus dem Staub machen sollte. Doch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder.

»Diese Kinderabteilung ist nichts ohne mich«, murmelte er, während er in seine Abteilung zurückkehrte. Er war kein Mensch, der schnell aufgab. Und lieber hätte er sich die rechte Hand abgehackt, als Felicitas Norden diesen Triumph zu gönnen.

*

»Wann hast du eigentlich in München gewohnt?«, erkundigte sich Svenja Wagenknecht.

Kurz vor Ende der Autobahn war sie aufgewacht und hatte den Olympiaturm entdeckt. »Und wie lange?«

Viola setzte den Blinker und fuhr die Ausfahrt hinaus. Als das Ortsschild auftauchte, bremste sie den Wagen weiter ab.

»Das ist bestimmt dreißig Jahre her, während meines Studiums«, erwiderte sie. »Ich wollte unbedingt Raumplanung studieren. Das gab es in meiner Heimatstadt nicht.«

»Wahrscheinlich hast du dir dieses Fach ausgesucht, um einen Grund zu haben, aus diesem Kaff wegzukommen«, bemerkte Svenja grinsend.

Viola schickte ihrer Tochter einen verwunderten Seitenblick.

»Wie kommst du denn darauf? Natürlich habe ich genug Kaffee abbekommen. Aber ehrlich gesagt haben wir auf unseren Partys mehr Bier und Wein getrunken als Kaffee.«

Diesmal war Svenja sicher, sich nicht getäuscht zu haben.

»Sag mal, Mama, kann es sein, dass du schlecht hörst?«

»Was soll ich schwören?«

Svenja schüttelte den Kopf.

»Du hörst schlecht!«, wiederholte sie laut und deutlich. Diesmal verstand Viola. Sie winkte unbekümmert ab.

»Das ist beim letzten Flug passiert«, erklärte sie mit einem Blick auf das Navi, das sie zu ihrem Jugendfreund Daniel Norden lotsen sollte. »Der Druckausgleich hat nicht geklappt. Seitdem sind meine Ohren dicht. Vielleicht bitte ich Daniel, mal einen Blick hineinzuwerfen.«

»Wann hast du ihn eigentlich kennengelernt?«, fragte Svenja mit erhobener Stimme.

Ein versonnenes Lächeln spielte um Violas Lippen, als sie sich an ihre Sturm- und Drangzeit erinnerte.

»Das war auf einer unserer legendären Partys im Studentenwohnheim. Ich hatte dort ein Zimmer. Soviel ich weiß, lebte Daniel noch daheim. Aber die Feten hat er sich natürlich nicht entgehen lassen.« Sie war so versunken in ihre Erinnerungen, dass sie das Navi überhörte und prompt verpasste, abzubiegen.

»Wir sind falsch!«, machte Svenja ihre Mutter aufmerksam. »Du hättest da hinten abbiegen müssen.«

»Wie dumm von mir.« Seufzend sah sich Viola nach einer Wendemöglichkeit um und fand sie bald darauf auch. Während sie umdrehte, kehrten Svenjas Gedanken zur Vergangenheit ihrer Mutter zurück. Unweigerlich musste sie auch an ihren Vater denken, an den sie sich noch nicht einmal erinnern konnte.

»Und auf einer dieser Feten hast du auch Kai kennengelernt?« Sie hatte diese Frage schon oft gestellt und nie eine Antwort bekommen. Vielleicht war dies eine bessere Gelegenheit. Jetzt, da sie zum allerersten Mal gemeinsam die Stadt besuchten, mit der ihrer beider Schicksal so eng verwoben war.

Violas Miene verschloss sich. Sie schüttelte den Kopf.

»Das war viel später. Da habe ich schon gearbeitet. Aber ich will nicht darüber reden.«

»Mensch, Mama, das ist nicht fair!« Wie immer, wenn die Sprache auf Kai kam, war die gute Stimmung zwischen Mutter und Tochter mit einem Mal vergiftet.

Viola presste die Lippen aufeinander und starrte stur geradeaus durch die Windschutzscheibe. Der vorwurfsvolle Blick ihrer Tochter brannte auf ihrem Gesicht.

»Wenn du deinen Vater kennen würdest, würdest du mich verstehen«, presste sie hervor. »Er war ein verantwortungsloser Mensch. Schon damals hat er sich nicht für seine Pflichten interessiert. Und sich schon gar nicht um dich gekümmert.«

Diesmal überhörte Viola die Stimme des Navigationssystems nicht. Insgeheim atmete sie auf.

»Wir sind da!«. Sie deutete auf das Haus der Nordens, das zu ihrer Rechten auftauchte.

Es stand inmitten eines herrlichen Gartens, umgeben von Bäumen und blühenden Sträuchern. Überall brach sich der Frühling Bahn. Fees wohlgeordnete Wildnis blühte in schönster Pracht, es summte und brummte in jeder Ecke.

»Wir reden eine andermal weiter. Und jetzt mach nicht so ein Gesicht! Meine Freunde sollen doch keine Angst vor dir haben.« Viola parkte den Wagen am Straßenrand, stellte den Motor ab und sah hinüber zum Haus. Als Fee und Daniel aus der Tür traten, hob sie die Hand und winkte.

*

Nach seinem Besuch beim Klinikchef hatte es auch Dr. Matthias Weigand eilig, nach Hause zu kommen. Nach ein paar Einladungen zum Tee – seine Kollegin Dr. Sandra Neubeck trank keinen Kaffee – hatte er endlich Stufe zwei gezündet und sie zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Die Vorbereitungen waren gerade abgeschlossen, und ein leckeres Currygericht schmorte auf dem Ofen, als es klingelte.

»Hmmm, hier riecht es ja schon sehr verführerisch«, bemerkte Sandra nach der Begrüßung und hob schnuppernd die Nase. »Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst.«

»Es hat lange genug gedauert, bis ich danach nicht mehr in die Klinik musste, um mir den Magen auspumpen zu lassen«, erwiderte Matthias. Er schloss die Tür hinter ihr. Galant nahm er ihr die Jacke ab und führte sie ins Wohnzimmer. Noch immer konnte er sein Glück nicht fassen.

Schon seit langer Zeit war er mehr oder weniger verzweifelt auf der Suche nach einer Frau. Bisher waren die meisten Beziehungsversuche an seinen Arbeitszeiten als Notarzt in einer Klinik gescheitert. Kaum eine Partnerin hatte Verständnis dafür, einen Kinofilm allein zu Ende zu sehen oder Hals über Kopf von einem Ausflug zurückzukehren. Spätestens, wenn die erste Verliebtheit vorbei war, schwand das Verständnis schlagartig und die Beziehung war quasi vorbei. Mit Sandra würde ihm all das nicht passieren. Als Assistenzärztin kannte sie die Probleme und hatte all das schon selbst erlebt.

»Erde an Matthias, Erde an Matthias, bist du noch in der Umlaufbahn?«

Ihre Frage weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er lächelte verlegen.

»Tut mir leid. Ich war mit den Gedanken gerade woanders.«

»Ach, wirklich? Das ist fast gar nicht aufgefallen«, neckte sie ihn gutmütig.

»Darf ich dir ein Glas Wein anbieten?«

»Vor dem Essen?« Sie schlenderte durch das Zimmer und sah sich um. Vor seiner Bilderwand blieb sie stehen und betrachtete die gesammelten Werke, die er zu einer geschmackvollen Komposition zusammengestellt hatte. Ein laszives Lächeln auf den Lippen drehte sie sich zu ihm um. »Lass mich raten! Du willst mich betrunken machen, um mich direkt in deine Höhle zu schleppen«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

Matthias hatte inzwischen den Wein entkorkt und zwei Gläser eingeschenkt. Eines davon reichte er ihr.

»Du kannst Gedanken lesen.«

Sandra lachte leise und trank einen Schluck. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.

»Du offenbar nicht.«

Matthias runzelte die Stirn. Mehr als einmal hatte er bereits festgestellt, dass Sandra außerhalb der Klinik ein anderer Mensch war. Frech, geheimnisvoll und voller Widersprüche. Eine aufregende Mischung.

»Aha!« Mehr fiel ihm zu ihrer Bemerkung nicht ein.

»Sonst wüsstest du, dass du dich vor mir in Acht nehmen solltest«, klärte sie ihn auf.

Diese Frau wusste wirklich, wie man einen Mann um den Verstand brachte!

»Muss ich das?«, fragte er heiser und kam so nah, dass ihre Gesichter nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. Die hellen Sprenkel in ihrer dunklen Iris leuchteten wie Sterne.

»Kommt darauf an, ob du dir die Finger verbrennen willst.«

»Die Finger nicht. Aber den Mund vielleicht.« Schon wollte Matthias sie küssen, als sie ihm sanft aber bestimmt die Hand auf die Brust legte.

»Was riecht denn hier so komisch?«

Matthias erschrak. »Mein Gemüsecurry. Verdammt!« Er stellte das Glas auf dem Klavier ab und eilte hinüber in die Küche, wo Rauch aus dem Topf quoll. Er riss ihn vom Herd und öffnete weit das Fenster.

»Deine Platzwunde ist offenbar nicht folgenlos verheilt.« Sandra lehnte in der Tür und beobachtete ihn, wie er prüfend im Topf rührte. »Leidest du öfter unter Gedächtnisstörungen?« Sie stieß sich vom Türrahmen ab und kam näher.

»Nur, wenn du in der Nähe bist.« Matthias gab seinen Rettungsversuch auf. »Ich fürchte, wir müssen den Lieferservice bemühen.«

»Oder wir verzichten auf die Hauptspeise und gehen gleich zum Dessert über«, bot sie an und legte die Hand in seinen Nacken.

»Ist das ein unmoralisches Angebot?«, fragte Matthias, während er ihr das Glas aus der Hand nahm. »Eigentlich hatte ich mir für heute nur vorgenommen, dich zu küssen.« Er zog sie an sich und sah ihr tief in die Augen.

»Für so bescheiden hatte ich dich gar nicht gehalten«, gurrte sie und schmiegte sich an ihn.

»Heutzutage muss ein Mann vorsichtig sein. Am Ende bekomme ich noch eine Anzeige wegen Vergewaltigung.« Mit einem kräftigen Ruck hob er sie hoch und trug sie über den Flur hinüber ins Schlafzimmer. In Erwartung der Dinge, die er gleich mit ihr anstellen würde, spürte er ihr Gewicht nicht.

»Ich kann immer noch behaupten, dass du mich gegen meinen Willen überwältigt hast.« Sie knabberte an seinem Ohr.

»Das würdest du tun?« Matthias legte sie aufs Bett und kniete sich über sie.

»Probier’s aus, wenn du dich traust!«, forderte sie ihn auf und zog ihn zu sich hinunter.

*

»Heute gibt es hausgemachte Matjesfilets mit Pellkartoffeln und Salat«, erklärte Lenni, die ehemalige Haushälterin der Familie Norden. Seit es in dem Arzthaushalt kaum mehr Arbeit für sie gab, hatte sie sich umorientiert. Mit tatkräftiger Unterstützung ihres Lebensgefährten Oskar arbeitete sie seit einiger Zeit im Kiosk der Behnisch-Klinik.

Leidenschaftliche Köchin, die sie war, ließ sie sich aber das Kochen für Gäste nicht nehmen. Wann immer Besucher im Hause Norden zum Essen blieben, schwang sie munter den Kochlöffel. »Ich hätte ja etwas richtig Aufregendes auf den Tisch gestellt. Zum Beispiel Linsen auf äthiopische Art«, sagte sie zu Viola und Svenja, als sie die Schüsseln auf den Tisch stellte. »Aber mein Chef und seine Frau sind ein wenig spie… konservativ. Zumindest, was das Essen angeht.« Diese Spitze hatte ihren Grund in dem Abendessen, das sie anlässlich des Besuchs von Danny und Tatjana serviert hatte. Nur die Freundin des Juniors war voll des Lobs gewesen. Alle anderen hatten mehr oder weniger offen ihr Missfallen zum Ausdruck gebracht, was Lenni nachhaltig verstimmte.

Um ein Haar wäre Svenja in prustendes Lachen ausgebrochen. Gerade noch rechtzeitig schlug sie die Hand vor den Mund.

»Nur, weil wir keinen Karotten-Reis-Auflauf mit Rosinen mögen, sind wir noch lange keine Spießer«, reklamierte Felicitas und wollte schon fortfahren, als sie eine Hand auf der ihren spürte.

»Ihr Matjesfilet ist einfach genial.« Daniel lächelte Lenni gewinnend an. »Das wollten wir unseren Gästen auf keinen Fall vorenthalten. Und die Linsen probieren wir einfach ein andermal.«

Die Haushälterin schmolz dahin wie Schnee in der Sonne.

»Zuerst bekommen Sie von mir den Pichelsteiner, den Sie sich so sehr gewünscht haben«, versprach sie ihm. Ganz kurz sah sie so aus, als ob sie ihn am liebsten in die Wange gekniffen hätte wie einen kleinen Jungen. Zum Glück beherrschte sie sich und tänzelte förmlich aus dem Esszimmer.

Belustigt sah Viola ihr nach.

»Eine reizende Person.«

»Lenni ist ein Schatz und hat das Herz auf dem rechten Fleck«, bestätigte Daniel. »Leider hat sie einen Charme wie ein Reibeisen. Das macht die Sache manchmal nicht ganz leicht«, fügte er leiser hinzu.

Svenja bemerkte den seltsamen Blick, den Viola ihrem Freund zuwarf. Sie wusste genau, dass ihre Mutter wieder einmal nicht verstanden hatte. Um sich vor den Freunden nicht zu verraten, stellte sie aber keine Fragen, sondern begann zu essen.

Zu Svenjas Erleichterung verlief die Mahlzeit ohne weitere Zwischenfälle. Viola stellte viele Fragen, sodass sie selbst nicht viel antworten musste. Eine Strategie, die sie im Laufe der Zeit entwickelt hatte, um ihre Defizite vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Lediglich ihrer Tochter konnte sie nichts vormachen. Svenja beobachtete sie mit Argusaugen. Für sie musste sie sich immer neue Ausreden einfallen lassen. Doch wie lange würde ihr Kind ihr noch glauben? Zum Glück musste sie sich aber zumindest an diesem Abend nicht mit dieser Frage beschäftigen.

Zufrieden schob sie das Dessertschüsselchen von sich und leckte die restliche Vanillecreme von den Lippen.

»Wie macht ihr das nur, dass ihr so schlank seid? Mit einer Köchin wie Lenni wäre ich längst kugelrund.« Viola sah hinüber zu der Haushälterin, die mit einem Tablett ins Zimmer kam.

»Wie gesagt, nicht alle schätzen meine Kochkünste so wie Sie«, brummte Lenni.

Daniel verdrehte die Augen, als Svenja die Situation kurzentschlossen rettete.

»Kann ich etwas helfen?«, fragte sie und sprang auf, um sich nützlich zu machen. Nebenbei verstrickte sie Lenni in ein Gespräch über die Zubereitung der Vanillecreme.

Daniel sah den beiden nach, wie sie schwatzend in der Küche verschwanden.

»Da hast du ja ein richtiges Goldstück großgezogen«, lobte er überschwänglich.

»Vielen Dank.« Viola freute sich sichtlich über das Kompliment. »Sie hat es mir aber auch leicht gemacht.«

»Und trotz Kind ist es dir gelungen, Karriere zu machen«, bemerkte Fee anerkennend und schenkte Wasser nach. »Daniel hat erzählt, du bist hier, um einen Vortrag zu halten.«

Viola nickte.

»Das ist richtig. Ich wurde von der Akademie ›Netzwerk der Wissensvermittlung‹ eingeladen, meinen Vortrag ›Grenzen als konstituierende und variable Merkmale des Regionalen‹ zu halten.«

»Hui, das klingt aber sehr kompliziert.«

»Wenn man sich ein bisschen mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist es das gar nicht.« Viola war in ihrem Element und erzählte von ihrem Fachgebiet. »Besonders glücklich bin ich, dass mich Svenja diesmal begleitet«, schloss sie ihren Bericht. »Es macht doch viel mehr Spaß, zu zweit unterwegs zu sein, als ständig allein durch die Gegend zu gondeln.«

Fee lag die Frage nach einem Lebenspartner auf der Zunge. Da Viola aber selbst nichts darüber sagte, verzichtete sie wohlweislich darauf.

»Was macht Svenja, solange du mit dem Vortrag beschäftigt bist?«, fragte sie stattdessen.

Viola saß nah bei Fee und beobachtete sie genau. Die Worte, die sie nicht verstand, las sie von den Lippen ab.

»Sie will sich ein bisschen in München umsehen und hat sich auch schon bei einer Stadtführung für junge Leute angemeldet.« Viola gähnte mit vorgehaltener Hand. Sie sah auf die Uhr. »Seid ihr mir böse, wenn ich jetzt schon ins Bett gehe? Die Fahrt hat mich müde gemacht.«

Daniel wunderte sich. Violas Wohnort lag gerade einmal vier Autostunden entfernt. Für die Strecke hatte sie sich einen ganzen Tag Zeit genommen.

»Natürlich nicht«, versicherte er schnell und wollte aufstehen, um sie zum Gästezimmer zu bringen.

Sie ahnte seine Absicht und bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.

»Keine Sorge, ich finde den Weg schon«, versprach sie.

Fee und Daniel sahen ihr nach, wie sie das Esszimmer durchquerte. Zuerst war alles ganz normal. Doch plötzlich wirkten ihre Schritte unsicher. Einmal schwankte sie gefährlich. Der Türrahmen bewahrte sie vor einem Sturz. Sie blieb kurz stehen, um sich zu sammeln. Als hätte sie ihre Gastgeber vergessen, verließ sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Zimmer.

