Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Aufstehen!« Tatjana Bohde stand neben dem Bett und blickte auf ihren Freund hinab. Schon vor einer Stunde hatte ihr alter blecherner Wecker geklingelt, der imstande war, sogar Tote aufzuwecken. Doch Dr. Danny Norden schlief immer noch tief und fest. »Heute ist dein großer Tag!«

Danny kroch tiefer unter die Decke. Er sah die Dinge völlig anders als Tatjana und kniff die Augenlider fest zu.

»Wendy ist bestimmt schon in der Praxis. Sie lüftet die Zimmer, gießt die Blumen und ordnet die Zeitschriften im Wartezimmer, während du, ihr Chef, noch faul im Bett herumliegst.«

Er ließ ein demonstratives Schnarchen verlauten, um Tiefschlaf vorzutäuschen. Tatjana sollte nur nicht denken, dass ihr perfider Plan – ihn mit einem schlechten Gewissen aus dem Bett zu treiben – aufgehen würde.

»Wenn sie damit fertig ist, geht sie in die Küche und setzt Kaffee auf«, fuhr Tatjana unbeeindruckt fort. »Auf dem Tresen steht ein großer Blumenstrauß. Alles soll perfekt sein an diesem denkwürdigen Tag.«

Am liebsten hätte sich Danny ganz unter die Bettdecke verkrochen. Aber er durfte sich nicht bewegen. Schon die kleinste Bewegung hätte ihn verraten. Tatjanas untrügliches Gespür für ihre Umwelt war legendär und manchmal sogar unheimlich.

Doch es war zu spät. Dannys unregelmäßige Atemzüge hatten ihn verraten. Tatjana holte zum ultimativen Schlag aus.

»Janine bereitet inzwischen die Überraschung vor, die wir uns für dich ausgedacht haben.«

In diesem Moment konnte Danny nicht länger an sich halten.

»Überraschung?« Er setzte sich kerzengerade im Bett auf und starrte Tatjana an. »Sag bloß, du hast deine sagenumwobene Prinzregententorte für mich gebacken?« Allein beim Gedanken an diese Köstlichkeit, die nur zu ganz besonderen Anlässen auf den Tisch kam, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

»Ach, sieh mal einer an.« Sie lächelte maliziös auf ihn hinab. »Du bist ja doch wach!«

»Gerade erst aufgewacht«, versprach Danny und hob die Hand zum Schwur, nicht ohne die Zehen zu überkreuzen.

»Überleg dir gut, was du tust!« Mit einem Ruck zog Tatjana die Bettdecke weg. Streng deutete sie auf seine Zehen. »Du bist gerade dabei, deine Überraschung zu verspielen.«

»O bitte, Jana, es ist so früh.« Verzweifelt flehte Danny um Gnade. »Da kann noch kein vernünftiger Mensch solche Diskussionen führen.«

Er stopfte sich das Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. »Warum hast du mich überhaupt schon aufgeweckt?«

»Weil das vermutlich das letzte Mal in unserer Beziehung ist, dass wir gemeinsam frühstücken werden.«

Danny fiel von einem Schrecken in den nächsten.

»Verlässt du mich? Schon wieder? Was habe ich denn diesmal getan?«, stellte er panisch eine Frage nach der anderen.

»Du bist ab heute alleiniger Chef der Praxis Dr. Norden. Realistisch, wie ich bin, weiß ich, dass deine Zeit in Zukunft knapp bemessen sein wird.« Mit verschränkten Armen stand sie vor dem Bett und sah zu ihm hinunter. »Deshalb wollte ich noch einmal die Ruhe mit dir genießen. Komm!« Sie wollte sich umdrehen, als sie fühlte, wie sie an der Hand gepackt wurde. Wenige Augenblicke später fand sie sich rücklings auf der Matratze wieder. Danny kniete über ihr und funkelte sie belustigt an.

»Realistisch, wie du bist, hättest du wissen müssen, dass ich deinen Plan vereiteln werde.« Er beugte sich über sie und küsste sie, dass ihr Widerstand schmolz wie Schnee in der Sonne. Als er sich von Tatjana gelöst hatte, betrachtete er sie nachdenklich. »Du machst dir doch nicht wirklich Sorgen?«, stellte er die naheliegende Frage.

Das übermütige Blitzen in Tatjanas Augen verschwand.

»Ehrlich gesagt schon ein bisschen.« Sie versetzte Danny einen Schubs und rollte sich zur Seite.

»Aber das musst du nicht. Dad ist doch schon seit ein paar Wochen nicht mehr in der Praxis. Hat sich deshalb etwas an meinen Arbeitszeiten geändert?«

»Bis jetzt nicht«, räumte Tatjana ein. »Aber erstens war es eine ruhige Zeit. Und zweitens ist er immer in die Praxis gekommen, um dich zu unterstützen, wenn Not am Mann war. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein.«

Danny unterdrückte ein Seufzen. Auf keinen Fall sollte Tatjana denken, dass er sie nicht ernst nahm.

»Du darfst nicht vergessen, dass ich immer mehr Routine bekomme. Und außerdem: Schau dir Mum und Dad an. Jahrelang war mein Vater der einzige Arzt in der Praxis. Und trotzdem ist es ihnen gelungen, ihre Beziehung zu pflegen.«

»Aber deine Mutter hat viele Jahre nicht gearbeitet. Ich dagegen habe einen Job mit unmöglichen Arbeitszeiten.«

»Und meine Mutter hatte fünf Kinder mit unmöglichen Schlafgewohnheiten«, konterte Danny und streckte die Hand aus, um Tatjana über die Wange zu streicheln.

In einem Anfall von Zärtlichkeit hielt sie sie fest und küsste sie, nur um sie im nächsten Moment fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel.

»Was machst du da mit mir, Danny Norden junior?«, fragte sie in gespielter Empörung und stand endgültig auf. »Ich bin viel zu nett. So hält man auf Dauer keinen Mann.«

»Mann nicht. Du schon«, witzelte er und rollte sich aus dem Bett. »Komm, lass uns frühstücken. Wenn du depressiv wirst, ist meist der Hunger daran schuld.« Gut gelaunt nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich in die Küche, wo sie schon ein fürstliches Frühstück vorbereitet hatte. Auch wenn sie kein zärtlicher Mensch war, bewies sie Danny mit diesen Gesten immer wieder, wie wichtig er ihr war. Wie unerschütterlich sie zu ihm stand und an ihn glaubte. Niemals würde er sie enttäuschen. Auch nicht als alleiniger Chef der Praxis Dr. Norden. Und falls es doch einmal zu Problemen kommen sollte, wusste er, an wen er sich wenden konnte. Solange Danny denken konnte, waren ihm seine Eltern als leuchtendes Beispiel vorangegangen, und er wollte nichts weniger, als in ihre Fußstapfen zu treten.

»Aber über die Anzahl der Kinder müssen wir uns noch unterhalten«, unterbrach Tatjana seinen Gedankengang.

Danny stutzte einen Moment.

»Kannst du Gedanken lesen?« Da war sie wieder, ihre unheimliche Sensibilität.

»Hab ich von deiner Mum gelernt.« Sie zwinkerte ihm zu. Gleichzeitig griff sie nach einem Croissant, bestrich es mit Butter und schob es ihm in den Mund.

*

»Halt, warte! So kannst du unmöglich in die Klinik gehen!« Als Daniel Norden Anstalten machte, das Esszimmer zu verlassen, sprang seine Frau Felicitas vom Stuhl auf und lief ihm nach.

Sie erwischte ihn an der Hand und drehte ihn zu sich herum. »Was hast du denn mit der Krawatte angestellt?« Kopfschüttelnd nestelte sie am Knoten und schob ihn zurecht.

»Schlimm genug, dass ich überhaupt so ein Ding tragen muss.« Dr. Norden versteckte seine Nervosität hinter einer gehörigen Portion Unwillen. »Dabei bin ich nur deshalb Arzt geworden, damit ich keine Krawatte tragen muss.«

»Pech gehabt, mein Lieber. Daran wirst du dich als Direktor einer Klinik gewöhnen müssen.« Fee schob ihn ein Stück von sich und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»Wieso? Jenny hat doch auch keine getragen«, witzelte er.

Spontan stellte sich Felicitas auf die Zehenspitzen und küsste ihren Mann.

»Keine Angst, mein Schatz. Das heute ist doch nur noch eine Formalität. Faktisch bist du doch schon seit Wochen Chef der Behnisch-Klinik.«

»Trotzdem ist es etwas anderes. Du als Psychologin müsstest das doch eigentlich wissen.«

»Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und das nur halb«, korrigierte sie ihn. »Wartest du auf mich? Dann fahre ich gleich mit dir mit.«

»Wolltest du nicht unterwegs noch bei Tatjana vorbei schauen? Dafür habe ich keine Zeit.«

»Nicht nötig. Sie unterstützt Lenni heute im Klinikkiosk und bringt mir die Sachen gleich mit.«

»Welche Sachen?« Daniel betrachtete seine Frau mit schief gelegtem Kopf.

»Seit wann bist du so neugierieg? Das war doch bisher keine deiner hervorstechenden Eigenschaften.«

Er zwinkerte ihr zu.

»Schön, dass ich dich immer noch überraschen kann.«

»Auch das ist ein Grund, warum ich dich so liebe.« Fees zärtlicher Blick ruhte auf ihrem Mann, ehe er sie sehr unromantisch daran erinnerte, dass es höchste Zeit wurde, sich endlich auf den Weg zu machen.

»Schließlich will ich nicht gleich an meinem ersten Tag zu spät kommen.« Er schlüpfte in den Mantel, griff nach den Autoschlüsseln und trat hinaus in den noch jungen Morgen. Vor der Tür blieb er stehen und atmete tief ein. Die Luft war frisch und kühl. Die Eiseskälte der vergangenen Wochen hatte den Widerstand endlich aufgegeben und sich in höhere Lagen verzogen. Fröhlich zwitschernd begrüßten die Vögel die Ahnung von Frühling. War der Himmel an den vergangenen Tagen noch trüb und grau gewesen, war er an diesem Morgen klar und wolkenlos.

»Sieh mal einer an. Hast du Petrus bestochen?«, fragte Fee, als sie neben ihrem Mann nach draußen trat. Aus Gewohnheit hatte sie die Mütze tief ins Gesicht ziehen wollen. Beim Anblick des herrlichen Wetters beschloss sie aber, sie zu Hause zu lassen.

»Bestechung ist ein Fremdwort für mich«, brummte Daniel unwillig. Seine Verstimmung lag beileibe nicht an dem neuen Posten, den er an diesem Tag hochoffiziell übernehmen sollte. Es ging vielmehr um seinen Unwillen, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Dabei hatte die Chefin Jenny Behnisch auf eine große Übergabezeremonie verzichtet. Eine kleine Veranstaltung war auch ganz in ihrem Sinne.

Auch wenn er es nicht laut aussprach, wusste Felicitas um seine Gedanken.

»Sag bloß, du gönnst den Kollegen den Sekt nicht«, scherzte sie gut gelaunt. Sie sah der Zukunft optimistisch entgegen und freute sich auf die Zusammenarbeit mit ihrem Mann.

»Nur einem nicht«, erwiderte Daniel auf dem Weg zum Wagen. »Aber diese Missgunst beruht auf Gegenseitigkeit.« Er ließ die Schlösser des Wagens aufschnappen und hielt seiner Frau die Tür auf.

Fee dankte ihm mit einem Lächeln und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

»Kein Wunder. Schließlich hast du Lammers‘ ehrgeizige Pläne durchkreuzt«, bemerkte sie und schnallte sich an.

Daniel startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und lenkte den Wagen aus dem Carport.

»Ich dachte, er hat es auf deinen Posten abgesehen.«

»Das ist sein Nahziel. Aber wenn sich die Chance geboten hätte, hätte er bestimmt auch nicht nein zur Klinikleitung gesagt«, unkte Fee.

Sie wusste nicht, dass Volker Lammers seine Fühler tatsächlich ausgestreckt, sie aber schnell beleidigt wieder eingezogen hatte, als Jenny Behnischs Entscheidung die Runde in der Klinik machte.

»Damit könntest du durchaus recht haben.«

Dr. Norden ahnte schon jetzt, dass ihm keine leichten Zeiten bevorstanden.

Nichtsdestoweniger überwog inzwischen die Freude über die neue Herausforderung. Er war sich der Ehre wohl bewusst, die seine langjährige Freundin Jenny Behnisch ihm zuteil werden ließ. Nicht viele Menschen in seinem Alter bekamen die Chance, noch einmal beruflich derart durchzustarten. Diese Gedanken beschäftigten ihn, bis er den Wagen auf dem Klinikparkplatz abstellte.

»Wir sehen uns später bei Jennys Feier«, raunte Fee ihm zu, als sie gemeinsam durch die Türen der Behnisch-Klinik traten.

Wie immer herrschte dort lebhaftes Treiben. Angehörige und Patienten bevölkerten die Lobby ebenso wie Schwestern, Pfleger und Ärzte. Daniel Norden war dankbar dafür, dass niemand von ihm Notiz nahm, als er durch die Lobby dem Aufzug entgegenstrebte. Oben angekommen, schlug er wie in den vergangenen Wochen auch den Weg Richtung Jennys Büro ein.

Nach einem Magengeschwür und einer schicksalhaften Operation, die sie um ein Haar das Leben gekostet hatte, war die Klinikchefin eine andere geworden. Zur großen Überraschung ihrer Freunde hatte sie die langjährige Bitte ihres Lebensgefährten endlich erhört und Daniel die Klinikleitung angeboten. Trotz der Ehre hatte er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Zu groß war seine Sorge, in einen ähnlichen Sog zu geraten wie Jenny viele Jahre lang. Erst die Versicherung seiner Familie, das nicht zuzulassen, hatte ihn endlich überzeugt.

»Ich tue das Richtige!«, sprach er sich selbst Mut zu, als er vor der Tür zum Vorzimmer stand. Er gab sich einen Ruck, klopfte an und trat ein. »Einen wunderschönen guten Morgen, Andrea«, begrüßte er die Assistentin, die schon an ihrem Platz saß.

»Das können Sie laut sagen. Sie haben herrliches Wetter mitgebracht«, erwiderte Andrea Sander seinen Gruß gut gelaunt. »Wenn das kein gutes Zeichen ist …« Sie zwinkerte ihm zu und deutete auf die angelehnte Tür, aus der leises Summen klang. Ein verstörend fremdes Geräusch aus Jenny Behnischs Büro. »Gehen Sie nur rein. Sie werden erwartet.«

»Danke!« Er nickte ihr zu, zögerte einen winzigen Augenblick und schob die Tür auf.

Jenny war gerade dabei, ihr persönliches Hab und gut aus Regalen und Schränken in einen Umzugskarton zu packen. Einen Bildband in den Händen – das Geschenk eines angesehenen Kollegen – drehte sie sich zu ihm um.

»Ach, Daniel, da bist du ja! Schön, dich zu sehen.« Sie begrüßte ihn mit einem Küsschen rechts und links auf die Wange, um sich gleich darauf wieder über den Karton zu beugen. »Jetzt wird es ernst.« Sie legte das Buch in die Kiste und blickte einen Moment lang versonnen hinein. So einfach war es also, die Vergangenheit verschwinden zu lassen!

Daniels Räuspern riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir die Feierlichkeiten so klein halten.« Ähnlich Daniel Norden war sie nie eine Freundin großer Reden gewesen.

»Du sprichst mir aus der Seele.« Er machte einen Schritt auf sie zu und musterte das Gesicht der Frau, die er schon so lange kannte. Dies war der richtige Moment, um ihr das zu sagen, was ihm schon eine Weile auf dem Herzen lag. »Trotzdem will ich nicht darauf verzichten, dir zu sagen, dass es mir ein Anliegen und eine Ehre ist, deine Klinik in deinem und Dieters Sinne weiterzuführen.« Während er sprach, füllten sich seine Augen mit lange zurückliegenden Erinnerungen. Seit Jenny ihm die Leitung angeboten hatte, musste er so oft wie lange nicht an seinen Studienkollegen Dieter Behnisch denken. Lustige Zeiten waren das gewesen, bevor der Ernst des Lebens sie gefangen genommen hatte. Doch auch danach hatten sich die Freunde nicht aus den Augen verloren. Daniel erinnerte sich noch genau an seine erste Begegnung mit der spröden, unnahbaren Ärztin Dr. Jenny Behnisch, die einige Zeit in einem Entwicklungsland in Afrika gearbeitet hatte. Bis zum Tod ihres Mannes hatte sie in der Klinik mitgearbeitet und danach die Leitung übernommen. Inzwischen war die kleine Privatklinik nicht wiederzuerkennen. »Dieter wäre wahnsinnig stolz gewesen auf dich. Auch wenn der sture Esel das niemals gezeigt hätte.« Daniel lächelte mit einer Mischung aus Schmerz und dankbarer Erinnerung.

»Ich bin dir wirklich zutiefst verbunden, dass du meine Standhaftigkeit nicht vor Publikum auf die Probe gestellt hast.« Daniel konnte sich nicht daran erinnern, Jenny je weinen gesehen zu haben. An diesem Morgen aber wischte sie sich tatsächlich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Doch der schwache Moment verging schnell, und als sie sich wieder umdrehte, war alles wie immer. »Das hier ist ab heute dein Reich.« Mit einem letzten prüfenden Blick klappte sie den Karton zu.

Auf dieses Stichwort schien Andrea Sander nur gewartet zu haben.

»Ich hätte da schon ein kleines Geschenk für Sie!« Sie trat durch die offene Tür und reichte Dr. Norden ein kleines Paket.

Sichtlich verlegen nahm Daniel es entgegen.

»Aber ich habe doch nicht Geburtstag heute.«

»Sie werden es trotzdem schätzen. Nachdem wir keinen Hausmeister haben …« Der Rest des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.

Während Daniel das Papier aufriss, tauschten Jenny und Andrea wissende Blicke.

»Ein Zollstock? Wofür das denn?«

»Sie wollen doch sicherlich ihre eigene Einrichtung haben. Da leistet so ein Meterstab ganz gute Dienste«, erwiderte Andrea augenzwinkernd.

Dr. Norden lachte dankbar.

»Das Wichtigste ist, dass Sie in dieses Büro passen. Und das haben Sie ja schon oft genug bewiesen.«

Andrea Sander konnte kaum glauben, was sie da hörte.

»Oh, Chef! Das ist das schönste Kompliment, das ich seit Jahren bekommen habe.«

»Dann wurde es aber höchste Zeit«, erwiderte Daniel, als Jenny in die Hände klatschte.

»Genug Gefühlsduselei für heute.« Plötzlich war ihre Stimme so resolut wie eh und je. »Daniel, auf dem Schreibtisch liegt eine Unterschriftenmappe. Und wenn ich mich nicht irre, ist dein Terminkalender brechend voll.« Ehe er etwas darauf erwidern konnte, wandte sie sich an ihre Assistentin. »Und Sie besorgen mir bitte einen starken Mann, der diese Kartons in meinen Wagen bringt.«

»Natürlich, Chefin.« Sofort verschwand Andrea Sander aus dem Zimmer und hinter ihrem Schreibtisch.

