Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 24

Оглавление

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf unser gemeinsames Wochenende freue.« Mit verträumtem Blick stand Fee vor dem Kleiderschrank und dachte darüber nach, was sie einpacken sollte. »Was denkst du? Ist es schon warm genug für mein Lieblingskleid?« Sie nahm den Kleiderbügel heraus, trat vor den Spiegel und hielt sich das geblümte, kniekurze Kleid vor den Oberkörper. Verliebt drehte sie sich hin und her. »Mit einer Strickjacke könnte es gehen«, fuhr sie fort. Dass sie keine Antwort bekommen hatte, war ihr gar nicht aufgefallen. Sie wurde erst aufmerksam, als Daniel mit betretener Miene hinter sie trat. »Was ist los?« Sie drehte sich zu ihm um und entdeckte die weiße Hose in seiner Hand. Sie wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Die Enttäuschung traf sie wie ein Magenschwinger. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Es tut mir leid. Im Augenblick haben wir in der Klinik einen Engpass. An allen Ecken und Enden fehlen uns die Ärzte. Ich bin der Chef. Wenn die Kollegen schon Überstunden schieben, kann ich mich nicht sang- und klanglos aus dem Staub machen.«

»O Dan, dabei habe ich mich so auf unser freies Wochenende gefreut.« Unvermittelt hielt Fee inne. Eigentlich wollte sie nicht jammern. Schließlich hatte sie ihren Mann selbst dazu ermuntert, Jenny Behnischs Angebot anzunehmen und Chef der gleichnamigen Klinik zu werden. Trotzdem schmerzte der Verzicht. »Weißt du, was ich mir von Lammers alles anhören musste, weil ich mir drei Tage frei genommen habe?« Beim Gedanken an die beißenden Kommentare ihres ungeliebten Stellvertreters verzog sie das Gesicht.

»Sei nicht böse, Feelein«, beschwor Daniel seine Frau. »Glaub mir, ich wäre auch viel lieber mit dir in dieses schnuckelige Hotel auf der Fraueninsel gefahren. Allein die Fotos von dem Zimmer mit Blick auf den Chiemsee …«

Während sie ihren Mann musterte, war Fee ein Gedanke in den Sinn gekommen.

»Sag mal. Seit wann weißt du eigentlich, dass du am Wochenende Dienst hast?« Sie stand vor ihm und wischte einen unsichtbaren Fussel von seiner Brust.

»Ich weiß nicht so genau …, seit gestern Abend?« Er räusperte sich umständlich.

»Soso, seit gestern Abend.« Fees Stimme war gefährlich freundlich. »Und warum erzählst du mir erst jetzt davon? Sag bloß, du hast Angst vor mir!«

Daniel bemerkte das Funkeln in ihren Augen und spielte ihr Spiel mit.

»Schon möglich. Ich weiß ja, was für eine Furie du sein kannst.« Er fasste sie um die Hüfte und zog sie an sich. Ihre Blicke tauchten ineinander ein. »Deshalb dachte ich mir, ich spare mir diese Neuigkeit bis zum Schluss auf.«

»Das schützt dich aber nicht vor meiner Rache.« Fee drückte sich an ihn und zwang ihn, Schritt für Schritt rückwärts zu gehen. »Ich hoffe, das ist dir klar.«

»Ich hatte gehofft, dass ich dich gewogen stimmen kann. Immerhin war es deine Idee, dass ich die Klinikleitung übernehme.« Als er einen Widerstand in den Kniekehlen spürte, blieb er stehen. »Wahrscheinlich hast du das nur getan, weil du darauf spekuliert hast, in Zukunft mehr ohne mich unternehmen zu können.«

»Mist, du hast meine Pläne durchschaut.« Fee legte die flache Hand auf seine Brust und schubste ihn. Er tat ihr den Gefallen und ließ sich rückwärts auf’s Bett fallen. »Dabei dachte ich, ich kann mich unauffällig davonmachen und ohne dich Spaß haben.«

»Da hast du dich leider getäuscht.« Daniel streckte die Arme aus und zog Felicitas auf sich. »Übrigens habe ich schon mit Dési gesprochen. Sie begleitet dich gern zu Massage und Kosmetik, damit ihr am Abend schön seid für die Vernissage in der Galerie auf der Fraueninsel. Außerdem habe ich eine Rundfahrt mit einer Elektrojacht auf dem Chiemsee gebucht, Sektempfang und Picknick an Bord. Und wer weiß, vielleicht finde ich ja Zeit, am Samstagabend mit euch zu Abend zu essen.«

Felicitas traute ihren Ohren kaum.

»Solche Pläne schmiedet ihr hinter meinem Rücken?«, fragte sie in gespielter Empörung. »Na warte, das wird Konsequenzen haben.« Sie machte Anstalten, sich aus seinen Armen zu winden.

Doch Daniel war stärker.

»Ich kann es kaum erwarten«, raunte er ihr ins Ohr und küsste sie so lange, bis er jeden Widerstand im Keim erstickt hatte.

*

»Einen wunderschönen guten Tag.« Voller Elan betrat die Assistenzärztin Sophie Petzold den Aufenthaltsraum der Ärzte, wo sich Matthias Weigand gerade einen Kaffee einschenkte.

»Bis jetzt habe ich davon nicht viel mitbekommen«, brummte er und griff nach einem der Äpfel, die auf dem Teller auf der Anrichte lagen. Er biss hinein und verzog sofort das Gesicht. »Igitt, ein Wurm!«

»Der Arme. Beim Anblick Ihrer Zähne hat er sich bestimmt zu Tode erschrocken.« Sophie stand an einem der Spinde und tauschte die dünne Strickjacke gegen einen blütenweißen Kittel.

»Er weiß Ihr Mitgefühl bestimmt zu schätzen.« Er holte aus und warf den Apfel Richtung Eimer. Und verfehlte sein Ziel, wenn auch nur knapp. Er traf den Rand, und Apfelstückchen sprangen nach allen Seiten. »Na bravo! Heute hat sich offenbar die ganze Welt gegen mich verschworen«, schimpfte er.

»Ihr Welt besteht nur aus wurmigen Äpfeln und Abfalleimern?«, spottete Sophie. Sie sah ihrem Kollegen dabei zu, wie er sich auf den Boden kniete und das Malheur beseitigte. »Wie bedauerlich.«

»Allerdings. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass ich hier überhaupt nicht mehr rauskomme. Und wenn doch, dann bin ich viel zu müde, um noch etwas zu unternehmen.«

»Könnte an Ihrem biblischen Alter liegen.« Sophie öffnete ihre Mappe und holte einen Stapel Unterlagen heraus. »Ich für meinen Teil habe mich gestern Abend nach der Fortbildung mit meiner Freundin getroffen. Es ist ganz schön spät geworden und war sehr, sehr lustig.« Matthias ärgerte sich über ihre Bemerkung und schwieg beleidigt. Sophie bemerkte es. »Wenn sie nicht so grimmig wären, würde ich Sie meiner Freundin vorstellen.«

»Wenn die so unmöglich ist wie Sie, will ich sie gar nicht kennenlernen.«

Sophie lachte.

»Wie kann man nur so schlechte Laune haben?«, fragte sie, als ein Notruf aus der Notaufnahme hereinkam. »Lassen Sie nur«, winkte sie ab, als er sich auf den Weg machen wollte. »Nicht, dass Sie am Ende unseren Patienten zu Tode erschrecken.« Ihr Lachen hallte noch im Flur nach, als sie längst verschwunden war.

Nach dieser Vorstellung war Matthias noch schlechter gelaunt als zuvor. Er wollte sich mit einem Schluck Kaffee trösten. Doch der war über dem unerfreulichen Gespräch kalt geworden. Er schüttete das Gebräu in den Ausguss und folgte seiner vorlauten Assistenzärztin.

*

Sophie Petzold erreichte die Notaufnahme, als der Patient eilig auf der Liege hereingeschoben wurde.

»Patient männlich, 33 Jahre alt, Verkehrsunfall«, erklärte der Rettungsarzt Erwin Huber und reichte der Assistenzärztin die Unterlagen.

»Ist er selbst gefahren?« Unbemerkt war Matthias Weigand hinter Sophie aufgetaucht.

Ihrer Miene war anzusehen, dass ihr das ganz und gar nicht passte. Doch Matthias kümmerte sich nicht darum. Sophie war hier, um zu lernen. Auch wenn sie gelegentlich anderer Meinung war.

Erwin Huber bemerkte nichts von der Verstimmung.

»Ja«, antwortete er. »Aber er war angeschnallt. Das hat ihn aber nicht vor ein paar Verletzungen bewahrt. Er hat ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, Kopfplatzwunde rechts frontal. Halswirbelsäule frei. Motorik und Sensibilität sind intakt.«

»Verdacht auf innere Verletzungen?«

»So weit ich feststellen konnte, keine.«

»Gut, vielen Dank.« Matthias übernahm den Patienten und verabschiedete sich vom Rettungsarzt.

Die Türen des Behandlungsraums schlossen sich hinter den Ärzten. Sophie schäumte vor Wut.

»Sie trauen mir wohl gar nichts zu, was?«

Ungerührt beugte sich Matthias über den Verletzten.

»Sie können mich gern vom Gegenteil überzeugen.«

»Ihre Ausbildung ist doch schon Jahrzehnte her. Ich dagegen komme direkt vom Studium …«

»Warum sagen Sie nicht gleich Jahrhunderte? Und jetzt sollten wir uns um unseren Patienten kümmern, finden Sie nicht?« Er beugte sich über den Mann, der mit geschlossenen Augen auf der Liege lag. »Herr Dehmel! Können Sie mich hören?« Er klopfte ihm sanft auf die Wange. »Hallo, Herr Dehmel. Sie hatten einen Unfall und sind jetzt in der Behnisch-Klinik. Haben Sie Schmerzen?« Er war so auf Bastians Stöhnen konzentriert, dass er nicht bemerkte, wie Sophie nach Luft schnappte.

»Meine Augen!« Bastian Dehmel versuchte zu blinzeln. »Was …, was ist mit meinen Augen?«

»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Aber das gibt sich schon wieder. Ansonsten haben Sie eine Platzwunde. Die reinigen und nähen wir.«

Bastian verdrehte die Augen und stöhnte.

»Herr Dehmel! Alles gut?« Matthias richtete sich auf. Auch jetzt bemerkte er Sophie Petzolds Erstarrung nicht. »Sie machen einen Ultraschall vom Bauchraum, um innere Blutungen auszuschließen«, wies er sie an, ohne den Verletzten aus den Augen zu lassen. »Im Anschluss kümmern Sie sich um die Platzwunde. Oder gibt es eine neue Methode, von der ich Dinosaurier noch nichts gehört habe?«

»Nein.«

Erst Sophies leise Stimme ließ ihn aufhorchen.

»Stimmt was nicht?« Er musterte sie forschend.

Den Blick starr auf Bastian gerichtet, schüttelte sie den Kopf.

»Schon gut. Alles in Ordnung.«

Es war der Klang ihrer Stimme, die Bastian Dehmel in die Wirklichkeit zurückholte.

»Sophie?«, fragte er heiser. Endlich klärte sich sein Blick, und ihr Gesicht wurde deutlicher. »Tatsächlich! Sophie!« Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

Endlich entspannte sich ihre Miene.

»Meine Güte, Basti, du bist es wirklich. Ramponiert, wie du bist, habe ich dich gar nicht erkannt.« Sie bemerkte Matthias Weigands fragenden Blick. »Schon in Ordnung. Ich brauche keinen Babysitter mehr. Das hier bekomme ich allein hin«, sagte sie zu ihm.

Schon hatte er eine derbe Antwort auf den Lippen, als eine Schwester hereinkam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er schickte Sophie Petzold einen bösen Blick, ehe er den Behandlungsraum verließ.

Als sie sich wieder über Bastian beugte, spielte ein Lächeln um seine Lippen.

»Rebellisch wie eh und je. Du hast dich nicht verändert.«

»Ich nehme das jetzt mal als Kompliment«, erwiderte sie und griff nach einem Tupfer, um das Blut von seinem Gesicht zu wischen.

Sein tiefer Blick bestätigte ihre Vermutung.

*

Fee war im Garten und begutachtete die Rosenstöcke, als Dési von der Schule nach Hause kam.

»Mum und ihre Ersatzkinder«, spottete die jüngste Tochter des Hauses. »Wie du die Rosen ansiehst …, da könnte ich glatt eifersüchtig werden.«

Fee lachte und küsste ihre Tochter zur Begrüßung links und rechts auf die Wange.

»Ausgeschlossen. Oder willst du, dass ich dich auf Läuse und Mehltau untersuche? Wenn du darauf bestehst …« Sie streckte die Finger aus und kitzelte Dési am Bauch, wie sie es früher so oft getan hatte.

»Aufhören! Bitte! Gnade!« Auf der Flucht vor Mutters Krabbelfingern hüpfte Dési auf dem Gartenweg auf und ab, bis Fee versprach, sie zu schonen.

Arm in Arm und lachend gingen sie ins Haus.

»Übrigens finde ich es sehr schön, dass wir das Wochenende zusammen verbringen«, erklärte Fee und nahm einen Krug ihrer berühmten selbstgemachten Limonade aus dem Kühlschrank. »Auch ein Glas?«

Dési nickte.

»Dann hat Dad es dir also gesagt?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fragte sie weiter: »Wo liegt er?«

Um ein Haar hätte sich Felicitas an ihrer Limonade verschluckt.

»Wie meinst du das?«

Dési lachte.

»Ich gehe mal davon aus, dass du ihn k.o. geschlagen hast.«

»Wo denkst du hin! Natürlich bin ich nicht begeistert. Aber erstens habe ich ihm ja zugeredet, diese Herausforderung in der Klinik anzunehmen. Und das, obwohl ich wusste, was auf ihn zukommt. Und zweitens habe ich ja charmante Begleitung.«

Spontan fiel Dési ihrer Mutter um den Hals.

»Freut mich, dass du das so siehst. Einen Mutter-Tochter-Ausflug haben wir nämlich noch nie gemacht.«

Schlagartig bekam Fee ein schlechtes Gewissen.

»Hast du das etwa vermisst? Mehr Zeit allein mit mir?«

»Keine Sorge.« Dési leerte ihr Glas in einem großen Zug. »Früher hätte ich dankend abgelehnt. Urlaub mit der Mutter? Wie peinlich!« Ihre Augen funkelten lustig.

Felicitas erschrak.

»Bin ich wirklich schon so alt?«

»Natürlich nicht. Du bist die coolste Mutter, die man sich wünschen kann«, versicherte Dési schnell. »Aber ich war einfach zu jung, um das zu kapieren.«

Fee atmete erleichtert auf.

»Da habe ich ja noch mal Glück gehabt«, verkündete sie und schloss ihre Tochter in die Arme, ehe sie den Prospekt des Hotels holte, um mit Dési gemeinsam in Vorfreude zu schwelgen.

*

Seite an Seite standen Dr. Daniel Norden und sein Freund und Kollege Matthias Weigand vor dem OP-Plan des kommenden Tages.

»Von sieben bis elf Uhr ist der Ulcus dran, den machen wir gemeinsam«, dachte Daniel Norden laut nach. »Der Meniskus muss bis zehn warten. Da brauche ich dich auch. Und danach die Zyste …«

»Das kommt überhaupt nicht infrage!«, unterbrach Matthias ihn gereizt. Die Begegnung mit Sophie Petzold war seiner guten Laune nicht gerade förderlich gewesen. »Ich habe heute Nachtschicht. Dann kann ich morgen nicht den ganzen Tag durcharbeiten.«

Ratlos drehte sich Daniel zu ihm um.

»Was soll ich denn machen? Ich habe einfach nicht genügend Leute.«

»Dann musst du das ändern.«

»Ich bin ja schon dabei. Zumindest hat Fuchs den Auftrag, nach neuem Personal zu suchen.«

Matthias Weigand lachte abfällig.

»Der Sparfuchs? Der schmeißt eher noch ein paar Leute raus, statt dass er Geld für gutes Personal ausgibt.«

»Ich habe ihm die Dringlichkeit der Situation geschildert«, erwiderte Daniel und ging hinüber zum Tisch, um sich einen Keks aus der Schale zu nehmen. »Auch einen?«

Zuerst wollte Matthias ablehnen. Doch dann besann er sich eines besseren.

»Warum eigentlich nicht. Süßkram ist gut für die Nerven.«

Daniel kaute und nickte.

»Besonders wenn er von Tatjana stammt.« Daniels Schwiegertochter in spe betrieb die beste Bäckerei der Stadt und versorgte auch den Klinik-Kiosk mit Spezialitäten aus ihrer Backstube.