Daniels Augen waren schmal geworden.

»Wenn ich nicht ganz sicher wäre, dass Viola nur Wasser hatte, würde ich sagen, dass sie angetrunken ist.«

»Sie trinkt schon seit fast einem Jahr keinen Tropfen mehr. Trotzdem hat sie diese Ausfälle immer wieder.« Es war Svenjas Stimme, die aus dem Hintergrund kam.

Sie stand in der Küchentür und putzte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Außerdem ist sie manchmal schwerhörig. Wenn ich sie darauf anspreche, kommt sie immer mit irgendeiner Ausrede daher. Heute auf der Fahrt hat sie zum Beispiel behauptet, dass sie seit dem letzten Flug nicht mehr so gut hört. Dabei stimmt das gar nicht.« Sie war an den Tisch gekommen und ließ sich auf den Stuhl fallen. Mit ratloser Miene musterte sie den grau-beige gemusterten Teppich unter dem Esstisch. Schließlich hob sie den Blick. »Manchmal mache ich mir richtig Sorgen um sie.«

»Verständlich«, erwiderte Daniel.

»Das würde mir nicht anders gehen«, stimmte Fee zu. »Denkst du, dass deine Mutter krank ist?«

Svenja zuckte mit den Schultern.

»Zumindest stimmt etwas nicht mit ihr. Und ich wüsste wirklich gern, was das ist. Immerhin ist Mama der einzige Mensch, den ich habe.«

Eine Weile sagte keiner ein Wort. Das Geschirrgeklapper von nebenan zeugte davon, dass Lenni noch voll in Aktion war.

»Ich könnte versuchen, deine Mutter zu einer Untersuchung zu überreden«, sagte Daniel nach einer gefühlten Ewigkeit.

Svenjas Miene erhellte sich. Damit sprach er genau das aus, worüber sie die ganze Zeit schon nachdachte.

»Das wäre wirklich toll.« Sie legte das Geschirrtuch auf den Tisch und stand auf. »Ich gehe dann auch mal ins Bett.« Sie zögerte, eine Hand auf der Lehne des Stuhls. »Wissen Sie etwas über meinen Vater? Oder warum die beiden sich getrennt haben?«

»Leider nein.« Daniel schüttelte den Kopf. »Daraus hat Viola schon immer ein großes Geheimnis gemacht«, musste er zu seinem Bedauern gestehen. »Ich weiß nur, dass sie überglücklich über dich war. Und offenbar immer noch ist.« Ein warmes Lächeln begleitete seine Worte.

Svenja schnitt eine Grimasse.

»Das ist ja immerhin schon etwas«, erwiderte sie, ehe sie sich für diesen Abend endgültig verabschiedete. Ratlos und sichtlich gerührt blieb das Ehepaar Norden zurück.

*

Die kleine Bar, die der Stadtrat Karl Schmiedle als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, lag in einer ruhigen Ecke der Stadt. Um ein Haar hätte Dieter Fuchs den Eingang gar nicht gefunden. Er drückte die Tür auf und trat ein. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich seine Augen an das schummrige Halbdunkel gewöhnt hatten.

»Na, endlich!«

Fuchs zuckte zusammen und wirbelte herum.

»Müssen Sie mich so erschrecken!«, fuhr er den Stadtrat an, der hinter ihm stand.

»Müssen Sie mich so lange warten lassen?«, folgte die Gegenfrage auf dem Fuß. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich noch andere Verpflichtungen.«

»Was wissen Sie schon von meiner Arbeit!«, erwiderte Dieter Fuchs beleidigt und schob sich auf einen der Barhocker, die am Tresen standen.

Spielautomaten in einer Ecke dudelten die immer gleiche Melodie. Aus den Lautsprechern tönten blechern Schlagermelodien.

»Nicht viel. Außer, dass Sie diesem Despoten Norden offenbar hilflos ausgeliefert sind.«

»Aber … aber …« Händeringend suchte Fuchs nach einer Ausrede.

Milde lächelnd unterbrach Karl Schmiedle ihn.

»Geben Sie sich keine Mühe. Sie haben Ihre Chance vertan. Das Spiel ist aus.« Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. Er griff nach dem einsamen Pilsglas auf dem Tresen und genehmigte sich einen tiefen Zug.

Dieter Fuchs rang um seine Fassung.

»Wie meinen Sie das? Neulich sprachen Sie noch von vierzehn Tagen. Das bekommen wir hin. Sie dürfen den kleinen Rückschlag nicht überbewerten«, verlangte er hastig.

Schmiedle schüttelte den Kopf.

»Leider haben mir die Stadträte einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie haben Wind bekommen von meiner Beteiligung an der Investorengemeinschaft. Ein Untersuchungsausschuss wird sich der Sache annehmen.« Mit dem Glas in der Hand stand er da und dachte über seine unsichere Zukunft nach. »Ich sehe stürmischen Zeiten entgegen.« Wieder trank er einen Schluck Pils. »Wenn die Sache mit dem Zusammenschluss schon über die Bühne wäre, könnte niemand mehr daran rütteln. Aber so.« Er maß Dieter Fuchs mit nachdenklichem Blick. »Es ist vorbei.«

Damit hatte Dieter Fuchs schon die ganze Zeit halbwegs gerechnet. Aber nicht so schnell. Noch hatte er die Hoffnung gehabt, den einen oder anderen Vorteil aus der Angelegenheit zu ziehen. Diese Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase.

»Das ist wirklich sehr schade.« Er sah auf die Uhr und rutschte vom Barhocker. Zeit war Geld. Und hier gab es nichts mehr zu holen. Egal, wie lange er noch in dieser Spelunke sitzen würde. »Aber offenbar nicht zu ändern. Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Er wandte sich zum Gehen.

»Ihnen auch. Sie können es brauchen«, rief Karl Schmiedle ihm nach.

Fuchs erschrak.

»Wie meinen Sie das?«

Ein süffisantes Lächeln spielte um die Lippen des Stadtrats.

»Nun ja, immerhin taucht Ihr Name als möglicher Verwaltungsdirektor in den Protokollen der Investoren-Gruppe auf. Der Untersuchungsausschuss wird ein paar Fragen an Sie haben.«

Dieter Fuchs wurde es heiß und kalt.

»Wer ist dafür verantwortlich?«, fragte er scharf.

»Sie selbst. Oder wollen Sie leugnen, dass Sie auf diesen Posten spekuliert hatten, als Sie mir versprachen, Norden von seinem Thron zu stoßen.« Diesmal war es Karl Schmiedle, der auf die Uhr sah. »Leider muss ich mich jetzt verabschieden. Noch einmal: Alles Gute!« Er nickte Dieter zu, ehe er das leere Glas auf den Tresen stellte und das Etablissement verließ.

Der Verwaltungschef der Behnisch-Klinik stand da und sah ihm nach. War das die Rache dafür, dass es ihm nicht gelungen war, den Plan in die Tat umzusetzen? Ein Bluff? Oder schwebte er wirklich in Gefahr? Dieter Fuchs wusste es nicht. Und es blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten.

*

Matthias lag in den Kissen und ließ den Zeigefinger versonnen über Sandras perfekte Schulterlinie gleiten. Schon lange hatte er nicht mehr so einen Frieden, eine Seligkeit und Glück gespürt wie mit dieser Frau. Er segelte immer noch auf einer flaumigen Wattewolke, als plötzlich Bewegung in Sandra kam. Sie wickelte die Bettdecke um sich und setzte sich auf. Ehe Matthias begriff, was los war, suchte sie im Schein des Kerzenlichts ihre Siebensachen zusammen.

»Was tust du da?«, fragte er matt und sah ihr nach, wie sie in Richtung Bad verschwand.

»Wonach sieht es denn aus?«, fragte sie ungeniert zurück.

Eine kalte Dusche hätte nicht effektiver sein können. Die Wattewolke löste sich auf, und unsanft landete Matthias auf dem harten Boden der Realität.

»Stimmt was nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte er zutiefst verunsichert.

»Wenn du jetzt von mir hören willst, wie toll du warst, muss ich dich leider enttäuschen.« Ihre Stimme hallte von den Fliesen wider. »Diese Sorte Komplimente habe ich nicht im Angebot.«

Inzwischen war Matthias in Boxershorts und T-Shirt geschlüpft und saß auf der Bettkante. Er verstand die Welt nicht mehr.

Fix und fertig angezogen, kam Sandra ein paar Minuten später aus dem Bad. Als sie ihn dort sitzen sah, lachte sie.

»Jetzt schau mich doch nicht mit diesem Hundeblick an!«, verlangte sie. Als sie an ihm vorbei ging, um ihr Armkettchen zu holen, wuschelte sie ihm durch das Haar. »Es war sehr schön mit dir. Nachdem wir aber noch nicht verheiratet sind, nehme ich mir die Freiheit, jetzt zu gehen. Ich muss dringend noch etwas erledigen.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Für einen Arzt sind solche Zeiten völlig normal. Das solltest du doch am besten wissen.« Sie beugte sich über ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wir sehen uns morgen in der Klinik. Ich habe Spätdienst.«

Im nächsten Moment war sie verschwunden.

Matthias hörte das eilige Tappen ihrer Schritte im Flur, die Wohnungstür fiel ins Schloss. Rumpelnd setzte sich der Aufzug in Bewegung, kurz darauf fiel unten die Haustür ins Schloss. Dann war alles still. Wie betäubt saß Matthias auf dem Bett und starrte Löcher in den Boden. Hin und wieder zerriss ein vorbeifahrendes Auto die Stille. Irgendwann sah er auf den Wecker. Es war nach elf Uhr.

»Was zum Kuckuck muss sie um diese Uhrzeit erledigen?«, murmelte er mit einem Anflug von Ärger.

Ermattet schleppte er sich ins Bad, um zu duschen. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er noch nichts zu essen bekommen hatte. Doch Matthias hatte keine Energie, sich etwas zu suchen, und putzte stattdessen die Zähne. Beim Blick in den Spiegel erschrak er. Im gleißenden Licht meinte er plötzlich, dem Grund für Sandras Flucht ins Auge zu starren. Der anstrengende Beruf hatte seine Spuren in sein Gesicht gezeichnet. Mit erschreckender Klarheit stellte er fest, dass die Falte zwischen den Augen tiefer geworden war. Genau wie die Streifen, die sich links und rechts seiner Nase am Mund vorbei nach unten zogen.

Zutiefst verunsichert löschte er das Licht im Bad und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Bisher hatte Matthias Weigand gedacht, die ewige Jugend gepachtet zu haben. Doch plötzlich fühlte er sich uralt und fragte sich, ob er die Hoffnung auf ein dauerhaftes Liebesglück nicht einfach endgültig begraben sollte.

*

Am nächsten Morgen war Felicitas Norden schon früh in die Klinik aufgebrochen. Svenja dagegen schlief noch, als Daniel mit Viola am üppig gedeckten Frühstückstisch saß.

»Das ist ja wie im Hotel hier«, freute sie sich über frische Früchte mit Joghurt, Käseplatte und Rührei. »Ich werde eine Bewertung im Internet schreiben und das Hotel Norden wärmstens weiterempfehlen. Die Leute werden euch die Bude einrennen.«

Daniel lachte.

»Zumindest Lenni würde sich freuen. Dann hätte sie endlich wieder eine Aufgabe.«

Unvermittelt wurde Viola ernst.

»Ich stelle es mir schlimm vor, nicht mehr gebraucht zu werden.« Sie biss in ihr Brötchen und kaute nachdenklich.

»Keine Sorge. Dieses Problem hat Lenni nicht.« Daniel berichtete von der neuen Aufgabe im Klinikkiosk.

Doch es gelang ihm nicht, Viola aufzumuntern.

»Ein Glück, dass sie noch so rüstig ist«, murmelte sie. »Es ist ja nicht selbstverständlich, in diesem Alter noch gesund zu sein.«

»Das stimmt. Abgesehen davon ist Lenni ja nicht allein. Ihr Lebensgefährte Oskar unterstützt sie mit Rat und Tat.« Geschickt lenkte Daniel das Gespräch in die gewünschte Richtung. »Hast du eigentlich wieder einen Partner?«

Energisch schüttelte Viola den Kopf.

»Die Geschichte mit Kai hat mir gereicht. Ich bin bis an mein Lebensende bedient.«

Daniel Norden musste einsehen, dass dieser Versuch, Viola die Wahrheit zu entlocken, gescheitert war. Doch nicht umsonst hatte er es auf seine alten Tage noch bis zum Klinikchef gebracht. Seine Hartnäckigkeit war sprichwörtlich.

»Dafür hast du eine reizende Tochter«, fuhr er schnell fort.

Als Viola an Svenja dachte, wurden ihre Gesichtszüge weich.

»Es freut mich sehr, dass ihr sie mögt. Hoffentlich hat sie euch gestern Abend nicht aufgehalten.« Fast schüchtern sah sie zu ihrem Jugendfreund hinüber. »Über was habt ihr euch denn unterhalten?«

Diese Frage kam Daniel gerade recht. Er dachte nicht im Traum daran, ein Geheimnis aus dem Gespräch zu machen.

»Svenja macht sich Sorgen um dich.« Er sprach extra laut, damit Viola ihn auch sicher verstand.

Sie lachte unsicher.

»Warum das denn?«

In diesem Moment schlüpfte Daniel Norden in eine andere Rolle. Aus dem Freund wurde der verantwortungsbewusste Arzt. Er lehnte sich vor und sah Viola durchdringend an.

»Vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken«, erklärte er. »Ich weiß, dass du in den letzten Monaten mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hast.«

Viola schluckte.

»Hat Svenja das erzählt?«

Daniel nickte.

»Außerdem ist es Fee und mir gestern Abend selbst aufgefallen. Deine Gleichgewichtsstörungen, die Schwerhörigkeit … Er ließ Viola keine Gelegenheit zu leugnen. »Wie funktioniert das in deiner verantwortungsvollen Position?«

Um ihren nervösen Händen etwas zu tun zu geben, griff Viola nach der Serviette.

»Na ja, mit etwas Erfahrung kann man das schon ausgleichen«, gestand sie leise. »Wenn ich gehe, achte ich meistens darauf, dass eine Wand in der Nähe ist. Irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann. Die Schwerhörigkeit kompensiere ich durch Lippenlesen. Das funktioniert ganz gut, wenn auch längst nicht immer. Dann stelle ich einfach möglichst viele Fragen, damit meine Gesprächspartner von mir abgelenkt sind.«

»Raffinierte Tricks einer cleveren Frau«, machte Daniel ihr ein Kompliment.

Viola lächelte geschmeichelt.

»Pass auf, dass deine Frau das nicht hört. Nicht, dass sie noch eifersüchtig wird.«

»Fee hat keinen Grund dazu, und das weiß sie nach all den Jahren auch.«

»Ihr seid ein beneidenswertes Paar«, seufzte Viola.

Doch Daniel hatte noch ein paar Fragen und kehrte zum Thema zurück.

»Das kannst du auch noch schaffen. Aber natürlich müssen wir vorher dafür sorgen, dass du gesund wirst«, erklärte er mit liebevoller Strenge. »Warum warst du noch nicht beim Arzt?«, fragte er aufs Geratewohl. Er traf ins Schwarze.

»Krank sein passt einfach nicht zu mir. Außerdem wollte ich Svenja nicht verunsichern.« Sie sah Daniel mit großen, fragenden Augen an. »Hast du einen Verdacht, was mir fehlen könnte?«

Die Frage war berechtigt, und wenn Dr. Norden ehrlich gewesen wäre, hätte er sie bejahen müssen. Doch er war ein seriöser Arzt. Ohne eingehende Untersuchung würde kein Sterbenswörtchen über seine Lippen kommen.

»Ich möchte dich bitten, mit in die Klinik zu kommen. Dort können wir ein paar Untersuchungen machen, um herauszufinden, womit wir es zu tun haben.« Er sah den Widerspruch in ihren Augen. »Wenn du es nicht für dich tun willst, dann wenigstens für Svenja.«

Wieder Erwarten lachte Viola auf.

»Du kämpfst mit unfairen Mitteln«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Genau wie damals, als mein Kommilitone drauf und dran war, dir deinen Flirt auszuspannen. Erinnerst du dich?« Als sie an diese unbeschwerte Zeit dachte, huschte ein glückliches Leuchten über ihr Gesicht. »Du hast den Kerl ins Bad gelockt und dort eingeschlossen. Deinem Flirt hast du erzählt, dass er heimgegangen ist.«

Daniel lachte kopfschüttelnd.

»Habe ich das wirklich getan? Bist du sicher? Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.«

»Du schwindelst!«, kicherte Viola und deutete auf die roten Flecken, die auf seinen Wangen erschienen und seine Verlegenheit verrieten.

»Also gut, ja, ich habe es getan«, gestand er schmunzelnd. »Und du? Wirst du es auch tun? Mit mir in die Klinik kommen?«

»Damit du mich einsperrst?« Ihr Lachen konnte ihre Angst nicht verbergen.

»Um dir zu sagen, dass alles nicht so schlimm ist«, korrigierte er sie mit warmer Stimme. Als er die Tränen in ihren Augen bemerkte, legte er seine Hand auf die ihre. »Wann musst du deinen Vortrag halten?«

»Heute Nachmittag.«

Damit war die Entscheidung getroffen, und nur zehn Minuten später machte sich Daniel Norden in Begleitung seiner Jugendfreundin auf den Weg in die Klinik.