Jenny lächelte zufrieden.

»Es wird mir fehlen, dass alle nach meiner Pfeife tanzen«, sagte sie zu Daniel, der inzwischen am Schreibtisch saß und in der Mappe blätterte.

»Dafür kenne ich einen, der sich schon auf die Zähmung der Widerspenstigen freut«, unkte er und konnte sich ein kleines, freches Lachen nicht verkneifen.

*

Tatjanas Prophezeiung sollte nicht in Erfüllung gehen. Danny Norden hatte die Praxis kaum betreten und die obligatorische Tüte Brötchen und Gebäck auf den Tresen gelegt, als ihn der Alltag auch schon gefangen nahm. Eine junge Patientin betrat kurz nach ihm die Praxis. Die Assistentin Janine, die schon mit einem Blumenstrauß in der Tür zur kleinen Küche stand, zog sich wieder zurück. Wendy stellte die Torte wieder in den Kühlschrank.

»Guten Morgen, Frau Staller«, begrüßte Danny seine Patientin überrascht. Wegen eines Bandscheibenvorfalls war sie bereits mehrfach in der Praxis gewesen. Da er ihr mit konventionellen Schmerzmitteln, Krankengymnastik und verschiedenen Therapiearten nicht helfen konnte, hatte er sie zu einem Facharzt überwiesen. »Konnte Ihnen der Kollege Wagenknecht nicht helfen?« Er war sichtlich überrascht, sie so unvermutet wieder vor sich zu sehen. Rasch tauschte er die Jacke gegen einen frischen Kittel.

»Dieser Arzt ist unsympathisch und arrogant«, beschwerte sich Sarina mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Deshalb habe ich die Bilder verlangt und bin wieder gegangen.«

»Oh, das tut mir leid.« Danny kannte solche Fälle. »Die Geschmäcker sind leider verschieden. Viele unserer … meiner Patienten sind begeistert von Dr. Wagenknecht.«

»Zu denen gehöre ich definitiv nicht«, stöhnte Sarina. Ihre Stimme verriet, dass sie den Tränen nahe war. »Bitte, Herr Dr. Norden, Sie müssen mir helfen.« Sie reichte ihm die Hülle mit der CD.

Danny dachte nicht lange nach. Er gab Wendy ein Zeichen, ehe er Sarina unter dem Ellbogen fasste und in sein Behandlungszimmer brachte.

»Können Sie sich setzen?« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Oder ist liegen besser?«

»Liegen.«

»Gut. Dann gehen wir hinüber ins Behandlungszimmer. Da steht eine Liege.« Er half ihr hinüber und bettete sie so bequem wie möglich. Dass es trotzdem noch nicht gut war, verriet ihr Gesicht.

»Dann wollen wir mal sehen, was der Kollege da Hübsches aufgenommen hat.« Er setzte sich an den kleinen Tisch und schob die CD in den Computer. Ein paar Augenblicke später betrachtete er Sarina Stallers Wirbelsäule. Nachdenklich klickte er sich durch die Bilder.

»Das sieht leider nicht gut aus.« Er drehte den Bildschirm so, dass sie etwas sehen konnte. »Sehen Sie diese Stelle hier? Dort drückt der Gallertkern der Banscheibe auf einen Nervenstrang. Ist das über einen längeren Zeitraum der Fall, droht eine irreparable Schädigung der Nerven.« Er wiegte den Kopf. »Wenn bisher keine Therapie angeschlagen hat, bleibt nichts anderes übrig als eine Operation.«

»Oh.« Sarina stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

»Keine Sorge.« Sofort war Danny darum bemüht, sie zu beschwichtigen. »Dieser Eingriff wird heutzutage meist endoskopisch durchgeführt. Wenn möglich, wird der aus der Bandscheibe ausgetretene Gallertkern in einem halbstündigen Eingriff endoskopisch entfernt.« Wie sein Vater auch setzte er auf Aufklärung, um den Patienten die Ängste zu nehmen. »In der Regel sind die Beschwerden danach meist schlagartig verschwunden.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.« Wieder stöhnte Sarina Staller, diesmal bei dem Versuch, die Position auf der Liege zu wechseln. »Allein der Gedanke daran, endlich mal wieder eine Nacht durchzuschlafen, ist ein Traum.«

»Dann wollen wir Ihren Traum so schnell wie möglich Wirklichkeit werden lassen«, lächelte Danny und griff zum Telefon, um Sarinas Ankunft in der Behnisch-Klinik anzukündigen.

Sie wartete geduldig, bis er das Telefonat beendet hatte.

»Sind Sie sich auch wirklich sicher, dass alles gut geht?«, fragte sie, während er ihr von der Liege aufhalf. »Ich bin nämlich noch nie operiert worden.«

»Natürlich birgt jede Operation ein Risiko«, gestand Dr. Norden junior offen. »Ich kann aber guten Gewissens sagen, dass die Kollegen in der Behnisch-Klinik sehr erfahren sind und sehr gute Erfolge erzielen.«

»Ich vertraue Ihnen blind.« Wenn Sarina nicht so große Schmerzen gehabt hätte, hätte sie ein wenig mit dem gutaussehenden Arzt geflirtet. So aber musste sie wohl oder übel auf diesen kleinen Spaß verzichten und konnte es kaum erwarten, bis das Taxi endlich vor der Praxis hielt, um sie unverzüglich in die Klinik zu bringen.

*

»Frau Baader und ihr Mann sind erst in zehn Minuten dran. Das muss reichen für unsere Überraschung!« Wendy hörte die Stimmen im Flur und warf einen Blick auf den Terminkalender.

Sofort sprang Janine vom Schreibtisch auf und holte den Blumenstrauß, als sich die Tür öffnete und ein unerwarteter Gast hereinkam.

»Sind die für mich?«, fragte Sebastian Klotz und strahlte übers ganze Gesicht.

Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Janine um und verschwand mitsamt den Blumen wieder in der Küche. Wendy übernahm die Antwort.

»Natürlich nicht! Wie kommen Sie überhaupt auf so eine Idee?«

In diesem Moment erschien Danny auf der Bildfläche. Das Taxi wartete schon. Er half Sarina in die Jacke und begleitete sie zur Tür. Auf dem Weg zum Tresen bemerkte er, wie Janine die Augen verdrehte.

»Ich kann Ihnen das gern mal bei einem Glas Wein erklären«, fuhr der Pharmareferent ungeniert fort. Früher war er ebenso regelmäßiger wie lästiger Besucher in der Praxis Dr. Norden gewesen. Dabei galt sein Hauptinteresse den beiden Assistentinnen und nicht seiner Arbeit. Zu dumm nur, dass er die Bedeutung des Wörtchens Nein nicht verstand. Nach einer schweren Erkrankung, während der sich Wendy mitfühlend um ihn kümmerte, hatte er sich aber schon eine ganze Zeitlang nicht mehr blicken lassen. Wollte er die alte Gewohnheit nun wieder aufleben lassen? »Oder wie wäre es mit einem Abendessen zu zweit? Das war doch ganz schön damals. Finden Sie nicht?« Er lächelte, während Wendy mit den Augen rollte.

Danny bemerkte den Blick seiner Assistentin.

»Einen wunderschönen guten Tag, Herr Klotz.«

Der Pharmareferent zuckte zusammen. Er hatte den Chef nicht bemerkt.

»Oh, hallo, Herr Dr. Norden junior.«

»Sie irren. Seit heute bin ich Alleinherrscher über diese Latifundien«, erwiderte Danny. Im Normalfall war ihm sein Status egal. Nicht aber bei diesem besonders lästigen Exemplar Besucher, der seinen Assistentinnen offenbar schon wieder den Hof machte. »Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Was gibt es Neues?«

»Oh, gesundheitlich ist wieder alles bestens …«

Nur mit Mühe konnte sich Danny Norden ein Lachen verkneifen. Er wusste, dass sich Wendy damals wirklich Mühe mit Sebastian gegeben, schließlich aber völlig entnervt aufgegeben hatte.

»Ein Elefant im Porzellanladen ist eine Elfe im Gegensatz zu ihm«, hatte sie erzählt.

Daran erinnerte er sich, als er antwortete:

»Ich meinte, was es Neues an Medikamenten gibt.«

»Ach so.« Sebastian Klotz schluckte und fuhr sich über die einsame Haarsträhne, die er quer über seine Halbglatze gebreitet hatte.

Er stellte den Aktenkoffer auf den Boden und machte Anstalten, ihn zu öffnen. »Gut, dass Sie es sagen. Meine Firma hat ein bahnbrechendes Hauttonikum entwickelt, das in nahezu jeder Lebenslage hilft.«

»Tut mir leid, das geht nun wirklich nicht«, ging Wendy unbarmherzig dazwischen. Sie ärgerte sich darüber, dass der Pharmareferent ihnen die wertvolle Zeit stahl, die sie für die Überraschung ihres Chefs vorgesehen hatten. »Wenn Sie dem Herrn Doktor Ihre Pillen andrehen wollen, lassen Sie sich bitte einen Termin geben wie alle anderen auch.«

Erschrocken drehte sich Sebastian Klotz zu ihr herum.

»Warum denn so unfreundlich?«, fragte er sichtlich empört. »Was habe ich Ihnen denn getan?«

Wendy seufzte, verzichtete aber wohlweislich auf eine Antwort. Sie wollte ja nicht ausfallend werden. Notgedrungen schloss der Pharmareferent seine Aktentasche wieder, nicht ohne vorher einen Kugelschreiber mit Werbeaufdruck herauszuholen.

»Hier, ein Geschenk zur Beförderung.« Mit großer Geste überreichte er Dr. Norden den Kugelschreiber. »Ich wünsche Ihnen viel Glück!«

Obwohl Danny den Pharmareferenten gut kannte, tat ihm seine ruppige Art nun doch leid.

»Vielen Dank. Ich werde ihn in Ehren halten.«

Sebastian Klotz strahlte.

»Dann komme ich noch kurz herein und präsentiere Ihnen unsere neuen Produkte. Wenn Sie sich schnell entscheiden, dauert es auch nicht lange.«

Glücklicherweise öffnete sich in diesem Augenblick die Tür, und das Ehepaar Baader kam herein.

»Tut mir leid, Herr Klotz.« In gespieltem Bedauern zuckte Danny mit den Schultern. »Sie sehen ja, ich habe zu tun.« Er nickte ihm zu, um sich im nächsten Augenblick um seine beiden Besucher zu kümmern.

Und auch Wendy und Janine steckten die Köpfe zusammen und gaben vor, angestrengt zu arbeiten. So blieb Sebastian nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen.

Wendy atmete auf, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

»Du meine Güte. Ich dachte, dieses Kapitel hätte ich hinter mir.«

»Vielleicht kommt er ja nicht wieder«, tat Janine ihre Hoffnung kund. Ein anderes Thema brannte ihr viel mehr unter den Nägeln. »Aber was machen wir denn jetzt mit unserer Überraschung?« Sie beugte sich über den Terminkalender.

»Bleibt nur noch die Mittagspause«, erwiderte Wendy. »Das ist eh die beste Lösung. Wir schließen die Tür ab und lassen den Chef einfach nicht raus.«

Das war ein frommer Wunsch. Würde er in Erfüllung gehen?

*

»Sie können sich wieder anziehen.« Der Leiter der Notaufnahme hatte die Untersuchung abgeschlossen.

»Leichter gesagt als getan.« Stöhnend richtete sich Sarina Staller auf der Untersuchungsliege auf. Unter Schmerzen schlüpfte sie in ihren Pullover, als sich die Tür öffnete und Dr. Daniel Norden hereinkam. Danny hatte ihn kurz telefonisch informiert. Nachdem er die Patientin kannte, wollte er selbst nach dem Rechten sehen.

»Hallo, Frau Staller.« Er reichte ihr die Hand. »Was machen Sie denn für Sachen?«

»Ihr Sohn hat mich hergeschickt. Er meinte, die Ärzte hier in der Klinik könnten meinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Dafür lege ich mich sogar unters Messer.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Dr. Weigand und winkte den Klinikchef zu sich, um ihm die Aufnahmen von Sarinas Wirbelsäule zu zeigen. »Eine Operation sollte der letzte Ausweg sein. Vorher habe ich noch eine andere Idee.«

»Ich bin gespannt.« Daniel sah den Kollegen fragend an. Genau wie Danny kannte und schätzte er Matthias schon seit Jahren. Trotz des Altersunterschieds war in dieser Zeit zwischen den Männern eine echte Freundschaft entstanden.

»Es gibt ein neues Verfahren, das auf einem Wirkstoff basiert, der aus dem Blut des Patienten gewonnen wird«, erläuterte er die neue Methode. »Er wird in den entsprechenden Wirbelsäulenabschnitt injiziert.«

Sarina Staller dagegen wirkte skeptisch.

»Wie soll das denn funktionieren?«

»Das ist keine Hexerei, sondern fundierte Wissenschaft«, versicherte Dr. Norden, der auch schon über die neue Methode gelesen hatte. »Das speziell aufbereitete Blutplasma enthält körpereigene, vitale Zellen, Eiweiß-Stoffe und bioaktive Zellbotenstoffe in hoher Konzentration«, ergänzte er die Erklärungen des Kollegen. Er lehnte am Schreibtisch und blätterte durch ihre Unterlagen.

Trotzdem war Sarina noch nicht überzeugt.

»Eine Spritze in den Rücken? Ist das nicht gefährlicher als eine Operation?« Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Matthias Weigand lächelte beruhigend.

»Keine Sorge. Die Einspritzung erfolgt bildgesteuert an den definierten Stellen und stimuliert vor Ort eine regenerative Reaktion. Mal abgesehen davon, dass das Risiko dieser Behandlung deutlich geringer ist als das einer herkömmlichen Operation.«

Sarinas Augen wurden schmal vor Argwohn.

»Wenn dieses Verfahren so toll ist, verstehe ich nicht, warum Danny Norden mir nichts davon gesagt hat.«

»Weil diese Methode noch relativ neu ist und noch nicht von allen Krankenkassen akzeptiert wird«, musste er einräumen. »Ich bin aber überzeugt davon, dass sich diese Therapieformen in Zukunft mehr und mehr etablieren werden«, fuhr er schnell fort, um ihre Bedenken zu zerstreuen.

Daniel Norden hob den Kopf. Einen Moment lang sah er so aus, als wollte er etwas dazu sagen. Sarina bemerkte es.

»Was ist? Stimmt das nicht?«

»Doch, doch!«, versicherte er schnell, legte die Unterlagen beiseite und ging zur Tür. »Sie sind hier in den besten Händen«, versicherte er der jungen Patientin. »Darf ich den Kollegen kurz entführen? Ich muss etwas mit ihm besprechen.«

Verwirrt sah Sarina von einem zum anderen. Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Sichtlich verwundert stand Matthias auf und folgte seinem Freund nach draußen.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er, kaum dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hat.

Daniel drehte sich zu ihm um. Seine Miene war ernst.

»Danny hat nicht ohne Grund zu einer Operation geraten. Deshalb finde ich, du solltest seinem Rat folgen.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Unwillig schüttelte Matthias Weigand den Kopf. »Ist es nicht im Sinne der Patientin, zunächst eine andere Methode zu versuchen? Zumal die PRP sehr vielversprechend ist.«

»Ich habe mir Sarinas Bilder genau angesehen. Ihr Bandscheibenvorfall ist derart gravierend, dass früher oder später mit irreversiblen Lähmungen zu rechnen ist. Eine Biointervention erscheint mir in diesem Fall zu unsicher zu sein. Zumal die Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen wird.«

Dr. Weigand lachte spöttisch.

»Seit wann redest du über Geld?«

»Seit ich Klinikchef bin und darüber nachdenken muss, dass Patienten bei einem möglichen Misserfolg einer Behandlung Forderungen an uns stellen könnten«, appellierte Daniel an die Vernunft seines Kollegen. »Allerdings sind die Finanzen nur ein Aspekt, den ich nicht aus den Augen verlieren darf. Über allem steht natürlich das Wohl der Patienten. Das ist der eigentliche Grund, warum ich im Fall von Frau Staller eine Operation empfehle.«

Schweigend hatte Matthias den Ausführungen zugehört. Steile Falten auf seiner Stirn zeugten davon, was er davon hielt.

»Die Entscheidung liegt aber bei mir, oder?«, versicherte er sich.

Daniel zögerte kurz.

»Nein. Sie liegt bei der Patientin«, erinnerte er Matthias an die Tatsachen. Der bedachte ihn mit einem langen Blick, ehe er sich abwandte und grußlos in das Behandlungszimmer zurückkehrte. Daniel sah ihm nach. Bevor er sich aber noch weitere Gedanken darüber machen konnte, klingelte das Telefon im Schwesternzimmer.

»Ja, der ist hier … .«, hörte er Schwester Klara sagen. »Ich richte es ihm aus.« Im nächsten Augenblick tauchte sie in der Tür auf. »Die Chefin lässt ausrichten, dass Sie zur Zeremonie erwartet werden.«

»So spät ist es schon?« Erschrocken sah Daniel auf die Uhr. Einen Augenblick später eilte er los. Um ein Haar hätte er Jennys Abschied und seine Inthronisierung verpasst.

*

Sehr zum Leidwesen der beiden Assistentinnen gab sich an diesem Vormittag ein Patient nach dem anderen die Klinke in die Hand. So vergingen die Stunden wie im Flug, und ihre große Hoffnung ruhte auf der Mittagspause. Der letzte Patient der Vormittagssprechstunde war noch im Behandlungszimmer. Diese Gelegenheit nutzte Janine, um den Tisch in der kleinen Küche zu arrangieren. Die Prinzregententorte, dekoriert mit Arztutensilien aus Schokolade und Zuckerguss fand ebenso ihren Platz wie der Strauß Blumen, die Wendy für diesen feierlichen Anlass besorgt hatte. Ein Päckchen mit druckfrischen Visitenkarten komplettierte den Gabentisch.

»Stell dir vor, ich habe eine halbe Stunde mit der Floristin diskutiert, bis sie eingesehen hat, dass rosa Rosen unpassend für einen jungen Mann sind«, empörte sich Wendy leise, während sie Janines Werk begutachtete. Schließlich blieb ihr hungriger Blick an der Torte hängen. »Tatjanas Prachtstück! Und so detailgetreu.« Bewundernd blickte sie auf die üppige Dekoration. In mühsamer Kleinarbeit hatte Tatjana Stethoskop, Spritzbesteck, Chromschale und alle erdenklichen anderen Utensilien aus Schokolade und Fondant geformt. »Was ist Danny doch für ein Glückspilz!«

»Denkst du, er isst sie ganz allein auf?« Dieser Gedanke ließ Janine nach Luft schnappen. Sie fastete schon den ganzen Tag, und ihr Magen hatte bereits mehr als ein Mal gefährlich geknurrt.