»Sag das doch gleich!« Matthias steckte den Keks in den Mund und schob gleich einen zweiten hinterher. »Die Fluktuation momentan geht echt an die Substanz. Sperber hat gekündigt, Frau Räther treibt sich auf Fortbildungen herum und unsere allseits geschätzte Frau Lekutat weiß jetzt schon nicht mehr, wo ihr der Kopf steht.« Er sah hinüber zur Tür, hinter der Daniels Assistentin Andrea Sander mit einem Besucher sprach. Ihre Stimme wehte gedämpft herüber. »Ich kann diese Liste beliebig fortsetzen. Pflegepersonal ist übrigens im Augenblick ebenfalls Mangelware. Frag mal Elena. Sie wird es dir bestä …« In seine Worte hinein öffnete sich die Tür.

Der Verwaltungsdirektor hatte sich ganz offensichtlich gegen die Chefsekretärin durchgesetzt.

»Was höre ich da, Herr Weigand?«, fragte Dieter Fuchs süffisant lächelnd. »Wenn alle Mitarbeiter so diszipliniert und routiniert wären wie Sie, müssten wir niemanden einstellen.«

Angesichts dieses zweifelhaften Kompliments verdrehte Matthias die Augen.

»Das ist doch völliger Blödsinn«, schnaubte er ungehalten. Ganz offensichtlich verfehlten die Kekse ihre Wirkung. Oder aber er hatte noch nicht genug davon gegessen. »Wir hatten einfach nur Glück, dass bisher noch nichts passiert ist.« Eine Idee kam ihm in den Sinn. »Und das wäre wirklich kein gutes Aushängeschild für die Klinik, das können Sie mir glauben.«

Wie beabsichtigt traf er den wunden Punkt des Verwaltungsdirektors.

»Schon gut. Ich habe schon verstanden.«

»Lassen Sie sich was einfallen, Herr Fuchs!«, beharrte er hartnäckig.

»Was glauben Sie, was ich die ganze Zeit mache?«, fragte Fuchs ärgerlich und hielt einen Packen Unterlagen hoch. »Däumchen drehen, oder was?« Laut klatschend landeten die Papiere auf dem Besprechungstisch. »Das hier sind die Bewerbungen, die in dieser Woche eingegangen sind.«

Doch die erhoffte Begeisterung über seinen Coup blieb aus.

»Und? Haben Sie was Schönes im Angebot?«

»Wir sind hier nicht auf dem Heiratsmarkt.« Diese Bemerkung war auf Matthias’ ewige Suche nach einer passenden Frau gemünzt. »Welche Stelle muss denn nun am dringendsten besetzt werden?«, wandte sich Dieter jovial lächelnd an Daniel Norden.

»Am besten engagieren Sie eine eierlegende Wollmilchsau«, erwiderte Matthias ungefragt.

Hinter seinem Rücken rollte Fuchs mit den Augen.

»Also einen Chirurgen. Wunderbar. Da hätte ich jemanden.« Er griff nach der Bewerbungsmappe, die zuoberst auf dem Stapel lag. »Dr. Adrian Wiesenstein. Zwei Jahre Basischirurgie, davon je sechs Monate Ambulanz, Intensivmedizin, Stationsdienst und variabler Einsatz. Danach ein Jahr assoziierte Dienste und eine dreijährige Ausbildung zum Facharzt in allgemeiner Chirurgie. Im Anschluss daran hat unser Kandidat mehrere Jahre in verschiedenen Häusern gearbeitet und sein Wissen in den unterschiedlichen Bereichen der Chirurgie erweitert«, berichtete er so stolz, als hätte er selbst diese Karriere hingelegt.

Das entging auch Dr. Weigand nicht.

»Ist das Ihr Sohn? Oh, Entschuldigung. Sie sind ja gar nicht verheiratet. Ihr Neffe?«

»Ich habe keine Geschwister«, ätzte Dieter Fuchs.

Weigand schnitt eine Grimasse.

»Ein bedauernswertes Einzelkind. Ich hätte es wissen müssen.« Er zog den imaginären Hut und verabschiedete sich von Daniel und Dieter. Auf dem Weg nach draußen griff er noch einmal in die Keksschale.

Dieter Fuchs zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

»Was hat er denn?«, wandte er sich an Daniel.

»Ich schätze mal, er ist chronisch überarbeitet. Wie wir alle übrigens.«

»Nicht mehr lange.« Triumphierend schwenkte Fuchs die Mappe durch die Luft.

Daniel nahm sie ihm aus der Hand und schlug sie auf. Er überflog den Lebenslauf des Kollegen. Die Qualifikationen, die der Verwaltungsdirektor so vollmundig anpries, waren nichts weiter als der ganz normale Werdegang eines Chirurgen. Doch es gab einen Punkt, der dem Klinikchef ins Auge stach.

»Alleinerziehender Vater eines achtzehnjährigen Jungen.« Nachdenklich wiegte er den Kopf. Selbst Vater von fünf Kindern war ihm diese anstrengende Zeit noch lebhaft im Gedächtnis. »Wenn das mal gut geht.«

»Sie finden wohl immer ein Haar in der Suppe, was?«, schimpfte Dieter Fuchs und nahm ihm die Unterlagen aus der Hand. »Das ist unser Mann. Er kommt morgen zum Vorstellungsgespräch.«

*

Dr. Sophie Petzold durchtrennte den Faden und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»Dafür würdest du glatt einen Schönheitspreis gewinnen.« Ihrer Miene war anzusehen, dass sie es ernst meinte.

»Selbstbewusst wie eh und je.« Bastian lächelte versonnen. »Dabei sind so viele Jahre seit unserem letzten Treffen vergangen.«

»Damals war ich zwanzig.« Sophie legte die Instrumente in eine Nierenschale.

»Wer hätte gedacht, dass ich ein Auto zu Schrott fahren muss, bis ich dich wiedersehe …«

»Ich finde, das ist ein durchaus angebrachter Preis.«

Diesmal lachte Bastian nicht.

»Stimmt. Ich hätte noch viel mehr getan. Meine erste Liebe … Ich weiß ja nicht, wie es dir ergangen ist. Aber ich für meinen Teil habe dich nie vergessen.«

Sophie lachte abfällig.

»Und warum hast du mir dann damals deine Heiratsanzeige geschickt?« Wie heute erinnerte sie sich an die Karte, die ihr nur ein halbes Jahr nach der Trennung ins Haus geflattert war. Wie eine Ohrfeige hatte sich diese Nachricht angefühlt. »Schnee von gestern!«, winkte sie plötzlich ab. An solche Niederlagen wollte sie gar nicht erst denken. »Übrigens hast du nur eine einfache Gehirnerschütterung. Kein Grund zur Aufregung. Wenn der Wundschmerz einsetzt, rufst du die Schwester. Sie gibt dir ein Schmerzmittel. Morgen früh kannst du wieder ins heimische Kuschelnest zurückkehren.«

Bastian schnitt eine Grimasse. Sie sollte komisch wirken. Aber er war ein schlechter Schauspieler.

»Wenn das so einfach wäre«, seufzte er bedrückt. »Jutta und ich hatten einen schlimmen Streit.«.

Sophie wollte gerade nachfragen, als die Tür zum Behandlungsraum aufgerissen wurde.

»Du bist ja immer noch hier!«, herrschte Matthias die Assistenzärztin ungehalten an. »Während du hier nach allen Regeln der Kunst flirtest, geht draußen die Welt unter. Wir haben eine entgleiste Straßenbahn mit mehreren Verletzten. Ich brauche dich auf der 4.« Im nächsten Augenblick war er auch schon wieder verschwunden.

Sophie sah auf Bastian hinab.

»Du hast es ja gehört. Die Kollegen kommen ohne mich nicht zurecht.« Sie erhob sich vom Hocker und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Sehen wir uns wieder?«, rief Bastian ihr nach.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Heute ist dein Glückstag!« Damit verschwand sie und ließ ihre Jugendliebe mit klopfendem Herzen zurück.

*

Judica Holzapfel betrat das Café ›Schöne Aussichten‹ und sah sich suchend um. Der Hilferuf ihrer Schwester hatte sie vor einer halben Stunde erreicht. Wie immer hatte sie auch diesmal alles stehen und liegen gelassen und war zu Jutta geeilt. Doch mit jedem Mal fiel es ihr schwerer.

An einem der Tische am Fenster entdeckte sie sie. Jutta saß mit dem Rücken zum Eingang und starrte aus dem Fenster.

»Hey, Süße!« Von hinten trat Judica zu ihr. Sie beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Jutta zuckte zusammen.

»Ach, du bist es«, seufzte sie, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte.

Judica setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und bestellte Tee und Torte. Erst dann hatte sie Zeit, sich auf ihre Schwester zu konzentrieren.

»Wie geht es dir?«

»Wie soll es mir schon gehen?«

Judica verdrehte die Augen. Sie hätte es wissen müssen!

»Warum hat dich Bastian hier allein gelassen?«

Wenn möglich, verdüsterte sich Juttas Miene noch mehr.

»Er muss noch etwas erledigen.« Es war mehr als offensichtlich, dass es sich um eine Ausrede handelte. Trotzdem fragte Judica: »Und da konntest du ihn nicht begleiten?«

Jutta winkte ab.

»Mit dem Rollstuhl bin ich doch nur ein Hindernis für ihn.« Sie griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck Wein.

»Ist es nicht ein bisschen früh für Alkohol?«, fragte Judica besorgt.

»Bist du meine Mutter?« Juttas Stimme war scharf. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Außerdem geht es mir heute nicht besonders gut.«

Judica bedankte sich bei der Bedienung, die Roibuschtee und Erdbeertorte servierte.

»Wann in letzter Zeit ist es dir denn überhaupt gut gegangen?« Sie löffelte Zucker in ihren Tee und rührte um.

»Jetzt fängst du schon genauso an wie Bastian«, fauchte Jutta. Sie bemerkte die Verstimmung ihrer Schwester und lenkte sofort ein. »Tut mir leid.« Ihr Seufzen kam aus tiefster Seele. »Du weißt doch, dass ich seit einem Jahr keinen Spaß mehr am Leben habe.«

Judica unterdrückte ein Seufzen und trank einen Schluck Tee. Sie wusste gar nicht mehr, wie oft sie dieses Gespräch schon geführt hatte.

»Denkst du nicht, es ist an der Zeit, dich mit deinem Schicksal abzufinden?«

Jutta lachte bitter.

»Das sagst du so einfach. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, im Rollstuhl zu sitzen.«

Bisher hatte Judica ihrer Schwester immer gut zugeredet oder geschwiegen. Doch diesmal verlor sie zum ersten Mal seit dem Unglück die Geduld.

»Das stimmt. Aber offenbar vergisst du, dass ich in meiner Physiotherapie-Praxis auch mit behinderten Menschen arbeite.« Sie funkelte ihre Schwester ärgerlich an. »Du kannst mir glauben: Wenn sich alle so anstellten wie du, hätte ich längst den Beruf gewechselt.«

Jutta schnappte nach Luft.

»Erlaube mal. Wie redest du denn mit mir?«

»So, wie ich es schon längst hätte tun sollen. Glaubst du, mit deinem ewigen Selbstmitleid machst du irgendetwas besser?« Viel zu lange hatte Judica ihre Gedanken und Gefühle vor ihrer Schwester versteckt. Nun brachen sie sich mit aller Gewalt und viel heftiger als beabsichtigt Bahn. »Seit dem Schlaganfall kreist du nur noch um dich und deine Behinderung. Statt dein Schicksal anzunehmen und das Beste daraus zu machen, sitzt du im Rollstuhl, lamentierst und machst in erster Linie deinem Mann das Leben schwer. Kein Wunder, dass Bastian lieber allein unterwegs ist.« Judica hatte leise gesprochen. Trotzdem ging ihr Atem schwer.

Mit offenem Mund saß Jutta da und starrte ihre Schwester an.

»Ich weiß ja nicht, was hier gespielt wird. Aber es klingt ganz danach, als hättet ihr euch hinter meinem Rücken gegen mich verbündet.« Wieder erinnerte sie sich an den hässlichen Streit, den sie mit Bastian an diesem Vormittag gehabt hatte. »Ist heute der Tag der Abrechnung?«

»Wie bitte?« Judica verstand kein Wort. Sie beugte sich vor und nahm ihre Schwester ins Visier. »Denkst du wirklich, dass wir das nötig hätten? Warum willst du nicht sehen, dass du mit deinem Verhalten alles kaputt machst? Warum sind immer die anderen schuld? Warum kannst du nicht wenigstens versuchen, wieder am Leben teilzuhaben?«

»Weil ich ein gottverdammter Krüppel bin. Deshalb!«, schleuderte Jutta ihr entgegen.

Judica war der Appetit vergangen. Sie schob den Teller mit der halb gegessenen Torte von sich und lehnte sich zurück.

»Wenn du so weitermachst, verlierst du deinen Mann. Dann wird Bastian dich verlassen. Und ich kann es ihm noch nicht einmal verdenken.«

Wütend warf Jutta den Kopf in den Nacken.

»Na und? Auf so eine Familie, die nur auf mir herumhackt, kann ich gut und gern verzichten. Geht doch hin, wo der Pfeffer wächst! Lasst mich nur alle im Stich.« In ihrer Stimme lag so viel Verachtung, dass Judica nicht anders konnte.

Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und verließ den Tisch. Am Tresen blieb sie stehen, um zu bezahlen.

Obwohl der Streit im Flüsterton ausgetragen worden war, hatte Tatjana Bohde alles verstanden. Grund dafür war ihr scharfes Hörvermögen. Nach einem Unfall war die Freundin von Dr. Danny Norden erblindet. Obwohl sie inzwischen durch eine Operation einen Teil ihres Sehvermögens zurückbekommen hatte, verließ sie sich gern auf ihre anderen Sinne und ihre fast magische Sensibilität, Folge eines Lebens in Dunkelheit.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich, während sie kassierte.

Judica seufzte.

»Nein. Aber ich kann nicht mehr. Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Meine Schwester kommt sehr gut allein klar. Sie will es nur nicht.«

Tatjana nickte, sagte aber nichts. Jeder Mensch ging anders mit dem Gepäck um, das ihm das Leben aufbürdete. Der eine kämpfte sich aus eigener Kraft wieder hoch. Der andere brauchte deutliche Worte und eine Herausforderung, um zur Besinnung zu kommen.

Während sich die beiden Frauen am Tresen unterhielten, klingelte Juttas Telefon. Sie kramte es aus der Tasche und nahm das Gespräch an. Ihr erstickter Schrei ließ Judica aufhorchen. Sie schickte Tatjana einen ratlosen Blick, ehe sie zu ihrer Schwester an den Tisch zurückkehrte.

*

»Elena, ich brauche einen Belegungsplan. Ist er endlich fertig?«, fragte Daniel Norden, als er, ein paar Patientenakten in der Hand, zu Schwester Elena ins Schwesternzimmer eilte. »Statt ständig auf deine Prüfung zur Pflegedienstleitung zu lernen, könntest du dich bitte mal darum kümmern.«

»Lernen? Machst du Witze?« Sie hob den Kopf und schickte ihm einen ungläubigen Blick. »Vor lauter Arbeit weiß ich selbst kaum noch, wo mir der Kopf steht. Die Bücher habe ich seit Tagen nicht mehr aufgeschlagen. Dabei habe ich nicht mehr viel Zeit.«

»Ich brauche trotzdem einen Plan«, beharrte Daniel.

»Soll ich jeden von euch Ärzten durch drei teilen? Wie soll ich denn bei diesem Personalmangel einen ordentlichen Belegungsplan machen?« Ein Patientenruf ging ein, und sie stand auf. »Wenn du mir das verraten kannst, bis du mein persönlicher Held des Tages.«

»Es gibt ja bald neue Kollegen. Zuerst kommt ein neuer Chirurg, und dann sehen wir weiter.«

Elena schickte eine Lernschwester zu dem Patienten, ehe sie sich wieder Dr. Norden zuwandte.

»Ergänzung oder Ersatz?«, fragte sie spöttisch. »Wenn wir so viel Arbeit haben, laufen wir Gefahr, dass die Kollegen abspringen.«

»Mal bitte nicht den Teufel an die Wand«, bat Daniel. »Wir können uns keine weiteren Ausfälle erlauben.« Er sah seine Freundin flehend an. »Dieter Fuchs hat sich schon für einen Kandidaten entschieden. Sein Kronprinz ist ein ziemlich attraktiver Mann.«

Elena schüttelte lächelnd den Kopf.

»Du vergisst, dass ich eine glücklich verheiratete Frau bin. Mal abgesehen davon, dass mir niemals ein Arzt ins Haus käme.« Sie zwinkerte Daniel zu. »Aber Frau Lekutat wird sich bestimmt freuen. Wenn ich nicht irre, ist sie auf Brautschau.«

Nur mit Mühe konnte sich Daniel Norden ein Lachen verkneifen. Christine Lekutat war zwar eine gute Chirurgin, bestach aber nicht gerade durch ihre charmante Art. Ganz im Gegenteil benahm sie sich oft wie ein Elefant im Porzellanladen und machte sich mit dieser Art nicht viele Freunde.