*

»Hast du schon gehört? Der Lammers war angeblich in einem Stripclub und hat dort seinen Parkausweis für den Klinikparkplatz verloren«, berichtete Schwester Elena ihrem Kollegen Weigand, der am Schreibtisch in der Notaufnahme saß und stumpf vor sich hin starrte.

Sie stand auf einem Schemel am Schrank und packte Büromaterial in die oberen Fächer.

»Hmmm.«

Unbeeindruckt fuhr Elena fort.

»Aber das ist noch nicht alles. Eine leichtbekleidete Dame ist heute früh in der Klinik aufgetaucht und hat ihn am Empfang antanzen lassen.« Sie gluckste vor Schadenfreude. »O Mann, ich wäre zu gern dabei gewesen, als er ihn abgeholt hat.«

»Hmmm.«

Elena klappte die Schranktür zu und kletterte von ihrem Schemel. Sie blieb neben dem Schreibtisch stehen und sah auf Matthias hinunter.

»Kannst du eigentlich auch ein bisschen leiser schweigen?«, versuchte sie, ihn aus der Reserve zu locken. Er war einer ihrer Lieblingskollegen und eigentlich immer zum Scherzen bereit. »Dieser Lärm macht mich richtig nervös.«

Endlich drehte er sich um und sah zu ihr hoch.

»Du mich auch mit deinem Geplapper!«, fuhr er sie so schroff an, dass sie erschrocken zurückwich. »Wie kann man am frühen Mor­gen­ nur so penetrant gesprächig sein?«, fragte er noch, als Elena über den Schemel stolperte und mit einem Aufschrei rückwärts zu Boden stürzte.

Endlich kam Matthias zu Bewusstsein. Er sprang vom Stuhl auf und eilte seiner Kollegin zu Hilfe.

»Du liebe Zeit, hast du dir weh getan?«, fragte er, während er ihr hoch half.

»Für die Hämatome verklage ich dich«, schimpfte sie und zog das Hosenbein hoch, um den Schaden zu begutachten.

»Komm schon, hab Mitleid mit einem alten, einsamen Arzt. Als Wiedergutmachung lade ich dich auf eine Erdbeerschaumrolle ins ›Allerlei‹ ein.«

Elenas Augen begannen zu glänzen. Tatjanas Backwaren suchten in der ganzen Stadt nach ihresgleichen.

»Mit Kaffee?«

»Latte Macchiato, Espresso, Cappuccino … Was dein Herz begehrt.«

»Wenn das so ist, darfst du mich gern morgen wieder über den Schemel werfen.«

Matthias lachte auf. Zufrieden damit, ihren Lieblingskollegen wenigstens vorübergehend aufgeheitert zu haben, machte sich Elena wieder an die Arbeit.

Auch Matthias Weigand schaltete endlich den Computer ein, als das Telefon klingelte. Ein Mann war von seiner Haushaltshilfe bewusstlos in seinem Haus gefunden worden und nun mit dem Krankenwagen auf dem Weg in die Klinik.

Als der angekündigte Notfall eintraf, wartete Dr. Weigand schon an der Pforte der Notaufnahme.

»Patient männlich, Mitte sechzig, nicht bei Bewusstsein. Verdacht auf eine Aneurysmablutung«, teilte ihm der Rettungsarzt Erwin Huber mit. Er reichte Dr. Weigand ein Formular mit allen nötigen Informationen, die er in der Kürze der Zeit zusammengetragen hatte.

»Danke. Ich hoffe, wir sehen uns heute nicht wieder.«

»Na, hör mal! Wo ich dir so einen interessanten Fall gebracht habe.« Eine gute Portion Galgenhumor machte das Geschäft um Leben und Tod leichter. Erwin Huber zwinkerte seinem Kollegen zu, ehe er sich wieder auf den Weg machte. Matthias dagegen wandte sich seinem Patienten zu.

»CT und Angio«, wies er Schwester Elena an, die den Patienten gemeinsam mit ihm betreute. »Und sagen Sie bitte dem Kollegen Merizani Bescheid. Ich brauche ihn im OP«, rief er ihr nach, ehe sie mit der Krankenliege um die Ecke verschwand.

*

Dieter Fuchs stand am Fenster seines Büros und blickte hinunter in den Garten der Behnisch-Klinik. Die ehemalige Chefin Jenny Behnisch hatte ihn nach eigenen Vorstellungen anlegen lassen. Im Laufe der Jahre und unter der Pflege kundiger Gärtner hatte sich die ehemals langweilige Grünfläche in ein wahres Paradies verwandelt. Auch hier hatte der Frühling mit aller Macht Einzug gehalten. Überall grünte und blühte es. Zahlreiche Vögel und Insekten, die aus ihren Lebensräumen vertrieben worden waren, hatten hier eine neue Heimat gefunden.

Doch der Verwaltungsdirektor hatte kein Auge für die Pracht unter ihm. Er dachte fieberhaft darüber nach, wie er seinen Posten in der Behnisch-Klinik sichern konnte. Es entsprach nicht seinem Charakter, den Kopf in den Sand zu stecken und darauf zu warten, dass ein anderer sein Schicksal besiegelte. Er gab sich einen Ruck, trat an den Schreibtisch und griff zum Hörer.

Ein paar Minuten später stand Fuchs vor dem Schreibtisch von Dr. Daniel Norden, der auf die Untersuchungsergebnisse seiner Jugendfreundin wartete.

»Was kann ich für Sie tun?« Misstrauisch musterte er den Verwaltungsdirektor. Wenn Fuchs so unvermutet auftauchte, musste man auf alles gefasst sein.

»Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch. Schließlich erhob er sich und bot seinem Besucher einen Platz in der Besucherecke an.

»Kaffee? Tee? Wasser?«

»Nichts, danke.«

Daniel Norden setzte sich in einen Sessel gegenüber. Er musterte den Verwaltungsdirektor aufmerksam. Täuschte er sich, oder strahlte der Mann Nervosität aus?

»Es gibt da etwas, was Sie wissen sollten.« Dieter hatte beschlossen, den Stier bei den Hörern zu packen. Er wollte die Sache möglichst schnell über die Bühne bringen. »Es war nicht der Kollege Lammers, der Sie aus dem Weg räumen sollte. Nachdem Sie sich gegen die Integration der Klinik in das Gesundheitszentrum gestellt haben, bekam ich den Auftrag, Sie in den Ruhestand zu schicken.« Er sah sein Gegenüber schuldbewusst an. »Sie können es nennen, wie Sie wollen. Das macht es nicht besser.«

»Wie bitte?«, hakte Dr. Norden ungläubig nach. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit so einem Geständnis. »Soll das ein Scherz sein? Wenn ja, dann finde ich ihn nicht besonders lustig.«

Der Verwaltungsdirektor schüttelte den Kopf.

»Mein Auftraggeber war das Stadtratsmitglied Karl Schmiedle. Er macht Geschäfte mit einer Investorengruppe, inkognito, versteht sich. Nach Eingliederung der Klinik in das Gesundheitszentrum sollte ich Gesamtverwaltungsdirektor werden, Lammers die Leitung der ebenfalls eingegliederten Kinderklinik übernehmen. Die Kinderstation in diesem Haus sollte aufgelöst werden.«

Zwar hatte Felicitas Norden geahnt, dass Lammers es auf ihren Mann abgesehen hatte. Doch dieses Geständnis war eine Ungeheuerlichkeit. Dr. Norden lehnte sich zurück und atmete tief durch.

»Bei allen Differenzen hatte ich Sie für einen loyalen Mann gehalten«, erklärte er sehr ernst.

»Weil ich ein loyaler Mann bin, ist nichts aus dem Deal geworden«, log Dieter Fuchs, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber keine Sorge, die Pläne sind vom Tisch, das Gesundheitszentrum gestorben. Es ist vorbei.«

Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort. Andrea Sanders Stimme wehte aus dem Vorzimmer herüber. Sie wimmelte einen Besucher ab, der den Klinikchef ohne Termin sprechen wollte. Vom Garten hallte Lachen und Kreischen herauf. Der Kinderspielplatz lag direkt unter Daniels Fenster. Wenn er eine Erholungspause brauchte, stand er gern dort und blickte hinab auf die spielenden Kinder. Ihr Lachen war Musik in seinen Ohren.

Das Schweigen machte Dieter Fuchs nervös. Er lehnte sich vor und nahm Daniel ins Visier.

»Ich habe genügend Material, damit wir uns gegen Schmiedle und seine Hintermänner wehren können.« Er hatte die Stimme gesenkt, als verriete er ein Geheimnis. »Es tut mir leid. Aber ich bin auch nur ein Mensch und nicht gefeit gegen Versuchungen.«

»Ach, wirklich? Dabei hatte ich das gerade von Ihnen angenommen.« Daniels spöttischer Blick ruhte auf dem immergleichen Cordsakko. Besaß Fuchs nur eines davon? Oder hingen mehrere Exemplare dieses grässlichen Stücks in seinem Schrank?

Fuchs wusste nicht, worauf sein Kollege abzielte, und fragte auch lieber nicht nach. Es drängte ihn, dieses Gespräch zu einem für beide Seiten positiven Ende zu bringen.

»Tja, kein Mensch ist unfehlbar«, lächelte er grashalmfein und griff nach dem Flyer, der auf dem Tisch zwischen ihnen lag. Er schlug ihn auf und blätterte eine Weile darin. »Was ist das für ein Gerät?«

»Es handelt sich um eine neue Technologie, um Tumoren in sensiblen Bereichen wie zum Beispiel dem Kopf punktgenau zu bestrahlen«, erklärte Dr. Norden bereitwillig. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ihm ein Gedanke in den Sinn kam. »Diese Art der Behandlung gibt es in Deutschland bisher nicht.«

Die farblosen Augen des Verwaltungsdirektors leuchteten auf.

»Sie meinen, die Behnisch-Klinik könnte eine Vorreiter-Rolle einnehmen?«

Er hatte angebissen.

»Genau das meine ich.« Daniel freute sich diebisch über diesen Schachzug. Er sah Dieter Fuchs dabei zu, wie er den Flyer auf den Tisch zurücklegte und aufstand.

»Holen Sie ein Angebot ein, damit ich diese Anschaffung kalkulieren kann«, bat er auf dem Weg zur Tür. »Wer weiß, vielleicht stellt auch die Stiftung Gelder zur Verfügung und unterstützt diesen ehrgeizigen Plan.« An der Tür drehte er sich zu Daniel um und reichte ihm die Hand.

»Auf gute Zusammenarbeit!« Er nickte Dr. Norden zu. »Und nichts für ungut.« Mit diesen Worten trat er durch die Tür und war wenige Augenblicke später verschwunden.

Andrea Sander an ihrem Schreibtisch musterte ihren Chef neugierig. Ein Besuch des Verwaltungsdirektors war immer spannend.

»Nanu, Sie sehen ja so zufrieden aus«, stellte sie überrascht fest.

»Stellen Sie sich vor: Fuchs erwägt, dieses Wundergerät anzuschaffen.«

»Wie bitte?«

Daniel lachte.

»Genau dasselbe habe ich auch gedacht«, gab er zu, ehe er sich auf den Weg in die Radiologie machte. Inzwischen sollten die Untersuchungsergebnisse von Viola da sein.

*

Svenja fand die Nachricht ihrer Mutter auf dem Frühstückstisch und machte sich sofort auf den Weg in die Klinik.

»Entschuldigung, wo finde ich Frau Viola Wagenknecht?«, erkundigte sie sich am Empfang.

Die Schwester suchte im Computer nach dem Namen.

»Tut mir leid. Ich kann keine Patientin finden, die so heißt.«

»Komisch.« Ratlos drehte sich Svenja um, als sie Fee entdeckte, die in Begleitung eines Kollegen geschäftig durch die Lobby lief. Ihre Blicke trafen sich.

Felicitas sagte ein paar Worte zu Dr. Naumann. Während er nickte und weiterging, ging sie auf die junge Frau zu.

»Svenja, das ist ja eine Überraschung!«, begrüßte sie sie freundlich. »Willst du lieber eine Klinikführung statt einer Stadtrundfahrt?«

Die junge Frau lächelte pflichtschuldig.

»Mama hat mir einen Zettel dagelassen, dass sie mit Daniel in der Klinik zur Untersuchung ist.«

»Ich weiß.« Natürlich hatte Daniel seine Frau informiert. Von den Ergebnissen wusste sie allerdings noch nichts. »Komm, ich bringe dich zu ihr.« Fee winkte Svenja mit sich. Unterwegs unterhielten sie sich ein wenig über dies und das, bis sie vor einer Tür Halt machten. »Ich drücke euch die Daumen, dass alles gut ist. Wenn du mich brauchst, findest du mich in der Kinderabteilung.« Eine besorgte Mutter wartete auf sie, um sich mit ihr über die weitere Behandlung ihres Kindes zu unterhalten.

Svenja zögerte. »Vielen Dank für alles«, sagte sie, die Hand auf der Klinke. »Auch dafür, dass Sie Mama überredet haben, sich untersuchen zu lassen.«

Felicitas lächelte warm.

»Dafür hat man doch Freunde, nicht wahr?« Sie zwinkerte Svenja zu und machte sich auf den Weg.

Svenja spürte, wie die Nervosität in ihr hochkroch. Was mochte sie hinter der Tür erwarten?

»Hallo, Mama!«, begrüßte sie ihre Mutter. Nachdem er Viola die Diagnose mitgeteilt hatte, hatte Daniel sie direkt in ein Krankenzimmer bringen lassen und versprochen, so schnell wie möglich wieder bei ihr zu sein. »Wie geht es dir?«

Viola saß auf einem Stuhl am Fenster und lächelte tapfer.

»Ist das nicht ein hübsches Zimmer?«, fragte sie statt einer Antwort. »Schau mal, da unten!« Als sie hinunter in den Garten deutete, zitterte ihre Hand. »Ist das nicht ein herrlicher Ausblick? Man könnte meinen, wir wären in einem Grand Hotel.« Eine Träne rann über ihre Wange.

Svenja erschrak. Schnell zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihre Mutter. Sie griff nach ihren Händen und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen.

»Was ist los, Mama? Was haben die Ärzte gesagt?«

Violas Lippen bebten so sehr, dass sie nicht sofort antworten konnte.

Svenja bekam es mit der Angst zu tun.

»Mama?«

»Sie haben in meinem Kopf einen Tumor gefunden«, murmelte Viola schließlich. »Ich muss operiert werden.«

Als Svenja vor ein paar Monaten achtzehn Jahre alt geworden war, hatte sie gedacht, endlich die magische Grenze überschritten zu haben und erwachsen zu sein. In diesem Moment bemerkte sie, dass sie sich geirrt hatte. Plötzlich fühlte sie sich wieder wie in kleines Kind. Einsam. Verlassen. Hilflos.

Trotz ihrer eigenen Angst bemerkte Viola die Erschütterung ihrer Tochter. Sie zog sie an sich und wiegte sie in den Armen.

»Hab keine Angst. Alles wird gut«, murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin.

*

Als Dr. Sandra Neubeck an diesem Nachmittag in die Klinik kam, hatte sie es so eilig, dass sie über die Kante eines Schmutzfängers stolperte. Es war ein Zufall, dass Matthias Weigand ihr genau in diesem Moment entgegenkam. Ihr Anblick erhellte seine Stimmung schlagartig.

Geistesgegenwärtig streckte er die Arme aus und fing sie auf.

»Hoppla. Heute liegen mir die Frauen scharenweise zu Füßen.« Sie lag in seinen Armen, ihr Kopf dicht vor seinem, und sah ihm in die Augen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie geküsst.

Doch Sandra machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

»Dann schlage ich vor, du suchst dir ein anderes, williges Opfer.« Sie befreite sich aus seinen Armen und fuhr sich durch das Haar. »Ich habe zu tun.«

»Aber du bist doch eh zu früh da«, bemerkte Matthias zu recht. »Deine Schicht fängt erst in einer Stunde an.« Er legte den Kopf schief und sah sie forschend an. »Sag bloß, du hast noch einen anderen Mann im Visier.« Das, was in munterem Tonfall daherkam, war ihm bitterernst.

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss. Aber ja, es gibt noch einen anderen Mann in meinem Leben. Er heißt Hugo Wimmer, und ich werde gleich ein Hühnchen mit ihm rupfen.«

Im ersten Moment fühlte sich Matthias wie betäubt vor Enttäuschung. Im zweiten erinnerte er sich daran, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.

»Sagtest du Hugo Wimmer?«

Sandra war schon im Begriff weiterzugehen, und hielt noch einmal inne.

»Ja, warum? Hattest du bereits das Vergnügen mit meinem Vater?«

»Dein Vater? Allerdings. Er wurde heute Morgen mit einem Aneurysma hier eingeliefert. Ich habe ihn zusammen mit dem Kollegen Merizani aus der Neurologie operiert.«

Sandra war blass geworden.

»Ich wusste, dass er hier ist. Der Nachbar sagte etwas von Schwächeanfall.« Schuldbewusst blickte sie zu Boden.

»Du musst dir keine allzu großen Sorgen machen. Er hat die Operation ganz gut überstanden.« Matthias Stimme war weich vor Mitgefühl.

Sandra kämpfte sichtlich mit sich. »Das ist es nicht.«

Doch so leicht wollte Matthias ihr es nicht machen.

»Was dann? Warum wolltest du ein Hühnchen mit ihm rupfen.«

Sie verdrehte die Augen gen Himmel, um die Tränen zurückzuhalten.