Wendy hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Du kommst schon auf merkwürdige Ideen, wenn du Hunger hast.«

»Mag sein, dass du recht hast«, räumte die Freundin bereitwillig ein und ließ den Blick über den Tisch schweifen. »Ich denke, jetzt haben wir alles. Fehlt nur noch der Jubilar.«

»Wie das klingt.« Wendy schnitt eine Grimasse. »Als wäre der Junior neunzig Jahre alt.«

»Fällt dir was Besseres ein?«, stellte Janine eine berechtigte Gegenfrage. Sie bekam keine Antwort und kehrte an den Tresen zurück. In diesem Augenblick stürzte Danny aus seinem Sprechzimmer. »Da sind Sie ja endlich!«, rief sie ihm erfreut zu. Doch statt sich zu ihr an den Tresen zu gesellen, stürzte er zur Garderobe.

»Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Ein Notfall.« In Windeseile tauschte er den Kittel gegen die Jacke und lief an Janine vorbei.

Ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte, fiel die Tür krachend hinter ihm ins Schloss. Janine zuckte zusammen. Wendy tauchte in der Tür auf, um nach dem rechten zu sehen.

»Was war denn das?«

»Der Junio … der Chef.« Ungläubig starrte Janine auf die Tür.

»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«

»Er muss zu einem Notfall.«

»Das ist doch wie verhext heute! So einen verrückten Tag hatten wir schon lange nicht mehr.«

Die beiden Assistentinnen kehrten in die Küche zurück und blickten nachdenklich auf den Gabentisch.

»Glaubst du, es fällt auf, wenn wir ein winziges Stück von der Torte … «, begann Janine.

»Du darfst noch nicht einmal daran denken«, widersprach Wendy resolut. »Wir haben doch noch Brötchen von heute Morgen.«

»Aber die Torte …«

»Nein!« Wendy griff nach dem Kunstwerk und wollte es wieder in den Kühlschrank verfrachten. Auf halbem Weg blieb sie stehen. »Hmmm, wenn wir da hinten ein kleines Stück rausschneiden und die Figuren ein bisschen umdrapieren …«

»Das fällt ihm gar nicht auf.« Sofort war Janine Feuer und Flamme für diese Idee. »Wir wollen ja nur mal probieren.«

Wendy zögerte noch kurz. Der süße Duft nach Schokolade, Butter und Zucker stieg ihr in die Nase und benebelte ihre Sinne. Anders ließ sich nicht erklären, was dann geschah.

»Aber nur ein ganz kleines Stück.« Sie drehte sich um und kehrte mit der Torte zum Tisch zurück. Behutsam stellte sie die Platte ab.

Janine zückte das Messer. Wenig später saßen die beiden Frauen in schönster Eintracht nebeneinander und ließen sich Buttercreme und Schokolade auf der Zunge zergehen. Ihre Augen glänzten und ihre Gesichter strahlten wie bei Kindern an Weihnachten.

*

»So, diesen Programmpunkt hätten wir abgehakt.« Erleichtert verließ Jenny Behnisch den großen Besprechungsraum, den sie für dieses Ereignis gewählt hatte. Den Strauß Blumen, den ihr ausgerechnet der Kinderchirurg Volker Lammers überreicht hatte, hielt sie nachlässig in der rechten Hand.

»Kurz und schmerzlos«, bestätigte Daniel, der ebenfalls einen Strauß bekommen hatte und schon jetzt danach trachtete, das Ungetüm an seine Frau weiterzureichen.

»Ganz so, wie wir es uns …«

Die eiligen Schritte hinter ihnen ließ Jenny innehalten.

»Ich hatte so viele Ideen für eine würdevolle Abschiedsfeier. Aber Frau Sander bestand auf dieser jämmerlichen Zeremonie.« Wie immer wirkte Volker Lammers Lächeln angestrengt.

Jenny blieb stehen. Sie zögerte kurz und drehte sich dann zu Fee Nordens Stellvertreter um.

»Vielen Dank. Aber Sie haben mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit wahrlich genug geboten. Mein Bedarf ist gedeckt.« Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln, ehe sie sich abwandte und ihn einfach stehen ließ.

Selbst überrumpelt von diesen ungnädigen Worten sah Daniel den Kollegen Lammers ratlos an und zuckte mit den Schultern. Dann drehte auch er sich um und folgte seiner Freundin im Laufschritt.

»Jenny, was ist denn in dich gefahren?« Als sie weit genug entfernt waren, hielt er sich nicht länger zurück und lachte belustigt auf. »So kenne ich dich gar nicht. Bisher hatte ich den Eindruck, du stündest wie ein Fels hinter Lammers.«

»Er ist der beste Kinderchirurg, der mir je untergekommen ist«, erwiderte sie spitz. »Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich auch nur ansatzweise Sympathien für ihn hege.« Sie schickte Daniel einen warnenden Seitenblick. »Mit Lammers werdet ihr noch viel Ärger haben. Er ist ein skrupelloser Königsmörder, der vor keiner Intrige zurückschreckt, wenn sie ihn nur zum Ziel führt. Das erste ist die Leitung der Pädiatrie, das Fernziel die Leitung der Klinik. Aber das wisst ihr ja längst.«

Daniel suchte nach einem Lächeln in ihrem Gesicht, einem schelmischen Funkeln in den Augen. Vergeblich. Sie meinte es bitterernst.

»Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass er begriffen hat, dass er an Fee nicht vorbeikommt«, erklärte er beunruhigt.

Jenny schüttelte den Kopf.

»Ein Mann wie Lammers gibt nicht auf. Im Augenblick verhält er sich nur ruhig, weil er über die neue Situation nachdenken muss. Du tust gut daran, ihm alles zuzutrauen. Dann wird er dich nicht überrumpeln.«

»Das sind ja heitere Aussichten. Hättest du mir das nicht vorher sagen können?« Er schnitt eine Grimasse.

Jenny lachte.

»Damit du mein Angebot ausschlägst? Niemals.«

Sie waren nicht mehr weit vom Büro entfernt. Ihre Stimmen hallten über den Flur, und Andrea Sander spitzte die Ohren.

»Achtung! Sie kommen!«, warnte sie ihre beiden Mitstreiterinnen vor dem Schreibtisch.

»Und jetzt?« Lenni sah sich erschrocken um. »Wo sollen wir uns verstecken?«

»Im Schrank«, machte Tatjana einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag.

»Da passt du rein. Aber ich doch nicht«, zischte Lenni empört, als Tatjana sie auch schon hinter die Tür zog und den Zeigefinger auf die Lippen legte. Gerade noch rechtzeitig, bevor Dr. Norden und Jenny Behnisch das Vorzimmer betraten.

»Da sind wir wieder«, verkündete die ehemalige Klinikchefin. Sie hatte ihre gute Laune wiedergefunden, und ihr Gesicht strahlte eine Entspannung aus, wie man sie an ihr nicht kannte. Ganz so, als wäre eine große Last von ihr abgefallen.

»Und? War es so schlimm wie gedacht?« Andrea Sander wusste, was von ihr erwartet wurde, und spielte das Spiel gern mit.

»Noch viel schlimmer«, gestand Jenny. »Nichts gegen all die wunderbaren Abteilungsleiter und ihre Stellvertreter. Aber dieser Lammers …« Statt den Satz zu beenden, schüttelte sie den Kopf. »Aber jetzt ist es überstanden.« Sie stand im Vorzimmer und ließ den Vormittag noch einmal Revue passieren. »Obwohl ich es im Nachhinein doch schade finde, keine kleine Feier für meine besonderen Kollegen geplant zu haben. Für den kleinen Kreis der Menschen, die mich in all den Jahren nicht nur beruflich, sondern auch privat treu begleitet haben.« Wie so oft in den vergangenen Tagen überfiel sie eine Sentimentalität und Melancholie, die sie nie vermutet hätte.

Hinter der Tür stieß Tatjana die ehemalige Haushälterin der Familie Norden triumphierend in die Seite.

Lenni erschrak und hätte um ein Haar laut aufgeschrien. Tatjana bemerkte es und presste ihr in letzter Sekunde die Hand auf den Mund, sodass nur ein leises Prusten zu hören war.

Andrea Sander reagierte blitzschnell und hustete.

»Sie werden sich doch nicht etwa erkältet haben?«, erkundigte sich Daniel besorgt.

Tatjana und Lenni schickten ein Stoßgebet in den Himmel. Ein paar Minuten später zogen sich die alte Chefin und der neue Chef zur Lagebesprechung ins Chefbüro zurück. Diese Gelegenheit nutzten die beiden zur Flucht.

»Das war ganz schön knapp«, stöhnte Lenni auf dem Flur. »Für solche Aufregungen bin ich definitiv zu alt. Das macht mein Herz nicht mehr mit.«

Tatjana dagegen lachte zufrieden.

»Ach was!«, widersprach sie. »Gerade du bist doch der beste Beweis dafür, dass ein bisschen Wirbel jung hält. Und jetzt los! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Sonst werden wir bis heute Abend nie und nimmer fertig.«

Das ließ sich Lenni nicht zwei Mal sagen und legte noch einen Zahn zu.

Auf dem Rückweg in den Klinikkiosk hätten die beiden um ein Haar eine Visite überrannt. Die vorwurfsvollen Blicke der Ärzte, Schwestern und Pfleger folgten ihnen. Doch das kümmerte weder Tatjana noch Lenni in diesem Augenblick.

Große Ereignisse warfen nun einmal ihre Schatten voraus.

*

»Hab ich dich endlich gefunden, Süße!« Ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, betrat Jannis Peters das Krankenzimmer, in dem seine Freundin untergebracht worden war. Er trat an Sarinas Bett und gab ihr einen Kuss. »Wie fühlst du dich?«

»Nicht anders als in den vergangenen Tagen und Wochen auch«, erwiderte sie missmutig mit einem Blick auf die Sporttasche, die er mitgebracht hatte. »Hast du meine Sachen alle gefunden?«

»Ich habe deinen halben Kleiderschrank und die ganze Badezimmerausstattung dabei.« Er packte die Tasche mit beiden Händen und stemmte sie wie ein Gewichtheber mehrmals über dem Kopf auf und ab. »Gar keine so schlechte Idee … Falls ich mal keine Geräte zur Hand habe.« Jannis freute sich sichtlich über seine Kreativität.

Sarina konnte nur den Kopf schütteln über ihren sportfanatischen Freund.

»Ich wäre schon froh, überhaupt mal wieder richtig laufen zu können.«

Jannis trat an den Schrank und begann, den Inhalt der Tasche einzuräumen.

»Du hast mir doch erzählt, dass Danny Norden für die Operation ist. Wenn alles gut geht – und das wird es bestimmt –, bist du bis zum Sportcamp wieder fit.«

»Sportcamp!« Sarina verdrehte die Augen. »Hast du nichts anderes im Kopf? Zum Beispiel meine Gesundheit?«

Jannis legte einen Trainingsanzug, Socken und Unterwäsche in den Schrank.

»In den letzten Wochen geht es immer nur darum!« Plötzlich klang er ärgerlich. »Es wird Zeit, dass endlich was passiert. Du hättest dich schon längst operieren lassen können. Ich habe diese Aufschieberei wirklich langsam satt.«

Diesen Vorwurf hatte Sarina schon mehr als einmal gehört und ignorierte ihn gekonnt.

»Ehrlich gesagt gefällt mir die Idee von Dr. Weigand viel besser«, murmelte sie versonnnen vor sich hin. »Ein paar Spritzen in den Rücken, und alles ist wieder gut.«

»Ach!« Jannis fuhr herum. Er machte gar nicht erst den Versuch, seine Eifersucht zu verbergen. »Gefällt er dir etwa? Sieht er gut aus?«

»Sei nicht albern!«, funkelte Sarina zurück. Allmählich verlor sie die Geduld mit ihrem Freund.

Im ersten Moment hatte Jannis eine scharfe Antwort auf den Lippen. Zum Glück besann er sich eines Besseren. Er kam ans Bett und küsste Sarina.

»Tut mir leid«, seufzte er und stupste ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Ich würde mir einfach wünschen, mal wieder was mit dir zu unternehmen. Fitness, Joggen gehen, Radfahren … Irgendwas. Du warst das erste Mädel, das mit mir mithalten konnte. Das war so schön.«

»Das wünsche ich mir doch auch.« Sie griff nach seinen Händen und drückte sie an ihre Wangen. Ihr Blick suchte den seinen. »Wir haben noch so viel vor.«

In diesem Moment traf Jannis eine Entscheidung.

»Deshalb rufst du jetzt Danny Norden an! Der weiß bestimmt, welcher Weg der beste ist.« Er streckte den Arm nach dem Handy auf dem Nachttisch aus und reichte es seiner Freundin. »Und wenn er bei der Operation bleibt, bringst du es so schnell wie möglich hinter dich. Dann ist bald alles wieder wie früher.«

Sarina zögerte. Dann nahm sie ihm das Mobiltelefon aus der Hand und wählte Danny Nordens Han­dynummer.

*

Der Verwaltungschef der Behnisch-Klinik saß an seinem Schreibtisch, als es klopfte. Irritiert sah er auf die Uhr. Er war erst einer halben Stunde mit der scheidenden Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch verabredet. Vorher erwartete er keinen Besuch. Wer mochte das also sein?

Die Frage beantwortete sich von selbst, als Dr. Lammers hereinkam.

»Volker!«, begrüßte Dieter seinen alten Freund lächelnd. Die beiden hatten sich vor vielen Jahren bei einem Segeltörn kennengelernt, eine angenehme Zeit miteinander verbracht und sich schließlich wieder aus den Augen verloren. Der Zufall wollte es, dass sie sich an der Behnisch-Klinik wiedergetroffen hatten. Schnell stellten die beiden Männer fest, dass sie in erster Linie ihre Unbeliebtheit bei den Kollegen verband. Ab und zu trafen sie sich in dem einen oder anderen Büro, um über die mangelnde Wertschätzung der Kollegen zu lästern. Das geschah aber immer abends nach Dienstschluss bei einem oder zwei Gläsern Hochprozentigem. So war es mehr als verwunderlich, den Stellvertreter der Pädiatrie bei Tageslicht und noch dazu an einem besonderen Tag wie diesem in seinem Büro anzutreffen. »Was treibt dich um diese Uhrzeit hierher?«

»Hast du kurz Zeit?« Lammers wirkte nervös.

»Eine halbe Stunde. Dann will deine Ex-Chefin noch ein paar Dinge mit mir besprechen. Sie kann es einfach nicht lassen.« Verständnislos schüttelte Dieter den Kopf. »Pflichtbewusst bis zur letzten Sekunde.« Er sah Lammers dabei zu, wie er sorgfältig die Tür hinter sich schloss, an den Schreibtisch trat und auf dem Stuhl davor Platz nahm.

»Nicht mehr lange und wir sind diesen Quälgeist los.«

Dieter Fuchs wiegte den Kopf.

»Ich fürchte, dieser Norden ist mindestens vom gleichen Kaliber. Wenn nicht noch schlimmer.«

Volkers Augen blitzten auf.

»Wir scheinen uns wieder mal einig zu sein«, bemerkte er zufrieden. »In diesem Fall wird dich meine Neuigkeit besonders interessieren.«

Neugierig beugte sich der Verwaltungsdirektor nach vorn. Dass Dr. Norden die Nachfolge von Jenny Behnisch antrat, passte ihm ganz und gar nicht. Er hatte auf einen nüchternen Pragmatiker wie Volker Lammers gehofft, der kein überflüssiges Theater um seine Patienten machte. Nicht auf einen Idealisten und Menschenfreund, wie dieser Norden einer war.

»Ich bin gespannt.« Er ließ Lammers nicht aus den Augen.

Dieser genoss dieses Spiel sichtlich. Ausgiebig betrachtete er seine sorgfältig gefeilten Fingernägel, ehe er antwortete.

»Ich habe neulich zufällig einen alten Freund getroffen. Sagt dir der Name Karl Schmiedle etwas?«

Über diese Frage musste Fuchs nicht lange nachdenken.

»Einer unserer Stadträte.«

»Ganz genau.« Lammers lächelte süffisant. »Er hat ehrgeizige Ziele und plant, private Gesundheitshäuser in der Stadt unter einer Verwaltung zusammenzufassen. Pflegeheime, Seniorenresidenzen, Kliniken … alles unter einer Führung.«

Diese Idee ließ sich Dieter Fuchs durch den Kopf gehen.

»Kein schlechter Plan«, erwiderte er schließlich. »Das würde für jede Einrichtung eine Verschlankung des Verwaltungsapparats bedeuten. Verschiedene Einrichtungen wie zum Beispiel Küchen oder Labore könnten an einem Standort zusammengefasst werden. Auf diese Weise werden unter anderem sehr effektiv Arbeitsplätze eingespart.«

»Ich wusste, dass du ein schlaues Kerlchen bist.« Lammers nickte anerkennend. Er zog ein Blatt Papier zu sich und griff nach einem Kugelschreiber. »Hier ist die Behnisch-Klinik.« Ein Rechteck symbolisierte das Haus. »Und dort das größte private Pflegeheim der Stadt. Eine ansehnliche Seniorenresidenz liegt hier. Und das da ist die private Kinderklinik.« Während er sprach, skizzierte er einen mehr oder weniger genauen Lageplan. »Alles im Umkreis weniger Kilometer.«

»Eine brillante Idee«, räumte Dieter Fuchs ein, während er das Bild betrachtete. »Und wer wird der Träger?«

»Eine private Investorengruppe um Karl Schmiedle.« Lammers maß den Verwaltungschef mit verschwörerischem Blick. »Natürlich taucht sein Name nirgendwo auf.«

»Natürlich nicht.« Dieter Fuchs lehnte sich zurück und dachte nach. Dabei ließ er Volker Lammers nicht aus den Augen. »Gesetzt den Fall, wir machen bei der Sache mit. Welcher Vorteil würde sich für uns daraus ergeben?«

»Das ist Verhandlungssache.« Lammers lächelte. Dabei bleckte er die Zähne wie ein Wolf. »Wenn du Schmiedle in seinen Plänen unterstützt, springt für dich mit Sicherheit ein besserer Posten heraus als dieser hier. Verwaltungsdirektor eines Klinikkonzerns. Na, wie klingt das? Nachdem die Kinderabteilung hier geschlossen würde, wäre ich für meinen Teil natürlich an der Leitung der Kinderklinik interessiert.« Er deutete mit dem Kugelschreiber auf das entsprechende Rechteck.

Dieter Fuchs runzelte die Stirn.

»Das ist ja alles schön und gut. Aber wie sollen wir bloß Norden von diesem Schritt überzeugen? Schließlich können wir diese Entscheidung nicht über seinen Kopf hinweg fällen.«

Mit diesem Einwand hatte Volker Lammers gerechnet.