»Seit wann bist du so gehässig?«, fragte er, als eine Schwester auftauchte und ihn in die Notaufnahme rief.

Er verabschiedete sich von Elena und lief los. In der Ambulanz begegnete er Matthias Weigand.

»Schön, dass es auch noch Kollegen gibt, die ohne Sondereinladung zur Arbeit kommen«, schimpfte er vor sich hin. »Hier ist volles Programm. Du hast die Wahl. Kümmerst du dich lieber um Schnittwunden oder eine Prellung?«

»Ich kann leider nicht lange bleiben. Der OP wartet sehnsüchtig auf mich.« Daniel Norden sah sich suchend um. »Wo steckt denn Frau Petzold? Kann sie dich hier nicht unterstützen?«

»Die Frau Kollegin hat sich herabgelassen, zwei Verbände anzulegen, und ist dann wieder verschwunden. Wahrscheinlich war die Arbeit mal wieder unter ihrem Niveau«, schimpfte Matthias, ehe er um die Ecke verschwand.

Daniel sah ihm noch nach, als er fühlte, wie er am Ärmel gezupft wurde.

»Ah, der Chef höchstpersönlich gibt sich die Ehre.« Christine Lekutat hatte ihn entdeckt und belegte ihn sofort mit Beschlag. »Als Leithammel sollten Sie Ihre Herde besser im Griff haben.«

»Vielen Dank für die Blumen!« Daniel schnitt eine Grimasse. »Ich werde bei nächster Gelegenheit darüber nachdenken.«

»Zum Glück findet auch ein blindes Huhn mal ein Korn«, gab Dr. Lekutat ihm wohlmeinend mit auf den Weg, ehe sie eines der Behandlungszimmer betrat.

Glücklicherweise wusste Dr. Norden inzwischen, dass Einfühlungsvermögen nicht gerade die Stärke der Chirurgin war. Sonst hätte er sie sich trotz des Personalmangels einmal zur Brust genommen. So aber verzichtete er darauf. Statt sich mit sinnlosen Dingen herumzuschlagen, beschäftigte er sich lieber mit der Versorgung seiner Patienten.

*

Matthias Weigand irrte sich nicht. Die Fälle in der Notaufnahme waren in Sophie Petzolds Augen lediglich Bagatellen. So hatte sie sich dazu entschlossen, ihre Jugendliebe Bastian höchstpersönlich in sein Zimmer zu bringen.

»Mit Blick auf den Garten. Du bist wirklich ein Glückskind«, erklärte sie und platzierte das Bett am Fenster. »Wie fühlst du dich?«

»Wenn ich dich sehe, gut.« Bastian lächelte matt. »Aber wenn ich an Jutta denke …« Mitten im Satz hielt er inne. Sein Anblick ließ Sophie nicht unberührt. Damals hatte sie lange gebraucht, um das Ende der Beziehung zu verwinden. Und nun musste sie feststellen, dass er in all den Jahren nichts von seiner Anziehungskraft auf sie verloren hatte. Sophie zögerte, konnte der Versuchung aber schließlich nicht widerstehen.

»Wenn es irgendetwas gibt, worüber du reden möchtest …« Ihr Blick streichelte sein Gesicht. Versonnen strich sie ihm eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Wir haben uns zwar ein paar Jahre nicht gesehen. Aber …«

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und eine Rollstuhlfahrerin schob sich herein. Wie ertappt fuhr Sophie hoch. Obwohl sie ihre Konkurrentin nie persönlich kennengelernt hatte und auch nichts von ihrer Behinderung wusste, erkannte sie Jutta sofort. Nachdem Bastian ihr die Hochzeitsanzeige geschickt hatte, war sie im Internet auf die Suche gegangen. Mit Erfolg.

Bastian hingegen wandte sich abrupt ab. Es war offensichtlich, dass er seine Frau nicht sehen wollte. Das bemerkte auch Sophie.

»Hallo, Jutta«, übernahm sie die Begrüßung ihrer Konkurrentin.

Sie erntete einen verwunderten Blick.

»Kennen wir uns?«

Sophie steckte die Hände in die Kitteltaschen und musterte Jutta von oben herab. Sie dachte nicht daran, ihr zur Begrüßung die Hand zu reichen oder gar aus dem Weg zu gehen.

»Mein Name ist Sophie Petzold. Hat Basti nie von mir erzählt?«

Jutta erinnerte sich und schluckte.

»So viel ich weiß, waren Sie einmal befreundet. Aber das war vor unserer Zeit.«

»Befreundet? So kann man es auch nennen.« Sophie lächelte kühl.

»Ich verstehe nicht ganz. Was wollen Sie von mir?«, fragte Jutta hilflos. »Wie geht es meinem Mann?« Sie erhaschte einen Blick auf Bastian, der mit abweisender Miene im Bett lag. Die Wunden, die der hässliche Streit und ihre bösen Worte geschlagen hatten, waren tief.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, erwiderte Sophie. »Dank meiner erstklassigen Naht wird noch nicht einmal eine Narbe zurückbleiben. Morgen früh gehört er wieder ganz Ihnen.«

»Gut.« Jutta lächelte matt in Richtung ihres Mannes. »Dann kann ich ja wieder gehen.«

»Fahren wollten Sie wohl sagen«, bemerkte Sophie bissig und ging vor zur Tür, um sie für Jutta aufzuhalten.

Die presste die Lippen aufeinander und rollte mit verkniffener Miene hinaus. Sophie sah ihr nach, wie sie den Rollstuhl mühsam über den Flur fuhr und schließlich um eine Ecke verschwand.

»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich, als sie an Bastians Bett zurückgekehrt war. »Ein Unfall?«

Noch immer lag Bastian im Bett und starrte Löcher in die Luft. Sophies Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam wandte er den Kopf.

»Vor einem Jahr hatte Jutta einen Schlaganfall. Seitdem ist alles anders geworden zwischen uns«, gestand er mit schleppender Stimme. »Sie betrachtet sich als Krüppel, leidet unter Depressionen. Ich habe alles versucht, um ihr zu helfen. Vergeblich. Sie lässt mich nicht mehr an sich heran. Heute Vormittag hatten wir erst wieder einen fürchterlichen Streit deswegen.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal, Sophie. Ich bin ein Mann! Ist das so schwer zu verstehen?« Er biss sich auf die Lippe. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Deshalb ist mir der Unfall passiert. Ich habe mich so über Jutta geärgert, dass ich nicht auf den Verkehr geachtet habe. So kann das nicht weitergehen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich halte das nicht mehr aus.«

Innerlich frohlockte die Assistenzärztin. Doch rein äußerlich war ihr nichts anzumerken.

»Habt ihr schon einmal über eine Therapie nachgedacht?«, fragte sie sachlich.

»Ich habe Jutta bekniet, sich einer Therapeutin anzuvertrauen. Ich habe ihr angeboten, eine Paartherapie zu machen. Auch ihre Schwester – Judica ist Physiotherapeutin – hat mit ihr geredet. Vergeblich. Sie will einfach nicht.«

Sophie wollte noch etwas erwidern, als sich die Tür erneut öffnete. Diesmal war es eine Schwester, die den Kopf hereinsteckte.

»Frau Dr. Petzold, Dr. Weigand braucht Sie dringend in der Ambulanz.«

»Kommt er mal wieder nicht ohne mich klar?« Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. Und zu Bastian gewandt sagte Sophie: »Ich komme wieder, so schnell ich kann.« Damit verließ sie das Zimmer und machte sich auf den Weg in die Ambulanz. Erst jetzt, so allein auf dem Flur, bemerkte sie, dass ihre Knie weich waren und ihr Herz aufgeregt klopfte. Die Begegnung mit ihrer ersten Liebe wühlte sie mehr auf, als sie es je vermutet hätte.

*

Matthias Weigand verließ gerade eines der Behandlungszimmer, als Sophie des Weges kam.

»Sieh mal einer an. Sie haben es also endlich geschafft, die simple Gehirnerschütterung und die kleine Platzwunde zu versorgen. Gratulation!«, ätzte er. »Nachdem Sie über so beeindruckende Fähigkeiten verfügen, übernehmen Sie jetzt bitte die Patientin der Kollegin. Frau Lekutat muss in den OP.« Er drehte sich um und lief mit wehendem Kittel davon.

Sophie seufzte und tat, wie er ihr geheißen hatte. Sie fand Dr. Lekutat neben ihrer Patientin Caroline Steuber.

»Da ist ja meine Ablösung.« Als sie Sophie sah, stand Christine auf. »Einen Moment bitte, ich weise die Kollegin nur schnell ein. Nicht, dass sie Ihnen den Arm amputiert.«

Vor Schreck machte Caroline große Augen. Erst das dröhnende Lachen der Chirurgin erlöste sie.

»Frau Steuber hat sich die Hand beim Kochen verbrannt.« Erst jetzt bemerkte Dr. Lekutat die verstörte Miene ihrer jungen Kollegin. »Ist irgendwas? Haben Sie ein Problem?«

Sophie erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr die Verwirrung anzusehen war.

»Nein, nein, alles in Ordnung«, versicherte sie schnell.

Dr. Lekutat glaubte ihr nicht. Doch die Zeit drängte.

»Na gut. Jedenfalls hat sich die Wunde infiziert und muss entsprechend versorgt werden. Das können Sie doch, oder?«

»Natürlich.« Im Normalfall hätte Sophie eine passende Antwort parat gehabt. Aber im Moment war nichts normal.

»Schön.« Christine Lekutat lächelte zufrieden. »Ach ja, und bitte überprüfen Sie den Impfschutz.« Sie wandte sich an Caroline Steuber. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Im nächsten Augenblick fiel die Tür hinter ihr zu. Sophie trat an die Liege.

»So, Frau Scheuer, dann wollen wir mal.«

»Steuber.«

»Wie bitte?«

»Mein Name ist Steuber«, korrigierte Caroline die Assistenzärztin matt.

»Na ja, das klingt ja so ähnlich. Was glauben Sie, wie viele Patienten wir hier tagtäglich durchschleusen. Unmöglich, sich all die Namen zu merken.« Sophie schlüpfte in Handschuhe und versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. »Ich werde die Wunde jetzt örtlich betäuben.« Sie setzte die Spritze an, die Dr. Lekutat schon bereit gelegt hatte, und injizierte das Lokalanästhetikum. »Ich weiß schon, warum ich mich nicht an den Herd stelle. Wie lange ist das denn her?«

Caroline antwortete nicht. Mit großen Augen starrte sie auf die Nadel in ihrem Arm.

»Sie reden wohl nicht mit jedem, was?«, fuhr Sophie fort. Sie zog die Spritze aus der Haut und drückte einen Tupfer auf die Einstichstelle. Als sie die Instrumente aus den Schubladen des Beistelltisches nahm, hörte sie ein Stöhnen. »Keine Angst. Das mit der Amputation war nur ein Witz. Die Kollegin Lekutat ist bekannt für solche Sprüche«, redete sie vor sich hin, um ihre Nervosität zu überspielen. Wieder bekam sie keine Antwort.

Sophie hatte ihre Vorbereitungen abgeschlossen und wandte sich wieder ihrer Patientin zu. Als sie Carolines verzerrtes Gesicht sah, erschrak sie.

»Um Gottes willen, Frau Steuber, was ist denn los?«

Caroline griff sich an den Hals und röchelte. Blitzschnell überlegte Sophie.

»So ein Mist!«, entfuhr es ihr. »Ich habe vergessen, sie nach Allergien zu fragen.« Das war der ambitionierten Assistenzärztin noch nie passiert. Doch im Augenblick war keine Zeit, um über das Warum nachzudenken. Sophie Petzold lief zum Medikamentenschrank und nahm mit zitternden Fingern ein Antiallergikum heraus. Verzweifelt rang Caroline Steuber auf der Liege nach Luft.

»Ich gebe Ihnen jetzt etwas gegen die Atemnot. Bleiben Sie ruhig und versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen.« Sophie wusste nicht, ob sie ihrer Patientin oder sich selbst Mut zusprach, während sie erneut eine Nadel unter der Haut versenkte.

Sie wartete noch darauf, dass sich Caroline Steuber beruhigte, als Matthias ins Zimmer stürmte.

»Habe ich mein Stethoskop hier verges …?« Mitten im Satz hielt er inne. Er starrte die leichenblasse Patientin auf der Liege an. »Was ist denn hier los?«

Sophie schluckte.

»Frau Steuber hat offenbar eine Allergie gegen die Lokalanästhesie.«

Matthias Weigand stemmet die Hände in die Hüften.

»Ihnen wurde im Studium doch sicher beigebracht, dass Allergien vor einer Behandlung abgefragt werden.« Er stand hinter der Assistenzärztin. So konnte er nicht sehen, wie sie hinter einem Rücken die Augen verdrehte.

»Ja! Ich dachte, das hätte Frau Lekutat schon gemacht. Sonst hätte sie doch etwas gesagt.«

»Einen Fehler machen und dann noch die Schuld auf andere schieben. Das sieht Ihnen ähnlich!« Am liebsten hätte Dr. Weigand sie gepackt und geschüttelt. Sophie hatte nur Glück, dass er in Eile war. »Sie bleiben bei der Patientin, bis es ihr besser geht. Haben wir uns verstanden?«

»Ja.« Es kam selten vor, dass Sophie Petzold sich schämte. Diesmal war es so weit, und sie atmete auf, als Matthias Weigand endlich den Raum verlassen hatte.

*

Dési Norden stand auf dem Hotelbalkon und sah hinüber auf den See. Eine Trauerweide ließ ihre Äste ins Wasser hängen. Schnatternd watschelte eine Entenfamilie über den Rasen. Ein Boot dümpelte auf dem stillen See vor sich hin. Vor dem Hotel führte ein gekiester Weg vorbei an üppig blühenden Beeten. Über der ganzen Insel lag ein Frieden, der selbst Dési nicht unberührt ließ.

»Ist das schön hier«, seufzte sie und konnte sich kaum losreißen von dem fast kitschigen Anblick. »Gut, dass Dad nicht weiß, was er verpasst.«

Fee hatte ihre Reisetasche ausgepackt und trat neben ihre Tochter.

»Wenn es klappt, will er morgen Abend zum Essen kommen. Und bis dahin machen wir uns eine schöne Zeit.« Sie legte den Arm um ihre Tochter und drückte sie an sich. Désis Anwesenheit tröstete sie über die größte Wehmut hinweg. Die Aussicht auf eine schöne Massage erledigte den Rest. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir unseren Termin nicht verpassen wollen.«

Mit einem letzten Blick auf den See folgte Dési ihrer Mutter ins Zimmer, um sich für den Ausflug in den Wellnessbereich fertig zu machen.

»O nein, das kann doch nicht sein!« Ein paar Minuten später durchwühlte sie den Inhalt ihres Koffers, den sie im Gegensatz zu ihrer Mutter noch nicht ausgepackt hatte.

»Was ist denn?«, hallte Fees Stimme aus dem Bad.

»Ich habe meinen Bikini vergessen. Jetzt kann ich nicht ins Schwimmbad.« Désis Stimme bebte vor Enttäuschung.

»Wenn mir das passiert wäre, würde ich es ja verstehen«, bemerkte Fee und trat aus dem Badezimmer. »Aber du bist jung.«

»In solchen Momenten habe ich eine Ahnung, wie es sich anfühlen muss, alt zu sein«, seufzte Dési unglücklich. »Was soll ich denn jetzt machen?«

»Ganz einfach.« Tröstend legte Felicitas ihren Arm um die Schultern ihrer jüngsten Tochter. »Im Prospekt habe ich gesehen, dass es im Keller, gleich vor dem Wellnessbereich, eine Boutique gibt. Du bist offenbar nicht die Einzige alte Schachtel, der so etwas passiert«, scherzte sie und brachte ihre Tochter damit zum Lachen.

»Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du die beste Mum der Welt bist?«, fragte Dési und fiel Fee um den Hals.

»Ungefähr einundertdreiundzwanzig Mal. Aber ich höre es immer wieder gern. Und jetzt komm! Wenn du genauso wählerisch wie vergesslich bist, kommen wir noch zu spät zu unserer Massage.«

Gut gelaunt machten sich die beiden auf den Weg. Felicitas hatte sich nicht geirrt. Die Boutique war zwar klein, aber gut sortiert, und die Preise waren zu ihrer Überraschung erschwinglich. Ein paar Kunden stöberten in dem Angebot, aus unsichtbaren Lautsprechern kam leise Musik.

»Kann ich Ihnen helfen?« Ein Herr in Fees Alter trat auf sie zu und musterte sie interessiert. Offenbar gefiel ihm, was er sah, denn das Lächeln auf seinem sympathischen Gesicht wurde breiter.

Sie erwiderte es.

»Meine Tochter hat ihren Bikini vergessen, und wir brauchen Ersatz.«

»Oh, Sie haben Glück. Erst gestern ist eine neue Lieferung gekommen.« Er deutete hinüber zu einem Ständer in der Ecke. »Da ist bestimmt etwas dabei. Brauchen Sie auch etwas, oder darf ich Ihnen inzwischen einen Kaffee anbieten?«

Felicitas überlegte nicht lange.