»Weil sich mein Vater aus dem Staub gemacht hat, als ich noch nicht geboren war. Weil ich in all den Jahren dachte, dass er im Ausland leben würde, was gar nicht stimmte. Und weil er neulich einfach vor der Tür stand«, zählte sie einen guten Grund nach dem anderen auf. »Genügt das?«

Matthias fuhr sich über die Stirn.

»Puh, das ist wirklich eine ganze Menge«, musste er zugeben.

Sandra nickte. Offenbar tat es ihr gut, sich Kummer und Wut von der Seele zu reden.

»Seitdem streiten wir uns nur. Ich kann es einfach nicht fassen, wie man so dreist sein kann«, schimpfte sie ungehalten und ohne auf die neugierigen Blicke der vorbei eilenden Kollegen zu achten. »In all den Jahren hatte er es nicht nötig, sich bei mir zu melden. Aber kaum geht es ihm schlecht, schon fällt ihm ein, dass er eine Tochter hat.« Sie atmete schwer. Ihre Gedanken eilten weiter. Ihr fragender Blick ruhte auf Matthias. »Wird er es schaffen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber ich finde, ihr solltet euch aussprechen, ehe es zu spät ist.«

Im nächsten Moment wusste er, dass er sich mit diesem Ratschlag zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Schlagartig veränderte sich Sandras Miene.

»Ein Glück, dass dich niemand um Rat gefragt hat«, fauchte sie wie eine wütende Katze und stapfte davon.

Ratlos sah Matthias Weigand ihr nach.

»Abfuhr einkassiert?«, fragte ihn Schwester Elena, die gerade des Wegs kam und, ganz Frau, sofort ahnte, dass Sandra der wahre Grund für die schlechte Laune ihres Lieblingskollegen war. »Mach dir nichts draus. Auch andere Mütter haben schöne Töchter.«

»Ein Glück, dass dich niemand um Rat gefragt hat«, wiederholte er den Satz, den Sandra ihm eben um die Ohren gehauen hatte, und ging davon, ehe Elena eine passende Antwort eingefallen war.

*

»Können Sie sich das bitte ansehen und unterschreiben, wenn Sie einverstanden sind?«, fragte Andrea Sander und drückte Daniel – er war auf dem Weg in sein Büro – eine Akte in die Hand.

»Wird gemacht«, versprach er und verschwand mit den Unterlagen in seinem Büro. Er warf die Akte auf den Schreibtisch und schenkte sich einen Tee aus der Thermoskanne ein. Im selben Moment klopfte es.

»Svenja!« Beim Anblick des Mädchens wurde ihm das Herz schwer. Er stellte die Tasse auf den Tisch. »Auch einen Tee?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, danke.«

Daniel ging um den Schreibtisch herum und nahm Platz.

»Bitte, setz dich doch.«

»Ich will nicht lange stören«, erwiderte sie. »Ich wollte nur mit Ihnen über meine Mutter reden. Mama …« Svenja schluckte. Die Angst vor der Zukunft hatte sich wie ein schwarzes Tuch auf ihr Gemüt gelegt. Sie fühlte sich bedroht. Die Krankheit war ein wildes Tier, das ihr glückliches Leben aufzufressen drohte. Doch ein Entrinnen gab es nicht. Sie musste sich der Gefahr stellen. »Stimmt es, dass Mama einen Gehirntumor hat?«

Daniel unterdrückte ein Seufzen. Er liebte seinen Beruf über alles. Doch es gab Dinge, auf die hätte er gut verzichten können. Solche Gespräche gehörten eindeutig dazu. Oder war das, was er im Moment noch nicht sagen durfte, schlimmer?

»Deine Mutter leidet unter einer sogenannten Neurofibromatose Typ 2. Charakteristisch für diese Erkrankung ist die Bildung gutartiger Tumore, die im Gehirn und im Bereich des Rückenmarks liegen«, versuchte er, die Krankheit in möglichst einfachen Worten zu erklären. »Besonders häufig entwickeln sie sich am achten Hirnnerv, dem Hör- und Gleichgewichtsnerv.«

Svenja nickte langsam. Blicklos starrte sie auf das Bild, das hinter Daniel an der Wand hing.

»Deshalb hört Mama schlecht und schwankt manchmal, als ob sie getrunken hätte«, murmelte sie vor sich hin. Endlich kehrte ihre Aufmerksamkeit zurück. »Und was kann man dagegen tun?«

»Wir werden deine Mutter operieren. Die weitere Behandlung hängt vom Erfolg des Eingriffs ab.« Daniel Nordens Blick fiel auf den Flyer, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dieses Gerät könnte die Rettung für Viola bedeuten. »Ich werde noch heute den Kauf eines Geräts beantragen, mit dem wir die Reste des Tumors nach der OP punktgenau bestrahlen können«, versuchte er, Svenja Mut zu machen. »Es ist das beste Gerät auf dem Markt und wäre bisher einzigartig in Deutschland.«

»Sind Sie denn sicher, dass sie den Eingriff überhaupt überlebt?«, stellte Svenja eine berechtigte Frage.

Nur mit Mühe gelang es Daniel, ein bekümmertes Seufzen zu unterdrücken. Er wusste, dass das nicht ihre einzige Sorge bleiben würde.

»Ich will dir nichts vormachen. Eine Operation, noch dazu am Kopf, birgt immer ein Risiko«, gestand er schweren Herzens.

Svenja presste die Lippen aufeinander und sah zu Boden. Er meinte, ihre Gedanken lesen zu können.

»Selbstverständlich kannst du so lange bei uns wohnen, wie du willst.« Ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn. »Du hast gestern nach deinem Vater gefragt …«

»Ja?« Svenjas Kopf fuhr hoch. »Wissen Sie doch etwas über ihn?«

Daniel stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Vor Svenja blieb er stehen.

»Leider nicht. Aber ich denke, dass du deine Mutter noch einmal auf ihn ansprechen solltest. Gerade jetzt, in dieser Situation, wäre es angebracht, dir die Wahrheit zu sagen. Immerhin bist du erwachsen. Meiner Ansicht nach hat jeder Mensch ein Recht darauf zu erfahren, woher er kommt.«

»Bis jetzt hat Mama immer abgeblockt, wenn ich sie nach Kai gefragt habe«, gestand Svenja leise.

Daniel legte seine Hände auf ihre Schultern und fing ihren Blick ein.

»Vielleicht denkt sie jetzt anders darüber. Gib Viola noch eine Chance.«

Tapfer erwiderte Svenja seinen Blick.

»Also gut. Ich versuche es noch einmal.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verließ Daniels Büro.

Mit gemischten Gefühlen sah er ihr nach. Schließlich kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. In einer Hand den Flyer, in der anderen den Telefonhörer, lehnte er sich zurück und wartete auf die Antwort des Vertriebsmannes. Er ahnte nicht, dass Dr. Lammers am Schreibtisch seiner Sekretärin stand. Während er sich mit Andrea über einen Antrag unterhielt, den sie für ihn stellen musste, spitzte er die Ohren.

*

»Wenn Sie sich schon in solchen Etablissements herumtreiben, sollten Sie wenigstens aufpassen, dass Ihre Verehrerinnen Ihnen nicht an den Arbeitsplatz folgen.« Ärgerlich marschierte Felicitas Norden vor ihrem Stellvertreter Volker Lammers auf und ab. »Was sollen die Eltern unserer kleinen Patienten nur von uns denken?«

Volker Lammers winkte lässig ab.

»Die sollen sich mal nicht so anstellen. Da lernen die Gören endlich mal ein Stück Realität kennen. Das Leben ist kein rosafarbenes Zuckerschloss, meine Prinzessin.«

Fee schnappte nach Luft. Mit immer neuen Frechheiten gelang es ihrem Stellvertreter, sie ein ums andere Mal aus der Reserve zu locken.

»Das verbitte ich mir! Ich bin nicht Ihre Prinzessin.«

»Da habe ich aber Glück gehabt«, erwiderte er trocken. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe zu tun.« Er ging zur Tür und war schon halb aus dem Zimmer, als er den Kopf noch einmal hereinsteckte. »Ihr Mann hat übrigens angerufen. Er muss Sie dringend sprechen.«

»Wann?«

»Vor einer halben Stunde.« Grinsend sah er ihr zu, wie sie zum Telefon eilte.

Dann machte er sich endlich auf den Weg zu Dieter Fuchs.

Das Gespräch mit seiner Chefin hatte es wieder einmal mehr als deutlich gemacht: Der Plan, die Nordens loszuwerden, musste dringend in die Tat umgesetzt werden. Und das, was er in Andrea Sanders Büro mitgehört hatte, lieferte ihm die Steilvorlage dazu. Ohne Vorankündigung stürmte er in Dieter Fuchs’ Büro.

»Jetzt weiß ich endlich, wie wir dem Klinikchef das Handwerk legen.«

Der Verwaltungschef stand am Schreibtisch und hielt den Telefonhörer in der Hand. Bei Lammers’ Anblick legte er auf.

»Bist du schwer von Begriff?«, fragte er ärgerlich. »Ich habe dir bereits gesagt, dass dieses Thema vom Tisch ist.«

Volker Lammers ignorierte das gefährliche Funkeln in den Augen seines vermeintlichen Verbündeten.

»Was macht dich so sicher?« Ein triumphierendes Grinsen spielte um seine Lippen. »Ich habe gehört, wie Norden mit einer Firma telefoniert und nicht nur ein Angebot für ein sündhaft teures Gerät eingeholt, sondern auch den Auftrag in Aussicht gestellt hat. Wenn er das ohne dein Einverständnis durchzieht, haben wir ihn.« Siegessicher bleckte er die Zähne. »Na, wie findest du das?«

Doch Dieter Fuchs hatte nur ein müdes Lächeln für diese Neuigkeit übrig.

»Die Anschaffung dieses Geräts ist meine Idee. Dr. Norden handelt nur nach meinen Anweisungen.«

Lammers‘ Miene erstarrte.

»Wie bitte?«

»Du hast richtig gehört.« Dieter Fuchs schob ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen. »Mit diesem Gerät wird es der Klinik gelingen, an internationale Standards aufzuschließen. Die Patienten werden aus ganz Europa zur Behandlung anreisen. Das ist eine einmalige Chance.«

»Das ist nicht dein Ernst. So etwas tust du nicht! Du willst so viel Geld ausgeben für ein paar Patienten?«

»Das sagst du doch nur, weil du nichts davon hast.« Fuchs lächelte kühl. »Im Übrigen habe ich Dr. Norden die Wahrheit gesagt.«

Volker Lammers fiel von einem Schrecken in den nächsten.

»Du hast was?«

»Bist du schwerhörig?« Fuchs zog eine Augenbraue hoch. »Dann solltest du dich untersuchen lassen. Wir haben hervorragende Spezialisten …«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Lammers Hand auf den Schreibtisch niederfuhr, dass die Stifte im Behälter zitterten.

»Was ist hier eigentlich los? Seid ihr alle verrückt geworden?«, rief er außer sich vor Zorn.

Unwillig schnalzte Dieter Fuchs mit der Zunge. Er ließ sich nicht gern beleidigen.

»Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin endlich zur Vernunft gekommen und habe reinen Tisch gemacht. Schmiedle, die Pläne der Investorengruppe, die ganze Geschichte. Man wird diesem Lügner das Handwerk legen. Und Dr. Norden wird dabei eine große Hilfe sein.«

Mit offenem Mund starrte Lammers den Verwaltungschef an. Es kam selten vor, dass er keine passende Antwort parat hatte. Doch diesmal war es so weit. Deshalb beschloss er, den Rückzug anzutreten. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte zur Tür.

»Ach, eines noch«, rief Fuchs ihm nach. Einen Hoffnungsschimmer in den Augen, drehte sich Volker Lammers um.

»Ja?«

»Wenn du dich in Zukunft in solchen Etablissements herumtreibst, achte bitte darauf …«

Mehr hörte Lammers nicht. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

*

»Ach, Frau Dr. Norden!« Als Fee das Vorzimmer betrat, begrüßte Andrea Sander sie erfreut. »Einen kleinen Moment noch. Ihr Mann hat gleich für Sie Zeit.«

»Er scheint ja heute sehr begehrt zu sein.« Fee blieb vor dem Schreibtisch der Chefsekretärin stehen.

»Das können Sie laut sagen. Hier geht es zu wie im Taubenschlag.«

»Das bekommen Sie wohl auch zu spüren.« Fees Blick wanderte über den vollgepackten Schreibtisch.

»Sieht man das?« Andrea schmunzelte. Sie genoss die kleine Pause sichtlich. »Zum Glück ist es noch nicht so viel, dass ich den neuesten Skandal verpasse«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. »Haben Sie schon gehört, was unserem geschätzten Kollegen Lammers passiert ist?« Sie zwinkerte Fee belustigt zu.

»Die Spatzen pfeifen es ja schon von den Dächern«.« Auch Felicitas konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Ich würde mich in Grund und Boden schämen …«

»… und hätte mich für mindestens drei Wochen krankschreiben lassen, bis Gras über die Sache gewachsen ist«, ergänzte Andrea, als sich die Tür zu Dr. Nordens Büro öffnete und eine Dame im Kostüm herauskam. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und verließ sichtlich zufrieden das Zimmer.

Neugierig sah Felicitas ihr nach.

»Wer war denn das?«, erkundigte sie sich, als sie mit Daniel allein war.

»Eine äußerst geschäftstüchtige Dame, die sich jetzt mit Dieter Fuchs über eine ebenso teure wie beachtliche Neuanschaffung unterhalten wird.« Er küsste seine Frau, ehe er zum Sideboard ging, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. »Auch einen Schluck?«

»Nein, danke.«

»Trinken ist aber gesund. Ich hoffe, dir ist bewusst, dass der Mensch mindestens zwei Liter Flüssigkeit in Form von Wasser und ungesüßtem Tee zu sich nehmen sollte.«

»Du wolltest mich aber nicht sprechen, um mir eine Nachhilfestunde in Sachen Ernährung zu geben, oder?«, fragte Fee keck, nahm ihm das Glas aus der Hand und leerte es in einem Zug.

Daniel lachte und schenkte es noch einmal voll.

»Es geht um Viola respektive um Svenja.« Nach und nach wurde seine Miene ernst.

Felicitas musterte ihn aus schmalen Augen.

»Nachdem es sich bei der Neurofibromatose Typ 2 um eine genetisch bedingte und vererbbare Krankheit handelt, befürchtest du, Svenja könnte auch daran leiden.«

»Du hattest also den gleichen Gedanken wie ich«, bemerkte Daniel zufrieden. Schon immer waren sie sich Bestätigung und Bereicherung, teilten oft die Meinung oder ergänzten sich in ihrer Sichtweise.

Tausend Gedanken gingen Fee durch den Kopf. Eine Frage war besonders wichtig.

»Weiß Svenja es schon?«

Bekümmert schüttelte Daniel den Kopf.

»Nein. Viola will nicht, dass sie es erfährt.«

Fee schnaubte ungläubig.

»Wie stellt sie sich das vor? Wir müssen Svenja untersuchen. Nachdem sie noch so jung ist und wir viel Erfahrung mit Neurofibromatosen im Kindes- und Jugendalter haben, bietet es sich an, dass das meine Abteilung übernimmt. Wenn ich ihr Blut abnehme, wird sie wissen wollen, warum.«

»Das habe ich Viola auch gesagt.« Daniel ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in den Chefsessel fallen. »Sie meint, wir sollten einen Vorwand erfinden, damit Svenja keinen Verdacht schöpft.«

»Wie stellt sie sich das vor?«, fragte Fee aufgebracht. »Das dürfen wir nicht.«

»Wir sollen Svenja sagen, dass es um eine Blutspende für die Operation geht.«

»Erstens ist das eine Lüge. Und zweitens gibt es keine Verwandtenblutspende.«

Trotz seiner Sorgen musste Daniel lächeln.

»Vielen Dank für den Hinweis, den ich natürlich längst weitergegeben habe.«

Felicitas atmete tief durch.

»Natürlich. Es tut mir leid. Ich verstehe nur nicht, wie sie so handeln kann. Was, wenn sich der Verdacht bestätigt und Svenja auch an der Krankheit leidet? Was will sie ihrer Tochter dann sagen?«

Daniel zuckte mit den Schultern.

»Das hat Viola mir nicht verraten. Sie hat mir lediglich versprochen, Svenja zu uns zu schicken. Ich wollte, dass du Bescheid weißt.«

Mit hängenden Schultern, die Hände in den Kitteltaschen versenkt, stand Dr. Felicitas Norden ratlos vor dem Schreibtisch ihres Mannes. In diesem Moment war guter Rat teuer. Noch wusste sie nicht, wie sie sich entscheiden würde.

*

»Halt! Der Patient ist frisch operiert und braucht absolute Ruhe«, rief Schwester Elena, als Dr. Sandra Neubeck auf das Intensivzimmer ihres Vaters zustürmte. »Das hat Dr. Weigand verordnet.«

Doch Sandra kümmerte sich nicht um Anweisungen. Schwer atmend blieb sie vor dem Bett ihres Vaters stehen.

Hugo Wimmer spürte ihre Anwesenheit, drehte den verbundenen Kopf und öffnete blinzelnd die Augen. »Sandra!« Seine Stimme war heiser vom Tubus.

Sie wusste selbst nicht, warum sie am ganzen Körper bebte. Lag es an den Schuldgefühlen? Als sie in der vergangenen Nacht bei Matthias gewesen war, hatte ihr Vater ihr eine Nachricht geschickt. Daraufhin war sie zu ihm gefahren und hatte fürchterlich mit ihm gestritten. Und nun lag er wie ein Häuflein Elend vor ihr im Bett. Die Welt war einfach ungerecht!

»Wie geht es dir?«, presste sie mühsam hervor.