»Das, mein Lieber, überlasse ich deinem Genie. Ich habe die Information geliefert. Für dich muss ja auch noch etwas übrig bleiben.«

Für den Moment hatte Fuchs genug gehört.

»Gut. Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.«

»Wunderbar.« Mehr hatte Volker Lammers beim ersten Treffen nicht erwartet und stand auf. »Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Die Konkurrenz schläft nicht.« Er hob die Hand zum Gruß und verließ das Zimmer.

Dieter Fuchs lehnte sich in seinem schwarzledernen Chefsessel zurück und sah ihm nach. Auf diese Neuigkeit konnte er einen guten Schluck vertragen. Selbst wenn es erst früher Nachmittag war.

*

»Gut, dann haben wir das besprochen.« Dr. Jenny Behnisch sah auf die Uhr. »Jetzt muss ich mich leider entschuldigen. Ich habe noch einen Termin bei unserem Sparfuchs.« Sie zwinkerte Daniel Norden zu und erhob sich.

»Weiß unser Verwaltungschef eigentlich, wie du ihn nennst?«, fragte er schmunzelnd und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Keine Ahnung.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um und zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, du hast ein paar Jahre Zeit, das in Erfahrung zu bringen«, erwiderte sie gut gelaunt.

Damit machte sie sich endgültig auf den Weg. Obwohl sich Jenny Behnisch seit ihrer lebensgefährlichen Erkrankung grundlegend verändert hatte, war ihr eine Eigenschaft geblieben: Wie eh und je eilte sie mit wehendem Kittel über die Flure. Und wie schon so oft zuvor wäre sie auch diesmal um ein Haar mit einem Kollegen zusammengestoßen.

»Tut mir leid«, rief sie atemlos, als sie bemerkte, in wessen Armen sie da fast gelandet wäre. »Lammers!« Angewidert machte sie einen Schritt zurück. »Was machen Sie denn hier?« Das Büro von Dieter Fuchs war gleich um die Ecke.

»Ich habe meinen Freund, den Verwaltungschef, besucht.« Volker Lammers dachte nicht daran, ein Geheimnis daraus zu machen. »Ist das etwa neuerdings verboten?«

Jenny hatte nicht gewusst, dass die beiden befreundet waren. Jeder der Männer war für sich schon ein Problem. Zusammen ergaben sie eine explosive Mischung. Sie gab sich große Mühe, ihren Schrecken zu verbergen. Vergeblich. Lammers‘ Miene verriet, dass er sich an ihrem Gesichtsausdruck weidete.

»Das wusste ich ja gar nicht«, erwiderte sie so unbeschwert wie möglich. »Seit wann sind Sie befreundet?«

»Das, meine Liebe, verrate ich Ihnen nicht. Sie müssen nicht alles wissen. Schon gar nicht, wenn Sie heute in Rente gehen.« Er deutete eine Verbeugung an und ging mit erstaunlich lockerem Schritt davon.

Mit einem Anflug von Bedauern, ihn je eingestellt zu haben, sah Jenny ihm nach.

»Kommen Sie jetzt zu unserem Termin oder haben Sie es sich anders überlegt?«

Dieter Fuchs‘ Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Was hatten Sie mit Dr. Lammers zu besprechen?«, fragte sie geradeheraus, als sie an ihm vorbei in sein Zimmer ging.

Lächelnd schloss Fuchs die Tür hinter sich und bot ihr einen Platz in der Besucherecke seines Büros an.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das ernsthaft interessiert.«

»Und was, wenn doch?«

»Dann muss ich Sie leider enttäuschen.« Eiskalt ließ Dieter Fuchs die ehemalige Klinikchefin abblitzen. »Das geht Sie nichts mehr an.«

Jenny Behnisch stand abrupt wieder auf.

»Wenn Sie das so sehen, kann ich auch genausogut wieder gehen.« Sie schickte ihm einen funkelnden Blick. »Meinen letzten Tag in dieser Klinik hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Ich glaube nicht, dass ich diese Behandlung verdient habe.« Früher wären ihr solche Worte niemals über die Lippen gekommen. Auch das war ein Tribut, den die überstandene Krankheit forderte.

Doch Fuchs dachte nicht daran, Mitgefühl zu zeigen. All die Jahre hatte er Diplomatie walten lassen müssen. Diese Zeiten waren ein für alle Mal vorbei.

»Sehen Sie es sportlich«, gab er ihr einen Ratschlag mit auf den Weg. »Einmal gewinnt man, einmal verliert man. So ist das Leben nun mal.«

An der Tür blieb Jenny stehen. Mit der Hand auf der Klinke drehte sie sich zu ihm um.

»Freuen Sie sich nicht zu früh. Daniel Norden ist nicht zu unterschätzen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Fuchs ungerührt.

So blieb Jenny nichts anderes übrig, als das Zimmer zu verlassen. In einem Abschiedsgespräch hatte sie den Verwaltungschef auf die Zusammenarbeit mit Dr. Daniel Norden einschwören wollen. Dieser Plan war gründlich daneben gegangen, und einen Moment lang fragte sich Jenny tatsächlich, ob es fair war, Daniel in die Höhle der Löwen zu schicken.

*

»Ich bringe keinen Bissen mehr hinunter.« Stöhnend saß Janine auf dem Stuhl in der kleinen Küche und tätschelte den schmerzenden Bauch. Sie fühlte sich wie nach einer alkoholgeschwängerten Nacht. Ein regelrechtes Katergefühl hatte von ihr Besitz ergriffen.

Wendy erging es ähnlich.

»Morgen fange ich eine Diät an.« Sie versuchte, einen Finger in den Hosenbund zu stecken. Vergeblich. Die Versuchung war groß, den Knopf zu öffnen. Doch was sollten da die Patienten denken?

Eine Weile starrten die beiden auf die Reste ihres Gelages. Die nahe Turmglocke schlug vier Mal. Träge sah Wendy auf die Uhr. Plötzlich kam Leben in sie.

»Was? Schon zwei?« Sie sprang vom Stuhl auf, stolperte und wäre um ein Haar auf dem Tisch gelandet. Mit schreckgeweiteten Augen blickte sie auf Dannys Torte. »Mein Gott! Was haben wir getan?«

In diesem Moment erkannte auch Janine das ganze Ausmaß der Katastrophe.

»Das können wir nie mehr kaschieren.« Sie betrachtete die klaffende Lücke in der Torte, die sie in ihrem Heißhunger geschlagen hatten. Einmal angefangen, hatten sie einfach nicht aufhören können.

»Und Danny schon gar nicht überreichen«, jammerte Wendy. »Wie konnte das nur geschehen?«

Über diese Frage dachten beide nach, während sie hektisch die Spuren ihres mittäglichen Gelages beseitigten. Zum Glück hatte Tatjana die Torte in einer Haube geliefert, sodass sie das Corpus Delicti einfach verschwinden lassen konnten. Mit dem schlechten Gewissen war das nicht so einfach.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Janine, nachdem die verräterischen Teller gespült waren und wieder an ihrem Platz im Schrank standen.

Wendy hatte die Zeit genutzt, um über eine Lösung nachzudenken.

»Wir kaufen eine neue Torte im ›Schöne Aussichten‹. Die Figuren können wir ja von der anderen nehmen. Die sind fast alle noch da.«

»Prinzregententorte macht Tatjana nur auf Bestellung«, erwiderte Janine deprimiert. Auf diese Idee war sie auch schon gekommen, hatte sie aber wieder verworfen.

»Dann holen wir sie eben woanders. Danny ist ein Mann. Der merkt das eh nicht«, antwortete die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden kurzerhand.

Janine dagegen war skeptisch.

»Bist du sicher?«

»Hast du eine bessere Idee?«

Janine zuckte mit den Schultern.

»Wir könnten die Wahrheit sagen«, machte sie einen vorsichtigen Vorschlag, den Wendy mit einem Schnauben ablehnte.

»Ausgeschlossen. Wie stehen wir denn dann da?«

»So, wie wir sind.« Janine ging hart mit sich ins Gericht. »Zwei verfressene, ungezügelte Weibsbilder, die sich nicht im Griff haben.«

Dieses gnadenlose Urteil wollte Wendy so nicht stehen lassen.

»Das war ein Notfall. Wir hatten Hunger!«

»Wir haben Brötchen!« Janine deutete auf die Tüte, die noch immer unangetastet in der Ecke auf der Arbeitsplatte stand.

Wendy suchte nach einer Antwort, fand aber keine. So verließ sie kurzerhand die Küche und kehrte an den Tresen zurück. In weniger als zwanzig Minuten würde die Nachmittagssprechstunde beginnen. Danny musste in den nächsten Augenblicken zurückkommen. Sie setzte sich an den Schreibtisch. Janine folgte ihrer Freundin und Kollegin und sah sie fragend an.

Allein dieser Blick war eine Herausforderung für Wendy.

»Was denn?«, fauchte sie. »Kein normaler Mensch kann Tatjanas Kunstwerken widerstehen. Das hast du ja selbst zu Genüge bewiesen. Und jetzt fährst du los und kaufst eine neue Torte. Ich denke mir inzwischen eine Geschichte für Danny aus.«

Janine fiel von einer Ohnmacht in die nächste.

»Du willst den Chef anlügen?«

»Natürlich nicht. Nur die Wahrheit ein bisschen aufhübschen.« Wendy zwinkerte ihr zu. »Und jetzt raus mit dir! Sonst ist es zu spät und wir müssen die Karten auf den Tisch legen.«

*

Anders als erwartet, war Danny Norden mitnichten auf dem Weg in die Praxis. Nachdem er den Notfall versorgt hatte, erreichte ihn der Anruf von Sarina Staller. Gleich im Anschluss war er in die Klinik gefahren, um mit seinem Vater zu sprechen. Die Hände in den Hosentaschen versenkt, stapfte er zornig vor Daniels Schreibtisch auf und ab.

»Frau Staller ist völlig verunsichert. Wie kommt Matthias dazu, ihr zu erzählen, dass ich ihr eine völlig unnötige Operation empfohlen habe?«

»So hat er das nicht formuliert.« Daniel konnte nicht anders, als Dr. Weigand in Schutz zu nehmen.

Danny hielt vor seinem Schreibtisch inne und sah ihn an.

»Dad, vor diesem Gespräch hatte ich eine Patientin, die mir vertraut hat. Und jetzt ist Sarina ein Nervenbündel. Dabei war ich froh, sie endlich so weit zu haben, bevor Schlimmeres passiert.«

Um Zeit zu gewinnen, trank Dr. Norden einen Schluck Kaffee.

»Ich verstehe ja deinen Unmut«, versuchte er, das Gemüt seines Sohnes zu kühlen. »Und glaube mir: Niemand hier stellt deine Kompetenz in Frage. Im Übrigen wird sich Sarina beruhigen und die für sie passende Entscheidung treffen.«

Danny dachte kurz nach, dann setzte er seinen rastlosen Marsch fort.

»Sarinas Angst vor einer Operation ist die eine Sache. Es gibt da noch ein anderes Problem.«

Daniel musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Du meinst ihren Arbeitgeber?« Daniel hatte noch in seiner Zeit in der Praxis davon gehört.

Danny nickte.

»Nachdem sie in letzter Zeit fast ununterbrochen krank gemeldet ist, scheint er nach einer Möglichkeit zu suchen, sie loszuwerden. Die Firma hat heute in der Praxis angerufen.« Er seufzte. »Es versteht sich von selbst, dass Janine keine Informationen herausgegeben hat.«

Daniel Norden leerte seine Tasse und stellte sie zurück auf den Tisch.

»Das alles konnte Matthias aber nicht wissen.«

»Natürlich nicht.« Danny beendete seine Wanderung endgültig und ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. »Er hätte respektieren sollen, dass Sarina Staller meine Patientin ist. Wenn er sich an meine Anweisung gehalten hätte, läge sie spätestens morgen im OP und wäre ihre Schmerzen ein für alle Mal los. Genauso wie die Sorge um ihren Arbeitsplatz.« Er schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Hände ineinander. »Matthias ist ein hervorragender Arzt, der einfach nur seine Arbeit machen sollte. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Beruhigt es dich, wenn ich dir verspreche, mich höchstselbst darum zu kümmern?«, fragte Dr. Norden senior mit einem Augenzwinkern. Er beugte sich vor. »Wie war denn eigentlich heute früh dein Empfang in der Praxis?«, erkundigte er sich, teils, um seinen Sohn abzulenken, teils, um seine Neugier zu stillen.

Danny legte den Kopf schief und dachte nach.

»Ganz normal.« Erst jetzt fiel ihm wieder Tatjanas Ankündigung vom Morgen ein. »Es war alles wie immer.«

Überrascht lehnte sich Daniel Norden wieder zurück.

»Das wundert mich jetzt schon ein bisschen«, murmelte er. »Ich hatte andere Informationen.«

»Ach ja? Und welche?«

Daniel lächelte geheimnisvoll.

»Das wirst du schon selbst herausfinden müssen.«

*

Während sich Vater und Sohn unterhielten, saß Matthias Weigand am Bett von Sarina Staller.

»Jannis und ich sind erst seit einem Jahr ein Paar.« Sie saß im Bett und ließ den Blick nach draußen schweifen. Der freundliche Morgen hatte sich in einen klaren Tag mit angenehm milden Temperaturen verwandelt. Durch das gekippte Fenster drang das Zwitschern der Vögel. Eine Ahnung von Frühling erfüllte die Luft. »Wir haben uns bei Tough Mudder kennengelernt.«

»Tough Mudder?«, fragte Matthias verständnislos.

»Ein Hindernislauf im Matsch«, erklärte Sarina mit leuchtenden Augen, als gäbe es nichts Schöneres. »Ich bin Achte bei den Frauen geworden. Das fand er richtig cool. Er sagt oft, dass er sich immer ein Mädchen wie mich gewünscht hat. Eine, die mit ihm mithalten kann.« Nach und nach verschwand das Strahlen wieder von ihrem Gesicht. »Aber jetzt kann ich ja schon seit Monaten nichts mehr mitmachen. Ich habe echt Angst, dass ihm bei irgendeinem Event eine andere über den Weg läuft, die ihn beeindruckt.« Sie lehnte sich zurück und starrte missmutig vor sich hin. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Matthias Weigand. »Ich bin froh, dass Dr. Norden mich hierher in die Klinik geschickt hat. Endlich passiert etwas. Und wenn ich nicht unters Messer muss, geht’s mir gleich noch viel besser.«

»Das kann ich verstehen. Würde mir genauso gehen«, versicherte Dr. Weigand. Er verstand diesen Jannis nur zu gut, dass er sich in die attraktive, sportlich-schlanke Sarina verliebt hatte. So eine Freundin wäre auch nach seinem Geschmack.

»Da bei Ihnen diese chronischen Schmerzen hauptsächlich durch die Entzündung und die permanente Reizung der Nerven entstehen, hat die Methode meiner Ansicht nach durchaus gute Aussichten auf Erfolg.

»Und wie genau funktioniert Ihre Wundertherapie?« Sarina machte keinen Hehl daraus, dass ein Rest Skepsis geblieben war.

»Das Blut, das wir Ihnen entnommen haben, wurde bereits zentrifugiert. Sobald Sie einverstanden sind, wird Ihnen ein Teil davon injiziert. Die Wirkung der PRP-Therapie beruht auf dem Freisetzen der Wachstumsfaktoren der Thrombozyten«, erklärte Dr. Weigand bereitwillig. In Zusammenarbeit mit den Kollegen der Orthopädie hatte er bereits erste Versuche mit der neuen Therapie durchgeführt und war begeistert von den Erfolgen. »Sie leiten Selbstheilungs- und Regenerationsprozesse ein, aktivieren verschiedene Zelltypen und stimulieren unter anderem die Produktion von Kollagen, einem Grundbaustoff von Knorpel.« Er lächelte. »Und das Beste daran: Der Stoff, der all das bewirken kann, wird aus Ihrem eigenen Blut gewonnen.«

»Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.« Sarina sah ihn so durchdringend an, dass er schlucken musste. »Es gibt doch bestimmt einen Haken, oder?«

»Das Problem an der Sache ist, dass die Krankenkassen die Kosten für diese Art der Therapie noch nicht übernehmen.«

»Weil sie doch nicht wirkt?«, kam die nächste Frage wie aus der Pistole geschossen.

Sarina war wirklich kein leichter Brocken, wie Matthias insgeheim feststellte.

»Das hängt mit der deutschen Gründlichkeit zusammen«, erinnerte er sie augenzwinkernd. »Mir genügen die guten Erfahrungen, die ich bisher mit der Methode gemacht habe, um sie uneingeschränkt und guten Gewissens weiterempfehlen zu können.« Seine Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung.

Sarina erwiderte sein Lächeln, wenn auch nur halb so euphorisch.

»Und was, wenn ich mir die Behandlung gar nicht leisten kann? Als Berufsanfängerin kann ich mir keine großen Sprünge erlauben.« Sie legte den Kopf schief und dachte nach.

Ihr Anblick ließ Matthias Weigand nicht kalt. »An dieser Klinik gibt es eine Stiftung, die für solche Fälle ins Leben gerufen wurde. Wenn Sie wollen, lege ich ein gutes Wort beim Chef für Sie ein.« Er zwinkerte ihr zu und schlagartig erhellte sich Sarinas Miene.

»Das wäre großartig!« Schon wirkte sie wieder zuversichtlicher. »Und stimmt es auch, dass ich danach bald wieder fit bin?«

Matthias nickte zufrieden.

»Genau das ist einer der großen Vorteile dieser Methode. Nach einer Operation sind Sie zwar unter Umständen sofort beschwerdefrei, müssen aber in Reha und sich auf jeden Fall lange genug schonen. Mit der PRP sind Sie viel schneller wieder auf den Beinen.«

»Gut. Worauf warten wir dann noch?«, fragte Sarina aufgekratzt, als es klopfte.

Eine Schwester tauchte in der Tür auf.

»Hier stecken Sie! Der Chef will Sie sehen.«

Dr. Weigand sah kurz hinüber zu Sarina.

»Sagen Sie ihm, ich bin gleich fertig hier.«

»Das tue ich nicht«, widersprach Schwester Kathrin. »Sie sollen nämlich sofort kommen.«

»Also gut.« Da es sich Matthias nicht schon am ersten Tag mit Daniel verscherzen wollte, gab er nach. Er nickte Sarina zu. »Sie können inzwischen in aller Ruhe eine Entscheidung treffen.« Mit diesen Worten stand er auf und brachte den Stuhl zurück an seinen Platz. »In einer halben Stunde bin ich wieder bei Ihnen.«

*

Zu seiner großen Erleichterung erreichte Danny Norden die Praxis pünktlich zum Ende der Mittagspause. Die erste Patientin des Nachmittags kam zeitgleich mit ihm an.

»Sie strahlen ja schöner als die Sonne heute«, begrüßte er sie gut gelaunt.

Erdmute lachte heiser, Folge der kürzlich zurückliegenden Schilddrüsenoperation.