»Gern.« Sie ließ sich zu einer kleinen Sitzgruppe führen, während sich Dési umsah und bald fündig wurde.

»Was hältst du von dem hier?« Sie hielt den Bügel ein Stück von sich und musterte den raffiniert geschnittenen Badeanzug in einem schönen Violett.

»Der gefällt mir gut.«

Adrian Wiesenstein war derselben Ansicht.

»Der passt gut zu deinen Augen. Probier ihn doch an!«

Das ließ sich Dési nicht zwei Mal sagen. Sie sah sich um und entdeckte die Umkleiden in einer Ecke des Raums.

»Ich bin gleich wieder da!«, versprach sie und bahnte sich einen Weg vorbei an Kleiderständern und Regalen. Die Tür einer der beiden Umkleiden war geschlossen, die andere angelehnt.

Dési drückte sie auf und starrte auf den nackten Oberkörper eines offenbar jungen Mannes. Sein Kopf steckte in einem T-Shirt.

»Oh, tut mir leid. Ich dachte, hier wäre frei«, entschuldigte sie sich schnell und wollte die Tür wieder schließen, als es ihm gelang, das Shirt über den Kopf zu ziehen. Zwei warme, braune Augen lachten sie fröhlich an.

»Mir tut es überhaupt nicht leid.« Seinem aufmerksamen Blick entging nichts. »Im Übrigen stelle ich mich gern als Modeberater zur Verfügung.«

Dési funkelte ihn an.

»Du willst mich doch nur im Badeanzug sehen.«

»Cinderella hat uns gezeigt, dass ein einziger Schuh ein ganzes Leben verändern kann. Warum sollte das mit einem Badeanzug nicht möglich sein?«

Nun musste Dési doch lachen.

»Weil wir nicht in einem Märchen leben.«

Mit einer melodramatischen Geste presste der junge Mann die Hände aufs Herz.

»Du bist so grausam realistisch! Musst du mir das antun?«

Allmählich schmolz ihr Widerstand dahin.

»Leider ja. Ich habe nämlich in zehn Minuten einen Massagetermin, den ich nicht verpassen will.« Der Wink mit dem Zaunpfahl wirkte.

»Verrätst du mir wenigstens deinen Namen, holde Maid?« Er verließ die Umkleide, um für Dési Platz zu machen.

»Ich bin Desirée. Und du?«, fragte sie, bevor sie die Tür der Umkleide schloss.

»Joshua!« Er machte eine Verbeugung. »Und ich werde den Rest meines Urlaubs damit verbringen, im Schwimmbad auf dich zu warten.«

Während sich Dési umzog, dachte sie kurz nach. Es war schon eine Weile her, dass Oli mit seiner Familie in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Der Trennungsschmerz war nicht mehr als eine blasse Erinnerung. Und der junge Mann vor der Umkleide gefiel ihr eigentlich ganz gut.

»Wir könnten uns auch einfach verabreden«, machte sie einen pragmatischen Vorschlag. »Dann vergeudest du nicht deine wertvolle Urlaubszeit.«

Joshua war sichtlich überrascht.

»Eine Frau der Tat. Ich bin beeindruckt.«

Das Lachen seines Vaters wehte zu ihnen herüber. Joshua drehte sich um und entdeckte ihn im Gespräch mit einer Frau, die Dési verdächtig ähnlich sah.

»Wie wäre es mit heute Abend nach deinem Schönheitsprogramm? Deine Schwester scheint jedenfalls beschäftigt zu sein.«

Dési hatte die Anprobe beendet. Der Badeanzug saß wie angegossen, sodass sie beschlossen hatte, ihn gleich anzubehalten. Sie zog Jeans und Shirt drüber und kam aus der Umkleide.

»Wenn du die Frau meinst, die sich mit dem Inhaber unterhält: Das ist meine Mutter«, korrigierte sie Joshua belustigt.

»Und der Mann, den du für den Besitzer dieser schnuckeligen Boutique hältst, ist mein Vater«, grinste Joshua. »Im richtigen Leben ist er Arzt. Die Inhaberin musste schnell weg und hat ihn gebeten, kurz auf das Geschäft aufzupassen.«

Dési sah Joshua mit großen Augen an.

»Arzt? Echt?« Die neue Bekanntschaft wurde immer interessanter.

Ehe Joshua Gelegenheit zu einer Antwort hatte, rief Fee nach ihrer Tochter. Es wurde Zeit für den Massagetermin.

»In einer Stunde im Schwimmbad!« Sie zwinkerte Joshua zu, ehe sie an Kleiderständern vorbei schlüpfte und im nächsten Moment verschwunden war wie eine Fata Morgana.

*

»Endlich Feierabend.« Daniel Norden saß am Besprechungstisch und klappte demonstrativ die Mappe zu, die vor ihm lag.

»Ich bin dabei!«, witzelte Matthias Weigand, der mit ihm am Tisch saß.

»Tut mir ja leid. Aber du darfst noch bleiben.« Bedauernd zuckte Dr. Norden mit den Schultern.

»Vielen Dank für den freundlichen Hinweis.« Es war Matthias anzusehen, wie wenig ihm die Aussicht auf eine schlaflose Nacht gefiel.

Daniel dachte kurz nach.

»Was hältst du davon, wenn ich dir noch eine Weile Gesellschaft leiste?«

»Schon okay. Geh nur heim zu Frau und Kind.«

»Meine Familie ist nicht zu Hause. Janni ist auf einer LAN-Party und kommt erst Sonntagmorgen zurück. Und Fee und Dési sind über das Wochenende am Chiemsee.« Er seufzte und warf einen Blick auf die Uhr. »Eigentlich wollte ich heute mit Fee dorthin fahren. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, euch am Wochenende Dienst schieben zu lassen.«

»Ehrlich?« Matthias’ Freude war aufrichtig. Angesichts dieser Selbstlosigkeit schämte er sich seiner schlechten Laune. »Dafür gebe ich dir auch eine Pizza aus.«

»Das Angebot nehme ich gern an.« Daniel lachte. »Obwohl ich heute den Eindruck hatte, dass du lieber unsere Frau Petzold aufgefressen hättest.«

»Stimmt auffallend«, gab Matthias ohne Zögern zu. Er war aufgestanden und verließ das Zimmer. Gleich darauf kehrte er mit der Speisekarte zurück, die immer griffbereit an Andrea Sanders Pinwand hing. »Zuerst flirtet sie den halben Nachmittag mit Bastian Dehmel. Und dann spritzt sie einer Patientin ein Lokalanästhetikum, ohne sich nach Allergien erkundigt zu haben. Diese Begegnung mit Dehmel scheint unsere selbstbewusste Kollegin ziemlich aus der Bahn geworfen zu haben.«

»Dehmel, Dehmel«, wiederholte Daniel gedankenverloren, während er die Unterlagen auf dem Tisch sortierte. »Dieser Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Du bist ja gar nicht so senil, wie ich dachte«, witzelte Matthias und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. »Frau Dehmel war vor einem guten Jahr nach einem Schlaganfall bei uns in Behandlung.« Aufgrund der Jugend der Patientin war ihm der tragische Fall in Erinnerung geblieben. »Ihr Mann hat sie sofort hierherbringen lassen, und die Aussichten waren damals recht gut. Trotzdem sitzt Jutta Dehmel heute im Rollstuhl, wie mir Schwester Linda erzählt hat.«

»Richtig!« Auch Daniel war inzwischen ein Licht aufgegangen. »Ich erinnere mich.« Er hing noch seinen Gedanken nach, als sich Matthias schon mit der Speisekarte beschäftigte.

»Welches Schweinderl hätten Sie denn gern?«, fragte er seinen Chef. »Cappricciosa? Regina? Hawaii?«

»Wie bitte?«

Matthias lachte.

»Also doch senil. Ich habe es ja geahnt.«

»Dir werde ich helfen!« Daniel schüttelte scherzhaft die Faust. »Wenn du weiter so frech bist, teile ich dich die nächsten fünf Wochen zum Nachtdienst ein. Oder noch besser. Ich verkupple dich mit Sophie Petzold.«

»Gott bewahre!« Erschrocken riss Matthias die Hände hoch. »Dann lieber zehn Jahre Nachtdienst.«

»Und ich eine Pizza Rucola«, gab Daniel lachend zurück, dankbar, den Abend nicht allein zu Hause mit sehnsüchtigen Gedanken an seine Frau und das schöne Hotel auf der Fraueninsel verbringen zu müssen.

*

»Ja bitte?« Es klopfte, und Bastian sah hoffnungsvoll hinüber zur Tür. Seine Hoffnung erfüllte sich. »Sophie!« Er wollte sich im Bett aufsetzen.

Mit ein paar Schritten war sie bei ihm und hielt ihn davon ab. Ihr Dienst war zu Ende, statt weißer Hose und Kittel trug sie eine enge Jeans und eine Strickjacke mit Ajourmuster. Doch sie konnte nicht nach Hause gehen, ohne noch einmal nach ihrer ersten Liebe zu sehen.

»Schön liegen bleiben«, befahl sie ungewöhnlich sanft. Wie zufällig ließ sie ihre Hand länger als nötig auf seiner Brust liegen, und Bastian wehrte sich nicht. Ganz im Gegenteil schien er diese Berührung zu genießen. »Wie fühlst du dich?«, fragte Sophie und setzte sich auf die Bettkante.

»Wenn ich dich sehe, gut.«

»Keine Kopf- oder Wundschmerzen?«

»Nein.« Er lächelte zärtlich. »Du hast eben Wunderhände.«

Sophie wiegte den Kopf. Obwohl es Frau Steuber inzwischen wieder gut ging, saß ihr der Schrecken noch in den Gliedern. Ihr Selbstbewusstsein hatte einen deutlichen Dämpfer erhalten.

»Es freut mich jedenfalls, dass bei dir alles in Ordnung ist«, lenkte sie rasch vom Thema ab. »Und ich hoffe, das mit Jutta renkt sich auch wieder ein.«

Das Lächeln auf Bastians Gesicht versickerte. Er wandte den Kopf ab und starrte nach draußen. Eine Weile dachte er nach.

»Vor ihrem Schlaganfall war Jutta eine sehr sportliche Frau. Ich lernte sie beim Mountainbiken kennen«, sagte er endlich leise.

»Das war schon damals deine große Leidenschaft«, erinnerte sich Sophie. Dass er die dünn gesäte Freizeit lieber mit dem Fahrrad auf irgendeiner unwegsamen Piste denn mit ihr verbringen wollte, war damals einer der Streitpunkte zwischen ihnen gewesen.

»Seit ihrem Schlaganfall bin ich nicht mehr auf das Bike gestiegen. Ich wollte sie nicht verletzen.«

»Wie rücksichtsvoll von dir«, entfuhr es Sophie.

Schuldbewusst senkte Bastian den Blick.

»Du glaubst gar nicht, wie oft ich es schon bereut habe, dass ich damals nicht kompromissbereiter war«, gestand er zerknirscht. »Das würde mir heute nicht mehr passieren.« Seine Stimme ließ ihr eine Gänsehaut wachsen.

»Gab es Risikofaktoren für Juttas Schlaganfall?«, fragte sie schnell.

Bastian schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie rauchte nicht, nahm nicht die Pille und ernährte sich gesund.« Seine Finger spielten mit der Kordel an Sophies Strickjacke. »Die Ärzte hier an der Klinik erklärten uns, dass eine Dissektion für den Schlaganfall verantwortlich war. Durch eine Einblutung ist die innere Wand eines Blutgefäßes eingerissen.«

»Das ist bei jungen Menschen die häufigste Ursache für einen Schlaganfall«, bestätigte Sophie seine Erklärung.

»Das hat der Arzt damals auch gesagt.« Bastian seufzte aus tiefstem Herzen. »Und kaum ein Jahr später liege ich selbst hier und weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll.« Er suchte und fand Sophies Blick. »Seit dem Unglück lässt sich Jutta hängen. Sie hat sich aufgegeben, und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.«

»Hast du versucht, mit ihr darüber zu reden?«

Bastian lachte bitter.

»Ein Mal? Zehn, zwanzig, dreißig Mal. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich versucht habe, zu ihr vorzudringen. Vergeblich. Was ist? Warum schaust du mich so an?«

»Na ja.« Sophie rutschte von der Bettkante und ging ein paar Mal vor dem Bett auf und ab. Sie haderte sichtlich mit sich. Endlich blieb sie wieder vor ihm stehen und sah ihn an. »Weißt du eigentlich, dass ich euch beneidet habe, seit du mir die Hochzeitsanzeige geschickt hast?«

»Ausgerechnet du?« Bastian konnte es kaum glauben. »Ich dachte immer, dass du in anderen Sphären schwebst und über solch irdische Dinge erhaben bist.«

Sophies forschender Blick ruhte auf ihrem Ex-Freund.

»Hast du dich deshalb damals von mir getrennt?«

»Ja. Und deshalb dachte ich mir auch nichts dabei, als ich dir die Hochzeitsanzeige geschickt habe. Ich dachte, dass dich das eh nicht sonderlich kümmert.« Er schnitt eine Grimasse. »Vielleicht wollte ich dich aber auch aus der Reserve locken.«

»Ich war so verletzt. Damals hätte ich mir diese Blöße niemals gegeben.«

»Und heute?«

Sophies Wangen wurden flammend rot.

»Basti, bitte. Du hast im Augenblick andere Probleme. An so etwas darfst du noch nicht einmal denken.« Mit entschiedenen Schritten ging sie zur Tür. Dort angekommen, blieb sie noch einmal stehen. Sie zögerte, ehe sie zum Bett zurückkehrte und Bastian einen Kuss auf den Mund gab. Dann verschwand sie so schnell aus dem Zimmer, dass er dachte, geträumt zu haben.

*

Jutta wusste nicht mehr, wie lange sie mit dem Rollstuhl am Fenster gestanden und hinausgestarrt hatte. Vor ihren Augen war aus dem Nachmittag Abend geworden, bis die Nacht schließlich ihr samtschwarzes Tuch über die Welt gedeckt hatte. Die Lichter im gegenüberliegenden Haus flammten auf. Der Schein fiel hinaus in den Garten und malte lange Schatten auf den Rasen. Hinter den Fensterscheiben liefen Menschen geschäftig auf und ab. Sie lebten, lachten und liebten. All das, was Jutta nicht mehr konnte. Zumindest bildete sie sich das ein.

Sie war so versunken in ihr Selbstmitleid, dass sie das Klingeln an der Tür nicht hörte. Erst, als an der Terrassentür ein Schatten auftauchte und die Scheibe vom Klopfen zitterte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung.

»Bist du verrückt geworden, mich so zu erschrecken?«, fauchte sie und rollte zurück, um ihrer Schwester zu öffnen. Judica kam herein und schüttelte sich wie ein Hund.

»Ich stehe schon zwanzig Minuten vor deiner Tür und versuche, mich irgendwie bemerkbar zu machen«, schimpfte sie und rieb sich die kalten Hände. Obwohl der Frühling längst Einzug gehalten hatte, war es an diesem Abend empfindlich kalt. »Ans Telefon bist du auch nicht gegangen. Kannst du dir eigentlich vorstellen, dass ich mir Sorgen gemacht habe?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Das Telefon hat nicht geklingelt!«, behauptete Jutta der Einfachheit halber.

Judica verschwand und kam gleich darauf mit dem Apparat zurück. Der Anrufbeantworter blinkte.

»Ich habe eher den Verdacht, du wolltest es mal wieder nicht hören.«

»Glaub doch, was du willst.« Wütend drehte sich Jutta mit dem Rollstuhl um und fuhr aus dem Zimmer.

Judica seufzte. So viel Sturheit hatte sie selten zuvor erlebt. Der Gedanke, die Wohnung wieder durch die Terrassentür zu verlassen, war verlockend. Doch sie besaß zu viel Verantwortungsgefühl und widerstand dem Impuls. Stattdessen folgte sie Jutta in die Küche. Sie stand an der Arbeitsplatte und hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt. Diesmal verkniff sie sich eine Bemerkung.

»Ich war bei Basti in der Klinik. Zum Glück geht es ihm gut. Er kann morgen früh nach Hause gehen.«

»Dann bin ich nicht mehr hier.« Jutta trank einen großen Schluck.

Judica erschrak.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich gehe in ein Pflegeheim«, behauptete Jutta. »Ich bin doch für alle nur eine Belastung. Und jetzt, nachdem Bastian seine große Liebe wiedergetroffen hat … Ich will seinem Glück nicht im Weg stehen.« Wieder hob sie das Glas an die Lippen und leerte es in einem tiefen Zug.

Judica packte den Rollstuhl an den Griffen und drehte ihn schwungvoll zu sich herum.

»Was soll denn das schon wieder? Welche große Liebe?«, fragte sie ebenso ärgerlich wie verständnislos.