»Es tut mir leid«, krächzte er. Offenbar konnte er ihre Gedanken lesen. »Ich wäre nie hierher gekommen. Aber ich hatte keinen Einfluss darauf. Du musst dich zu nichts verpflichtet fühlen.«

»Tue ich auch nicht, keine Sorge. Genauso wenig wie du in all den Jahren.«

Hugo stöhnte auf und wandte den Kopf ab.

»Kannst du nicht endlich aufhören damit?«

»Oh, Verzeihung, dass ich deinen Seelenfrieden störe«, ätzte Sandra sarkastisch. »Kannst du mir mal verraten, warum du nicht früher mal bei mir vorbeigeschaut hast?« Sie konnte nicht anders. Sein Anblick genügte, um alles wieder hochkochen zu lassen. Dabei übersah sie völlig, dass es an ein Wunder grenzte, dass ihr Vater nach diesem schweren Eingriff schon wieder ansprechbar war.

Müde blinzelte er sie an.

»Ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass deine Mutter es nicht wol …«

»Papperlapapp. Ich bin längst erwachsen«, fauchte Sandra wütend und gestikulierte wild durch die Luft. »Vielleicht gibst du jetzt endlich zu, dass du zu feige warst und deine Schuldgefühle an deinen jugendlichen Straftätern abgearbeitet hast.«

Trotz seiner Erschöpfung gelang es Hugo, die Augenbrauen zusammenzuschieben.

»Von der Seite habe ich das noch gar nicht betrachtet«, murmelte er nachdenklich.

Sandra wollte gerade zum nächsten Schlag ausholen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter fühlte. Matthias war lautlos hinter sie getreten. Schwester Elena hatte ihn gerufen.

»Dein Vater hat eine schwere Operation hinter sich«, redete er ihr leise ins Gewissen. »Er braucht absolute Ruhe.« Er lächelte Hugo Wimmer zu, ehe er Sandra aus dem Zimmer führte.

Draußen blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Es kostete ihn alle Mühe, ruhig zu bleiben.

»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Was glaubst du eigentlich? Dass wir deinem Vater zum Spaß das Leben gerettet haben? Diesen Erfolg lasse ich mir nicht durch einen Familienzwist kaputt machen.«

Trotzig wie ein Schulmädchen stand Sandra vor ihm. Sie mied seinen Blick und presste die Lippen aufeinander. Ihr Anblick ließ Matthias nicht kalt. Er atmetet tief durch.

»Kannst du dich nicht wenigstens ein bisschen darüber freuen, dass er durchgekommen und am Leben ist? Dass er gute Chancen hat, wieder gesund zu werden? Das ist nicht selbstverständlich bei einem Aneurysma.«

»Vielen Dank für die Lehrstunde«, zischte Sandra und wollte schon auf und davon laufen.

Matthias ahnte ihre Absicht und hielt sie am Ärmel fest.

»Weglaufen geht nicht. Das solltest du inzwischen wissen.« Die Anspielung auf die vergangene Nacht war nicht zu überhören.

Sandra dachte nicht daran, darauf einzugehen.

»Mein Vater ist der beste Beweis dafür, dass das ganz gut klappt«, widersprach sie.

Händeringend suchte Matthias nach einem Weg, um sie milder zu stimmen.

»Ich habe gehört, dass dein Vater Sozialarbeiter ist und sich um straffällige Jugendliche kümmert.«

»Das tut er doch nur, um sein schlechtes Gewissen mir gegenüber zu beruhigen«, wiederholte sie ihren Verdacht.

Matthias lachte.

»Wäre es nicht einfacher, sich mit der Tochter zu versöhnen, statt sich jahrelang mit solch schwierigen Fällen herumzuschlagen?«, stellte er eine berechtigte Frage.

Wütend stemmte Sandra die Hände in die Hüften.

»Wäre es nicht einfacher, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, statt ständig die Nase in anderer Leute Angelegenheit zu stecken?«, fragte sie zurück, machte auf dem Absatz kehrt und lief davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.

Diesmal machte Matthias Weigand nicht den Versuch, sie aufzuhalten. Vielmehr erinnerte er sich an ihre Warnung in der vergangenen Nacht. Sandra hatte recht gehabt: Man musste sich wirklich vor ihr in acht nehmen.

*

Viola lag mit geschlossenen Augen im Bett, als es klopfte und gleich darauf die Klinke heruntergedrückt wurde.

»Svenja! Da bist du ja wieder.« Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Hast du mit Daniel gesprochen?«

Svenja trat ans Fußende des Bettes und stellte ihre Tasche auf die Decke. Ihre Miene verhieß nichts Gutes.

»Ja.« Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Bevor ich zum Blutabnehmen zu Felicitas gegangen bin, hat er mir einen Rat gegeben.« Sie machte eine Pause. »Und mit Fee habe ich auch gesprochen. Sie hat mir den Grund für die Blutabnahme erklärt.«

Viola presste die Lippen aufeinander, wandte den Kopf ab und blickte aus dem Fenster.

Svenja wusste, dass sie ihre Mutter nicht bedrängen durfte. Sie hatte es oft genug ausprobiert und war kläglich an der Mauer des Schweigens gescheitert. Deshalb stand sie einfach da und wartete. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

»Du willst jetzt vermutlich wissen, wer dein Vater ist«, sagte Viola nach einer gefühlten Ewigkeit.

»Ich will, dass du aufhörst, mich vor allem und jedem beschützen zu wollen. Wenn ich eine Erbkrankheit haben könnte, dann will ich das gefälligst wissen. Und über meinen Vater will ich mir mein eigenes Urteil bilden«, fuhr Svenja sie schroffer an als beabsichtigt. »Ich bin kein Baby mehr, Mama! Ich bin alt genug, um selbst über mein Leben zu bestimmen.«

Betroffen starrte Viola ihre Tochter an. In diesem Moment wurde es auch ihr klar: Hier stand kein Kind mehr vor ihr, sondern eine erwachsene Frau, die sie womöglich früher als geahnt in ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben entlassen musste. Sie nahm all ihren Mut zusammen.

»Erinnerst du dich an das Buch über Architektur, das du mir vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hast?«

Die Verwunderung stand Svenja ins Gesicht geschrieben.

»Klar. Du hast es kein einziges Mal angesehen. Später habe ich es bei den Spendenbüchern für die Bücherei gefunden.«

Viola biss sich auf die Unterlippe. Hatte sie denn gar nichts vor ihrer Tochter verbergen können?

»Ich habe es heimlich angesehen. Aber es hat mir das Herz zerrissen.«

Svenja lachte ungläubig.

»Häuser bringen dich zum Weinen? Warum das denn?« Sie verstand die Welt nicht mehr.

»Weil … weil …« Viola rang mit sich. »Dieses Buch hat der Architekt Kai Heerdegen veröffentlicht. Ich habe ihn nach meinem Studium an meiner ersten Arbeitsstelle kennengelernt. Wir arbeiteten beide in der Forschung für die Universität. Aber es war nicht nur ein Arbeitsplatz. Nächtelang haben wir uns mit den Kollegen die Köpfe heiß diskutiert. Es war eine großartige Zeit.« Ihre Augen leuchten kurz auf. »Kai war schon immer ein genialer Kopf mit großartigen Ideen. Aber leider mit riesigen Defiziten im zwischenmenschlichen Bereich.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, vielleicht habe ich zu viel erwartet. Schließlich ist kein Mensch perfekt.«

Mit angehaltenem Atem hatte Svenja zugehört.

»Dieser Kai? Ist er mein Vater?«

Viola presste die Lippen aufeinander und nickte. Sie kämpfte mit den Tränen.

Doch Svenja war zu weit gegangen, um sich zurückzuhalten. Sie hatte schon viel zu lange gewartet. Nun wollte sie die ganze Wahrheit wissen.

»Hat er dich verlassen, weil du schwanger warst?«, fragte sie.

Viola schickte ihrer Tochter einen hilflosen Blick.

»Er hat es nie erfahren«, gestand sie leise, ehe sie bitterlich zu weinen begann.

*

»Bei der Größe des Tumors müssen wir auch mit einer Beeinträchtigung des Faszialisnervs rechnen«, erklärte der Neurologe Amir Merizani, der Seite an Seite mit Dr. Norden und seiner Frau Fee über den Flur eilte.

Die drei waren auf dem Weg zur OP-Besprechung mit sämtlichen Kollegen, die am nächsten Morgen an dem diffizilen Eingriff teilnehmen würden.

»Hast du schon mit Viola darüber gesprochen?«, fragte Fee ihren Mann.

»Die schlechten Nachrichten überbringe ich lieber fein dosiert«, erwiderte Daniel. »Es hat schon gereicht, Viola über eine mögliche Erkrankung Ihrer Tochter zu informieren.« Wenn er nur daran dachte, wurde sein Herz schwer. »Das hat sie fast mehr mitgenommen als ihre eigene Diagnose. Und dann wollte sie mich noch dazu überreden, Svenja nichts davon zu sagen.«

»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Amir Merizani in der ihm eigenen, ruhigen Art. »Schließlich besagt ein persisches Sprichwort, dass Kinder Brücken zum Himmel sind. Und wer sieht seine Brücke schon gern einstürzen?«

Seite an Seite betraten sie den Aufzug.

»Trotzdem kann man seine Lieben nicht von allem fern halten«, beharrte Daniel Norden. »Sogar den eigenen Vater hat Viola ihrer Tochter vorenthalten.«

»Ich nehme an, dass Sie dafür Gründe hatte«, schlug sich Fee zumindest in dieser Angelegenheit auf die Seite der Mutter. In der anderen Frage hatte sie sich dafür entschieden, Svenja die Wahrheit über die Möglichkeit einer Erbkrankheit zu haben.

Sie bereute es nicht. Svenjas Reaktion war sehr erwachsen gewesen.

»Viola befindet sich in einer kritischen Situation«, sagte Daniel in ihre Gedanken hinein. »Ich finde, sie sollte Svenja die Chance geben, ihren Vater endlich kennenzulernen.«

»Das sagt sich so leicht«, murmelte Fee voller Mitgefühl. Sie wollte nicht in der Haut der geplagten Freundin stecken.

Die Türen des Aufzugs öffneten sich und die Ärzte traten hinaus auf den Flur.

»Zwei Dinge sind Zeichen von Schwäche«, sagte Amir Merizani in ihr Schweigen hinein. »Schweigen, wenn man reden müsste. Und Sprechen, wenn man schweigen sollte.«

Daniel und Fee tauschten überraschte Blicke. Die Weisheit ihres Kollegen bot viel Stoff, um darüber zu philosophieren. Doch im Augenblick waren derlei Erkenntnisse nicht hilfreich. Momentan zählten eine gute Vorbereitung und möglichst genaue Kenntnisse über Lage und Merkmale des Tumors mehr als alles andere. Ein Glück, dass Dr. Merizani auch in diesen Fächern seine Hausaufgaben gemacht hatte.

*

Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter hatte Svenja die Flucht ergriffen. Sie war aus der Klinik gelaufen und irrte stundenlang ziellos durch die Stadt. Dabei hatte sie kein Auge für die Schönheit des Englischen Gartens. Auch die Pracht der altehrwürdigen Münchner Baudenkmäler oder der zahlreichen Geschäfte und Boutiquen nahm sie nicht wahr, die gerade für junge Frauen im Normalfall den Inbegriff des Paradieses bedeuteten. Doch nach und nach wurden ihre Schritte langsamer. Im selben Maß beruhigten sich ihre Gedanken. Ein Plan, vage zunächst, nahm immer mehr Konturen an. Irgendwann am späten Nachmittag – Svenja saß in einem Straßencafé und beschwichtigte ihren knurrenden Magen mit einem Stück Kuchen – traf sie eine Entscheidung. Sie griff nach ihrem Handy und tippte den Namen ihres Vaters ein. Im Internet öffnete sich das örtliche Telefonbuch.

»Kai Heerdegen.« Da stand es schwarz auf weiß. Mitsamt Adresse und Telefonnummer. Svenja hielt den Atem an und starrte auf ihr Mobiltelefon, bis die Buchstaben und Zahlen vor ihren Augen tanzten. »Das ist doch genau das, was du wolltest«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Worauf wartest du noch?« Plötzlich hatte sie es eilig. Sie bezahlte, erkundigte sich nach dem Weg und brach auf. Diesmal hatte sie ein Ziel und stand schon zwanzig Minuten später mit klopfendem Herzen vor dem Haus mit der Nummer 14. Ihre Hand zitterte, als sie auf den Klingelknopf drückte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Tür geöffnet wurde. Zuerst sah Svenja nur eine Hand. Im nächsten Moment tauchte ein Mann auf. Bei seinem Anblick erschrak sie.

»Ja bitte?«, fragte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich … äh … mein Name … also … Sind Sie Kai Heerdegen?«, stammelte Svenja verstört.

Auf dem Weg hierher hatte sie sich alles Mögliche ausgemalt. Doch mit dem, was sie zu sehen bekam, hatte sie nicht im Ansatz gerechnet.

Kai bemerkte ihre Verlegenheit.

»Nachdem das auf dem Klingelschild steht, wird es wohl so sein«, erwiderte er mit lustig blitzenden Augen. »Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, wer Sie sind, junge Frau.«

Endlich erinnerte sie sich an ihre guten Manieren.

»Ich bin unhöflich«, entschuldigte sie sich. »Mein Name ist Svenja Mauritz.«

Das Lächeln auf Kais Lippen erstarb.

»Viola? Sie hat eine Tochter?« Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen.

Svenja presste die Lippen aufeinander.

Die Stunde der Wahrheit war gekommen.

»Ich bin nicht nur ihre, sondern auch deine Tochter!«, sagte sie leise.

Kai verstand sie trotzdem. Er drückte auf den Summer und winkte Svenja zu sich. Sie drückte das Gartentor auf und ging auf das Haus zu. Je näher sie kam, umso langsamer wurden ihre Schritte, bis sie schließlich vor ihrem Vater stehenblieb. All die schönen Worte, die sie sich im Vorfeld zurecht gelegt hatte, waren wie ausradiert. Ihr Kopf war wie ein leeres Blatt Papier. Händeringend stand sie vor ihm.

»Ein Unfall?«, fragte sie schließlich und deutete auf seinen Rollstuhl.

Kai lächelte.

»Das ist eine lange Geschichte. Willst du nicht reinkommen?«

*

Erst am späten Nachmittag fand Dr. Matthias Weigand endlich Zeit, nach seinem Patienten Hugo Wimmer zu sehen. Als er die Intensivstation betrat, kam ihm Elena entgegen. Ihr Dienst war zu Ende, sie war auf dem Weg nach Hause.

»Tut mir leid. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«

Er betrachtete sie irritiert.

»Inwiefern?«

»Ich habe keine Zeit mehr für Kaffee. Mal abgesehen davon, dass die Erdbeerschaumrollen mit Sicherheit längst aus sind.«

Matthias schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

»Oh, Mist, das hatte ich total vergessen.«

»Ach ja?« Elena spielte ihre ­Enttäuschung perfekt. »Daran ist doch bestimmt Frau Dr. Neubeck schuld.«

Als Matthias diesen Namen hörte, wurde seine Miene finster.

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

Elena lächelte süffisant.

»Offenbar vergisst du, dass ich eine Frau bin und eins und eins zusammenzählen kann. So allergisch, wie ihr aufeinander reagiert, läuft da was zwischen euch.«

Matthias‘ Miene erhellte sich.

»Du meinst, sie hat was für mich übrig?«

Diese Formulierung brachte Elena zum Lachen.

»So könnte man es natürlich auch nennen.« Sie kicherte noch immer. »An deiner Stelle wäre ich aber vorsichtig. Sie ist alles andere als einfach. Das habe ich schon bei der Arbeit zu spüren bekommen.«

»Das ist es ja gerade, was es so spannend macht«, verriet Matthias.

Elena schüttelte ungläubig den Kopf. »Dir fehlt es eindeutig an Lebenserfahrung«, urteilte sie unbarmherzig. »Bitte, gönn dir den Spaß. Aber beschwer dich hinterher nicht bei mir, dass ich dich nicht gewarnt hätte.« Sie zwinkerte ihm zu, ehe sie sich endgültig auf den Weg zu Mann und Kindern machte. Einen Augenblick sah Dr. Weigand ihr nach. Ihre Bemerkung hatte ihn nachdenklich gestimmt. Erst als die gläserne Tür hinter ihr ins Schloss fiel, erinnerte er sich an sein Vorhaben.

*

Mit geschlossenen Augen lag Hugo Wimmer im Bett. Die Überwachungsgeräte piepten leise. Die Werte gaben keinen Anlass zur Sorge. Trotzdem gab es etwas, was Matthias Weigand seinem Patienten sagen musste.

»Herr Wimmer?«, sprach er ihn leise an.

Der Mann öffnete die Augen. Es dauerte einen Moment, ehe er seinen Arzt erkannte.

»War meine Tochter noch einmal hier?«

Es rührte Matthias, dass Hugos erster Gedanke Sandra galt.

»Soviel ich weiß, nicht.«

»Schade.«

»Sie werden sicher noch genug Gelegenheit zu einer Aussprache haben«, versuchte er, seinem Patienten Mut zu machen. »Allerdings nur, wenn Sie mir versprechen, sich in Zukunft mehr zu schonen und vor allen Dingen beruflich kürzer zu treten.«

Hugo lächelte matt.