»So ein Kompliment habe ich schon Jahre nicht mehr bekommen«, erwiderte sie augenzwinkernd. »Ich glaube, ich komme öfter hierher.«

»Ich habe nichts dagegen!« An der Tür angekommen, deutete er eine Verbeugung an und ließ ihr den Votritt. »Meine Tür steht Ihnen immer offen«, erwiderte Danny galant und folgte ihr hinein.

Die Andeutung seines Vaters hatte Erwartungen geschürt. Entsprechend neugierig sah er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Schließlich fiel sein Blick auf Wendy. Die saß wie immer hinter dem Tresen und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Da bist du ja! Ich dachte schon, du versetzt uns gleich am ersten Tag als Chef.« Seine Verspätung war wie Balsam für ihr schlechtes Gewissen.

»Seien Sie nicht so streng mit ihm, junge Frau«, bat Erdmute und blinzelte zu Danny hinüber, der in Windeseile die Jacke gegen den Kittel tauschte.

»Manchmal brauchen Männer klare Worte«, erwiderte Wendy scherzhaft, als Danny an den Tresen kam und nach Frau Klingers Patientenkarte griff, die schon für ihn bereit lag.

Er tat so, als hätte er Wendys Bemerkung nicht gehört, und klappte die Karte auf.

»Bitte sagen Sie Janine Bescheid, ich brauche sie zum Fädenziehen«, bat er, ohne aufzusehen.

Wendy stieg das Blut in die Wangen.

»Das kann ich doch auch erledigen, oder? Janine ist gerade im Labor beschäftigt.«

In diesem Moment wurde die Praxistür höchst unsanft aufgestoßen.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es war …« Wie angewurzelt blieb Janine im Flur stehen.

Der Anblick ihres Chefs verschlug ihr die Sprache. »Ich dachte, Sie sind längst in Behandlung«, stammelte sie. Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr die Schachtel mit der Torte entglitt. Mit einem dumpfen Knall landete sie auf dem Boden. Janine schlug die Hände auf die Wangen.

»Oh, nein. Die schöne Torte!«

Blitzschnell zählte Danny eins und eins zusammen.

»Ach, jetzt weiß ich, was Dad mit seiner Frage meinte.« Seine Augen hingen an der Tortenschachtel, die den Aufdruck einer fremden Bäckerei zeigten. Enttäuschung machte sich in ihm breit. »Aber warum kaufen Sie eine Torte bei Konkurrenz? Sie wissen doch, dass Tatjana die beste Bäckerin im ganzen Land ist.«

Janine und Wendy tauschten verzweifelte Blicke.

»Natürlich«, antwortete schließlich die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden gedehnt. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so geschämt wie in diesem Moment. »Aber das ist eine lange Geschichte.«

Danny dachte kurz nach.

»Die muss leider warten bis später«, beschloss er resolut. »Jetzt ist zuerst einmal Frau Klinger dran. Wir haben ihre Geduld ohnehin schon über Gebühr beansprucht. Janine, kommen Sie bitte zum Fädenziehen? Und Sie, Wendy, lassen Ihre Fähigkeiten spielen und retten, was zu retten ist.« Sein bedeutungsvoller Blick ruhte auf der Tortenschachtel.

»Natürlich, Chef.« Eingeschüchtert, wie sie war, sprang sie sofort vom Stuhl auf.

In diesem Moment begriff Danny, dass hier etwas nicht stimmte. Wendy kannte ihn von Kindesbeinen an und behandelte ihn eher wie einen Sohn denn als Chef. So ergeben hatte er sie nie zuvor erlebt. Da er sich aber wohl oder übel bis später gedulden musste, genoss er wenigstens das seltene Gefühl, sie in der Hand zu haben. Aus welchem Grund auch immer.

*

Als Matthias Weigand das Büro des neuen Klinikchefs betrat, befand sich Dr. Norden im Gespräch mit Dieter Fuchs, der kurz zuvor wegen eines anderen Themas vorbeigekommen war.

»Ich kann auch später wiederkommen«, erklärte Matthias beim Anblick des Verwaltungschefs. »Im Augenblick bin ich eh beschäftigt.«

»Ich bin schon weg.« Dieter Fuchs machte Anstalten zu gehen.

Daniel war hin und her gerissen. Das Gespräch mit dem Verwaltungschef war auf seine Art ebenso wichtig wie das mit Dr. Weigand.

»Es dauert nicht lange«, entschuldigte er sich in Fuchs‘ Richtung.

»Meinetwegen können Sie auch bleiben«, schlug Matthias vor in der Hoffnung, schneller wieder zu seiner Patientin zurückkehren zu können.

Daniel überlegte kurz und beschloss, diesen Vorschlag anzunehmen. Im Beisein des Verwaltungschefs teilte er Matthias seine Meinung mit.

»Ich bin absolut von meinem Therapieansatz überzeugt«, erklärte der, nachdem er sich angehört hatte, was Dr. Norden ihm zu sagen hatte. »Danny spielt doch nur die beleidigte Leberwurst, weil er denkt, ich respektiere seine Entscheidung als Allgemeinarzt nicht. Dabei geht es um das Wohl des Patienten. Um nichts anderes«, hielt er eine flammende Rede zu seiner Verteidigung. »Nichts für ungut. Aber meiner Ansicht nach fehlt es ihm manchmal noch an Erfahrung.«

»Sie dürfen nicht vergessen, dass unsere Klinik von genau diesen Allgemeinärzten lebt.« Dieter Fuchs sah seine Chance gekommen, sich in das Gespräch einzubringen. Außerdem wusste er nicht, ob Jenny Behnisch schon gepetzt hatte, und hielt es für klug, Daniel Norden gewogen zu stimmen. »Ohne diese Überweisungen hätten wir einen eklatanten Bettenleerstand, den wir gar nicht kompensieren könnten.«

»Oh, tut mir leid.« Ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, drehte sich Weigand zu ihm um. »Ab sofort werde ich den kaufmännischen Aspekt bei jeder meiner Behandlungen berücksichtigen.«

»Ich muss doch sehr bitten!« Daniel Norden ärgerte sich über den Ton des jungen Kollegen. »In Zukunft erwarte ich eine bessere Kommunikation. Bevor mit Patienten über mögliche oder unmögliche Therapien gesprochen wird, sollten sich die behandelnden Ärzte absprechen«, sprach er ein Machtwort.

»Natürlich. Es tut mir leid«, schlug Matthias einen versöhnlichen Tonfall an. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, nur mit einem Ohr zugehört zu haben. Seine Gedanken kreisten immer noch um die Behandlung. »Abgesehen davon ist Frau Stallers Erkrankung noch nicht in einem Stadium, das zwingend eine Operation erfordert.«

Daniel wiegte den Kopf.

»Das ist ein wichtiges Argument«, räumte er ein. »Ohne medizinische Indikation sollten wir uns den Alternativen nicht verschließen.« Er ignorierte Weigands zufriedenes Gesicht und machte eine nachdenkliche Pause. »Allerdings liegt die letzte Entscheidung – wie vorhin schon erwähnt – bei der Patientin. Außerdem würde ich es begrüßen, wenn du das Verfahren noch einmal gründlich mit Danny diskutierst.«

»Natürlich«, gab sich Matthias Weigand zähneknirschend geschlagen. »Kann ich jetzt gehen? Frau Staller wartet auf mich.«

»Selbstverständlich.« Dr. Norden rang sich ein Lächeln ab und sah dem Kollegen nach, wie er mit eiligen Schritten das Büro verließ.

»Chapeau, Kollege Norden.« Im Sessel sitzend zog Dieter Fuchs einen imaginären Hut vor dem neuen Klinikchef. »Sie haben die erste Klippe beeindruckend umschifft.«

»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher«, seufzte Daniel. Einen Moment lang schweiften seine Gedanken ab. Dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Besucher, um mit ihm das Gespräch fortzusetzen, das sie beim Eintreffen Weigands unterbrochen hatten. Ein wenig Zeit blieb ihm noch, ehe er sich auch von Dieter Fuchs verabschieden musste. An diesem besonderen Tag hatte er noch eine Aufgabe zu erledigen, die er auf keinen Fall versäumen durfte.

*

Als Matthias Weigand zu seiner Patientin zurückkehrte, fand er sie in heller Aufruhr. Sie machte kein Geheimnis aus dem Grund dafür.

»Jannis war gerade hier. Er ist stinksauer, dass ich mich doch nicht operieren lassen will.« In Sarinas Augen brannten Tränen, die sie tapfer zurückdrängte. »Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll.«

»Darf ich fragen, warum er wütend auf Sie ist?«, fragte Matthias und trat ans Bett.

»Er denkt, ich bin feige.« Ihr Seufzen war herzerweichend. »Und eigentlich stimmt das ja auch.«

»Wovor haben Sie Angst?«, erkundigte sich Dr. Weigand mitfühlend.

Über diese Frage dachte Sarina kurz nach.

»Davor, dass eine Operation schief geht. Dass ich vielleicht nicht mehr aufwache. Oder wenn doch, dass ich nicht mehr laufen kann«, gestand sie leise. Es war offensichtlich, dass sie sich für diese Gefühle schämte. »Deshalb wären mir die Spritzen lieber.«

Matthias hatte aufmerksam zugehört und auch schon eine Antwort parat.

»Verständlich. Bei all dem dürfen Sie nicht vergessen, dass es um Sie geht. Sie allein müssen Ihren Weg finden. Das kann keiner für Sie tun. Deshalb müssen Sie auch Ihre Entscheidung selbst treffen.«

»Ich weiß …« Sarina hielt inne. Nervös zupfte sie mit den Zähnen an der Unterlippe. Als Matthias schon dachte, dass sie ihn vergessen hatte, holte sie plötzlich tief Luft und hob den Blick. »Also gut. Probieren wir Ihre Methode. Wenn die nicht klappt, kann ich mich ja immer noch operieren lassen.«

»Eine kluge Entscheidung!« Dieses Lob konnte sich Dr. Weigand ebenso wenig verkneifen wie die Genugtuung angesichts dieser Entscheidung. »Ich werde alles tun, damit Sie es nicht bereuen«, versprach er. Im nächsten Moment eilte er aus dem Zimmer, um alles für den Eingriff zu veranlassen. Das Versprechen, dass er Dr. Daniel Norden gegeben hatten, war längst vergessen.

*

Tatjana stand in der Tür zum Kiosk und lugte den Gang hinunter. Bevor sie etwas erkennen konnten, hörte sie die Schritte von zwei Personen. Eine Frau mit fe­derleichtem Tritt begleitete einen Mann, den sie kannte wie ihren eigenen Vater.

»Sie kommen!«, zischte sie Lenni zu, die hinter ihr stand und versuchte, einen Blick über Tatjanas Schulter zu erhaschen. Dieses Vorhaben vergaß sie sofort. Wie besprochen gab sie ihrem Lebensgefährten Oskar ein Zeichen. Er hielt die kleine Runde der Lieblingskollegen in Schach, die sich auf Tatjanas Initiative hin in ihrem Kiosk versammelt hatten. Jeder hielt ein Glas Sekt und eine Rose in der Hand und wartete auf den großen Auftritt.

»Auf drei!«, befahl Oskar leise und hob die Hand wie ein Dirigent. »Eins, zwei, drei!« Auf sein Kommando stimmte Andrea Sander das bekannte Lied von Trude Herr an. »Wenn man Abschied nimmt, geht nach unbestimmt, mit dem Wind wie Blätter wehn …« Hell und klar klang ihre Stimme durch den Raum und nach und nach stimmten die Kollegen ein. Die anderen von Jenny Behnisch besonders geschätzten Mitarbeiter stimmten ein.

Lenni war sprachlos.

»Ich wusste gar nicht, dass die Sander so gut singen kann.«

Tatjana lachte zufrieden.

»Es gibt wahrscheinlich noch vieles, was wir nicht wissen. Und ehrlich gesagt bin ich froh darum. Aber pssst.« Die Schritte draußen waren verstummt. Daniel und Jenny waren auf Höhe des Kiosks stehen geblieben.

»Hörst du das?«, fragte sie überrascht.

Daniel nickte.

»Das kommt aus dem Kiosk. Willst du nicht nachsehen?« Er war in die Aktion eingeweiht und hatte die Aufgabe gehabt, Jenny zur verabredeten Uhrzeit an diesen Platz zu locken.

Sie musterte ihn aus schmalen Augen.

»Gib’s zu! Du weißt Bescheid.«

Statt einer Antwort schob er sie in Richtung Kiosk.

»Los, rein mit dir, bevor es vorbei ist.«

Als Jenny Behnisch auf die Tür zuging, fühlte sie sich um Jahre zurückversetzt in die Zeit, als sie ein schüchternes, unscheinbares Schulmädchen gewesen war. Wie viele Jahre waren seither vergangen! Doch die Gefühle waren noch immer da. Ihre Hand zitterte, als sie die Tür aufdrückte. Gerade rechtzeitig, als die letzte Zeile des Liedes erklang.

»Nie verlässt man sich ganz. Irgendwas von dir geht mit. Es hat seinen Platz immer bei mir.«

Jenny spürte die Hand, die sich auf ihre Schulter legte. Daniel war hinter sie getreten. Das Lied war zu Ende, und die Mitarbeiter versammelten sich um die scheidende Chefin und ihren Nachfolger.

Die beiden spendeten begeistert Applaus.

»Bravo! Vielen Dank! Das war großartig!« Es kostete Jenny Mühe, sich Gehör zu verschaffen.

Endlich kehrte Ruhe ein. Die gespannten Blicke aller ruhten auf Dr. Behnisch.

»Wenn ich gewusst hätte, wie gut ihr singen könnt, hätte ich die Klinik längst aufgegeben, einen Chor eröffnet und euch alle abgeworben.«

»Dann wäre ich aber mitgekommen«, erwiderte Daniel prompt.

Alle lachten und gaben Kommentare ab. Jenny ließ den Blick über die lieb gewordenen Gesichter schweifen. Mit jedem verband sie Erinnerungen an gute Zeiten. Die schlechten Tage verblassten dagegen schon jetzt. Welch gnädige Einrichtung der Natur, wie sie im Stillen befand.

Gleichzeitig fühlte sie die erwartungsvollen Blicke auf sich ruhen. Große Worte waren nicht ihr Ding. Doch ein paar Sätze war sie ihren Mitarbeitern schuldig.

»Liebe Kollegen«, begann sie stockend. »Wenn es am schönsten ist, sollte man bekanntlich aufhören. Doch wenn ich Sie so ansehe, und obwohl ich mir meinen Entschluss reiflich überlegt habe, fällt es mir doch schwer, diesen Schritt zu gehen.« Beifälliges Raunen ging durch den Saal. Doch Jenny war noch nicht fertig. »Aber ich bin froh, dass es mir gelungen ist, Daniel Norden von der Notwendigkeit zu überzeugen, meinen Platz einzunehmen. So habe ich immer einen Spion vor Ort. Seien Sie also gewarnt.« Allgemeines Gelächter war die Antwort, und sie hob ihr Glas, um den Kollegen zuzuprosten. »Ich bedanke mich bei Ihnen für die harte Arbeit und vielen Erfolge der vergangenen Jahre!« Die Gläser klangen aneinander.

Auf diesen Moment hatte Tatjana gewartet. Sie schaltete die Musikanlage ein. Leiser Barjazz erklang und untermalte die heiter-melancholische Stimmung.

Sie stand an der Theke des Kiosks und sog die Atmosphäre mit allen Sinnen auf, bis Andrea Sander zu ihr trat. Tatjana musste gar nicht sehen, dass es sich um die Assistentin der Klinikleitung handelte. Sie spürte es vielmehr an der Schwingung ihrer Schritte und roch es natürlich an ihrem Parfum. Im Hintergrund lachte Jenny Behnisch entspannt auf. Tatjana lächelte Andrea zufrieden an.

»Das haben wir ganz gut hingekriegt, was?«, kam sie um ein kleines Eigenlob nicht herum. Unwillkürlich musste sie an Danny denken. Ob seine Überraschung ähnlich stimmungsvoll ausgefallen war? Sie konnte es kaum noch erwarten, an diesem Abend seinen Bericht zu hören.

»Sie haben das gut hinbekommen«, korrigierte Andrea Sander sie in ihre Gedanken hinein.

Doch davon wollte Tatjana nichts wissen.

»Einer allein kann nicht viel erreichen. Aber wenn wir zusammenhalten, sind wir stark.«

»Das soll unser Motto für die Zukunft sein!«, erwiderte Andrea innig, nicht ohne an Volker Lammers und Dieter Fuchs zu denken, für die das Wort »Zusammenhalt« ein Fremdwort war. Es war beruhigend zu wissen, dass den beiden Querulanten eine ganze Armada von Teamworkern gegenüberstand, die das gemeinsame Projekt mit Leidenschaft verteidigten, wenn es denn nötig wäre.

Wie so oft schien Tatjana auch diesmal die Gedanken ihres Gegenübers lesen zu können.

»Sie haben recht. Gegen uns haben sie keine Chance!«, verkündete sie zu Andreas großer Überraschung. »Darauf wollen wir trinken!«, fügte sie leidenschaftlich hinzu und hob ihr Glas.

*

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Janine, als ihre Freundin und Kollegin Wendy in der kleinen Küche auftauchte. Sie stand vor den Resten der Torte, die auf dem Boden gelandet war.

Das Wartezimmer hatte sich inzwischen geleert. Der letzte Patient des Nachmittags war bei Danny Norden. Unweigerlich steuerte das Unglück auf ein furioses Finale zu.

Wendy antwortete nicht sofort. Eine Weile betrachtete sie die Kuchenreste und dachte angestrengt nach.

»Aus zwei mach eins!«, beschloss sie schließlich. Sie holte die Tortenhaube mit Tatjanas Kunstwerk aus dem Kühlschrank und stellte sie neben die Schachtel der Bäckerei auf den Tisch. »Wozu sonst hast du eine Zusatzausbildung ›Ambulantes Operieren‹ gemacht? Jetzt kannst du deine chirurgischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.«

»Wie meinst du das?« Janine verstand kein Wort.

»Ganz einfach. Du baust aus zwei angeschlagenen Torten eine neue.« Wendy deutete auf die klaffende Wunde an Tatjanas Prachtstück. »Hier setzt du einfach ein Stück von der neuen Torte ein. Die Nähte verschließt du mit den Resten vom Schokoüberzug. Und schwupps, haben wir eine neue Torte.«

Endlich wusste Janine, worauf ihre Freundin hinaus wollte.

»Danny servieren wir natürlich ein Stück von Tatjanas Seite.«

»Selbstverständlich.« Wendy lächelte diabolisch.

Doch ein Problem blieb.

»Und wie erklären wir, dass wir noch eine Torte gekauft haben?«, stellte Janine eine berechtigte Frage.

»Das würde mich allerdings auch mal interessieren.«

Wie von der Tarantel gestochen fuhren die beiden Assistentinnen herum.