»Das hat er dir natürlich nicht auf die Nase gebunden.« Jutta lachte kalt. »Hätte mich auch gewundert.« Sie streckte sich, angelte die Weinflasche von der Arbeitsplatte und schenkte das Glas noch einmal voll bis an den Rand. Als sie trank, verschüttete sie etwas von dem Wein. Ihre Bluse färbte sich tiefrot. Doch das kümmerte Jutta nicht.

Von Minute zu Minute wuchs Judicas Abscheu vor der eigenen Schwester.

»Und mich wundert es, dass sich Bastian nicht schon längst eine andere Frau gesucht hat«, schleuderte sie ihr ins Gesicht. »Weißt du eigentlich, was für ein Glück du mit diesem Mann hast? Andere hätten schon längst die Segel gestrichen. Aber er, er versucht immer noch, dir zu helfen. Egal, wie abscheulich du zu ihm bist. Wie sehr du ihn beleidigst und vor den Kopf stößt. Du trittst dein Glück mit Füßen. Und wenn du es dann verloren hast, fühlst du dich auch noch bestätigt. Das ist krank, Jutta. Merkst du das denn nicht?« Schwer atmend stand sie vor dem Rollstuhl ihrer Schwester und wartete auf eine Reaktion. Vergeblich. »Dir ist doch nicht zu helfen.« Deprimiert wandte sie sich ab und verließ die Küche.

Ihre Hand lag schon auf der Klinke der Wohnungstür, als sie ein Stöhnen hörte, gefolgt von einem dumpfen Knall und dem Klirren des Glases, das auf dem Boden in tausend Scherben zersprang.

»Jutta!« Judicas Stimme war nicht mehr als ein erschrockenes Flüstern. In der Gewissheit, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, lief sie in die Küche zurück.

*

»Was für ein herrliches Fleckchen Erde«, schwärmte Fee und bedankte sich, als Adrian Wiesenstein ihr die Tür zum Hotel aufhielt. Während Dési ins Schwimmbad gegangen war, hatte sie nach der Massage einem Spaziergang den Vorzug gegeben. Wie es der Zufall wollte, war sie dem Aushilfsverkäufer in der Hotellobby begegnet. Obwohl sie eigentlich mit Daniel telefonieren wollte, brachte sie es nicht übers Herz, Adrians freundliches Angebot, sie zu begleiten, abzulehnen.

»Das ist der Grund, warum ich versuche, wenigstens ein Mal im Jahr für ein paar Tage herzukommen.« Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie die schmalen Wege, vorbei an bunten Bauerngärten und romantischen Bauernhäusern auf der einen und dem See auf der anderen Seite, entlang wanderten. »Sogar Joshua zieht es immer wieder hierher. Obwohl man annehmen könnte, dass diese Umgebung für einen Sechzehnjährigen wenig attraktiv ist.«

Die nächste Frage drängte sich förmlich auf.

»Sie sind alleinrziehend?«

»Schon seit acht Jahren«, erwiderte Adrian leichthin. »Irgendwann hat Paola festgestellt, dass das Leben an der Seite eines Arztes doch nicht so attraktiv ist, wie sie sich das vorgestellt hatte.«

»Die Nacht- und Wochenenddienste. Ganz zu schweigen von den Notfällen zu allen Tages- und Nachtzeiten«, bestätigte Fee und bückte sich nach einem schönen Stein, den sie zu ihren Füßen entdeckt hatte. »Es ist ja auch nicht schön, einen Kinofilm allein zu Ende zu sehen. Oder im Restaurant die zweite Hälfte der Mahlzeit allein einzunehmen.«

Adrian schickte ihr einen erstaunten Seitenblick.

»Sie klingen, als ob Sie Erfahrung hätten.«

Fee lachte leise.

»Mein Mann ist Arzt. Früher hatte er eine Praxis, und heute ist er Chef einer renommierten Privatklinik.«

»Ich hätte mir denken können, dass eine so attraktive Frau vergeben ist.« Adrian lächelte, doch die Enttäuschung in seinen Augen war nicht zu übersehen. »Und noch dazu ein Kollege. Wie hat er es geschafft, Sie zu halten?«

»Indem ich selbst in meinen Beruf als Ärztin zurückgekehrt bin und nun als Chefin der Pädiatrie an der Behnisch-Klinik arbeite.«

»Wie bitte?« Abrupt blieb Adrian stehen.

Seine Begleiterin ging ein paar Schritte weiter, ehe sie sich zu ihm umdrehte.

»Was ist?« Verwundert legte Fee den Kopf schief. »Stimmt was nicht?«

»Sagten Sie gerade Behnisch-Klinik? Dort habe ich mich als Chirurg beworben und heute Nachmittag die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bekommen.«

»Ist das Ihr Ernst?« Felicitas konnte es kaum glauben.

»Ein gewisser Herr Fuchs hat mich angerufen.«

»Es ist Ihr Ernst«, stellte sie trocken fest. »Das ist unser Verwaltungsdirektor.«

Kopfschüttelnd setzte Adrian Wiesenstein seinen Weg fort.

»Sachen gibt es, die gibt es gar nicht.« Sie waren zum Ausgangspunkt ihres kleinen Spaziergangs zurückgekehrt und standen wieder vor dem Hotel.

»Das muss ich sofort meinem Mann erzählen«, beschloss Felicitas, als sie die Lobby im Landhausstil betrat.

»Warum begleitet er Sie nicht an diesen romantischen Ort?«, erkundigte sich Adrian, ehe sich ihre Wege fürs Erste trennten.

»Die Pflicht, was sonst?«, erwiderte Fee so unbeschwert, dass es ihm einen Stich versetzte.

»Ihr Mann kann sich glücklich schätzen, so eine Partnerin an seiner Seite zu haben.« Sein Blick machte sie verlegen.

»Ich werde es ihm ausrichten.« Felicitas zwinkerte Adrian zu, ehe sie sich auf den Weg in ihr Zimmer machen wollte. Weit kam sie allerdings nicht.

Der Herr an der Rezeption hielt sie auf.

»Frau Dr. Norden, Sie haben mehrere Anrufe erhalten.« Er reichte ihr ein Blatt Papier, auf dem der Name des Anrufers und die Uhrzeiten notiert waren.

»Daniel«, wunderte sich Felicitas, als sie es auf dem Weg nach oben auseinanderfaltete. »Warum ruft er mich denn nicht auf dem Handy an? Hoffentlich ist nichts passiert.« Sie zog das Mobiltelefon aus der Tasche und erschrak. Der Akku war leer.

*

»Hypertensive Krise, Blutdruck bei 190 zu 115. Die Patientin klagt über Sehstörungen und Taubheitsgefühle in den Extremitäten.« Während sie neben der Liege herlief, zählte die Rettungsärztin die Beschwerden von Jutta Dehmel auf.

»Bringen Sie sie in den Schockraum«, wies Dr. Weigand die Sanitäter an, ehe er sich an eine Schwester wandte. »Sagen Sie Elena Bescheid. Ich brauche sie hier. Und bereiten Sie ein EKG vor.«

Judica, die den Krankentransport begleitet hatte, blieb an der Seite ihrer Schwester.

»Was passiert denn jetzt, Herr Doktor?«, rief sie Matthias nach.

Er zögerte kurz und kehrte dann zu ihr zurück.

»Wir kennen uns, nicht wahr?«

Judica lächelte matt.

»Jutta war im vergangenen Jahr schon einmal hier.«

»Der Schlaganfall, ich weiß. Wenn ich mich nicht irre, hatte Juttas Mann heute einen Unfall.«

»Das ist richtig. Wenn etwas passiert, dann gleich richtig.«

»Murphys Gesetz«, bemerkte Matthias trocken. »Was schief gehen kann, wird schief gehen.«

Judica lächelte matt.

»Zum Glück ist Bastian nicht viel passiert.«

»Hat sich Ihre Schwester darüber so aufgeregt?«

»Jutta geht es schon länger nicht mehr gut. Genau genommen seit dem Schlaganfall«, gestand sie leise und wagte es kaum, dem Arzt ins Gesicht zu sehen. »Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie jetzt hier ist. Lange wäre es nicht mehr gut gegangen.«

Matthias war dankbar für diese Informationen. Er legte Judica kurz die Hand auf die Schulter.

»Ich gehe jetzt und sehe sie mir einmal an. Dort drüben ist ein Aufenthaltsraum für Angehörige. Wenn Sie so lange warten wollen?«

Doch Judica schüttelte den Kopf.

»Ich muss Bastian sagen, was passiert ist.«

»Gut. Wir sehen uns später.« Damit verabschiedete sich Matthias. Höchste Zeit, sich um seine Patientin zu kümmern. Er betrat das Zimmer, wo Elena bereit das EKG schrieb. Dr. Lekutat hatte die Erstversorgung übernommen.

»Keine Anzeichen für einen Herzinfarkt.« Sie reichte Matthias den Ausdruck. Er studierte ihn kurz, ehe er ihn ihr dankend zurückgab und an Juttas Liege trat. Elektroden klebten auf ihrem Oberkörper, ein Infusionsschlauch führte in ihr Handgelenk. Mit geschlossenen Augen lag sie da und ließ die Behandlung über sich ergehen.

»Frau Dehmel, können Sie mich hören? Sie haben unglaubliches Glück gehabt.« Er sah hinüber zu Elena, die etwas im Krankenblatt notierte. »Blutdruck?«

»190 zu 110.«

Nachdenklich stand Mattias Weigand am Bett seiner Patientin.

»Was soll ich nur mit Ihnen machen? Ihr Blutdruck ist viel zu hoch.« Er beugte sich über sie und wollte nach ihrem rechten Arm greifen. Der Geruch nach Alkohol stieg ihm in die Nase. »Haben Sie getrunken? Machen sie das regelmäßig? Und wie viel?«

»Ich zähl doch nicht mit«, murmelte Jutta mit geschlossenen Augen.

»Meine Güte, Frau Dehmel! Sie hatten vor zwölf Monaten einen Schlaganfall. Alkohol ist Gift für Sie. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und dem Risiko eines Schlaganfalls gibt. Bei höherem Konsum kommt es häufiger zu intrazerebralen Blutungen und auch zu Subarachnoidalblutungen.«

Jutta zog es vor, auf diese Standpauke mit stoischem Schweigen zu reagieren. Am liebsten hätte Matthias Weigand sie geschüttelt, um sie aus ihrer Lethargie zu wecken. Natürlich tat er es nicht. Stattdessen griff er nach ihrer rechten Hand.

»Drücken Sie bitte fest zu. Fest habe ich gesagt.« Keine Reaktion. »Machen Sie jeden Tag die Übungen, die Sie in der Reha gelernt haben?«

Bis jetzt hatte sich Christine Lekutat vornehm zurückgehalten. Doch allmählich verlor sie die Geduld.

»Wenn Sie kein einarmiger Bandit werden wollen, müssen Sie Ihre Hand trainieren. Ist das denn so schwer zu kapieren?«

Matthias verdrehte die Augen.

»Ich glaube nicht, dass das die richtige Strategie ist«, raunte er der Kollegin zu.

»Ihre offenbar auch nicht.« Dr. Lekutat dachte nicht daran, die Stimme zu senken. »Mit Ihnen redet sie doch auch nicht. Oder ist mir da etwas entgangen?«

Matthias beschloss, sich wieder seiner Patientin zuzuwenden.

»Wie auch immer, Sie bekommen ein ruhiges Einzelzimmer. Morgen machen wir eine komplette Untersuchung.« Mehr gab es im Augenblick nicht zu sagen.

Er nickte Elena zu. Sie verstand die stumme Aufforderung und versprach, sich um alles Nötige zu kümmern, sodass Matthias halbwegs beruhig den Behandlungsraum verlassen konnte.

Zu seinem Leidwesen folgte ihm die Kollegin nach draußen. Mit ihren kurzen Beinen fiel es Dr. Lekutat schwer, ihm zu folgen. Trotzdem heftete sie sich an seine Fersen.

»Haben Sie übrigens schon gehört, dass der Verwaltungsdirektor einen Chirurgen einstellen will?«, fragte sie schnaufend.

»Das ist doch prima«, erwiderte er, ohne stehenzubleiben. »Dann werden wir alle ein wenig entlastet.«

»Aber ausgerechnet ein Chirurg. Muss das sein?«

Matthias bog in den Aufenthaltsraum der Ärzte ab. Er warf die Unterlagen auf den Tisch und ging zur Kaffeemaschine, um sich eine Tasse des Muntermachers einzuschenken.

»Auch einen?«

Dr. Lekutat schüttelte den Kopf.

»Man munkelt, dass der Neue viel Erfahrung hat und sehr ambitioniert ist.«

»Ein Traummann!«, witzelte Matthias und löffelte eine ordentliche Portion Zucker in seine Tasse. »Mal abgesehen davon hat er sich noch nicht einmal vorgestellt. Vielleicht gefällt ihm die Stelle gar nicht.« Er lehnte an der Arbeitsplatte und musterte Christine über den Rand seiner Tasse hinweg. »Wo ist eigentlich Ihr Problem?«

»Ich habe keine Probleme. Nur Ziele.«

»Also schön. Welches ist Ihr Ziel?« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ihm ein Licht aufging. »Ach, jetzt verstehe ich. Es geht um die Oberarztstelle, die bald zu besetzen ist, wenn der Kollege Höllein in Rente geht.«

»Na und? Ist es verboten, Karriere machen zu wollen?« Es gefiel Christine nicht, durchschaut zu sein.

Matthias lachte.

»Ganz im Gegenteil. Aber Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft.« Der Pieper an seinem Gürtel rief ihn zu einem neuen Notfall in die Ambulanz. »Da haben wir in nächster Zeit ja was zu lachen.« Er zwinkerte Christine Lekutat zu, ehe er den Aufenthaltsraum verließ.

»Blödmann!«, rief sie ihm nach und nahm sich eine Praline aus der Schachtel auf dem Tisch.

Doch das hörte er schon nicht mehr.

*

Es kam selten vor, dass Daniel Norden ganz allein zu Hause war. Sogar die ehemalige Haushälterin Lenni, die die Einliegerwohnung zusammen mit ihrem Lebensgefährten Oskar bewohnte, war ausgeflogen. Das einzige Geräusch kam aus dem Fernseher, den er eigentlich nur eingeschaltet hatte, um sich von seinen Sorgen abzulenken. Er saß auf der Couch, eine Schale mit Nüssen und ein alkoholfreies Bier vor sich auf dem Tisch, und starrte statt in den Bildschirm auf das Telefon. Nachdem er bereits drei Mal im Hotel angerufen und seine Frau nicht erreicht hatte, wagte er es nicht noch einmal, zumal ihm der Portier versichert hatte, dass Fee und Dési gut angekommen waren. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er erschrak, als der Apparat auf dem Tisch klingelte.

»Fee, endlich! Ich hatte schon Angst, dass etwas passiert ist.«

»Entschuldige, Dan.« Bereit für das Abendessen stand Fee vor dem Spiegel ihres Zimmers und begutachtete ihr Outfit. »Ich wollte dich schon viel früher anrufen. Aber dann war der Akku leer.«

»Hast du dein Ladegerät vergessen?«

»Ich heiße doch nicht Dési!« Sie lachte leise. »Stell dir vor: Unser Töchterlein hat ihren Bikini vergessen. Zum Glück gibt es eine kleine Boutique hier im Hotel. Dort konnten wir einen Badeanzug kaufen.« Von der Begegnung mit Adrian wollte sie später erzählen. Andere Dinge waren wichtiger. »Das Handy konnte ich nicht laden, weil ich spazieren war, als ich es bemerkt habe. Deswegen rufe ich jetzt erst an.«

Daniel lehnte sich wieder zurück und legte die Füße auf den Tisch. Das war ein unbestrittener Vorteil des Alleinseins.

»Hauptsache, dir geht es gut.« Er angelte das Bier vom Tisch und trank einen Schluck. »Und? Wie gefällt es euch zwei Hübschen?«

»Ach, Dan, es ist so schade, dass du nicht hier sein kannst.« Fee trat ans Fenster und sah hinaus. Inzwischen war es dunkel geworden. Der Mond spiegelte sich im See und beschien die schlafenden Boote. »Es ist wunderschön hier. Wir haben ein Zimmer unter dem Dach mit Blick auf den See. Die Blütenpracht in den Bauerngärten ist unbeschreiblich. Aber was das Schönste ist: Hier fährt kein einziges Auto.«

»Klingt wie im Paradies«, seufzte Daniel mit einem Anflug von Wehmut. »Hat dir die Massage gutgetan?«

»Mehr als das. Ich dachte schon, uns erwartet eine typische Hotelmassage. Aber Araya ist Thailänderin und beherrscht die Technik perfekt.«

»Und was habt ihr heute Abend vor?«

»In einer Viertelstunde sind Dési und ich zum Essen verabredet«, erwiderte Felicitas unbeschwert. »Stell dir vor: Ich habe doch glatt einen Arzt hier kennengelernt, der sich als Chirurg in der Behnisch-Klinik beworben hat.«

»Tatsächlich?« Daniel lächelte. Noch dachte er nichts Böses. »Das ist ja ein Zufall. Leider hat der Sparfuchs seinen Traumprinzen schon gefunden und zum Vorstellungsgespräch eingeladen.«

»Wirklich?« Felicitas lachte belustigt auf. »Dann kenne ich deinen neuen Chirurgen früher als du.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Daniel verstand, was Fee meinte. Er nahm die Füße vom Tisch, setzte sich kerzengerade auf und presste den Hörer ans Ohr. Er erinnerte sich genau an die Bewerbung. »Alleinrziehender Vater«, hatte dort gestanden. Und das Foto hatte einen wirklich attraktiven Mann gezeigt.