»Glauben Sie auch, dass ich mich mit meiner Arbeit von meinen Schuldgefühlen freikaufen will?«

»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Aber ich finde Ihr Engagement bewundernswert. Die Welt braucht solche Menschen wie Sie«, versicherte er. »Trotzdem muss ich Sie bitten, zur Abwechslung auch einmal an sich selbst zu denken, an Ihre Gesundheit.«

Hugo lag im Bett und ließ sich die Worte des Arztes durch den Kopf gehen.

»Sie wollen mir sagen, dass jeder ersetzbar ist, nicht wahr?«

»Auf den Job trifft das durchaus zu.«

»Sehen Sie das für sich genauso?«

»Natürlich. Wenn ich diese Arbeit nicht verrichtete, käme ein anderer an meine Stelle. Alles würde weiterlaufen wie immer. Und das ist auch gut so«, erwiderte Dr. Weigand. »Anders ist es im Privatleben.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Für Ihre Tochter sind Sie nicht ersetzbar. Waren es nie. Vielleicht sollten Sie Ihre Erkrankung als eine Art Warnschuss sehen. Noch haben Sie die Gelegenheit, einen Weg zu Sandra zu finden. Lassen Sie sie nicht ungenutzt verstreichen!«, appellierte er leidenschaftlich.

Ein feines Lächeln verzog Hugos Lippen.

»Ich habe mir heute schon einmal gedacht, dass Sie Sandra sehr mögen.«

Matthias fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.

»Wir sind Kollegen«, erklärte er kühl. »Überlegen Sie es sich. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann …« Das Ende des Satzes schwebte noch unausgesprochen in der Luft, als ein durchdringendes Piepsen dem Gespräch ein Ende bereitete.

»Ich muss los«, erklärte Matthias nach einem Blick auf das kleine Gerät. »Wir sehen uns wieder.« Er zwinkerte seinem Patienten zu, um sich im nächsten Moment auf den schnellsten Weg in die Notaufnahme zu machen.

*

Kai war voraus ins Wohnzimmer gerollt. Svenja folgte ihm staunend durch das stilvolle Ambiente. Eine geschickte Hand hatte edle De­signobjekte kunstvoll in Szene gesetzt. Großformatige Bilder moderner Künstler schmückten die Wände. Auch das Wohnzimmer wirkte edel, aber nicht kühl. Es strahlte eine elegante Gemütlichkeit aus, in der sich Svenja sofort wohl fühlte.

»Willst du dich nicht setzen?« Kai deutete auf ein hellgraues, tiefes Sofa.

Die dicken Sitzkissen sahen so gemütlich aus, dass Svenja nicht widerstehen konnte.

»Das ist Wahnsinn!«, seufzte sie und vergaß für einen kurzen Moment den Grund, warum sie hier war. Verliebt strich sie über den weichen Stoff. »So ein Sofa will ich später auch mal haben.«

Kai hatte den Rollstuhl neben der Couch abgestellt. Ehe Svenja ihre Hilfe anbieten konnte, schwang er sich geschickt in die Polster.

»Freut mich, dass es dir gefällt.« Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Möchtest du etwas trinken?«, fragte er, ganz guter Gastgeber.

»Ich komme gerade vom Kaffeetrinken«, erwiderte Svenja. »Da habe ich auch den Entschluss gefasst herzukommen.«

Kai nickte langsam. Seine Augen füllten sich mit lange zurückliegenden Erinnerungen.

»Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich mit Viola zusammengekommen bin«, begann er schließlich zu erzählen. »Eine ganze, lange Nacht sind wir mit Kollegen aus der Uni zusammengesessen und haben uns die Köpfe heiß diskutiert, bis die Sonne wieder aufgegangen ist.«

Wie auf ein geheimes Zeichen fielen die letzten Sonnenstrahlen durch die breite Fensterfront auf den bunt gemusterten Kelim vor dem Sofa.

»Auf dem Nachhauseweg sind wir durch den Englischen Garten gegangen, und ich habe deine Mutter spontan zum Frühstück eingeladen. Von diesem Morgen an waren wir ein Paar.« Sinnend hing er seinen Gedanken nach. Einen Augenblick lang meinte Svenja, er hätte sie vergessen. Doch plötzlich richtete Kai den Blick wieder auf sie und fuhr fort. »Die Zeit mit Viola war die schönste meines Lebens. Die Gespräche, die gemeinsame Arbeit, sogar die hitzigen Diskussionen. Wir sind zusammen verreist, um verschiedene Kulturräume und deren Architektur zu studieren. Alles schien perfekt. Ich hätte den Rest meines Lebens so verbringen können.«

»Aber?«, stellte Svenja eine berechtigte Frage.

Kai seufzte.

»Das Forschungsprojekt an der Uni lief aus. Viola wurde weiterbeschäftigt, während ich auf der Straße stand. Also bewarb ich mich und bekam eine spannende Stelle in der Schweiz angeboten. Von nun an führten wir eine Fernbeziehung. Für mich fühlte sich auch das gut an.« Er machte eine Pause und betrachtete versonnen die ineinander verschlungenen Finger in seinem Schoß. »Meine neue Stelle war sehr interessant und anspruchsvoll, sodass ich nicht jedes Wochenende nach München kommen konnte. Viola reagierte eifersüchtig. Sie unterstellte mir eine Affäre. Immer wieder hatten wir Streit deswegen, ich sagte das gemeinsame Wochenende ab. Das passierte ein paar Mal hintereinander.« Nach und nach verschwand das Leuchten aus Kais Gesicht. »Nachdem wir uns ein paar Wochen lang nicht gesehen hatten, bestand Viola auf einer Aussprache. Ausgerechnet an diesem Freitag gab es Probleme in der Firma. Viel zu spät konnte ich mich auf den Weg machen. Da ich wusste, dass unsere Beziehung auf Messers Schneide stand, habe ich aufs Gas gedrückt. Auf keinen Fall wollte ich­ Viola verlieren.« Er hielt inne. Sein Atem ging schwer, als durchlebte er die Situation noch einmal.

Svenja ahnte, was kommen würde. »Du hattest einen Unfall?«

Kai nickte.

»Bei einem waghalsigen Überholmanöver verlor ich die Kontrolle über meinen Wagen. Offenbar überschlug ich mich mehrfach, bis ich in der Leitplanke landete.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Erinnerungen heraufbeschwören. Doch da war nichts. Alles blieb im Dunkeln. »Wochen später bin ich aus dem Koma erwacht. Ich will nicht jammern, aber der Kampf zurück ins Leben war nicht leicht. Ich war monatelang in Reha, musste vieles neu lernen. Nur das mit dem Laufen hat nicht mehr geklappt«, erklärte er fast unbeschwert.

»Hat Mama dich in dieser Zeit besucht?«, stellte Svenja die Frage, die sie brennend interessierte.

Kai lächelte schmerzlich.

»Viola dachte wohl, dass ich es mir anders überlegt hätte, und hat mein Fernbleiben als Schlussstrich gedeutet. Als ich endlich in der Lage war, Kontakt aufzunehmen, war sie aus München weggegangen. Ich habe lange nach ihr gesucht, sie aber nicht wiedergefunden. Irgendwann habe ich aufgegeben.« Die Geschichte war zu Ende erzählt. Die letzten Strahlen der Sonne verschwanden hinter den Bäumen des Gartens. Eine Amsel saß auf dem Hausdach nebenan und sang ihr melancholisches Lied.

»Kein Wunder«, sagte Svenja schließlich. »Mama war zwischendurch verheiratet und hat den Namen ihres Mannes angenommen. Sie sind längst wieder geschieden, aber seinen Namen hat sie behalten. Du konntest sie nicht finden.«

Kai nickte.

»So ähnlich habe ich mir das vorgestellt.« Er zog den Rollstuhl heran und schwang sich mit einer geschickten Bewegung zurück auf seinen Helfer. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht. Aber ich brauche jetzt etwas zu trinken. Lust auf eine Limo?«

»Im Normalfall gern. Aber jetzt brauche ich was Stärkeres.« Während Svenja ihren Vater anlächelte, spürte sie die Erleichterung darüber, dass Kai nicht der verantwortungslose Mann war, für den Viola ihn noch immer hielt. »Ein Bier wäre nicht schlecht«, sagte sie laut zu ihm.

Lachend reckte Kai den Daumen in die Luft.

»Ganz meine Tochter!«

*

Es war Abend geworden. Viola lag im Klinikbett und starrte durch das Fenster hinaus ins schwindende Licht des Tages. Die Sonne hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben und ein wahres Spektakel an Farben auf den Himmel gezaubert. Doch sie hatte keine Augen für die Pracht. Sie war so versunken in ihre eigene Gedankenwelt, dass sie noch nicht einmal das Klopfen an der Tür hörte. Erst als Daniel Norden eintrat, drehte sie den Kopf.

»Ich hoffe, ich störe nicht.« Lächelnd kam er ans Bett. »Wie fühlst du dich?«

»Willst du wirklich eine Antwort auf diese Frage?« Scharf schnitt ihre Stimme durch die Luft.

Daniel Norden sah sie erstaunt an, fragte aber nicht nach dem Grund für ihren Tonfall.

»Das liegt ganz bei dir«, versicherte er. »Wenn es dir lieber ist, können wir zuerst noch ein paar Dinge wegen der OP morgen besprechen.« Er öffnete die Mappe, die er mitgebracht hatte. »Ablauf, Risiken, solche Dinge.«

»Die Mühe kannst du dir sparen.« Viola fühlte sich verraten und verkauft und schleuderte ihm all ihre Verachtung entgegen. »Du hast schon genug angerichtet, als du Svenja gegen mich aufgewiegelt hast.«

Daniel klappte die Mappe wieder zu und sah seine Jugendfreundin an.

Daher wehte also der Wind!

»Ich habe ihr lediglich meine Meinung zu dem Thema gesagt. Das wird ja wohl noch erlaubt sein.«

»Du und deine Frau, ihr seid mir in den Rücken gefallen!«

»Wir sind keine Märchenerzähler, das ist alles.«

Violas Augen sprühten Funken vor Zorn.

»Tu doch nicht so, als ob du allen Patienten immer gleich die ganze Wahrheit auf die Nase binden würdest!«

»Wenn ich der Ansicht bin, dass sie sie verkraften, dann ist das sehr wohl so«, verteidigte Daniel sein Tun und Handeln.

Seine Überzeugung war bestechend und brachte Viola kurz aus dem Konzept.

»Hältst du Svenja wirklich für so stark?«

»Ja, das tue ich. Felicitas im Übrigen auch. Sonst hätte sie sich nicht für die Wahrheit entschieden.« Daniel trat an Violas Seite und wollte nach ihrer Hand greifen. Blitzschnell zog sie sie weg. Er seufzte. »Wir wollen doch beide nur das Beste für euch.«

»Ihr sorgt dafür, dass ich in einem völlig falschen Licht dastehe«, kritisierte Viola ihren Jugendfreund scharf. »Die überfürsorgliche Glucke, die ihrem Kind die Luft zum Atmen nimmt. So seht ihr mich doch.«

Bedauernd schüttelte Daniel den Kopf.

»Ich bilde mir kein Urteil. Ich sehe nur, dass es Gesprächsbedarf zwischen euch gibt.«

Nervös zupfte Viola mit den Zähnen an der Unterlippe.

»Ich habe Svenja gesagt, wer ihr Vater ist. Und ich weiß schon jetzt, dass das ein Fehler war.«

Ob dieser Neuigkeit stahl sich ein Lächeln auf Daniels Gesicht.

»Genau das glaube ich nicht. Du hast die richtige Entscheidung getroffen«, erklärte er mit Nachdruck. »Ich bin stolz auf dich.«

Viola dagegen hielt es nicht länger aus. Ruckartig fuhr sie hoch und starrte ihn an.

»Meine Güte, du bist doch selbst Vater! Wie kannst du da nur so unempathisch sein? Wieso verstehst du nicht, dass ich Angst um meine Tochter habe?« Und etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich weiß doch gar nicht, was zwischen den beiden passiert.«

»Das klingt ja ganz so, als ob du Angst davor hast, dass Kai der große böse Wolf ist, der das kleine wehrlose Rotkäppchen Svenja auffrisst.«

»Rotkäppchen war nicht wehrlos«, entfuhr es Viola.

Erst als Daniel wissend lächelte, wurde ihr bewusst, was sie da gesagt hatte.

»Eben«, gab er ihr recht. »Svenja ist alles andere als wehrlos. Und du warst diejenige, die ihr das Werkzeug mitgegeben hat, das sie braucht, um in dieser Welt bestehen zu können.« Seine Stimme war warm und voller Freundschaft. »Warum hast du nicht mehr Vertrauen in deine Tochter? Warum hast du nicht mehr Vertrauen in dich? In deine Erziehung?«

Diese Frage war berechtig. Violas Ärger verpuffte wie Luft aus einem Ballon. Beschämt senkte sie den Blick.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie leise.

Diesmal wehrte sie sich nicht, als Daniel seine Hand auf die ihre legte. Ihre Wärme spendete den Trost, den sie so dringend brauchte.

*

Am Ende dieses anstrengenden Abends saßen Daniel und Felicitas nebeneinander auf dem Sofa. Jeder hatte ein Buch vor der Nase. Während Fee in einem Reiseführer las, arbeitete Daniel noch einmal Fachliteratur für den bevorstehenden Eingriff am nächsten Morgen durch. Er war so vertieft in die Lektüre, dass er nicht bemerkte, wie seine Frau das Buch weglegte und sich zu ihm umdrehte. Minutenlang sah sie ihm dabei zu, wie er sich Randnotizen machte.

»Ist das nicht furchtbar langweilig?«, fragte er unvermittelt.

Felicitas zuckte zusammen.

»Was denn?«

»Na, mir beim Arbeiten zuzuschauen«, fragte Daniel. Gleichzeitig unterstrich er einen bemerkenswerten Satz in seinem Fachbuch.

Fee lächelte.

»Ganz im Gegenteil. In der Klinik kann ich dich ja schlecht anschmachten. Dann muss ich das eben jetzt tun.«

Daniel sah kurz zu ihr hinüber. Seine Miene verriet, dass er ihr nur mit halbem Ohr zuhörte. Im nächsten Moment konzentrierte er sich wieder auf seine Unterlagen.

»Und warum schmachtest du mich an?«, fragte er beiläufig.

Das Lächeln auf Fees Gesicht wurde tiefer. Sie rutschte ein Stück näher.

»Weil ich dich zum Anbeißen finde.«

Daniel ließ das Buch sinken und sah sie überrascht an.

»Bin ich nicht alt und faltig?«, fragte er nicht ganz ernst.

Fee lachte leise.

»Du weißt doch, wie ungerecht das ist. Frauen werden alt, Männer dafür immer attraktiver.«

Nachdenklich wiegte Daniel den Kopf.

»Ich finde das eigentlich gar nicht so ungerecht. Vor allen Dingen deshalb, weil du für mich alterslos schön bist.«

»So poetische Worte wären früher nie über deine Lippen gekommen.«

Wieder hielt Daniel in seiner Arbeit inne und dachte kurz nach.

»Früher musste ich dich ja auch nicht mit Worten beeindrucken. Da wolltest du einen starken, gesunden Mann mit gutem genetischen Material für deine zukünftigen Kinder«, deklamierte er mit erhobenem Zeigefinger. »Heute haben sich die Prioritäten verschoben. Heute sind Attribute wie Bildung, geistige Reife und Intelligenz wichtiger.« Er hauchte ihr einen Kuss auf den Mund, ehe er sich wieder über das Buch beugte.

Nur mit Mühe konnte sich Fee ein Lachen verkneifen.

»Denkst du das wirklich?«

»Das ist wissenschaftlich bewiesen«, murmelte Daniel abwesend.

»Tatsächlich?« Sie rutschte noch näher zu ihm hinüber. Sie legte ihre Hand in seinen Nacken, zog Daniel zu sich und küsste seinen Hals. »Ein Glück, dass ich endlich eine wissenschaftliche Erklärung dafür habe, warum ich dich immer noch so unverschämt anziehend finde, mein intelligenter, gebildeter, reifer Mann«, raunte sie zwischen vielen kleinen Küssen.

Derart abgelenkt von der Arbeit, klappte Daniel das Buch endgültig zu und legte es zur Seite.

»Könnte es sein, dass du dich über mich lustig machst?«, fragte er und umfasste ihre schmale Hüfte.

Mit einem Ruck saß sie auf seinem Schoß.

»Das würde ich niemals wagen, Herr Chefarzt«, erwiderte Fee glucksend.

»Trotzdem treibe ich dir diese Flausen vorsichtshalber aus«, murmelte er dicht an ihrem Mund.

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Das wirst du gleich sehen!«

*

Es war dunkel geworden, und Kai hatte Licht gemacht. Inzwischen war er mit Svenja an den Esstisch umgezogen. Beim Griechen um die Ecke hatte er Vorspeisen und Pitabrot bestellt. Dazu tranken sie Bier aus Flaschen. Der Alkohol löste die letzten Berührungsängste zwischen ihnen in Luft auf.

»Ist es schlimm?«, wagte Svenja endlich die Frage zu stellen, die ihr am meisten auf der Seele brannte. »Ich meine, das Leben im Rollstuhl?«

Kai ließ sich Zeit mit einer Antwort.

»Eigentlich nicht«, gestand er schließlich. »Natürlich ist es beschwerlicher als früher. Viele Orte sind nicht dafür gemacht, dass ich sie betreten kann. Das hat aber nicht viel mit mir, sondern mit dem Rollstuhl zu tun. Zum Glück habe ich den Wagen und bin nicht auf Busse oder Bahn angewiesen wie viele andere. Das macht es leichter.«

Svenja wunderte sich kurz über den lockeren Ton, der zwischen ihr und ihrem Vater herrschte.