Danny Norden stand lässig an den Türrahmen gelehnt. Er hatte die Arme verschränkt und grinste die beiden an. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie ihn nicht gehört hatten.

»Danny!«, seufzte Janine.

»So heiße ich«, bestätigte er gut gelaunt.

»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass deine Eltern dir mehr Anstand beigebracht hätten«, fauchte Wendy vorwurfsvoll und versuchte, die Torte hinter ihrem Körper zu verstecken. »Weißt du nicht, dass man nicht lauscht?«

Danny stieß sich vom Türrahmen ab, hob abwehrend die Hände und betrat die Küche.

»Ich kann nichts dafür, dass Sie mein Rufen vorhin nicht gehört haben. Herr Schaller brauchte einen neuen Termin. Den habe ich ihm aber inzwischen selbst gegeben.«

»Heute geht aber auch alles schief«, stöhnte Janine auf. Und auch Wendy wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

Nur mit Mühe konnte sich Danny ein Lachen verkneifen.

»Was haben Sie denn da Schönes hinter Ihrem Rücken versteckt?« Er wollte über Wendys Schulter spitzen. Doch inzwischen hatte sie eingesehen, dass das Spiel zu Ende war. Kleinlaut trat sie beiseite und gab den Blick frei auf das Malheur.

Mit stockender Stimme berichteten beide abwechselnd, was geschehen war. Danny lauschte stumm und mit undurchdringlicher Miene.

»So so, Sie wollten mich also betrügen«, stellte er fest, nachdem sie mit ihrer Geschichte am Ende angelangt waren.

»Aber nein! Wir wollten dich nur nicht enttäuschen.«

»Und das hätte ganz bestimmt auch geklappt, wenn Sie uns nicht erwischt hätten«, versicherte Janine.

Danny sah von einer zur anderen und hatte schließlich Mitleid.

»Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind … Warum versuchen Sie es dann nicht?«, fragte er.

Wendy meinte, sich verhört zu haben.

»Du willst, dass wir Tatjanas Torte trotzdem reparieren? Aber wozu?«

Danny dachte kurz nach. Er wusste genau, dass eines Tages wieder Situationen kommen würden, in denen er auf das Wohlwollen seiner Assistentinnen angewiesen sein würde. Deshalb schluckte er seine Enttäuschung herunter. Doch ein bisschen Strafe musste schon sein.

»Weil ich ein Beweisfoto fürs Familienalbum brauche. Außerdem möchte ich mich heute Abend bei Tatjana für die wundervolle Überraschung bedanken. Dabei will ich nicht lügen.«

Wendy verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Ihre Wangen leuchteten in schönstem Dunkelrot, als sie sich zu Janine umdrehte.

Die las die stumme Frage in ihren Augen.

»Gib mir zwanzig Minuten«, bat sie und machte sich an die Arbeit.

*

Nach der gelungenen Überraschungsfeier für Jenny Behnisch machte sich Dr. Daniel Norden auf den Rückweg in sein Büro, als ihm Matthias Weigand entgegenkam.

»Nanu, du siehst ja so zufrieden aus«, sagte er ihm auf den Kopf zu.

»Ich habe auch allen Grund dazu.« Matthias dachte nicht daran, ein Geheimnis aus seinen Neuigkeiten zu machen. »Sarina Staller hat sich für meine Therapie entschieden. Ich habe ihr vor etwas mehr als einer Stunde die erste Injektion verabreicht.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»War das nicht ein bisschen vorschnell?«

»Warum denn? Es war ihr eigener Wunsch. Worauf sollte ich noch warten?«

»Nun gut.« Daniel Norden sah auf die Uhr. In einer halben Stunde stand ein weiterer Termin an, auf den er sich noch vorbereiten wollte. »Hauptsache, Danny ist informiert.« Er machte Anstalten, weiterzugehen, als Matthias Weigand ihm folgte.

»Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Das kann ich ja später auch noch machen, wenn ich erste Erfolge vorweisen kann.«

Daniel Norden dachte kurz nach, beschloss dann aber, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Vielleicht hatte Weigand recht, und es war wichtiger, zunächst die Patientin zu behandeln.

»Dann halte mich bitte auf dem Laufenden«, bat er den jungen Kollegen und machte sich endgültig auf den Weg in sein Büro.

Matthias Weigand sah ihm erleichtert nach. Er war guter Dinge, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Daniel dagegen änderte seinen Plan und bog bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ab, um sich selbst von Sarina Stallers Zustand zu überzeugen. Als er vor der Tür stand, hörte er Stimmen. Wurde er Zeuge eines Streits?

Er wollte schon umkehren, beschloss dann aber, doch zu klopfen. Schlagartig verstummten die Stimmen. Angespannte Mienen empfingen ihn.

»Hallo, Frau Saller«, begrüßte er die Patientin, ehe er dem jungen Mann an ihrem Bett die Hand reichte. »Dr. Daniel Norden«, stellte er sich vor.

»Jannis Peters.« Jannis schlug ein.

Um ein Haar hätte Daniel vor Schmerz aufgeschrien.

»Alle Achtung, Sie haben ja einen saftigen Händedruck.« Er hielt sich das Handgelenk und spreizte die schmerzenden Finger.

Jannis lachte, und Sarina sah ihn verliebt an.

»Jannis kommt gerade aus dem Fitness-Studio. Da ist er immer ein bisschen grob.«

»Tut mir leid. Ich vergesse öfter mal, wie viel Kraft ich habe.«

»Schon gut.« Lächelnd wandte sich Daniel an Sarina. »Ich will nicht lange stören. Wie fühlen Sie sich nach der ersten Injektion?«

»Sehr gut.« Zum Beweis schlug sie die Bettdecke zurück und hob ein Bein nach dem anderen. Auch wenn es nur wenige Zentimeter waren, freute sie sich sichtlich. »Sehen Sie selbst! Das wäre vor ein paar Stunden noch undenkbar gewesen.« Sie legte die Beine zurück und deckte sich wieder zu. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich viel früher in die Klinik gekommen.«

Doch Daniel Norden gemahnte zur Vorsicht. Er griff nach den Unterlagen und studierte sie eingehend.

»Nicht, dass ich den Erfolg kleinreden will. Aber es könnte auch sein, dass Sie noch unter dem Einfluss von Schmerzmitteln stehen.« Er legte das Krankenblatt zurück. »Ein so schneller Erfolg wäre mehr als ungewöhnlich. Deshalb schlage ich vor, dass wir zunächst die Nacht abwarten. Wenn Sie sich dann immer noch so gut fühlen, spricht nichts dagegen, die Therapie fortzusetzen.« Er nickte dem Paar zu, ehe er sich verabschiedete und sich diesmal ohne Umwege in sein Büro begab.

Die Tür hatte sich kaum hinter dem Arzt geschlossen, als auch Jannis Anstalten machte, nach Hause zu gehen. Sarina bemerkte es und sah ihn aus großen Augen an.

»Du willst schon gehen?«

Er schulterte die Sporttasche und beugte sich über sie, um sie zu küssen.

»Ich komme direkt vom Sport und muss jetzt unbedingt unter die Dusche.«

»Apropos Sport!« Diese Bemerkung erinnerte Sarina an die Diskussion, die Dr. Norden unterbrochen hatte. »Warst du jetzt mit Jochen trainieren oder nicht?«

Abrupt richtete sich Jannis auf und verdrehte die Augen.

»Muss ich vorher um Erlaubnis fragen, wenn ich mit einem Freund trainieren gehe?«

»Jochen ist der größte Weiberheld in der ganzen Stadt. Das hast du selbst gesagt.«

»Ja und? Soweit ich weiß, bin ich kein Mädchen«, witzelte Jannis.

Vor Zorn wäre Sarina am liebsten aus dem Bett gesprungen.

»Warum nimmst du mich eigentlich nie ernst?«, fauchte sie.

»Weil das lächerlich ist.« Allmählich verging auch dem Sportler das Lachen wieder. »Deine ständige Eifersucht macht mich echt krank.«

»Ach ja? Ich habe eher das Gefühl, dass du froh bist, dass ich hier in der Klinik bin.« Sie atmete heftig und fasste sich an die Brust. »Dann kannst du endlich machen, was du willst«, fuhr sie trotzdem fort.

»Hör endlich auf, dich und mich verrückt zu machen!«

»Ach, so ist das?« Die Schmerzen wurden immer heftiger. Sarina bekam kaum mehr Luft. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Doch dieses Thema war wichtiger als alles andere. »Ich mache dich verrückt? Oder eher die Mädchen, die dir scharenweise nachsteigen?«

»O Mann! Ich kann’s nicht mehr hören!« Wütend wandte sich Jannis ab und stürmte zur Tür.

Sarina dagegen krümmte sich im Bett zusammen. Ihr Schmerzensschrei ließ ihn innehalten. Ihr Anblick erschreckte ihn so sehr, dass ihm die Sporttasche aus der Hand fiel. Achtlos ließ er sie liegen und kehrte zum Bett zurück.

»Ganz ruhig. Hab keine Angst«, redete er auf sie ein. »Ich hole einen Arzt.«

Doch das war nicht nötig. Sarinas Schreie hatten schon die Schwester alarmiert, die an diesem späten Nachmittag Dienst hatte. Mit wenigen Schritten war sie am Krankenbett und streichelte ihr über die kalte Stirn.

»Dr. Weigand ist jeden Augenblick bei Ihnen«, versprach sie. Mehr konnte sie in diesem Moment nicht für Sarina Staller tun.

*

Das Treffen mit Dr. Daniel Norden hatte das schlechte Gewissen in Matthias Weigand geweckt. Danny Norden war einer seiner Freunde. Diese Freundschaft wollte er nicht wegen einer Meinungsverschiedenheit aufs Spiel setzen.

Danny dagegen dachte in diesem Augenblick weder an Sarina Staller noch an seinen Ärger in der Klinik. Er saß vielmehr am Schreibtisch und wartete gespannt darauf, dass Wendy ihn endlich rufen würde. Sein Magen knurrte laut, als wollte er sich ebenfalls zu Wort melden.

»Den ganzen Tag habe ich auf die Torte gewartet. Wenn ich daran denke, dass Wendy und Janine darüber hergefallen sind, während ich hungern musste …« Noch immer konnte Danny nur den Kopf schütteln über diese Ungeheuerlichkeit. Er hätte niemals zugegeben, dass er sie nur allzu gut verstand, ja, sogar Sympathie für diese kleine Schwäche hegte. Um Tatjanas Köstlichkeiten zu widerstehen, musste man entweder Kostverächter oder der Gleichmut in Person sein. Er war keines von beidem. Und es erleichterte ihn, dass seine Assistentinnen genauso menschlich waren wie er.

In seine Überlegungen hinein klingelte das Telefon. Als er Matthias‘ Stimme hörte, verwandelte sich sein Hunger schlagartig in Ärger.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte er kühl und lehnte sich zurück.

»Mensch, Danny, jetzt hab dich mal nicht so!«, eröffnete Dr. Weigand das Gespräch offensiv. »Es tut mir ja leid, wie das alles gelaufen ist. Aber es war ganz bestimmt nicht böse gemeint. Ich habe einfach nicht daran gedacht, mich vorher mit dir abzusprechen. Sarina ist in die Klinik gekommen, war verzweifelt und hatte Angst vor einer OP. Da kam mir die Idee mit der Biointervention. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie gleich deine Kompetenz in Frage stellt.«

»In Zukunft weißt du es«, erwiderte Danny knapp. »Im Übrigen habe ich meine Gründe, warum ich eine Operation empfehle.«

»Und ich habe meine Gründe, warum ich nach Alternativen suche.« Matthias dachte nicht daran, klein beizugeben. »Dein Vater hat mich übrigens vorhin angerufen und mir gesagt, dass es Sarina erstaunlich gut geht. Die Therapie scheint anzuschlagen.«

»Du hast schon angefangen?« Danny schnappte nach Luft.

»Es war ihre Entscheidung. Sie hat die erste Injektion vor ein paar Stunden bekommen.«

Es klopfte, und Wendy steckte den Kopf zur Tür herein, um ihren Chef zu holen. Doch es war wie verhext. Danny schüttelte nur den Kopf und bedeutete mit einer Geste, dass sie später wiederkommen sollte.

»Wie willst du dann jetzt schon beurteilen, ob es funktioniert?«, fragte er, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte. »Es kann sich ebenso gut um einen rein psychologischen Effekt handeln.«

»Ich erkläre dir gern die Details dieser Therapie«, bot Weigand an.

»Erkläre mir lieber, warum du das Vertrauensverhältnis zwischen meinen Patienten und mir mutwillig zerstörst.«

Weigand saß an seinem Schreibtisch und verdrehte die Augen gen Himmel. Schon bereute er es, das Gespräch gesucht zu haben.

»Das war nicht meine Absicht. Verstehst du das denn nicht?«, beteuerte er.

Doch Ärger und Hunger wuchsen sich zu einer explosiven Mischung aus.

»Das, was ich verstehe, ist, dass du nur scharf auf eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift bist«, schimpfte er. »Und dass du den Eingriff auf Privatrechnung ausführen kannst. Da bleibt mehr Gewinn bei der Klinik hängen.«

Matthias Weigand konnte es kaum fassen. Warum war Danny nur so wütend auf ihn?

»Irrtum, mein Lieber«, erwiderte er betont ruhig. »Ich habe schon mit dem Verwaltungschef gesprochen. Frau Staller bekommt einen Zuschuss aus der Klinik-Stiftung.«

Damit hatte Danny nicht gerechnet. Diese Neuigkeit nahm ihm den Wind aus den Segeln. Aber nur kurz.

»Ich verstehe nicht, warum du Sarina nicht einfach operierst. Die Sache könnte längst erledigt sein.«

»Weil ich nur zum Skalpell greife, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«

Ein schrilles Piepen unterbrach das Gespräch der beiden. »Tut mir leid, das ist ein Notfall.«

»Dir gehen doch nur die Argumente aus«, rief Danny aufgebracht.

»Es ist das Zimmer von Sarina Staller«, erwiderte Matthias. Kurz darauf verriet ein Klicken, dass die Leitung unterbrochen war.

Dr. Danny Norden zögerte nicht. Er warf den Hörer auf die Gabel und sprang auf. In Windes­eile verließ er sein Sprechzimmer und eilte durch den Flur. Am Tresen wurde er bereits sehnsüchtig erwartet.

Janine und Wendy standen nebeneinander und lächelten ihn wie die Engel an.

»Wunderbar. Es ist alles bereit. Wir können endlich anfangen!«, verkündete Wendy.

Doch Danny winkte nur ab, während er in die Jacke schlüpfte.

»Keine Zeit. Ich muss in die Klinik.«

*

Der Termin war kaum beendet und Daniel Norden wollte sich eine wohlverdiente Pause gönnen, als sein Telefon klingelte.

Nur mit Mühe konnte er sich ein tiefes Seufzen verkneifen.

»Meinen ersten Arbeitstag als Klinikchef hatte ich mir nicht so hektisch vorgestellt«, murmelte er kopfschüttelnd und griff nach dem Hörer.

»Fuchs hier. Gut, dass ich Sie erreiche!«, meldete sich der Verwaltungschef.

»Sie scheinen ja heute einen regelrechten Narren an mir gefressen zu haben«, bemerkte Daniel teils amüsiert, teils misstrauisch.

Dieter Fuchs lachte.

»Kein Wunder! Wo Sie der Klinik doch gleich am ersten Tag Glück bringen.«

Verwundert lehnte sich Daniel zurück.

»Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, gestand er.

»Ich verstehe schon, dass Sie die Sache nicht so schnell an die große Glocke hängen wollen.« Der Verwaltungschef schlug einen verschwörerischen Tonfall an. »Aber vor mir können Sie kaum etwas geheim halten. Ich habe hervorragende Verbindungen.«

Beängstigende Verbindungen, wie Daniel inzwischen von Jenny erfahren hatte.

»Tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Er sagte die Wahrheit.

Doch das störte Dieter Fuchs wenig.

»Es geht um diese neue Therapie, diese Biointervention, die der Kollege Weigand höchst erfolgreich getestet hat.«

»Ach, das meinen Sie.« Insgeheim wunderte sich Daniel, woher der Sparfuchs diese Information bezog. Doch er hütete sich, diese Frage laut zu stellen.

»Ja, das meine ich. Ich finde, wir sollten den Erfolg für uns nutzen und die Sache publik machen.«

Dieser Vorschlag überraschte Dr. Norden.

»Aber dazu ist es viel zu früh. Es­ …«

»Papperlapapp!«, unterbrach Fuchs ihn unwirsch. »Ich habe mich schon schlau gemacht. Das ist eine Marktlücke. Keine andere Klinik in der Stadt bietet diese Therapie im Augenblick an. Diese Chance müssen wir nutzen, ehe es ein anderer tut.«

Dieser Aspekt war nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem wiegte Daniel nachdenklich den Kopf.

»Mir erscheint es viel wichtiger, die Kassen davon zu überzeugen, die Therapie in ihren Leistungskatalog aufzunehmen.«

»Das sollte kein Problem sein.« Es war Dieter Fuchs anzuhören, dass er lächelte. »Krankenkassen wollen Geld sparen. Auf ein Verfahren, das günstiger ist als ein operativer Eingriff, werden Sie sich wie die Geier stürzen.«

»Das sagen Sie als Geldeintreiber?«, entfuhr es Daniel.

Wieder lachte Fuchs.

»In diesem Fall setze ich auf Quantität. Da wir die einzige Klinik in der Umgebung sind, die dieses Verfahren anbietet, werden uns die Patienten die Bude einrennen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als Dr. Nordens Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Andrea Sander steckte den Kopf zur Tür herein. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. Daniel entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner und hielt den Hörer zu.

»Notfall!«, raunte sie ihm zu. »Frau Staller geht es schlecht.«

»Ich komme sofort!« Und zu Dieter Fuchs sagte er: »Ich fürchte, Sie müssen Ihre ehrgeizigen Pläne noch ein wenig aufschieben. Es gibt ein Problem.« Damit verabschiedete er sich vom Verwaltungschef und machte sich auf den Weg.

*

Atemlos machte Dr. Weigand vor der Schwester Halt.

»Was ist passiert?«, fragte er, als hinter ihm auch schon Danny Norden auftauchte.

»Frau Staller hat starke Unterbauchschmerzen. Sieht nach Kolik aus«, antwortete die Schwester, als Danny vor ihnen stehenblieb. Sein Sprint in der warmen Jacke hatte ihm Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Er zog den Reißverschluss auf und wollte an Dr. Weigand vorbei ins Zimmer gehen.

»Moment! Wo willst du hin?« Matthias packte ihn am Ärmel und hielt ihn fest.

Danny fuhr herum und funkelte ihn wütend an.

»Das ist meine Patientin. Du kannst mir nicht verbieten, mich um sie zu kümmern«, fauchte er.