»Du willst sagen …«

»Dass ich Adrian Wiesenstein hier im Hotel kennengelernt habe«, fuhr Fee unbeschwert fort. »Dabei dachte ich zuerst, er ist der Inhaber der kleinen Boutique.« Gut gelaunt berichtete sie von dem Missverständnis. »Dési scheint übrigens Gefallen an seinem Sohn zu finden. Ich habe sie seit Stunden nicht gesehen.«

»Dann bist du ja ganz allein«, bemerkte Daniel heiser.

»Adrian ist so nett und leistet mir Gesellschaft. Wir waren vorhin schon zusammen spazieren. Er ist ein interessanter und witziger Gesprächspartner. Und er lässt dir unbekannterweise ausrichten, dass du dich glücklich schätzen kannst, eine Partnerin wie mich an deiner Seite zu haben«, berichtete sie ihm unbedarft.

Daniel dagegen spürte, wie sich sein Magen mehr und mehr verkrampfte. Die Vorstellung, wie seine Fee mit einem anderen die romantische blaue Stunde am See genoss, versetzte ihm einen Stich.

»Vielen Dank. Aber ich glaube kaum, dass das ein Außenstehender beurteilen kann«, erwiderte er schroffer als gewollt.

In diesem Augenblick ging Felicitas ein Licht auf.

»Sieh mal einer an. Dr. Daniel Norden ist eifersüchtig«, stellte sie belustigt fest.

Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zurück in jene Tage, in denen es genau umgekehrt gewesen war. Scharenweise hatten die Patientinnen dem jungen, attraktiven Arzt den Hof gemacht. Mehr als einmal war Fee fast geplatzt vor Eifersucht. Inzwischen schienen sich die Vorzeichen geändert zu haben.

»Ich bin nicht eifersüchtig«, schnaubte Daniel unwillig. »Schließlich vertraue ich dir.«

»Dazu hast du auch allen Grund. Mal abgesehen davon würde ich mich immer noch freuen, wenn du morgen Abend kämst. Stell dir Fuchs’ Gesicht vor, wenn er erfährt, dass du seinen Kandidaten vor ihm kennengelernt hast.«

Unterdessen war Daniel ein anderer Gedanke in den Sinn gekommen.

»Und was, wenn das wieder einmal ein abgekartetes Spiel ist? Eine Falle, um mich aus der Klinik zu vergraulen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Fuchs das versucht.«

Felicitas erschrak. Auf diese Idee war sie noch gar nicht gekommen.

»Aber die Sache mit dem Gesundheitszentrum ist doch längst vom Tisch.« Ihr Herz schlug schnell vor Aufregung. »Dem Stadtrat, diesem Karl Schmiedle, wird gerade der Prozess gemacht.«

»Das ist richtig. Trotzdem weiß man nie, was Fuchs im Schilde führt. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

In seine Worte hinein klopfte es an Fees Tür.

»Felicitas! Ist alles in Ordnung?«, rief Adrian. »Wir waren vor zwanzig Minuten verabredet, aber Sie sind nicht gekommen. Geht es Ihnen gut?«

Fee schickte einen heißen Blick zur Tür.

»Wiesenstein ist hier«, raunte sie ins Telefon. »Ich bin mit ihm zum Essen verabredet. Was mache ich denn jetzt nur?«

»Auf keinen Fall darf er merken, dass du Verdacht geschöpft hast«, empfahl Daniel. »Geh mit ihm essen. Aber erzähle ihm nicht zu viel. Und ruf mich an, wenn du wieder zurück bist.«

»Das mache ich. Bis später, mein Liebster.« Fee hauchte einen Kuss in den Hörer, ehe sie auflegte. Die Vorfreude auf den Abend war verflogen. Ihr war gar nicht mehr wohl in ihrer Haut, als sie zur Tür ging.

Und auch Daniel Norden fühlte sich nicht gut. Fürchtete er wirklich, seinen Posten zu verlieren? Oder hatte er nicht viel mehr Angst um seine Frau?

*

Als Judica mit Bastian in die Notaufnahme zurückkehrte, war Jutta schon auf ein Zimmer verlegt worden. Trotz der vielen Arbeit nahm sich eine Schwester die Zeit, Schwester und Ehemann auf die Station zu bringen.

»Ich sage Frau Dehmel kurz Bescheid, dass Sie hier sind«, erklärte sie und verschwand im Zimmer. Kurz darauf kehrte sie mit betretener Miene zurück.

»Sie können hinein gehen«, sagte sie zu Judica. Doch für Bastian hatte sie eine andere Botschaft. »Tut mir leid, aber Ihre Frau will Sie nicht sehen.«

»Wie bitte? Warum denn?«, fragte Bastian überrascht.

»Das hat sie mir nicht gesagt. Aber glauben Sie mir: Es ist besser, wenn sie jetzt viel Ruhe hat.«

Im ersten Moment sah Bastian so aus, als wollte er widersprechen. Doch dann besann er sich eines Besseren.

»Also gut.« Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern machte er sich auf den Rückweg in sein Zimmer.

Erschüttert sah Judica ihm nach.

»Bastian!«

Doch er drehte sich nicht mehr um. Wie betäubt wanderte er durch die Klinikflure. Er erwachte erst aus seiner Trance, als er einen Schlag gegen die Schulter spürte.

»Oh, Verzeihung, es tut mir leid«, entschuldigte sich Matthias Weigand für den Rempler. Wie immer war er in Eile gewesen und wollte gleich weiterlaufen, als er den Ehemann seiner Patientin erkannte. »Herr Dehmel, was machen Sie denn hier?«

»Ich gehe zurück in mein Zimmer«, erwiderte Bastian und sah sich um. »Meine Frau will mich nicht sehen.«

»Sie sind hier völlig falsch. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg«, bot Matthias ohne Zögern an und winkte ihm mit sich.

Bastian wehrte sich nicht. Die Gesellschaft tat ihm gut.

»Wie geht es Jutta?«, fragte er den Arzt.

»Es besteht keine Lebensgefahr. Trotzdem gefällt sie mir ganz und gar nicht. Ich denke, wir werden sie ein paar Tage hier behalten und diverse Untersuchungen machen.«

»Das wird ihr leider auch nicht helfen.«

Matthias schickte dem deprimierten Ehemann einen fragenden Seitenblick.

»Haben Sie schon mal mit ihr geredet?«

»Ein Mal?« Bastian lachte abfällig. »Seit einem Jahr tue ich nichts anderes, als Jutta gut zuzureden. Zuerst habe ich es mit Liebe und Mut versucht. Dann habe ich ihr Vorwürfe gemacht. Schließlich habe ich gar nichts mehr gesagt, bis ich es nicht mehr ertragen habe. Ich habe ihr gedroht, und der Streit ist eskaliert. Das hat mich so aufgeregt, dass ich an einem Baum gelandet bin.«

Dr. Weigand ahnte, dass die Geschichte hier nicht zu Ende war.

»Und welche Rolle spielt Sophie Petzold in diesem Spiel?« Sie waren an Bastians Krankenzimmer angekommen. Bastian öffnete die Tür und bedeutete dem Arzt, ihm zu folgen.

»Sophie …«, wiederholte er versonnen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sie war meine erste Liebe. Wir haben uns zufällig hier wiedergetroffen.« Erschöpft ließ er sich aufs Bett fallen. »Sie ist ein Lichtblick in all dem Durcheinander. Sie gibt mir die Kraft, endlich das zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen.«

Matthias Weigand stand vor dem Bett und blickte auf den Patienten hinab.

»Und das wäre?«

»Ich muss Jutta verlassen. Um sie zu retten.« Wie um sich selbst Mut zu machen, nickte Bastian. »Und um mich zu retten. Wenn sie sich zerstören will, dann muss sie das tun. Aber ich habe auch nur ein Leben.«

Dr. Weigand hatte keine Ahnung, was er darauf sagen sollte. Eine Trennung zu diesem Zeitpunkt konnte eine Befreiung für seine Patientin sein. Oder den endgültigen Absturz bedeuten. So zog der Arzt es vor, sich mit Ratschlägen und ­Ermahnungen zurückzuhalten. Gleichzeitig nahm er sich vor, so schnell wie möglich mit seinem Freund und Kollegen Dr. Norden über diesen schwierigen Fall zu sprechen. Sein Vertrauen in den Chef war grenzenlos.

»Wenn einer Rat weiß, dann ist es Daniel«, murmelte er, als er wieder unterwegs in seine Abteilung war.

*

»Hey, schau mal, da drüben ist ein Kinderspielplatz!«, rief Joshua und stürzte sich begeistert auf die Schaukel.

Dési lachte und folgte ihm.

»Wetten, dass ich weiter springen kann als du!«, rief sie ihm zu und nahm Schwung.

»Es reicht, dass du mich schon im Tauchen besiegt hast«, erwiderte Joshua und hielt seinen Hut fest, damit er nicht davonflog. Seine Stimme hallte durch die Nacht. »Diesmal gewinne ich.«

»Um was wollen wir wetten?«

»Wenn ich gewinne, bekomme ich einen Kuss.«

»Vergiss es! Ich kenne dich ja kaum«, lehnte Dési entrüstet ab. Um Schwung zu holen, beugte sie sich weit nach hinten.

Joshua lachte sie aus.

»Hey, kleines Mädchen, das war kein Heiratsantrag. Es geht um einen Kuss, nicht um dein Leben.«

Am höchsten Punkt stieß Dési sich ab. Joshua folgte ihr. Beide landeten sicher im weichen Sand.

»Ich habe gewonnen.« Dési drehte sich zu ihm um und stemmte die Hände in die Hüften. »Und nur, weil ich dich nicht küssen will, bin ich noch lange kein kleines Mädchen. Schon mal drüber nachgedacht, dass du nicht so toll bist, wie du denkst?«

Joshua stand mit offenem Mund vor ihr. Um Zeit zu gewinnen, angelte er seinen Hut aus dem Sand und klopfte ihn aus.

»Jetzt hast du es mir aber gegeben.« Er meinte es ernst. »Du gibt mir einfach das Gefühl, dass ich toll bin. Das denke ich sonst nicht. Ganz im Gegenteil.« Er setzte den Hut auf, drehte sich um und ging.

Désirée erschrak.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen«, rief sie ihm nach und beeilte sich, ihm zu folgen.

»Schon gut«, winkte er ab.

»Jetzt bleib doch mal stehen, kleiner Junge!«, verlangte sie energisch.

Joshua lachte traurig, tat ihr aber den Gefallen. Als sie vor ihm stand, kratzte er verlegen mit der Schuhspitze im Kies.

»Warum hast du das gerade gesagt? Dass du nicht denkst, dass du toll bist?«

Joshua zuckte mit den Schultern.

»Weil es so ist. Der tolle Hecht im Teich ist mein Vater. Ich werde nie so sein wie er.« Langsam ging er weiter.

Dési schlenderte neben ihm her.

»Hat er das gesagt?«

Joshua schüttelte den Kopf.

»Das würde er nie tun. Aber ich weiß, dass ich eine einzige Enttäuschung für Papa bin. In der Schule schreibe ich schlechte Noten und statt zu lernen spiele ich lieber Theater.« Er blieb stehen, schob den Hut schief auf den Kopf und wandte sich Dési zu. Mit seiner Miene veränderte sich seine Stimme, als er zitierte: »Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang, sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort. Glaub, Liebe, mir: Es war die Nachtigall.«

Ein Kreischen und erbostes Schnattern, gefolgt von ärgerlichem Flügelschlagen störte seine Darbietung. Bei aller Bewunderung musste Dési kichern.

»Das war keine Nachtigall. Das war eine Ente.«

Joshua seufzte und rückte den Hut wieder gerade.

»Siehst du! Du nimmst mich auch nicht ernst.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und wandte sich ab.

»Komm schon, sei keine Mimose!« Dési rüttelte an seiner Schulter. »Das war wirklich gut. Dein Dad kann stolz auf dich sein«, erklärte sie leidenschaftlich.

Joshua schnitt eine Grimasse.

»Dummerweise habe ich diese Begabung von meiner Mutter geerbt. Sie hat uns verlassen, als ich sechs Jahre alt war, um Karriere zu machen auf den Brettern, die die Welt bedeuten.«

»Oh.« Dési biss sich auf die Unterlippe. »Das tut mir leid.«

»Schon gut.« Joshua winkte ab. »Das konntest du ja nicht wissen.«

Die Insel war klein, und sie hatten das Hotel wieder erreicht. Wie auf Kommando blieben beide ein Stück vom Eingang entfernt stehen.

»Ich finde es jedenfalls toll, dass ich dich getroffen habe.« Es war ein kläglicher Versuch von Dési, ihren Fauxpas wiedergutzumachen.

Glücklicherweise war Joshua nicht nachtragend.

»Echt? Auch wenn ich so schrecklich eingebildet bin?«, fragte er scherzend.

»Das werde ich dir schon noch austreiben«, lachte Dési vergnügt auf. »Zieh dich warm an! Ich habe drei Brüder und bin in Übung.«

Die Botschaft hinter ihren Worten interessierte ihn.

»Heißt das, wir sehen uns wieder?«

Dési dachte kurz nach. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Als sie sich voneinander lösten, sah Joshua sie mit gespielter Empörung an.

»Na, hör mal! Du kannst mich doch nicht einfach so küssen. Ich kenne dich ja kaum«, erklärte er so ernst wie möglich.

»Du stellst dich an wie ein kleiner Junge! Das war ein Kuss und kein Heiratsantrag«, konterte Dési, und gleich darauf hallte das fröhliche Lachen der beiden jungen Leute über die Wiesen bis hinaus zum See.

*

Tief in Gedanken war Matthias in den Aufenthaltsraum zurückgekehrt. Er setzte sich an den Schreibtisch in der Ecke und griff nach dem Telefonhörer.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, entschuldigte er sich, als Dr. Norden nach dem ersten Klingeln an den Apparat ging. »Aber ich hatte solche Sehnsucht nach dir.«

Ganz im Gegensatz zu meiner Frau!, ging es Daniel durch den Sinn.

»Schön, das zu hören.« Er unterdrückte ein Seufzen und lehnte sich auf der Couch zurück. »Allerdings fürchte ich, dass das nur die halbe Wahrheit bist.«

»Du hast mich durchschaut.« Matthias wickelte die Telefonschnur um den Finger. »Stell dir vor, Jutta Dehmel wurde vor etwa einer Stunde eingeliefert. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um sie.«

Diese Nachricht überraschte Daniel.

»Wir haben doch vor dem Essen über sie gesprochen. Was fehlt ihr?«

»Sie leidet unter Tachykardien und anhaltendem Bluthochdruck.«

Daniel richtete sich auf.

»Wie schätzt du ihren Gesamtzustand ein?«

»Auf jeden Fall schlechter als vor einem Jahr nach dem Apoplex. Damals waren wir optimistisch, dass sie wieder laufen wird und ohne größere Einschränkungen leben kann. Das hat sich leider nicht bestätigt«, berichtete er. »Ich habe mich vorhin mit ihrem Mann unterhalten. Seit einem Jahr bemüht er sich offenbar um seine Frau, versucht, sie anzutreiben. Vergeblich. Jetzt ist er mit seiner Kraft am Ende und denkt an Trennung.«

»Und Jutta?«

»Noch weiß sie nichts davon. Es ist die Frage, wie sie diese Neuigkeit in ihrem Zustand verkraften wird.«

»Das könnte aber auch daran liegen, dass sie einen recht ungepflegten Eindruck macht.«

»Das klingt nach einer ausgewachsenen Depression«, stellte Daniel fest.

»Dazu passt, dass sie offenbar trinkt.«

Diese Neuigkeiten waren tatsächlich ein Grund zur Sorge.

»Alkohol und Depressionen sind ein fatales Tandem. Was hast du jetzt vor?«

»Das wollte ich gerade dich fragen.«

»Denkst du, es hilft, wenn ich mit ihr rede?«

Matthias Weigand wiegte den Kopf.

»Einen Versuch ist es zumindest wert.«

In diesem Moment gab es keinen Grund mehr zu zögern.

»Gut, dann komme ich«, erklärte Daniel und stand auf. Den Hörer am Ohr, brachte er die leere Bierflasche in die Küche.