Kai war so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Und vor allen Dingen wesentlich entspannter als ihre Mutter.

Sie sagte es ihm.

»Vielen Dank für die Blumen.« Er lächelte geschmeichelt. »Aber du darfst nicht vergessen, dass deine Mutter eine große Verantwortung getragen hat und immer noch trägt.«

»Ich bin erwachsen«, erwiderte Svenja. Wie immer, wenn sie auf dieses Thema angesprochen wurde, schwang Trotz in ihrer Stimme.

Kai lächelte verständnisvoll.

»Trotzdem. Deine Mutter wird immer deine Mutter bleiben und sich um dich sorgen. Du solltest froh und dankbar dafür sein. Viele Menschen wünschen sich so eine Liebe und bekommen sie doch nie.«

Beschämt senkte Svenja den Kopf. Angesichts von Kais Schicksal wirkten ihre Probleme lächerlich klein und unbedeutend. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, griff sie nach einem gefüllten Weinblatt und steckte es in den Mund.

»Was ist eigentlich mit dir? Hast du eine Frau? Kinder?«

»Nur eine tolle Tochter.« Kai zwinkerte ihr zu. »Mit den Frauen hatte ich dagegen nicht so viel Glück. Aber das lag nicht daran, dass ich nicht laufen kann. Wahrscheinlich ist es einfach zu viel verlangt, ganz normal behandelt zu werden. Viele Frauen wollen mich bemuttern und können nicht glauben, dass auch ich eine starke Schulter habe, an die sie sich anlehnen können.«

»Ich würde mich sofort bei dir anlehnen«, entfuhr es Svenja.

Kais Augen strahlten auf vor Freude. Er prostete ihr zu und trank einen Schluck aus der Flasche.

»Aber jetzt haben wir genug über mich geredet. Erzähl mir von dir! Was machst du so?«

Svenja stellte die Flasche zurück auf den Tisch.

»Ich habe Abitur gemacht und mir ein Jahr Auszeit gegönnt. In dieser Zeit bin ich viel gereist und habe noch mehr nachgedacht.«

»Worüber?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Woher ich komme. Wer ich bin. Wo ich hin will.« Ihr versonnener Blick ruhte auf den halb leergegessenen Platten, ohne dass sie sie wirklich sah. Der Tag war lang und aufregend gewesen und das Gespräch hatte sie müde gemacht.

»Und? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«

Svenja richtete den Blick auf ihren Vater.

»Es hat immer ein wichtiges Stück im Puzzle gefehlt.«

»Ist es jetzt komplett?«

»Ich fürchte, darüber muss ich eine Nacht schlafen.« Noch hatte Svenja nichts von der Krankheit ihrer Mutter und ihren eigenen Ängsten erzählt. Konnte sie Kai wirklich vertrauen? Darüber wollte sie gründlich nachdenken. Morgen war auch noch ein Tag. »Ich gehe dann mal.« Sie machte Anstalten aufzustehen.

Doch davon wollte Kai nichts wissen.

»Bitte bleib! Ich habe jede Menge Betten frei. Du kannst aussuchen, ob du das Zimmer mit Gartenblick möchtest. Oder das mit Blick auf den Pool. Oder lieber doch Großstadtflair«, erklärte er, ehe beide in übermütiges Lachen ausbrachen.

*

Die Schicht der Assistenzärztin Dr. Sandra Neubeck war vorbei. Im Aufenthaltsraum tauschte sie den Kittel gegen ihre Straßenkleidung. Zum Aufbruch bereit stand sie vor dem Garderobenspiegel und strich sich die Haare glatt. Trotzdem zögerte sie. Die Auseinandersetzung mit ihrem Vater lag ihr schwer im Magen. Wie so oft hatte ihr ihr überschäumendes Temperament einen Streich gespielt, und sie war übers Ziel hinausgeschossen. Oder lag es an Matthias‘ wahren Worten, dass sie sich so schlecht fühlte?

»Du bist schuld daran, dass Hugo hier in der Klinik liegt«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Du bist vielleicht anders, aber nicht besser als er.« Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Statt den Weg Richtung Ausgang zu wählen, machte sie sich auf in die Intensivstation.

Um diese Uhrzeit war alles ruhig. Hier und da huschte eine Schwester über den Flur. Im Aufenthaltsraum saß ein Pfleger und bereitete Medikamentenrationen für den kommenden Tag vor. Aus den Zimmern wehte das Piepen und Schnaufen der Überwachungsgeräte auf den Flur. Hin und wieder schrillte ein Alarm, dem eilige Schritte folgten. Zum Glück handelte es sich meist um einen Fehlalarm.

Sandra betrat das Zimmer ihres Vaters. Zu ihrer Überraschung war Hugo wach.

»Kannst du nicht schlafen, Papa?«, fragte sie erstaunlich mild.

Überrascht zog Hugo eine Augenbraue hoch.

»Ich muss so viel über das nachdenken, was mir dieser Dr. Weigand gesagt hat, dass ich schon richtig Kopfweh habe«, gestand er.

»Matthias war noch einmal hier?«, fragte Sandra verwundert.

»Ah, Matthias also …« Hugo lächelte kurz. »Ich fürchte, ich habe in den letzten Jahren vieles falsch gemacht.«

»Das kann man wohl sagen«, platzte Sandra heraus. Im nächsten Moment ärgerte sie sich über sich selbst. »Tut mir leid. Eigentlich wollte ich nicht mehr so rabiat sein.« Sie atmete tief durch. »Es genügt, dass dich unser Streit an den Rand des Grabs gebracht hat.«

»Unsinn!« Hugo winkte matt ab. »Das habe ich mir schon selbst zuzuschreiben. Die viele Arbeit, der ständige Stress mit den Jugendlichen …« Er räusperte sich. »Am meisten hat mir aber wahrscheinlich die Tatasche zugesetzt, dass ich meine Tochter einfach im Stich gelassen habe.«

Sandra beäugte ihren Vater misstrauisch.

»Verdrängung war noch nie eine gesunde Strategie.«

»Deshalb werde ich in Zukunft nicht mehr so viel arbeiten und stattdessen mehr Zeit mit dir verbringen«, teilte er ihr seinen Entschluss mit.

Doch wenn er gedacht hatte, sich mit diesem Vorsatz von jeder Schuld freizukaufen, so hatte er sich geirrt.

Sandra stand vor dem Bett und kämpfte schon wieder mit sich. Am liebsten hätte sie eine Schimpftirade auf ihn losgelassen. Doch diesmal hielt sie sich zurück. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und musterte ihren Vater nachdenklich.

»Das ist ja alles schön und gut. Aber leider bin ich inzwischen erwachsen. Ich brauche keinen Babysitter mehr. Und wenn du denkst, ich verbringe meine kostbare Freizeit jetzt ausschließlich mit dir, dann muss ich dich enttäuschen.«

Wohl oder übel musste Hugo einsehen, dass die geschlagenen Wunden nicht so leicht zu heilen waren.

»Nicht deine ganze freie Zeit. Aber vielleicht ein bisschen davon?«, fragte er so hoffnungsvoll, dass sich selbst Sandra erweichen ließ.

»Meinetwegen können wir uns ein Mal die Woche in einem Café treffen und uns ein bisschen unterhalten«, machte sie einen Vorschlag zur Güte. »Alles Weitere muss sich ergeben.«

Hugo ahnte, wie viel Überwindung sie dieses Zugeständnis kostete.

»Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen«, murmelte er noch, ehe er herzhaft gähnte. Jetzt, da das drängendste Problem besprochen war, legten sich die überstandenen Strapazen bleischwer auf seine Lider. Nun blieb ihm nichts anderes mehr zu tun, als gesund zu werden. »Danke!«, krächzte er noch, ehe ihm die Augen zufielen.

Eine Weile stand Sandra noch vor dem Bett und sah ihren Vater mit einer Mischung aus Enttäuschung und vager Hoffnung an. Als wieder einmal ein Fehlalarm über den Flur schrillte, löste sie sich von seinem Anblick und verließ das Zimmer. Höchste Zeit, nach diesem aufregenden, anstrengenden Tag heimzugehen.

*

Am nächsten Morgen wurde Kai Heerdegen von einem Rumoren geweckt. Im ersten Moment erschrak er. Doch schon beim zweiten Gedanken erinnerte er sich an den Besuch des vergangenen Tages.

»Svenja!«, murmelte er den Namen seiner Tochter. Verzückt lauschte er diesem neuen Klang. Erst als ihm Kaffeeduft in die Nase stieg, erwachte er aus seiner Versonnenheit. Er schwang sich aus dem Bett und gesellte sich nur fünf Minuten später zu Svenja.

»Gut geschlafen?«, begrüßte er sie und bewunderte den hübsch gedeckten Frühstückstisch.

»Perfekt.« Svenja bemerkte seinen Blick. »Ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich deine Küche auf den Kopf gestellt habe. Passt das so?«

»Ich freue mich, wenn du dich wie zu Hause fühlst«, lächelte Kai und rollte auf seinen Platz. »Du bist ja eine richtige Frühaufsteherin.«

»Nur notgedrungen.« Svenja setzte sich und reichte ihm den Brotkorb. Es wurde Zeit für die Wahrheit. »Mama wird heute früh operiert.«

Kai zog eine Augenbraue hoch.

»Was fehlt ihr denn?«

»Ein Tumor im Kopf.« Das klang immer noch besser als Gehirntumor, wie Svenja beschlossen hatte. Sie nahm sich eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter und Marmelade, die sie im Kühlschrank gefunden hatte. »Neurofibromatose heißt das Ding.«

»Viola ist krank?«, wiederholte Kai, als hätte er niemals mit dieser Möglichkeit gerechnet.

Svenja nickte mit vollem Mund. Sie trank einen Schluck Kaffee.

»Ich wusste schon die ganze Zeit, dass irgendwas nicht stimmt mit ihr. Aber die Diagnose war trotzdem ein ziemlicher Schock.«

»Das … das ist … «, hilflos brach Kai ab. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Tut mir leid, dass ich dich so damit überfalle. Aber das gestern war alles ziemlich viel. Ich wollte dich erst einmal ein bisschen kennenlernen. Sehen, wie du tickst.« Sie schob den Rest des Brotes in den Mund. Ihr Blick eilte hinüber zur Wanduhr über der Tür. »Ich will Mama vor dem Eingriff noch einmal sehen.« Sie schickte ihrem Vater einen hoffnungsvollen Blick. »Kommst du mit?«

Kai erschrak.

»Das ist … Das kommt … Puh …« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, erwiderte er schließlich. »Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Deine Mutter weiß ja noch nicht mal, dass du bei mir bist, oder?«

»Das wird sie sich schon denken.« Svenja dachte nicht daran, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie stellte die Tasse so hart auf den Tisch zurück, dass der Kaffee überschwappte. Aber sie kümmerte sich nicht darum. »Weißt du was? Vergiss einfach, dass ich hier war.« Sie stand auf und blickte abfällig auf Kai hinab. »Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich dich noch einmal belästige.« Sie hasste sich selbst dafür, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Wenn du Glück hast, habe ich selbst nicht mehr lange zu leben. Dann musst du dir eh keine Gedanken mehr machen.«

Ärgerlich wischte sie sich übers Gesicht, drehte sich um und lief aus dem Zimmer.

Starr vor Entsetzen saß Kai am Tisch und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Als die Haustür krachend ins Schloss fiel, zuckte er zusammen.

*

Schon am frühen Morgen wurde Viola von Schwester Elena abgeholt und auf den bevorstehenden Eingriff vorbereitet. Im Operationsbereich wartete Daniel Norden auf seine Jugendfreundin. Er war froh, dass sie sich am vergangenen Abend nicht im Streit getrennt hatten, und lächelte ihr aufmunternd zu, als sie auf der Liege hereingeschoben wurde.

»Wie fühlst du dich?«

Im Hintergrund herrschte geschäftige Betriebsamkeit.

Dr. Merizani und Dr. Weigand standen schon im OP und unterhielten sich noch einmal über die Befunde und diskutierten die Herangehensweise an den Feind. Zwei OP-Schwestern bereiteten alles Nötige vor. Und auch der Anästhesist Dr. Klaiber war schon vor Ort und prüfte seine Geräte für den kommenden Einsatz.

Viola heftete ihren hoffnungsvollen Blick auf Daniel.

»Ist Svenja nicht gekommen?«, fragte sie statt einer Antwort.

»Bis jetzt noch nicht.« Er schüttelte den Kopf mit der grünen Haube. »Aber wenn du nach dem Eingriff aufwachst, sitzt sie an deinem Bett. Das verspreche ich dir.«

Viola rang sich ein Lächeln ab.

»Gestern hast du behauptet, du seist Arzt und kein Märchenonkel.«

»Wollen wir wetten, dass sie da sein wird?«

Ehe Viola antworten konnte, trat Dr. Klaiber zu ihnen.

»Von mir aus können wir. Ich bin soweit.«

Daniel sah auf Viola hinab. Sie verzog das Gesicht.

»Etwas Besseres als Schlaf kann mir im Moment eh nicht passieren«, bemerkte sie.

»Das ist genau das, was ich hören wollte.« Arnold Klaiber lachte sie freundlich an, ehe er einen Schlauch in den Zugang an ihrem Handgelenk steckte. »Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn Sie nicht bei fünf schlafen, spendiere ich Ihnen ein Stück Kuchen in unserem Klinikkiosk.«

»Die Wette gewinne ich«, versprach Viola siegessicher und erwiderte Dr. Kalibers Lächeln. Im nächsten Moment flackerten ihre Augenlider und klappten zu.

»Eins, zwei, drei … Schade«, seufzte er bedauernd. »Mit dieser interessanten Frau hätte ich gern eine wache Stunde verbracht.«

»Das Leben ist kein Wunschkonzert«, teilte Daniel Norden ihm mit. Inzwischen trug er einen Mundschutz. Die Fältchen, die sich um seine Augen kräuselten, verrieten, dass er lächelte. »Dafür bekommst du ein paar schlafende Stunden mit ihr.«

»Ein schwacher Trost.« Arnold Klaiber warf einen Blick auf die Überwachungsgeräte. »Fangen wir an! Das lenkt mich von meinem Schmerz ab.«

Auf dieses Signal hatte das gesamte Team nur gewartet. Violas Kopf wurde in einer Drei-Punkt-Klemme fixiert. Daniel ließ sich zunächst Skalpell, dann Hochdruckbohrer reichen. Eine Weile arbeiteten die Ärzte schweigend vor sich hin, nur unterbrochen von den leisen Anweisungen von Dr. Norden, der schließlich an den Neurologen übergab. Dr. Klaiber überwachte die Vitalfunktionen seiner Patientin.

»Wie sieht es aus bei euch?«, fragte er nach einer ganzen Weile.

»Nicht so gut«, gestand Amir Merizani, ohne den Blick vom Operationsfeld zu wenden. »Der Tumor ist größer, als auf den Bildern erkennbar war.«

»Das hatten wir schon im Vorfeld befürchtet.« Dr. Weigand reichte ihm das angeforderte Gerät. »Wir sollten aufhören.«

Doch davon wollten weder der Neurologe noch Daniel Norden etwas wissen.

»Noch nicht«, entschied der Chefarzt.

»Aber eine komplette Resektion kannst du vergessen«, begehrte Weigand auf.

Arnold Klaiber warf einen Blick auf seine Geräte.

»Der Kollege Weigand hat recht.«

In diesem Moment meldete sich Dr. Merizani zu Wort.

»Eine Blutung.« Obwohl die Meldung alles andere als beruhigend war, war seine Stimme besonnen. »Sauger! Vorsichtig!«, mahnte er Matthias Weigand, der sofort zur Stelle war. »Tupfer! Schnell!« Ohne den Blick vom Operationsfeld zu wenden, schüttelte der den Kopf. »Ich sehe nichts. Wahrscheinlich stammt die Blutung aus dem Tumor. Clip!«, verlangte er.

»Ich sage es noch einmal: Wir sollten aufhören«, bemerkte Matthias scharf.

Doch Amir Merizani schien ihn gar nicht zu hören. Unbeirrt fuhr er fort, und Daniel Norden ließ ihn gewähren.

»Einen weiteren Clip!« Ohne sich umzudrehen, streckte er die Hand aus und nahm das Gewünschte entgegen. »Saugen!«, verlangte er dann.

Nervös kontrollierte Dr. Klaiber die Geräte.

»Blutung steht!«, vermeldete Dr. Merizani gleich darauf. Die Kollegen sahen sich kurz an und atmeten auf.

Der Neurologe lächelte.

»Solange die Wurzel im Wasser ist, lebt die Hoffnung auf eine Frucht«, murmelte er. »Wir versuchen einen anderen Weg. Ich habe eine Idee.« Er beugte sich wieder über das Operationsfeld, und nach kurzem Zögern taten es ihm seine Kollegen nach.

*

Svenja stolperte durch die Glastüren der Klinik und direkt in die Arme von Felicitas Norden.

»Da bist du ja wieder!«, begrüßte sie die junge Frau erleichtert. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht.« Svenja kam Fee gerade recht. Sie hatte die Ergebnisse aus dem Labor bekommen. Doch zuerst einmal musste sich ihre junge Freundin beruhigen.

Völlig außer Atem rang Svenja nach Luft.

»Wo … wo ist meine Mutter?«, fragte sie, als sich ihr Atem langsam beruhigte.

Felicitas sah auf die Uhr.

»Soviel ich weiß, wird sie seit einer Stunde operiert.«

»Wann kann ich sie sehen?«

Fee wiegte den Kopf.