»Und ob ich das kann! Im Augenblick trage ich die Verantwortung.« Er zog Danny zurück und verschwand im Zimmer, wo er schon sehnsüchtig erwartet wurde.

»Da sind Sie ja endlich.« Die Panik stand Jannis ins Gesicht geschrieben. »Tun Sie gefälligst was!«

Doch Dr. Weigand beachtete ihn nicht. Er trat ans Bett und beugte sich über Sarina, die sich noch immer vor Schmerzen krümmte und vor sich hin wimmerte.

»Hallo, Frau Staller, können Sie mich hören?«

»Ja!«, hauchte Sarina.

»Sie müssen jetzt mit mir zusammenarbeiten«, redete er beschwörend auf sie ein. »Wo genau tut es weh?« Er zog den Pullover hoch und tastete den Bauch ab.

»Hier. Und da.« Sarina schrie auf. »Da auch.«

Jannis stand daneben und knetete nervös die Hände.

»Das ist bestimmt der Blinddarm. Sie hat schon öfter eine Reizung gehabt«, mischte er sich ein. »Ich kenne die Symptome.«

Matthias warf einen kurzen Blick über die Schulter, konzentrierte sich aber gleich wieder auf seine Patientin.

»Ich gebe Ihnen jetzt ein Schmerzmittel. Dann geht es Ihnen gleich besser.« Er sah die Schwester an. »Bitte bringen Sie Herrn Peters nach draußen.«

»Was denn?« Empört setzte sich Jannis zur Wehr, als die Schwester ihn sanft am Arm nahm. »Kann ich nicht hierbleiben?«

»Der Herr Doktor braucht jetzt Ruhe, um seine Arbeit zu machen.« Nun packte sie etwas energischer zu.

Matthias wartete, bis sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte.

»Ich werde jetzt einen Bluttest machen. Dann wissen wir sofort Bescheid, ob Sie noch höhere Entzündungswerte haben als ohnehin schon. Das wäre bei einer akuten Appendizitis der Fall«, erklärte er das weitere Vorgehen. »Außerdem werde ich einen Ultraschall machen. Normalerweise ist der Wurmfortsatz bei dieser Untersuchung nicht sichtbar. Das ändert sich aber im entzündeten Zustand. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass Sie lediglich unter Rückenschmerzen leiden. So eine Reaktion kommt schon mal vor.«

Sarina sah ihn aus tränenumflorten Augen an.

»O Mann, hätte ich doch nur auf Dr. Norden gehört. Dann wäre das hier alles längst vorbei.«

»Bitte beruhigen Sie sich.« Matthias dachte nicht daran, sich aus der Ruhe bringen zu lassen, und führte die angekündigten Untersuchungen durch. Schließlich legte er eine Manschette um Sarinas Arm und staute die Vene. Nachdem er Blut abgenommen und eine Schwester damit ins Labor geschickt hatte, blickte er auf seine Patientin hinab. Seine Miene war entspannt.

»Und? Fühlen Sie sich besser?«

In der Tat hatten die Schmerzen nachgelassen.

Sarina nickte vage.

»Ich glaube schon.« Sie atmete vorsichtig ein und aus und wagte ein schüchternes Lächeln. »Ich bin keine Simulantin, Herr Doktor. Das müssen Sie mir glauben.«

»Davon war auch nie die Rede«, versicherte Dr. Weigand und nahm die Krankenakte an sich. »Und jetzt versuchen Sie, sich ein bisschen auszuruhen.« Sein Lächeln wurde tiefer. »Sobald ich die Ergebnisse der Blutuntersuchung habe, komme ich wieder vorbei.«

Sarina konnte sich nicht vorstellen, in dieser Situation zur Ruhe zu kommen. Doch die aufregenden Ereignisse des Tages forderten ihren Tribut. Sie hatte die Augen kaum geschlossen, als sie auch schon tief und fest eingeschlafen war.

*

Diese Ruhe hätte sich Dr. Weigand auch gewünscht. Doch er wusste, dass sein frommer Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Danny Norden stand noch immer draußen vor der Tür. Er hatte sich zwar gefügt und – ganz verantwortungsbewusster Arzt – die Behandlung nicht gestört. Doch das bedeutete nicht, dass die Sache kein Nachspiel haben würde. Mit wachsender Ungeduld wartete er darauf, dass Matthias aus dem Zimmer kam. Endlich war es so weit.

»Da bist du ja!«, sagte er, als sein Freund an ihm vorbei eilte. Sofort heftete er sich an seine Fersen. »Ich will sofort zu meiner Patientin.«

Auf dem Weg in ein Zimmer, in dem sie sich unterhalten konnten, stieß Daniel Norden zu ihnen. Matthias grüßte ihn mit einem Nicken, ging aber unbeirrt weiter. Vater und Sohn folgten ihm in einen leeren Besprechungsraum.

»Sarina braucht im Augenblick absolute Ruhe«, erklärte Dr. Weigand endlich und machte eine einladende Handbewegung. Daniel setzte sich. Danny dagegen war zu aufgeregt. Wie ein Tiger im Käfig wanderte er im Zimmer auf und ab.

»Jetzt beruhige dich doch!«, bat Daniel.

Mit funkelndem Blick fuhr Danny zu ihm herum.

»Ich denke, du bist hier der Chef«, fauchte er seinen Vater an. »Wie kannst du so einen Alleingang zulassen?«

Daniel Norden ermahnte sich zur Besonnenheit.

»Was genau ist denn dein Problem?«, stellte er eine Gegenfrage.

»Du wirst nicht leugnen, dass Sarinas Kolik durch die fragwürdige Therapie ausgelöst wurde.«

Daniel Norden sah sich in der Zwickmühle. Auf der einen Seite war da sein Sohn, den er zu seinem Nachfolger erkoren hatte. Auf der anderen Seite stand Matthias Weigand, sein Freund und geschätzter Mitarbeiter. So schwer es ihm auch fiel, er musste sich entscheiden.

»Matthias ist der behandelnde Arzt in der Klinik. Er hat mein volles Vertrauen.« Er streckte die Hand nach der Krankenakte aus, die Matthias vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Darf ich?«

»Natürlich!« Dr. Weigand beugte sich vor und schob ihm die Unterlagen hinüber.

Daniel blätterte noch darin, als es klopfte und eine Schwester hereinkam.

»Hier stecken Sie! Dann hat sich Regina nicht geirrt«, sagte sie lächelnd und hielt ihm einen Brief hin. »Die Auswertung des Schnelltests ist da!« Sie reichte Weigand das Kuvert aus dem Labor.

»Vielen Dank.« Unter Dannys gespanntem Blick riss er es auf und überflog die Werte. »Na bitte!« Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, gab er das Blatt weiter. »Sarinas Werte sind unverändert. Das bedeutet, dass sie keine Blinddarmentzündung hat. Von einem Durchbruch ganz zu schweigen. Der Ultraschall war übrigens auch unauffällig.«

Daniel hatte in Ruhe zugehört. Schließlich wandte er sich an seinen Sohn, der immer noch rastlos herumwanderte. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Wir beide kennen Matthias gut genug. Wenn er einen Fehler gemacht hätte, würde er ihn zugeben. Das weißt du so gut wie ich«, versuchte er, Danny zu beschwichtigen.

Darauf schien der nur gewartet zu haben. »Diese ganze Therapie ist ein einziger großer Irrtum«, schimpfte er und nahm seinen Vater ins Visier. »Ich bitte dich, meinen Vater und Chefarzt dieser Klinik, mach diesem Wahnsinn ein Ende!« Sein Blick eilte hinüber zu Matthias, der ihm wie ein Feind gegenüberstand. »Ich verlange, dass diese Therapie sofort beendet und Sarinas Appendizitis entsprechend behandelt wird, bevor ein weiteres Unglück passiert.«

Matthias Weigand seufzte.

»Sag mal, spreche ich eigentlich chinesisch? Es gibt keine Blinddarmentzündung. Mal abgesehen davon, dass es ein fataler Fehler wäre, die Behandlung zu diesem Zeitpunkt abzubrechen.«

Es klopfte, und Andrea Sander steckte den Kopf zur Tür herein.

»Bitte entschuldigen Sie die Stör…«

»Was denn? Muss das sein?«, unterbrach Daniel Norden sie ungehalten.

Die Assistentin verkniff sich ein Lächeln. Diesen Tonfall kannte sie von Jenny Behnisch.

»Ein gewisser Herr Peters ist hier. Er meint, es wäre dringend.«

Daniel wusste sofort Bescheid.

»Also gut, er soll hereinkommen.«

Jannis folgte der Einladung. Verlegen stand er vor den Ärzten.

»Sarina schickt mich. Es geht ihr viel besser«, erklärte er fast schüchtern. »Ich soll Ihnen sagen, dass sie weiter von Dr. Weigand behandelt werden will. Ich verstehe zwar nicht, warum. Aber letztlich ist es ihre Entscheidung.«

Matthias besaß Anstand genug, um sich den Triumph nicht anmerken zu lassen.

Danny steckte die Hände in die Taschen und senkte den Kopf.

»Damit ist jede weitere Diskussion, zumindest für diesen Zeitpunkt, überflüssig.« Daniel erhob sich. Sein erster Tag als Klinikchef war lang und anstrengend gewesen. Es wurde höchste Zeit, ihn zu beenden. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ihr wisst, wo ihr mich erreichen könnt, falls ihr mich braucht«, sagte er, ehe er endgültig verschwand.

*

Wie immer im Winter hatte sich die Dunkelheit schon früh über die Welt gelegt. Obwohl es nach Sonnenuntergang kühler geworden war, lag aber immer noch eine Ahnung von Frühling in der Luft. Ein frischer Hauch blähte die Vorhänge und streifte Sarinas Wangen. Sie öffnete die Augen und sah hinüber zu Jannis. Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett und starrte vor sich hin.

»Woran denkst du?«

Wie aus einem Traum erwacht, zuckte er zusammen.

»An nichts«, schwindelte er.

»Kein Mensch kann an nichts denken«, widersprach Sarina. Inzwischen waren die Bauchschmerzen kaum mehr zu spüren, sodass sie sich wieder auf andere Dinge konzentrieren konnte. Zum Beispiel auf ihre Beziehung. »Jetzt sag schon! Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«

Jannis haderte mit sich.

»Sarina, bitte. Darüber reden wir lieber ein andermal … wenn es dir besser geht. Im Augenblick hast du schon Probleme genug.«

»Darf ich das bitte selbst entscheiden?«, fragte sie gereizt und ängstlich zugleich. »Raus mit der Sprache! Wie heißt sie?«

Jannis sah sie verständnislos an.

»Wie heißt wer?«

»Na, das Mädchen, an das du die ganze Zeit denkst.« Aus Sarinas Augen blitzte die nackte Eifersucht.

Ihr Freund konnte es kaum glauben.

»O Mann, ich halte das nicht mehr aus!« Er sprang vom Stuhl auf und trat ans Fußende des Bettes. »Also schön: Ich sage dir, worüber ich nachgedacht habe. Aber beschwere dich hinterher bitte nicht.«

Sarina presste die Lippen aufeinander, sagte aber kein Wort.

»Ich habe über unsere Beziehung nachgedacht. Darüber, dass es so nicht weitergehen kann.« Wie um sich Mut zu machen, ballte er die Hände zu Fäusten. »Ich denke, wir sollten uns trennen.«

Sarina sagte immer noch nichts. Erst nach und nach begriff sie das ganze Ausmaß seiner Worte.

»Ich habe es immer geahnt«, stammelte sie endlich. »Du hast eine andere.«

Jannis verdrehte die Augen.

»Nein, es gibt keine andere. Ehrlich gesagt habe ich im Moment die Schnauze voll von Mädchen. Schließlich kann ich nicht wissen, ob mir die nächste nicht auch wieder solche Szenen macht wie du. Und darauf kann ich echt verzichten. Das ist so was von anstrengend«, brach plötzlich all seine Wut aus ihm heraus, die sich über Wochen angestaut hatte. Schwer atmend hielt er inne.

Sarina starrte ihn aus großen Augen an.

»So schlimm bin ich?«, fragte sie so hilflos, dass er nur noch wütender wurde.

»Wenn du wüsstest … «, rief er und stürmte Richtung Tür. Panisch sah Sarina ihm nach. Sie wusste: Wenn er jetzt ging, wäre es für immer. Dann würde sie ihn nie wiedersehen. Dieser Gedanke war zuviel für sie. Sie schlug die Decke zurück, zwang die Beine über die Bettkante und wollte loslaufen. Ihm folgen, ihn aufhalten, um Verzeihung anflehen.

»Geh nicht, Jannis! Es tut mir leid!«, rief sie, als sie einen stechenden Schmerz spürte, der ihr den Atem raubte. Mit einem Schrei stürzte sie zu Boden. Da war Jannis schon auf dem Flur unterwegs. Im ersten Moment dachte er an eine Falle. Doch dann erinnerte er sich an ihre Schmerzen am Nachmittag. Seine Schritte wurden langsamer. An der Stationstür angekommen, kehrte er schließlich um und lief zurück ins Zimmer. Als er Sarina ohnmächtig auf dem Boden liegen sah, hielt er die Luft an. Dann wandte er sich ab und stürzte los, um eine Schwester zu suchen.

*

»Glaubst du, er kommt überhaupt zurück?« Diese Frage stellte Janine eine Stunde, nachdem ihr Chef in Richtung Klinik aufgebrochen war. Sie stand in der Küche am schön dekorierten Tisch, der nur auf Danny wartete.

Wendy saß am Schreibtisch hinter dem Tresen und beschäftigte sich mit Abrechnungen. Bei dieser Frage blickte sie hoch.

»Er wird uns doch nicht einfach so sitzen lassen«, erwiderte sie.

»Vielleicht aus Rache?«

»Danny? Nein, so ist er nicht.« Entschieden schüttelte Wendy den Kopf. »Das ist nicht seine Art.«

»Es ist auch nicht unsere Art, ungezügelt über anderer Leute Torten herzufallen«, gab Janine zu bedenken.

Wieder sah Wendy auf. Diesmal wirkte sie nachdenklich.

»Stimmt auch wieder«, räumte sie ein. »Du meinst also, wir warten vergeblich?«

Janine zuckte mit den Schultern. Gedankenverloren betrachtete sie die Torte, die zwischen Blumen und Glückwunschkarte auf dem Küchentisch thronte.

Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Das Flickwerk war nur zu erkennen, wenn man genau hinsah. Im Normalfall wäre sie stolz gewesen auf ihre Arbeit. Doch mit dieser Vorgeschichte konnte sie sich nicht freuen.

Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie einen Schatten im Augenwinkel bemerkte. Sie hob den Kopf und entdeckte Danny, der den Gartenweg Richtung Praxis hochging. Auch wenn seine Miene düster war, lächelte sie erleichtert.

»Nein, ich habe gerade meine Meinung geändert.«

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und Danny stapfte herein. Schnell verließ Janine die Küche und schloss die Tür hinter sich.

»Da bist du ja wieder!« Unterdessen war Wendy vom Schreibtisch aufgesprungen und begrüßte ihren Chef freudig. »Wir hatten schon Angst, du kommst nicht mehr.« Zuvorkommend nahm sie ihm die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. Dann griff sie nach seiner Hand.

»Ich hätte gar nicht erst gehen sollen«, murrte er. Verstimmt, wie er war, bemerkte er die Sonderbehandlung nicht und ließ sich bereitwillig mitziehen.

»Doch, doch. Das war schon gut. So hatten wir wenigstens genügend Zeit, uns auf den feierlichen Moment vorzubereiten.« Wendy ließ Dannys Hand los und stellte sich neben ihre Freundin und Kollegin. »Mein lieber Danny!«, begann sie feierlich. Ihre Wangen leuchteten vor Verlegenheit und Freude. »Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Damals warst du gerade mal so hoch.«

Ohne Wendy anzusehen, versetzte Janine ihr einen Knuff in die Seite.

»Du hast versprochen, nicht sentimental zu werden«, erinnerte sie sie.

Für einen kurzen Moment vergaß Danny seinen Ärger und schmunzelte.

»Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht daran«, gestand er. »Aber ich weiß noch genau, wie Sie mich ausgeschimpft haben, als sie auf einem meiner Spielzeugautos ausgerutscht und durch die halbe Praxis gesegelt sind.«

»Oh, richtig! Das hätte ich fast vergessen.« Damals war Wendy furchtbar böse gewesen. Doch inzwischen konnte sie über diesen Streich lachen. »Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass du einmal mein Chef sein würdest, hätte ich ihn für verrückt erklärt.«

Diesmal war es an Danny, sentimental zu werden.

»Wenn Sie mir versprechen, es niemandem weiterzuerzählen, verrate ich Ihnen ein Geheimnis.«

»Soll ich euch allein lassen?«, fragte Janine.

»Nicht nötig.« Er schüttelte den Kopf. »Das geht Sie genauso etwas an.« Er machte eine Pause und musterte seine beiden Assistentinnen. »Ehrlich gesagt fühle ich mich hier gar nicht als Chef. Für mich ist das Praxisteam ein Stück weit Familie. Und wie in einer Familie hat mal hat der eine recht, mal der andere. Wir streiten und versöhnen uns wieder. Wir freuen uns über Erfolge und trauern gemeinsam über Patienten, die wir verloren haben. Wie bei uns zu Hause. Ich könnte mir keine Menschen vorstellen, mit denen ich lieber arbeiten würde.« Er hatte seine kleine Rede beendet und lächelte in die Runde.

Vor Rührung wischte sich Janine eine Träne aus dem Augenwinkel. Und auch Wendys Augen glänzten verdächtig.

»Wer ist jetzt hier sentimental?«, beschwerte sie sich nicht ganz ernst. »Musste das jetzt sein, Danny?« Sie schniefte und suchte nach einem Taschentuch. Er hielt ihr eine Packung hin.

»Das war die Rache für die Torte«, erwiderte er und konnte schon wieder frech grinsen. »Aber ich finde, jetzt haben wir genug geredet. Wo ist denn nun meine Überraschung?«

»Na, hier!« Mit großer Geste wollte Janine die Küchentür öffnen, als ein Handy klingelte.

Wendy verdrehte die Augen.

»Nicht schon wieder!«, stöhnte sie, als Danny Norden das Mobiltelefon aus der Tasche zog und es kurzerhand – ohne einen Blick auf das Display zu werfen – ausschaltete. Es wurde Zeit, dass dieser ärgerliche Tag eine erfreuliche Wendung nahm. Und was war besser dazu geeignet als ein Stück Prinzregententorte von seiner Freundin Tatjana im Kreise seiner Wahlfamilie zu genießen?

*

»Er geht nicht ran.« Unverrichteter Dinge legte Daniel Norden den Hörer auf die Gabel des Wandapparats. Er gesellte sich zu Matthias Weigand, der am Waschbecken stand und sich die Hände einseifte.

»Dann müssen wir ohne seinen Segen operieren«, bemerkte Matthias. »Aber es ist ja genau das, was er von Anfang an wollte. Er wird zufrieden sein mit uns.« Ein Hauch von Ironie schwang in seiner Stimme mit.