»Jetzt noch?« Matthias sah auf die Uhr. »Es ist nach neun.«

»Ich habe heute nichts mehr vor und werde auch nicht vermisst. Da kann ich auch genauso gut wieder in die Klinik kommen.«

Matthias zuckte mit den Schultern und wickelte das Telefonkabel vom Finger ab.

»Wie du willst. Ich freue mich jedenfalls, dich wiederzusehen.«

Wenigstens einer!, ging es Daniel durch den Sinn. Doch er hütete sich davor, diesen Satz laut auszusprechen. Er wusste selbst, dass er maßlos übertrieb. Doch gegen Gefühle anzukämpfen, war eine der schwierigsten Übungen und die Arbeit eine willkommene Ablenkung.

*

»Wo brennt es denn, Frau Dehmel?«, erkundigte sich Schwester Elena betont fröhlich, als sie das Zimmer der Patientin betrat und das Signal löschte, das draußen aufgeleuchtet hatte.

»Ich muss ins Bad«, verlangte Jutta.

Elena blieb an der Tür stehen. Matthias Weigand hatte ihr die Anweisung gegeben, der Patientin nur so viel wie unbedingt nötig zu helfen. Elektroden und Tropf waren inzwischen entfernt, sodass Jutta ihre volle Bewegungsfreiheit zurückbekommen hatte. Demonstrativ verschränkte Elena die Arme vor dem Oberkörper.

»Und warum gehen Sie dann nicht?«

Jutta schnaubte empört.

»Arbeiten auf dieser Station nur Spaßvögel?« Ihre Stimme war schrill. »Sie sehen doch, dass ich gelähmt bin.« Wie zum Beweis schlug sie die Decke zurück. »Können Sie mir mal verraten, wie ich mit diesem Bein auf die Toilette kommen soll?«

»Nun, es gibt Menschen, die viel schlechter dran sind als Sie, aber trotzdem viel mehr können.«

»Was wollen Sie mir damit sagen?« Juttas Augen waren schmal vor Argwohn.

»Dass es Ihnen am Willen mangelt. Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Ohne Willen keine Energie. Ohne Energie kein Training.«

»Sie finden sich wohl sehr schlau. Ich habe Sie gerufen, damit Sie mir helfen. Und nicht, damit Sie mir Vorträge halten.«

Doch Schwester Elena war weiter denn je davon entfernt, auch nur einen Millimeter auf die Patientin zuzugehen. Sie zuckte nur mit den Schultern und schwieg.

Allmählich wurde Jutta wütend.

»Wenn Sie das Bett nicht frisch beziehen wollen, sollten Sie mir jetzt helfen.«

»Tut mir leid!« Elena schüttelte den Kopf und machte Anstalten zu gehen, als Jutta die Beine doch noch aus dem Bett schwang. Sie zog den Rollstuhl zu sich heran und hievte sich mit einer gekonnten Bewegung auf die Sitzfläche.

»Na bitte. Geht doch.« Diesen Kommentar konnte sich Schwester Elena nicht verkneifen.

Während Jutta beleidigt ins Bad rollte, verließ sie das Zimmer in der Hoffnung, den Lebenswillen der störrischen Patientin wenigstens ein bisschen geweckt zu haben.

*

»Was ist mit Ihnen, Felicitas?«, erkundigte sich Adrian Wiesenstein sichtlich besorgt. Er hatte sich auf ein entspanntes Abendessen mit einer schönen Frau und angeregten Gesprächen gefreut. Stattdessen war seine Begleiterin während des Abendessens einsilbig und in sich gekehrt. »Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«

Wie ertappt zuckte Fee zusammen.

»Alles in Ordnung«, versicherte sie schnell und betupfte die Lippen mit der Serviette. »Warum fragen Sie?«

»Weil Sie wie ausgewechselt sind. Bei unserem kleinen Spaziergang waren Sie gut gelaunt und fröhlich.« Er hob sein Glas und sah sie über den Rand hinweg fragend an. »Und jetzt wirken Sie wie ausgewechselt. Wenn ich Ihnen mit einer unbedachten Bemerkung zu nahe getreten sein sollte, tut es mir leid.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, trank er einen Schluck Wein.

Erschrocken verneinte Felicitas. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihren charmanten Tischherrn vor den Kopf zu stoßen. Den ganzen Abend dachte sie schon darüber nach, wie sie mit dem Verdacht ihres Mannes umgehen sollte, und sie hatte keine Lösung gefunden. Bis jetzt.

»Es tut mir leid. Ich bin eine schlechte Schauspielerin.« Alkohol und Verlegenheit waren für ihre zartrosa Wangen verantwortlich, die ihr den Anschein eines verlegenen jungen Mädchens gaben. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Begegnung bedauerte Adrian, dass sie vergeben war. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, ließ sein Herz schneller schlagen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Alles, was Sie wollen«, erwiderte er heiser.

Fee drehte ihr Glas in den Händen.

»Fanden Sie die Idee mit dem Gesundheitszentrum eigentlich genauso gut wie ich?«

»Wie bitte?« Adrian musterte sie so verwirrt, dass sie augenblicklich von seiner Unschuld überzeugt war.

Ein Stein fiel ihr vom Herzen, und zum ersten Mal seit einer Stunde war ihr Lächeln wieder echt.

»Das Gesundheitszentrum, in das die Behnisch-Klinik integriert werden sollte. Ich finde, dass das eine großartige Chance für uns alle gewesen wäre.« Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen.

»Ehrlich gesagt habe ich immer noch keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Tut mir leid«, erwiderte Fee in gespieltem Bedauern. »Ich dachte, Dieter Fuchs hätte mit Ihnen darüber geredet.«

»Ich kenne diesen Fuchs überhaupt nicht«, gestand Adrian. Er freute sich sichtlich darüber, dass Felicitas endlich wieder auftaute. »Was ist er denn für ein Typ?«

»Machen Sie sich selbst ein Bild«, empfahl Fee. Mit einem Mal fühlte sie sich frei und leicht wie eine Feder. Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen. »Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, sich in der Behnisch-Klinik zu bewerben?«, wechselte sie rasch das Thema.

Adrian lehnte sich zurück. Sein wohlwollender Blick ruhte auf Felicitas.

»Verraten Sie mir lieber, welcher Arzt nicht in dieser Klinik arbeiten will. Modernste Geräte, fortschrittliche Behandlungsmethoden, Fortbildungsmöglichkeiten, ein gutes Arbeitsklima«, zählte er ein Argument nach dem anderen auf, das über die Behnisch-Klinik im Umlauf war. »Mal abgesehen von Ihrem Mann, der sich einen Namen als herausragender Diagnostiker gemacht hat.« Sein Lächeln wurde tiefer. »Wer aber meiner Ansicht nach noch viel mehr Beachtung verdient hat, ist die Chefin der Pädiatrie.« Seine Stimme war tief und weich. »Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen hier sitzen zu dürfen. Dieses Glück haben sicher nicht viele Männer.«

Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass das Kompliment eines Mannes Fee verlegen gemacht hatte.

»Mein Mann würde sagen, dass Sie einen guten Geschmack haben.« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.

»Und was sagen Sie?«

»Dass ich mich jetzt leider von Ihnen verabschieden muss.« Felicitas leerte ihr Glas in einem letzten Zug. Sie stellte es zurück auf den Tisch, griff nach ihrer kleinen Tasche und stand auf. »Vielen Dank für den schönen Abend. Es tut mir leid, dass ich vorhin so schweigsam war.«

Auch Adrian war aufgestanden und knöpfte das Sakko zu.

»Und mir tut es leid, dass Sie schon gehen.«

»Wir sind heute erst angereist und Massage und Sauna haben mich müde gemacht.« Sie reichte ihm die Hand. »Übrigens kommt mein Mann morgen Abend zum Essen. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten würden.«

Die Enttäuschung verdüsterte sein Lächeln wie eine Wolke, die sich vor die Sonne schob. Doch Adrian war kein Junge mehr und wusste, wann er sich geschlagen geben musste.

»Mit dem allergrößten Vergnügen.« Er beugte sich über Fees Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Sein bedauernder Blick folgte ihr, bis sie aus dem Restaurant trat und mit einem Winken um die Ecke verschwand.

*

Das Licht am Bett brannte. Jutta lag mit weit geöffneten Augen im Bett und starrte auf die Wand gegenüber. Sie reagierte nicht auf das Klopfen und wandte auch nicht den Kopf, als Daniel Norden leise die Tür öffnete.

»Guten Abend, Frau Dehmel«, begrüßte er sie und trat ans Bett.

Noch immer bekam er keine Reaktion.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Haben Sie keine Augen im Kopf?« Das war zwar nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte, aber immerhin besser als nichts.

Ihm fiel auf, wie gereizt Juttas Stimme war. Er zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich.

»Natürlich habe ich Augen im Kopf. Und ich sehe eine Frau, die jeden Lebenswillen verloren hat.«

»Na und? Was geht Sie das an?«

»Ich bin der Chef dieser Klinik. Es ist meine Pflicht und Berufung, Menschen gesund zu machen. Deshalb sind auch Sie hier. Um gesund zu werden.«

»Ich bin hier, weil meine Schwester mich hergebracht hat«, erwiderte Jutta mit einem Anflug von Trotz.

Daniel unterdrückte ein Seufzen. Er beugte sich vor und sah seine Patientin durchdringend an.

»Frau Dehmel, Sie haben eine Familie, die Sie liebt und braucht«, erklärte er eindringlich.

Jutta erwiderte seinen Blick. Daniel erschrak, als er die Leere darin sah.

»Für meine Familie bin ich eine tickende Zeitbombe. Sie warten nur auf den Knall und darauf, dass alles vorbei ist.«

Daniel Norden saß vornübergebeugt auf dem Stuhl und betrachtete seine ineinander verschränkten Hände. Er dachte angestrengt nach.

»Was ist eigentlich mit Ihnen los, Frau Dehmel?«, fragte er schließlich. »Ihr Körper hat Ihnen gezeigt, dass Sie so nicht weitermachen können. Wenn Sie jetzt nicht die Reißleine ziehen, explodiert die Bombe schneller, als Ihnen lieb ist.«

Juttas Mund verzog sich zu einem Lachen. Doch kein Ton kam heraus. Es war gespenstisch.

»Vielleicht warte ich ja nur darauf, dass es endlich vorbei ist. Mein Mann wird bald eine andere Frau haben, die ihn in jeder Hinsicht glücklich machen kann.« Ihre Miene war verächtlich. »Ich mache nur den Weg frei für das junge Glück.«

»Nehmen Sie doch bitte Vernunft an! So weit ich das zu diesem Zeitpunkt beurteilen kann, ist Ihr Defekt psychischer Natur. Nicht körperlich.«

Jutta verzog das Gesicht.

»Sie erwarten jetzt aber nicht von mir, dass ich auf mein Mountainbike steige und auf den Rauschberg fahre.«

Daniel Norden kannte den Berg im Chiemgau vom Hörensagen. Doch daran dachte er im Augenblick nicht. Stattdessen dachte er über eine Strategie nach, den Panzer zu knacken, in den sich Jutta eingeschlossen hatte.

»Wenn Sie mit allen Menschen, die Ihnen helfen wollen, so sprechen, dann wundert mich gar nichts mehr«, erwiderte er kühl. »Glauben Sie wirklich, Sie sind die einzige Frau auf der Welt, die ein Problem hat?«

Jutta machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten. Mal abgesehen davon, dass mich andere Menschen nicht mehr interessieren. Ich habe genug mit mir selbst zu tun. Was ist denn übrig von mir?« Mit einem ärgerlichen Ruck zog sie die Bettdecke weg. »Sehen sie mich doch an! Das war mal ein sportlicher, begehrenswerter Körper. Und jetzt? Wollen Sie mal anfassen? Nein? Na, sehen sie. Das will ich meinem Mann nicht zumuten.«

Bei allem Verständnis für Juttas Situation verlor Daniel Norden allmählich die Geduld.

»Sind Sie wirklich so oberflächlich?« Er machte keinen Hehl aus seinem Ärger. »Merken Sie nicht, dass Sie Menschen mit in den Abgrund ziehen, die Sie lieben? Vielleicht denken Sie darüber nach, wenn Sie wieder einmal betrunken im Selbstmitleid versinken.« Er erhob sich und stellte den Stuhl zurück an den Tisch am Fenster. Auf dem Rückweg blieb er noch einmal vor ihr stehen. »Frau Dehmel, Sie sind krank. Und zwar nicht körperlich, sondern seelisch. Wenn Sie nicht alles zerstören wollen, was Ihnen lieb und teuer ist, müssen Sie eine Therapie machen.« Damit wandte er sich ab. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, sich der überraschten Blicke in seinem Rücken wohlbewusst.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Das Gespräch hatte die Sehnsucht nach seiner Frau ins Unermessliche wachsen lassen. Er warf ein Blick auf das Display und erschrak. Es zeigte drei Anrufe in Abwesenheit an.

*

»Drei Anrufe in Abwesenheit!«, stellte auch Sophie Petzold fest, als sie am nächsten Morgen das Mobiltelefon einschaltete. »Alle von Bastian.« Sie wuschelte durch die kinnlangen Locken, schälte sich aus der Bettdecke und schlurfte hinüber ins Bad. Zwanzig Minuten später machte sie sich auf den Weg in die Klinik. Ein feiner Regen fiel aus dem Himmel. Menschen mit mürrischen Gesichtern unter grauen und schwarzen Regenschirmen eilten durch die Straßen. Das Wetter passte perfekt zu Sophies Stimmung. Sie war froh, dass sie in der Klinik keinem bekannten Gesicht begegnete. Im Aufenthaltsraum zog sie sich um, sperrte ihre Sachen in den Spind und ging auf direktem Weg zu Bastian. Die Nachrichten, die er auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf.

»Guten Morgen, Basti«, begrüßte sie ihn.

Trotz der frühen Stunde saß er fix und fertig angezogen am Tisch am Fenster.

»Sophie! Wie schön, dich zu sehen.« Er freute sich sichtlich über ihren Besuch.

Im Gegensatz dazu wusste Sophie nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. An diesem Morgen ließ sie ihr Selbstbewusstsein kläglich im Stich.

»Was soll das, Basti?«, fragte sie ihn, die Hände in den Kitteltaschen vergraben. »Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, Jutta ausgerechnet jetzt zu verlassen?«

Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. Er wandte sich ab und starrte wieder hinab in den Klinikpark. Selbst die Blüten versteckten sich vor dem Regen.

»Ich weiß, dass es so aussieht, als würde ich sie im Stich lassen«, murmelte er. »Aber was soll ich denn machen? Ich kann Jutta nicht helfen. Und wer weiß, vielleicht geht es ihr ja ohne mich besser. Wenn ich ihr nicht mehr helfe, sieht sie vielleicht ein, dass sie unbedingt eine Therapie braucht.« Sein hoffnungsloser Blick traf Sophie. »Gib mir einen Rat!«

Sophie zögerte, ehe sie sich zu ihm an den Tisch setzte. Sie war sich ihrer Macht bewusst. Ein Wort, und sie hätte die Genugtuung bekommen, nach der sie sich in all den Jahren gesehnt hatte.

»Ich bin Ärztin. Und in dieser Eigenschaft muss ich dich darauf hinweisen, dass du jetzt besonders für Jutta da sein musst.«

»Und als Frau?«, entfuhr es Bastian.

Sophie senkte den Blick und betrachtete ihre Hände, die nebeneinander auf der Tischplatte lagen. Sie dachte noch über eine Antwort nach, als sie spürte, wie Basti seine Hände auf die ihren legte.

»Als die Frau, die mich einmal geliebt hat«, fügte er hinzu und suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen. »Hast du manchmal darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn wir uns nicht getrennt hätten?«

Sophie lachte bitter.

»Das habe ich in der Tat.« Sie sah ihm in die Augen. »Wir hätten uns längst nichts mehr zu sagen. Ich bin mit Leib und Seele Ärztin und habe noch viel vor in meinem Berufsleben. Und du hast dein Mountainbike mehr geliebt als mich. Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre nicht gut gegangen. Damals wie heute nicht. Wir waren schon immer zu verschieden.«

Das war nicht die Antwort, auf die Bastian gehofft hatte. Er zog Sophies Hände an die Stirn und schloss die Augen. Einen Moment lang stellte er sich vor, sie hätte sich anders entschieden.

»Du musst jetzt für Jutta da sein!«, wiederholte sie. »Auch wenn ihr euch später entschließt, euch zu trennen. Wenn du sie jetzt verlässt, könnte es sein, dass sie stirbt.«

Widerwillig kehrte Bastian zurück in die Wirklichkeit.

»Du warst schon immer viel rationaler als ich.« Er lächelte schmerzlich.

Sophie war hin und her gerissen.