»Das kann schon noch eine Weile dauern.« Die junge Frau tat ihr leid. »Hast du Lust auf einen Kaffee? Oder lieber Tee?«

»Ich glaube nicht, dass ich jetzt irgendwas runter bringe.«

»Du solltest aber etwas essen und trinken. Das ist gut für die Nerven«, erwiderte Felicitas freundlich, während sie Svenja in einen der Aufenthaltsräume brachte, die die ehemalige Klinikchefin Jenny Behnisch eigens für die Angehörigen ihrer Patienten eingerichtet hatte. Ungestört vom übrigen Publikum konnten sie dort die nervenaufreibenden Stunden bis zum Ende eines Eingriffs verbringen. Verschiedene Getränke, Kuchen und frisches Obst standen bereit, um die Energiereserven wieder aufzufüllen.

»Ich habe schon gefrühstückt«, murmelte Svenja, entschied sich aber doch für eine Tasse Tee.

Obwohl es Fee als Leiterin der Pädiatrie immer eilig hatte, nahm sie sich Zeit für die junge Frau. Sie schenkte sich selbst eine Tasse Tee ein und setzte sich mit Svenja an einen der Tische.

»Ich weiß, wie schwer es ist, nichts tun zu können.« Wie oft hatte sie selbst gehofft und um das Leben einer ihrer Lieben gebangt! Zu ihr war das Schicksal stets gnädig gewesen, und alle Geschichten waren gut ausgegangen. Gleichzeitig war Fee mehr als bewusst, dass sie Svenja keine ungerechtfertigten Hoffnungen machen durfte. Selbst der einfachste Routineeingriff barg ein Risiko. Ganz zu schweigen von einer Operation am Gehirn.

»Ich werde verrückt, wenn ich daran denke, noch so lange warten zu müssen«, gestand Svenja leise.

»Damit das nicht passiert, habe ich noch eine Neuigkeit für dich«, erwiderte Felicitas und trank einen Schluck Tee. »Ich habe vorhin die Ergebnisse der Blutuntersuchung bekommen.«

Svenjas Augen wurden groß und rund. Wollte sie die Wahrheit wirklich wissen? Plötzlich trommelte ihr Herz wie ein Schlagzeug.

»Und?«

Felicitas lächelte.

»Der Verdacht auf einen Gen-Defekt hat sich nicht bestätigt.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sie sich in einer stürmischen Umarmung wiederfand.

»O Mann, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh mich das macht«, stöhnte Svenja über die Maßen erleichtert. Für einen Moment war es Felicitas tatsächlich gelungen, Svenjas Gedanken von der Mutter wegzulocken.

Fee wollte gerade noch ein paar Worte dazu sagen, als sie von einem durchdringenden Geräusch gestört wurde.

»Ich fürchte, ich muss dich jetzt allein lassen«, seufzte sie nach einem Blick auf den Pieper, der sie in die Notaufnahme rief.

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin ja kein kleines Baby mehr.«

Fee stand schon an der Tür und drehte sich noch einmal um.

»Wir Mütter neigen leider dazu, das hin und wieder zu vergessen.« Sie zwinkerte Svenja zu, ehe sie sich im Laufschritt auf den Weg Richtung Notaufnahme machte. Unterwegs begegnete ihr ein Rollstuhlfahrer.

»Entschuldigung. Kann ich Sie kurz etwas fragen?«, rief er ihr nach.

Fee hielt inne.

»Wenn es nicht lange dauert.«

Kai Heerdegen versprach es.

»Ich bin auf der Suche nach Svenja Wagenknecht und ihrer Mutter Viola.«

»Frau Wagenknecht befindet sich gerade im OP. Aber Sie haben Glück. Zufällig weiß ich, wo Svenja steckt.« Trotz der Eile zögerte Felicitas. In seinem Gesicht hatte sie Züge entdeckt, die ihr bekannt vorkamen. »Sind Sie Svenjas Vater?«

Kai nickte.

»Das ist richtig.« Er hielt ihr die Hand hin. »Kai Heerdegen.«

Felicitas ergriff sie und drückte sie herzlich. Nebenbei stellte sie sich vor.

»Ich wusste nicht, dass Sie im Rollstuhl sitzen …«

»Ein Unfall nach meiner Zeit mit Viola«, erwiderte Kai leichthin.

Fee hätte noch tausend Fragen auf dem Herzen gehabt, die jedoch alle warten mussten.

»Ich muss jetzt leider in die Notaufnahme. Aber wenn Sie den Flur hinunterge …«

»… gehen. Sagen Sie ruhig gehen. Das tun wir Rolli-Fahrer auch dauernd«, beruhigte Kai sie.

Felicitas lächelte.

»Also gut. Wenn Sie den Flur hinunter durch die Glastür gehen, finden Sie links eine Art Aufenthaltsraum. Dort wartet Svenja auf ihre Mutter.«

»Vielen Dank.« Kai hob die Hand zum Gruß. Er legte die Hände an die Reifen, drehte den Rollstuhl mit geschickten Handgriffen um und fuhr davon.

*

Nur ein paar Minuten später stand er in der Tür zum Aufenthaltsraum. In Gedanken versunken stand Svenja am Fenster und blickte in den Garten hinab. Ein paar Kinder spielten Fangen, und für einen kurzen, sehnsüchtigen Moment wünschte sie sich, sie wäre eines von ihnen. Sorglos, unbeschwert, behütet.

Ein Räuspern in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Wortlos starrte sie den Mann im Rollstuhl an, nicht sicher, ob sie lachen oder weinen oder beides gleichzeitig tun sollte. Sie entschied sich gegen beide Optionen.

»Viola ist noch im OP«, erklärte sie stattdessen.

»So etwas kann dauern.« Erleichtert darüber, nicht direkt eine Abfuhr kassiert zu haben, kam Kai herein. Er rollte auf Svenja zu und blieb direkt vor ihr stehen. »Was hast du heute früh damit gemeint, als du gesagt hast, dass du selbst vielleicht nicht mehr lange zu leben hast?«

Zu seiner Erleichterung winkte Viola ab.

»Felicitas Norden hat vorhin Entwarnung gegeben.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, um mit ihrem Vater auf Augenhöhe zu sein. »Ich habe die Krankheit nicht von Mama geerbt.«

Kai atmete auf. Am liebsten hätte er sein Kind in die Arme geschlossen. Doch er wagte es nicht. Noch nicht.

»Ein Glück!« Er sah Svenja an und suchte nach Worten. »Ich hatte große Angst, dich gleich wieder zu verlieren. Jetzt, wo ich dich – oder vielmehr du mich – gefunden hast.« Er presste die Lippen aufeinander. Unterwegs hatte er sich die Worte zurechtgelegt, die er Svenja sagen wollte. Doch jetzt, da er ihr gegenübersaß, waren sie wie weggewischt. Sein Kopf schien leer wie eine blank geputzte Tafel. »Vorausgesetzt natürlich, du willst das alles noch«, fuhr er hilflos fort. »Ich meine, mich kennenlernen, ausprobieren wie das Leben mit Vater so ist …«

»Ja, ja, natürlich. Klar will ich das noch.« Svenja war sichtlich verwirrt. »Ehrlich gesagt dachte ich, du bist wegen Viola hier.«

Kai streckte die Arme aus und nahm Svenjas Hände in die seinen. Dabei sah er ihr fest in die Augen.

»Ehrlich gesagt bin ich wegen dir hier«, gestand er. Bevor Svenja ihrer Enttäuschung Luft machen konnte, fuhr er schnell fort. »Nicht, dass ich mich nicht für Viola und ihre Gesundheit interessiere. Ganz im Gegenteil. Und doch habe ich das Gefühl, dass zuerst wir beide dran sind. Nenne mich einen Egoisten. Aber ich habe dein ganzes Leben verpasst und will dich erst in aller Ruhe kennenlernen, bevor ich dich mit irgendjemand anderem teile. Und sei dieser andere deine Mutter.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Kannst du das verstehen?«

Svenja nickte, ohne dass sie lange über seine Frage nachdenken musste.

»Du hast recht. Mama mischt sich ziemlich viel in mein Leben ein. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich dich erst einmal nur für mich habe.« Auch wenn das vielleicht nicht lange dauern wird!, fügte sie ihm Geiste hinzu. Doch das sprach sie nicht laut aus. Sie hatte ihren Vater gefunden. Ein Anfang war gemacht. Alles andere würde sich finden. Das Wichtigste war nun, dass ihre Mutter wieder gesund wurde.

*

Erschöpft von dem anstrengenden Eingriff kehrte Dr. Matthias Weigand ein paar Stunden später in die Notaufnahme zurück. Er wollte schon in sein Büro abbiegen, als er eine vertraute Stimme hörte. Er blieb stehen und lauschte. Gleichzeitig reckte er den Hals. Kein Zweifel: Sandra stand an der Tür des Schwesternzimmers und unterhielt sich mit Schwester Elena. Sie schien seine Nähe zu spüren und wandte ihm den Kopf zu. Prompt drehte sich Matthias um und flüchtete in sein Büro. In diesem Augenblick hatte er weder Nerven noch Lust auf eine weitere nervenaufreibende Debatte mit Sandra.

»Elena hatte recht. Wie konnte ich nur behaupten, dass so ein Wahnsinn spannend ist?«, fragte er sich selbst. Vorsichtshalber schloss er die Tür hinter sich. Er ging zur Kaffeemaschine und hob prüfend die Kanne. Sie stand schon mehrere Stunden auf der Warmhalteplatte. Trotzdem schenkte er eine Tasse voll ein und trank einen Schluck. »Igitt!«

»Das nenne ich mal eine richtig nette Begrüßung.« Unbemerkt hatte Sandra die Tür geöffnet. Sie lehnte im Rahmen und musterte Matthias mit undurchdringlicher Miene.

»Kein Wunder. Schließlich ist die Besucherin genauso bitter wie der Kaffee hier«, konterte er unbarmherzig.

»So schlimm?« Sandra setzte eine mitfühlende Miene auf und schlenderte ins Zimmer.

»Noch viel schlimmer.« Demonstrativ setzte sich Matthias an den Schreibtisch und beugte sich über den Stapel Akten, der dort lag. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst. Ich habe zu tun.«

Doch Sandra rührte sich nicht vom Fleck. Matthias versuchte hartnäckig, sie zu ignorieren. Er schlug eine der Akten auf und überflog die erste Seite. Am Ende angekommen, konnte er sich nicht mehr an den Anfang erinnern. Seufzend klappte er die Akte wieder zu und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Arme vor dem Körper und musterte Sandra mit undurchdringlichem Blick.

»Bringen wir es hinter uns. Was willst du?«, fragte er schroffer als beabsichtigt.

Doch Sandra wusste, dass sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen durfte. Nicht, wenn sie sich noch etwas von Matthias erhoffte.

»Ich fürchte, ich habe mich benommen wie eine Idiotin«, gestand sie leise. »Es tut mir leid.«

Matthias Weigand hatte mit allem gerechnet. Nur nicht mit einem Schuldeingeständnis oder gar einer Entschuldigung. Erleichtert stellte Sandra fest, dass er schon nicht mehr so grimmig dreinsah.

»Warst du bei deinem Vater?«, fragte er statt einer Antwort.

»Ja. Gestern Abend. Wir haben uns unterhalten.«

»Und? Habt ihr euch ausgesprochen?«

Sandra biss sich auf die Unterlippe.

»So würde ich es nicht nennen. Es ist viel passiert zwischen uns. Das geht nicht so einfach. Aber wer weiß, vielleicht gibt es für uns beide ja doch noch einen Weg.«

In diesem Moment konnte und wollte Matthias das Lächeln nicht länger zurückhalten.

»Das klingt zumindest nach Waffenstillstand. Wenn nicht sogar nach Friedensverhandlungen.«

»Stimmt.« Sandra sah ihm so tief in die Augen, dass ihm heiß und kalt wurde. »Und wie ist das mit uns? Trittst du mit mir auch in Friedensverhandlungen ein?«, fragte sie fast schüchtern.

Matthias wiegte den Kopf.

»Das kommt darauf an.«

»Auf was?«

»Darauf, dass du akzeptierst, dass ich eine eigene Meinung zu den Dingen habe und dir nicht nach dem Mund rede.«

»Natürlich. Wer will denn schon einen Ja-Sager?« Sie kam um den Schreibtisch herum und ging vor ihm in die Knie. »Ich weiß, dass ich ein aufbrausendes Temperament habe, und ich arbeite daran«, versprach sie innig. »Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass ich dieses Problem sofort und zuverlässig in den Griff bekomme.«

Am liebsten hätte Matthias sie in seine Arme geschlossen. Doch ein wenig Strafe musste sein.

»Was bekomme ich, wenn du mich wieder einmal vor allen Leuten so dumm anredest?«, fragte er lauernd.

Sandra, die spürte, dass sie gewonnen hatte, gluckste leise.

»Such dir was aus«, bot sie großzügig an in Erwartung besonderer Liebesdienste, die er sich von ihr wünschte.

»Gut. Wenn das so ist, übernimmst du jedes Mal meinen Nachtdienst.« Vergnügt rieb sich Matthias die Hände. »Ich freue mich schon auf eine ruhige Zeit.«

Schlagartig verfinsterte sich Sandras Miene.

»Du Schuft! So hatten wir nicht gewette …« Mitten im Satz hielt sie inne. Sie hatte das belustigte Funkeln in seinen Augen entdeckt. Sofort änderte sie ihre Strategie. »Darüber müssen wir uns noch unterhalten«, erklärte sie. Ehe Matthias Gelegenheit zu einer Antwort hatte, schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn, dass ihm Hören und Sehen verging.

»Einverstanden«, raunte er dicht an ihren Lippen, als das schrille Piepen an seinem Gürtel der Versöhnungsfeier ein jähes Ende bereitete. »Heute Abend bei mir?«

»Aber nur, wenn du nicht kochst«, lachte Sandra und schickte ihm einen Handkuss, ehe er mit fliegendem Kittel um die Ecke verschwand.

*

Schwester Elena hatte Svenja über den guten Ausgang der Operation informiert und brachte sie auf die Intensivstation, ehe auch sie in der Notaufnahme gebraucht wurde.

»Es ist das dritte Zimmer auf der rechten Seite«, sagte Elena noch, ehe sie sich verabschiedete.

Svenjas Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Die Zimmertür ihrer Mutter stand offen. Dort blieb Svenja stehen und beobachtete Daniel Norden dabei, wie er die Werte der Überwachungsgeräte überprüfte und seine Beobachtungen in einem Patientenblatt eintrug.

Als er Svenjas Blick auf sich fühlte, hob er den Blick und lächelte.

»Komm nur rein. Ich habe auf dich gewartet.«

Svenja fasste sich ein Herz und trat näher. Viola trug einen Kopfverband und hatte die Augen geschlossen.

»Wie geht es Mama?« Ihre Stimme zitterte.

Daniel legte die Hand auf ihre Schulter.

»Den Umständen entsprechend gut. Ich bin überzeugt davon, dass sie gute Chancen hat.« Er nickte der jungen Frau aufmunternd zu. »Du kannst ein paar Minuten bei ihr bleiben. Ich bin im Schwesternzimmer, falls du mich brauchst.« Daniel schickte ihr ein Lächeln, ehe er das Zimmer verließ.

Einen kurzen Augenblick fühlte sich Svenja allein und verlassen. Doch der Moment verging so schnell, wie er gekommen war. Sie streckte die Hand aus und streichelte die Finger ihrer Mutter.

»Mama?«

Viola lächelte, noch bevor sie blinzelnd die Augen öffnete.

»Svenja, da bist du ja endlich.« Im Gegensatz zu ihrer verwaschenen Stimme war der Ausdruck in ihren Augen klar. »Wo hast du nur so lange gesteckt?«

»Ich war bei Kai.«

Violas Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Ich wusste es«, flüsterte sie. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Und?«

»Es war sehr wichtig, dass ich ihn gefunden habe.« Svenja machte eine Pause. »Für uns alle.«

»Dann bleibst du hier bei ihm in München?«, ließ die nächste, bange Frage nicht auf sich warten.

Svenja lachte leise.

»Nein. Aber natürlich bleibe ich erst einmal hier, bis klar ist, wie es mit dir weitergeht. Diese Gelegenheit können Kai und ich nutzen. Wir wollen uns ab jetzt öfter treffen und uns kennenlernen.«

Viola schluckte und nickte tapfer, ehe sie beschloss, das Thema zu wechseln.

»Daniel hat mir vorhin von deiner Blutprobe erzählt. Du bist gesund!« Sie drückte Svenjas Hand. »Ich glaube, das ist das allergrößte Geschenk. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich dir meine Krankheit vererbt hätte …«

»Mama, bitte!«, mahnte Svenja streng. »Du solltest dich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass nun mal nicht alles in deiner Hand liegt.«

»Du hast ja recht«, gestand Viola mit flatternden Augenlidern. Die Anstrengungen der Operation, die Aufregung der vergangenen Tage steckten ihr noch in den Knochen. »Keine Angst. Ich habe mir vorgenommen, vieles anders zu machen.« Sie schloss die Augen und atmete schwer.

Es wurde Zeit für Svenja, aufzubrechen.

»Mach dir nicht so viele Gedanken, Mama. Alles wird gut. Gemeinsam finden wir einen Weg. Du, Papa und ich. Ich bin ganz sicher«, versprach sie feierlich und stand auf. »Und solange wir solche Freunde wie die Nordens haben, kann gar nichts schief gehen«, fügte sie auf tiefstem Herzen hinzu und lächelte hinüber zu Fee Norden, die sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel wischte, bevor auch sie ihre Glückwünsche überbrachte.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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