Die überhörte Daniel geflissentlich und griff nach der Seife. Sarina Staller lag schon im OP und wurde auf den Eingriff vorbereitet. Das abrupte Aufstehen war nicht ohne Folge geblieben.

»Jetzt ist die Situation wesentlich kritischer. Wir müssen uns beeilen. Je länger die Bandscheibe auf die Nervenwurzel drückt, umso größer wird die Gefahr einer dauerhaften Lähmung.« Er stellte den Wasserhahn ab und nahm eines der Handtücher vom Stapel.

Eine Schwester stand schon bereit, um ihm in die Handschuhe zu helfen. Danach verknotete sie den Mundschutz in seinem Nacken. Es konnte losgehen.

»Bist du bereit?«, fragte er Weigand.

»Auf in den Kampf, Torero!« Mit einer gekonnten Drehung tänzelte Matthias durch die Tür in den Operationssaal. Daniel folgte ihm. Die gekräuselte Haut um seine Augen verriet, dass er lächelte. Er mochte den meist gut gelaunten, aber doch gewissenhaften Kollgen, der immer für einen Spaß zu haben war. Sogar dann, wenn er unter enormem Druck stand. Vielleicht war das das Geheimnis seines Erfolgs.

Sarina lag in tiefem Narkoseschlaf auf dem Bauch, der Eingriff konnte beginnen.

»Skalpell!«, verlangte Dr. Weigand. Die Schwester reichte es ihm. Er arbeitete hochkonzentriert. Mit ruhiger Hand setzte er den Schnitt. »Tupfer.«

Die Assistenzärztin Dr. Neubeck stand ihm gegenüber und unterstützte ihn.

Daniel beobachtete das Geschehen.

»Wie sieht’s aus?«

Matthias hatte den besseren Blick auf das Operationsfeld.

»Schlimm. Genauso, wie ich nach dem Sturz befürchtet habe. Die Bandscheibe ist ein Geröllfeld. Aber ich komme gut ran.« Er beugte sich ein wenig tiefer. »Schere!«, verlangte er von der Operationsschwester.

Daniel sah hinüber zum Anästhesisten.

»Wie geht es ihr?«

»Alles unter Kontrolle«, erwiderte Dr. Klaiber. Die Geräte in seinem Rücken piepten. »Wie lange braucht ihr ungefähr?«

»Das haben wir bald. Bitte das Licht ausrichten.« Weigands nächste Bemerkung galt Schwester Gisela, die seinen Wunsch sofort erfüllte. »Achten Sie auf die Haken!«, ermahnte er Dr. Neubeck. »Gut, so bleiben.«

»Wie stark blutet er?«, fragte Arnold Klaiber in die konzentrierte Stille hinein. »Brauchen wir Konserven?«

»Bis jetzt sind es etwa 200 Milliliter«, erteilte Daniel die gewünschte Auskunft. »Alles im grünen Bereich.«

»Spülung!« Schwester Gisela reichte Matthias eine große Spritze mit steriler Lösung.

Schon eine Viertelstunde später war alles vorbei.

»Sehr gute Arbeit!«, lobte Daniel Norden seinen Mitarbeiter.

»Danke.« Wieder einmal standen sie nebeneinander am Waschbecken. Doch trotz seines Erfolgs wirkte Matthias bedrückt.

Daniel sah ihn von der Seite an.

»Was ist los? Ist es wegen des Streits mit Danny?«

Matthias machte gar nicht erst den Versuch zu leugnen.

»Es ist eigentlich nicht meine Art, einem Freund in den Rücken zu fallen.«

»Davon kann doch überhaupt keine Rede sein«, versicherte Dr. Norden mit Nachdruck. »Ihr hattet eine Meinungsverschiedenheit. Das kommt in den besten Familien vor.«

»Mag sein!« Seufzend stellte Matthias den Wasserhahn ab und trocknete die Hände. »Aber ich fürchte, ich kann mich erst freuen, wenn die Sache aus der Welt geschaffen ist.«

»Dazu habt ihr beide jetzt alle Zeit der Welt.« Lächelnd klopfte Daniel ihm auf die Schulter.

Sein erster Arbeitstag als Klinikchef war vorüber. Er war anstrengender, aufregender und überraschender gewesen, als er sich das hätte träumen lassen. Doch schon jetzt freute er sich auf die Herausforderungen des kommenden Tages. Ein gutes Zeichen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und auf dem richtigen Weg zu sein.

*

Es war schon spät, als auch Jenny Behnischs Tag endlich ein Ende hatte. Ein letztes Mal wanderte sie in ihrer Eigenschaft als Klinikchefin durch die Flure. Um diese Uhrzeit war Ruhe eingekehrt. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Alles war still. Eine Flut von Erinnerungen überfiel sie. Bilder aus längst vergangenen Zeiten huschten an ihrem inneren Auge vorbei. Sie erinnerte sich genau an den Tag, als sie die Klinik zum ersten Mal betreten hatte. Im Rückblick erschien sie sich selbst wie ein anderer Mensch.

»Wir sind gemeinsam gewachsen und haben uns entwickelt«, murmelte sie, als spräche sie zu einem Menschen. Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, als ob die Wände Ohren hätten. Auf magische Art und Weise fühlte sie sich verstanden. »Etwas von mir bleibt bei dir«, erinnerte sie sich an das Abschiedslied ihrer Kollegen. »Welch weise Worte. Ich muss Daniel unbedingt fragen, wer das ausgesucht hat.« Jenny war an der Eingangstür angelangt. Um diese Uhrzeit waren die Schiebetüren verschlossen. Sie verabschiedete sich vom Nachtportier und trat durch die kleine Seitentür hinaus in die frische Nachtluft.

Dort wurde sie schon sehnsüchtig erwartet.

»Da bist du ja!« Roman trat aus dem Schatten der Wand auf sie zu. Er legte die Arme um sie. Sein prüfender Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Ist der Abschied sehr schwer gefallen?«

»Zwischendurch schon«, gab sie zu. »Aber am Ende haben es mir zwei ganz besondere Kollegen doch überraschend leicht gemacht.«

Roman nickte verstehend.

»Bist du damit einverstanden, wenn wir ein andermal darüber reden?«

Jenny lachte leise und ließ sich bereitwillig wegführen.

»Natürlich. Wir haben ja jetzt alle Zeit der Welt.« Ohne es zu wissen, benutzte sie die gleichen Worte wie zuvor ihr Freund und Nachfolger Dr. Daniel Norden.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Roman vergnügt. Arm in Arm wanderten sie durch die Dunkelheit in Richtung Wagen. »Neue Ufer warten schon auf uns. Die Flüge nach Tunesien sind gebucht.«

»Ach, ich freue mich auf die neuen Herausforderungen«, seufzte Jenny. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal nach Afrika zurückkehren würde, zu meinen Anfängen als Ärztin.« Sie schickte ihm einen zärtlichen Seitenblick. »Das macht mich sehr glücklich.«

Roman drückte sie an sich, sagte er aber nichts. Kurz darauf erreichten sie den Wagen. Er ließ die Schlösser aufschnappen. Gleichzeitig bemerkte er, dass Jenny mit sich haderte.

»Nicht umdrehen!«, warnte er sie.

Sie tat es trotzdem, um einen letzten Blick auf ihre Klinik zu werfen. Einen Moment lang stand sie schweigend da und nahm den Anblick des stolzen Hauses in sich auf. Sie konnte wahrlich zufrieden sein mit dem, was sie im Sinne ihres verstorbenen Ehemannes erreicht hatte. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sich schon ein Stück weit entfernt zu haben. Die Nabelschnur war durchschnitten.

Sie wandte sich ab und sah hinüber zu Roman, der geduldig auf sie wartete.

»Fahren wir!« Sie lächelte ihm zu und legte all ihre Liebe in dieses Lächeln. Sie hatte diesem Mann viel zu verdanken. Nicht weniger als ihre Zukunft.

*

Sprühend vor Energie und randvoll mit immer neuen Ideen kam es selten vor, dass Tatjana auf ihren Freund wartete. Wie so oft stand sie auch an diesem Abend in der Küche und sprühte Tupfen von Lachscreme auf Blätterteigkreise. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, und sie konnte es kaum erwarten, bis sich der Schlüssel im Schloss drehte. Als es endlich so weit war, ließ sie alles stehen und liegen und flog ihrem Liebsten förmlich entgegen.

»Einen wunderschönen guten Abend, Herr Dr. Norden. Bitte legen Sie ab. Die Hausschuhe sind vorgewärmt und das Stuhlkissen aufgeschüttelt. In zehn Minuten steht das Essen auf dem Tisch. Nehmen Sie Platz und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«

Wie vom Donner gerührt stand Danny im Flur und musterte Tatjana aus schmalen Augen.

»Was ist passiert?«, fragte er argwöhnisch. »Willst du mich verlassen? Hast du ein neues Geschäft gekauft? Dich in ein Affenbaby verliebt, das du unbedingt adoptieren möchtest?«, zählte er die Möglichkeiten auf, die ihm spontan einfielen.

»Nein. Nein. Und nein«, beantwortete Tatjana die Fragen wahrheitsgemäß. »Ich bin einfach nur nett zu dir.«

»Das ist es ja, was mich so irritiert.«

Tatjana stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn belustigt an.

»Also gut. Ich will tatsächlich etwas von dir.«

Danny verdrehte die Augen gen Himmel.

»Ich habe es geahnt. Bitte lass Gnade walten. Mein erster Tag als Chef war schlimm genug.«

»Oh!« Damit hatte Tatjana nicht gerechnet. »Trotz meiner Überraschung?«

An die Prinzregententorte erinnert, huschte ein Leuchten über Dannys Gesicht.

»Die hat mir das Leben gerettet.«

Tatjana lachte.

»Ich wusste ja, dass meine Torten magisch sind. Aber dass sie Leben retten können … Alle Achtung.« Sie legte die Arme um Dannys Hals. »Das musst du mir genauer erklären.« Im nächsten Moment stutzte sie. Schnuppernd hob sie die Nase. »Ist es möglich, dass du sie erst vorhin bekommen hast?« Wenn es um Süßigkeiten ging, war Tatjana wie ein Spürhund. Der feine Duft nach Buttercreme und Schokolade entging ihr nicht. »Sag bloß, deine Damen haben dich so lange schmoren lassen?«

»Sagen wir so: Wir haben uns gegenseitig auf die Folter gespannt.« Wenn Danny die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ, musste er wohl oder übel lachen. »Aber das ist eine lange Geschichte.« Er beugte sich über Tatjana und küsste sie.

»Kein Problem«, raunte sie an seinen Lippen. »Ich habe Zeit.«

»Und ich Hunger.«

»Aber du hast doch eben erst Torte gegessen!«, reklamierte Tatjana.

»Hunger auf dich!«, stellte Danny richtig und verschloss ihren Mund mit einem Kuss, der jeden möglichen Widerspruch im Keim erstickte.

*

Auch wenn Sarina Staller nicht mehr Danny Nordens Patientin war, machte er sich dennoch am nächsten Morgen vor der Sprechstunde auf den Weg in die Klinik, um nach ihr zu sehen.

»Wenn Matthias etwas dagegen hat, werde ich ihn das Fürchten lehren.« Tatjanas Liebe hatte Dannys Selbstbewusstsein wieder gestärkt. Kampflustig marschierte er durch die Klinik.

Wie es der Zufall wollte, war auch Matthias Weigand unterwegs zu seiner Patientin. Vor ihrer Tür trafen die beiden Ärzte aufeinander.

»Guten Morgen!«, grüßte Danny seinen vermeintlichen Konkurrenten betont freundlich. »Du hast hoffentlich nicht die ganze Nacht Wache hier geschoben, um mir den Zutritt zum Zimmer zu verwehren.« Seine Augen blitzten gefährlich.

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Matthias Weigand überraschend friedfertig. »Es gibt da etwas, was du wissen solltest.«

»Ach ja?« Danny musterte den Mann, der eigentlich sein Freund war, argwöhnisch.

»Nach einem Sturz aus dem Bett mussten wir Sarina gestern Abend operieren. Dein Vater hat versucht, dich vorher noch zu erreichen. Leider vergeblich.«

»Ihr wart das …«

»Ja, wir waren das.« Matthias lächelte, und Danny legte den Kopf schief.

»Sieh mal einer an! Dann war deine sensationelle Methode also doch ein Schuss in den Ofen.« Diese Häme konnte er sich beim besten Willen nicht verkneifen. »Wenn du gleich operiert hättest, könnte sich Sarina jetzt auf die Reha vorbereiten.«

»Oder gesund sein, wenn der Unfall nicht gewesen wäre«, stellte Matthias richtig. »Die richtige Therapie zum richtigen Zeitpunkt.« Dannys Tonfall störte ihn. »Warum bist du eigentlich immer noch so sauer auf mich?« Er hielt ihm die Hand hin. »Ich denke, wir sind quitt.«

Danny zögerte kurz. Dann schlug er ein. Im nächsten Moment lagen sich die beiden Freunde in den Armen.

»Tut mir leid, dass ich so ein Hornochse war. Normalerweise bin ich gar nicht so empfindlich. Tatjana schimpft immer, ich hätte so viel Gefühl wie ein tiefgekühlter Kaktus«, entschuldigte sich Danny. »Das war nicht sehr professionell von mir.«

Matthias lachte.

»Charmante Freundin«, erwiderte er, ehe er wieder ernst wurde. »Und ich hätte ein bisschen sensibler vorgehen können. Dein Dad, ich meine, mein Chef hat schon recht. Kommunikation heißt das Zauberwort. Aber wir sind ja noch jung und arbeiten daran. Und jetzt komm! Lass uns zu Sarina gehen. Ich bin gespannt, wie sie sich heute Morgen fühlt.«

Die beiden Ärzte betraten hintereinander das Krankenzimmer. Zu ihrer großen Verwunderung empfing Sarina sie mit rot verquollenen Augen und Leichenbittermiene.

»Du liebe Zeit, geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Matthias erschrocken. »Haben Sie Schmerzen?«

Sarina zog einen Schmollmund und deutete auf ihr Herz.

»Ja, da!«

Die beiden Ärzte atmeten erleichtert auf.

»Ist es wegen Ihres Freundes?«, fragte Matthias mitfühlend.

Sie nickte.

»Jannis hat mich verlassen. Ausgerechnet in der schwersten Zeit meines Lebens.« Wieder quollen Tränen aus ihren Augen.

Matthias setzte sich auf die Bettkante, zog ein Taschentuch aus der Spenderbox am Nachttisch und betupfte ihre Wangen. Danny stand vor dem Bett und sah ihm sichtlich belustigt dabei zu. Es war ein offenes Geheimnis, dass sein Freund schon seit geraumer Zeit auf Freiersfüßen wandelte. Und Sarina Staller war ohne Zweifel ein hübsches Mädchen.

»Sie sollten lieber froh sein, dass sie ihn endlich los sind«, erklärte Matthias denn auch. »Dieser Mensch hat Ihnen nicht gutgetan, und Streit und Eifersucht sind das Letzte, was Sie im Augenblick brauchen.«

Langsam versiegten die Tränen, und Sarina schickte ihm einen dankbaren Blick.

»Ich weiß auch nicht, warum ich ihm nicht vertrauen konnte. Normalerweise bin ich gar nicht eifersüchtig«, erzählte sie ihm bereitwillig.

Matthias Weigand wiegte den Kopf.

»Wahrscheinlich hat er Ihnen das Gefühl gegeben, nicht vertrauenswürdig zu sein. Ob zu Recht oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Manche Menschen passen einfach nicht zusammen. Dann sollte man es lassen und nach einem geeigneteren Exemplar Ausschau halten, statt sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.«

Seine weiche Stimme und der treuherzige Gesichtsausdruck verfehlten ihre Wirkung nicht.

»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Sarina bedachte ihn mit einem bewundernden Augenaufschlag. »Sie sind ein sehr kluger Mann. Und so sensibel.«

Matthias fühlte, wie ihm die Knie weich wurden. Er war froh, dass er saß.

In die peinliche Stille hinein räusperte sich Danny.

»Ich will ja nicht stören«, bemerkte er mit glucksender Stimme. »Aber ich muss in einer halben Stunde in der Praxis sein.«

»Ach so, ja, natürlich.« Peinlich berührt sprang von der Bettkante auf. Er hatte seinen Freund und Kollegen völlig vergessen. »Frau Staller, ich würde gern die Funktionsfähigkeit Ihres Beines überprüfen. Bitte schlagen Sie die Bettdecke zurück.«

Sarina hing an seinen Lippen. Sie wäre auch aus dem Fenster gesprungen, wenn er sie darum gebeten hätte.

»Und jetzt?«, fragte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Versuchen Sie doch bitte, das Bein zu heben.«

Matthias Weigand konzentrierte sich. »Jetzt bewegen Sie die Zehen.« Er nickte. »Ganz gut für den Anfang. Und jetzt ziehen Sie den Fuß an … Gut … Haben Sie wieder Gefühl?«, wandte er sich ihr wieder zu.

Sie lächelte ihn an wie ein Engel.

»Es kribbelt.« Demonstrativ legte sie die Hand auf den Bauch.

Matthias wurde knallrot im Gesicht, während Danny vor unterdrücktem Lachen um ein Haar geplatzt wäre.

»Ja, nun, die Operation ist gut verlaufen.« Es kostete Dr. Weigand alle Mühe, sich wieder auf die medizinischen Fakten zu konzentrieren. »Wenn alles glattgeht, können Sie die Klinik in ein paar Tagen verlassen. Für die Nachsorge müssen Sie übrigens nicht extra hierher kommen. Die kann auch Dr. Danny Norden in seiner Praxis durchführen. Er ist ein hervorragender Arzt.«

Sarina Staller sah hinüber zu Danny.

»Daran habe ich gar keinen Zweifel.« Auch ihm schenkte sie ein Lächeln, gegen das er aber dank Tatjana immun war. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, wenn ich trotzdem lieber in die Klinik gehe.«

»Natürlich nicht«, versicherte Danny, ehe er sich von ihr verabschiedete.

Es wurde wirklich höchste Zeit, in die Praxis zu fahren.

Matthias begleitete ihn hinaus.

»Du bist mein Zeuge. Ich wollte dir die Patientin nicht ausspannen.«

»Armer Matthias. Den Frauen hilflos ausgeliefert«, spottete Danny gutmütig. »Bist du mir böse, wenn sich mein Mitgefühl in Grenzen hält?«

Matthias Weigand lachte.

»Ich wäre dir böse, wenn du mir eine Versöhnung verweigert hättest«, erwiderte er innig und klopfte Danny auf die Schulter.

Dann wurde es auch für ihn Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Ein neuer, aufregender Tag wartete auf die beiden Ärzte.

Gestärkt durch die überstandene Krise und ihre neu besiegelte Freundschaft waren sie bestens gewappnet.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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