»Das stimmt doch gar nicht. Aber du musst zuerst eine Sache abschließen, bevor du eine neue anfangen kannst.«

Er zog ihre Hände an seine Lippen und küsste sie. Sophie atmete auf, als es an der Tür klopfte. Schnell zog sie ihre Hände zurück und stand auf.

»Ja bitte?«

Schwester Laura steckte den Kopf ins Zimmer.

»Guten Morgen«, grüßte sie die beiden, ehe sie zu Basti hinübersah. »Ihre Frau möchte Sie sprechen.«

Bastian tauschte einen Blick mit Sophie. Sie nickte ihm aufmunternd zu. Nur mit Mühe gelang es ihm, ein Seufzen zu unterdrücken.

»Sagen Sie Jutta bitte, dass ich gleich komme«, bat er die Schwester.

Er hatte keine Ahnung, wie er sich entscheiden sollte.

*

»Oh, schade!« Enttäuscht blickte Fee aus dem Fenster. Die Grenze zwischen Himmel und Wasser verschwamm zu einem einheitlichen Grau.

Dési war hinter ihre Mutter getreten und sah ihr über die Schulter.

»Da fällt die Fahrt mit der Elektrojacht buchstäblich ins Wasser.« Sie kicherte.

Verwundert drehte sich Fee zu ihr um.

»Das scheint dich ja sehr traurig zu machen.«

Dési gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Nicht böse sein, Mamilein. Ich habe trotzdem gute Laune.«

Auf Zehenspitzen tänzelte sie durch das Zimmer hinüber ins Bad.

Felicitas sah ihr nach.

»Lass mich raten. Könnte daran deine neue Bekanntschaft schuld sein?«

»Vielleicht«, erwiderte Dési viel­sagend. Eine Weile war nur ihr fröhliches Summen zu hören. Hin und wieder verriet ein Klingeln, dass sie eine Nachricht auf dem Mobiltelefon erhalten hatte. Schließlich tauchte sie wieder aus dem Bad auf. Fee hatte sich inzwischen angezogen und war bereit, zum Frühstück zu gehen. »Sag mal, macht es dir was aus, wenn ich mit Joshua nach dem Frühstück rüber nach Prien fahre? Dann hast du mal deine Ruhe und kannst richtig ausspannen.«

Felicitas schmunzelte.

»Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll von dir. Was habt ihr denn vor bei dem Wetter?« Sie winkte ab. »Oh, entschuldige, ich vergaß, dass für frisch Verliebte immer die Sonne scheint.«

»Ich bin nicht verliebt in Joshua«, setzte sich Dési empört zur Wehr. »Ich kenne ihn ja kaum.«

»Das scheint die Schmetterlinge aber nicht vom Tanzen abzuhalten.« Felicitas hielt ihr die Tür auf, und gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg zum Frühstück.

Das Büfett war überwältigend. Duftende Backwaren warteten neben frischem Obst, Käseplatten und warmen und kalten kleinen Gerichten auf die hungrigen Gäste. Trotzdem begnügte sich Dési mit einem Mini-Croissant.

»Jammerschade. Aber ich habe einfach keinen Hunger.«

Diesmal sparte sich Felicitas einen Kommentar. Sie lächelte still vor sich hin und ließ sich Lachs, Rühreier und Müsli schmecken. Dési dagegen zappelte auf ihrem Stuhl herum. Immer wieder sah sie sich um. Fee tat so, als bemerke sie nichts. Sie verstrickte ihre Tochter in ein Gespräch, plauderte munter über dies und das, bis sie Désis Miene ansah, dass das Objekt der Begierde aufgetaucht war. Sie beugte sich über den Tisch.

»Ist er das?«, fragte sie leise.

Dési folgte dem Blick ihrer Mutter und nickte.

»Das ist Joshua.«

»Doch, der hätte mir als jungem Mädchen auch gefallen.« Wohlwollend musterte Fee den jungen Mann mit den verstrubbelten Haaren, den noch weichen Gesichtszügen und den warmen braunen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte. In ein paar Jahren würde er ein gut aussehender Mann sein, so viel war sicher. Sein Lächeln war von bestechender Natürlichkeit, als er an den Tisch trat. Artig stellte er sich vor und machte Fee ein Kompliment.

»Bist du so weit?«, wandte er sich an Dési. »Hast du deine Regenjacke dabei?« Einen weiteren Pluspunkt sammelte er, als er Dési in die Jacke half.

Fee beschloss, sich keine Sorgen zu machen, und sah den beiden nach, wie sie übermütig lachend und sich gegenseitig neckend aus dem Restaurant verschwanden. Unwillkürlich musste sie an ihre eigene Jugend denken, daran, wie Daniel und sie noch frisch verliebt gewesen waren.

»Hübsch, die beiden, finden Sie nicht?« Adrian Wiesensteins Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Wenn aus uns beiden schon kein Paar wird, dann kann ja wenigstens die Jugend ihr Glück versuchen.«

»Adrian!« Lächelnd machte sie eine einladende Handbewegung. »Setzen Sie sich.«

Nur zu gern nahm er ihre Einladung an.

»Fühlen Sie sich auch ein bisschen verwaist?«, fragte er.

»Ganz so schlimm ist es nicht. Dési hat drei ältere Geschwister und einen Zwillingsbruder. Inzwischen habe ich mich an diese Abschiede gewöhnt.«

»Fünf Kinder? Alle Achtung.« Adrian war sichtlich beeindruckt. »Ich bin schon froh, wenn ich mit einem Bengel fertig werde.«

»Ich finde, das haben Sie bis jetzt sehr gut hinbekommen. Ich kenne nicht viele junge Männer, die so gut erzogen sind.«

»Das war ein hartes Stück Arbeit, das können Sie mir glauben.« Adrian zwinkerte ihr vergnügt zu. »Mal abgesehen davon, dass er jede Menge Flausen im Kopf hat und auch ganz anders kann, wenn wir unter uns sind. Aber das muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht erzählen.«

Fee lachte. Sie wusste genau, wovon er sprach, und ließ sich nur zu gern auf dieses Gespräch ein. Für sie gab es kaum Schöneres, als von ihrer Familie zu erzählen. Adrian lauschte ihren Geschichten mit Bewunderung und einem Hauch von Wehmut darüber, dass ihm ein solches Glück nicht vergönnt gewesen war.

*

Während seine Frau am Frühstückstisch saß und sich angeregt unterhielt, war Daniel Norden trotz des Wochenendes wieder in den Klinikalltag eingetaucht. Anders als an städtischen Häusern wurden in der Privatklinik Dr. Behnisch die Patienten an jedem Tag der Woche gleich gut behandelt und betreut. An diesem Morgen saß er mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ am Tisch, als die Kollegin Lekutat hereinschneite.

»Hier würde ich gern mit Ihnen tauschen.« Sie hielt den OP-Plan in der Hand und wedelte damit vor der Nase des Chefs herum. Sie hatte ihn vorhin von Schwester Elena bekommen und war ganz und gar nicht damit einverstanden.

»Wenn Sie still halten, kann ich auch die Uhrzeit erkennen«, bemerkte Daniel. Er hielt ihr Handgelenk fest und studierte die Planung für die kommende Woche. »Meinetwegen. Dafür bekomme ich Frau Petzold aber hier als OP-Assistenz.«

In diesem Moment betrat Sophie das Zimmer. Sie war so still und in sich gekehrt, wie niemand in der Klinik sie bisher erlebt hatte.

»Operieren Sie lieber mit mir oder mit der Kollegin Lekutat?«, sprach Daniel die junge Assistenzärztin scherzhaft an.

Das innige Telefonat, das er am Abend noch mit seiner Frau geführt hatte, trug ihn auch noch an diesem tristen Morgen.

»Operieren nennen Sie das, was Sie da tun?«, platzte Dr. Lekutat wieder einmal vorlaut heraus. Diesmal bemerkte sie ausnahmsweise, dass sie zu weit gegangen war. »Nichts für ungut«, murmelte sie eine Entschuldigung und floh aus dem Zimmer.

Sophie bleib allein mit dem Klinikchef zurück. Ohne ein Lächeln auf den Lippen ging sie durch das Zimmer und ließ sich auf einen der Stühle am Tisch fallen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Daniel irritiert.

»Nein. Nein, überhaupt nicht.« Sie machte einen so verstörten Eindruck, dass sich Daniel zu ihr setzte.

»Was ist passiert?«

»Ich war gerade bei Bastian Dehmel.« Sie hob die Augen und sah ihren Chef an. »Er will sich von seiner Frau trennen.«

Daniel nickte bekümmert.

»Das habe ich auch schon gehört. Und ehrlich gesagt kann ich ihn recht gut verstehen.«

»Wie bitte?« Sophie Petzold war sichtlich erstaunt, solche ­Worte aus dem Mund ihres Chefs zu hören. »Wie können Sie so etwas sagen? Das könnte ihren Tod bedeuten.«

»Im Grunde genommen bin ich derselben Meinung wie Sie.« Daniel zerpflückte sein Croissant und steckte ein Stück in den Mund. »Aber ich war gestern Abend noch einmal in der Klinik, um Frau Dehmel ins Gewissen zu reden.«

»Und?«

»Sie will einfach nicht einsehen, dass ihr nur noch eine Therapie helfen kann.« Nachdenklich schob er in weiteres Stück Blätterteig in den Mund und trank einen Schluck Kaffee.

»Und was haben Sie jetzt vor?«, fragte Sophie.

»Was sollte ich vorhaben? Soll ich Frau Dehmel mit vorgehaltener Pistole zu ihrem Glück zwingen? Oder was genau stellen Sie sich vor?«

Sophie sprang von ihrem Stuhl auf.

»Wenn Sie sich immer so schnell ins Bockshorn jagen lassen, wundert mich, wie Sie Klinikchef geworden sind«, schimpfte sie.

Unwillig schüttelte Dr. Norden den Kopf.

»Frau Dehmel ist eine erwachsene Frau, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Sie ist Herrin ihrer Entscheidungen. Wenn sie keine Therapie macht und weiter trinkt, wird sie sterben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Darüber ist sie aufgeklärt. Mehr können wir nicht für sie tun«, erklärte er streng. »Deshalb kehren wir jetzt an unsere Arbeit zurück und helfen den Patienten, die unsere Hilfe gern annehmen.« Er steckte den letzten Rest Croissant in den Mund, leerte seine Kaffeetasse und stand auf. Er machte eine Handbewegung, als wollte er ein paar Hühner aus dem Stall scheuchen.

So blieb Sophie nichts anderes übrig, als ihrem Chef zu gehorchen und sich an die Arbeit zu machen. Das war nicht die schlechteste Lösung, um die quälenden Gedanken wenigstens für eine Zeit lang loszuwerden, wie sie bald darauf feststellte.

*

»Vorsicht, Stufe!« Das Boot legte in Prien am Chiemsee an. Joshua reichte seiner Begleiterin die Hand.

Leichtfüßig sprang Dési vom Schiff und warf einen Blick in den Himmel. Der Regen hatte aufgehört, und hier und da klaffte eine Lücke in der Wolkendecke.

»Wenn Engel reisen, dann lacht der Himmel.«

»Das passt perfekt zu meinem Plan«, verriet Joshua und lief los, ohne ihre Hand loszulassen.

»Was hast du vor?« Sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Das war nicht ganz einfach, denn er war fast einen Kopf größer als sie, und seine Beine waren entsprechend länger.

»Ich muss dir doch was bieten.« Seine Augen blitzten vor Vergnügen. »Nicht, dass du heute Abend einer Mum erzählst, was für ein langweiliger Knochen ich bin.«

»Dann bin ich ja mal gespannt, was du mit mir vorhast.«

»Das wirst du gleich erfahren.« Wenig später machte Joshua vor einem Haus Halt, über dessen Eingang ein Schild prangte. ›Berger’s Roller und Motorräder‹, stand in leuchtend orangefarbenen Lettern darauf. »Sieh mal!«, machte Joshua seine Begleiterin aufmerksam.

»Ich weiß auch nicht, warum die Leute so was mit Apostroph schreiben. Da muss gar keines hin.« Der Rechtschreibfehler war ihr sofort ins Auge gestochen.

Joshua lachte.

»Das meinte ich nicht.«

In diesem Moment ging Dési ein Licht auf.

»Du willst Motorrad fahren?«, fragte sie entgeistert.

»Roller. Ich habe nur einen 125er Führerschein. Bist du schon einmal gefahren?«

Dési schüttelte den Kopf.

»Nein. Noch nie.«

»Dann haben wir eine Premiere.« Er griff wieder nach ihrer Hand und ging mir ihr ins Geschäft. Ganz offensichtlich machte er so etwas nicht zum ersten Mal. Die Formalitäten waren schnell erledigt. Dési bekam einen Helm in die Hand gedrückt und fand sich zwanzig Minuten später vor einem feuerroten Roller wieder.

»Vom Motorrad aus die Berge vorbeirauschen sehen. Das wollte ich dir unbedingt zeigen. Komm.« Joshua stülpte ihr den Helm auf den Kopf und zog den Verschluss fest.

Dési hatte noch tausend Fragen auf dem Herzen. Doch sie war viel zu aufgeregt, um sie zu stellen. Mit großen Augen sah sie dabei zu, wie sich Joshua auf den Roller schwang. Sie setzte sich hinter ihm. Der Motor schnurrte. Sie bogen auf die Hauptstraße ab und ließen die Stadt bald hinter sich. Dési klammerte sich an ihm fest. Inzwischen war ihr ein Licht aufgegangen.

»Deshalb wolltest du mit mir Motorrad fahren«, rief sie ihm zu. Der Wind trug ihr die Worte aus dem Mund.

Joshua lachte übermütig.

»Vielleicht.« Er bog in eine kleine Bergstraße ein. Dort gab er Gas.

Das Gesicht an seinen Rücken gedrückt, die Beine gegen seine gepresst und die Arme um seinen Körper geschlungen, klammerte sich Dési an ihm fest. Sie wusste nicht, ob sie vor Angst oder Aufregung zitterte. Doch in einem hatte er recht: Die Berge vorbeirauschen zu sehen, den Fahrtwind im Gesicht, die frische Luft in der Nase, war ein besonderes Erlebnis, das sie nie vergessen würde. Langsam löste sich ihre Verkrampfung und sie fing an, die Bewegung und das Tempo zu genießen.

»Alles in Ordnung?«, rief er ihr über die Schulter zu.

»Alles okay!«, erwiderte sie und lockerte ihren Klammergriff ein wenig.

»Viel besser!«, lobte er sie. »Entspann dich! Aber geh nicht zu weit weg von mir.«

Es war viel zu aufregend, um sich zu entspannen. Sie hatten die Passhöhe erreicht. Jetzt ging die rauschende Fahrt bergab, direkt auf den Horizont zu. Auf einmal bockte der Roller, und Désis Herz setzte aus. Das Gefährt schlingerte quer über die Straße. Joshua fluchte. Bevor seine Beifahrerin vollends in Ohnmacht fiel, wurde das Gefälle sanfter. Er lenkte den Roller ins Gras am Straßenrand und ließ die Füße über den holprigen Untergrund schleifen. Der Roller wurde langsamer, schwankte und kippte schließlich um.

*

Vor Aufregung schlug Bastian Dehmels Herz hart in seiner Brust. Er stand vor dem Krankenzimmer seiner Frau und haderte mit sich. Was würde ihn dahinter erwarten? Und vor allen Dingen: Was wollte er selbst? Endlich fasste er sich ein Herz und klopfte an. Er bekam keine Antwort.

»Du wolltest mich sprechen?« Auf alles vorbereitet steckte er den Kopf ins Zimmer. Sein Herzschlag setzte aus.

»Um Gottes willen, Jutta!« Er stürzte zu seiner Frau, die vor dem Bett auf dem Boden lag. »Jutta, sag doch was! Kannst du mich hören? Jutta!« Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er sprang auf und lieg hinaus auf den Flur. »Hilfe, Schwester. Meine Frau! Warum ist denn keiner da! Hilfeeee!«

Aufgeschreckt durch den Schrei eilte Schwester Laura herbei.

»Bitte beruhigen Sie sich, Herr Dehmel. Was ist denn passiert?«

»Meine Frau«, schluchzte er haltlos. »Meine Frau liegt auf dem Boden. Sie …, sie ist …«

Schwester Laura wartete nicht darauf, bis er ausgesprochen hatte. In Windeseile machte sie sich auf den Weg. Aber sie lief nicht etwa zuerst ins Zimmer der Patientin, sondern zurück ins Schwesternzimmer, um einen Arzt zu informieren. Danach ging alles ganz schnell. Ehe Bastian begriff, was geschah, wurde Jutta in ihrem Bett an ihm vorbei geschoben und in einen freien OP gebracht. Dr. Weigand, Sophie Petzold und Schwester Elena begleiteten den Transport. Sophie war es, die den leidgeprüften Ehemann auf dem Flur bemerkte.

»Jutta hat wahrscheinlich einen zweiten Schlaganfall erlitten«, erklärte sie ihm schnell. »Ich sage dir Bescheid, sobald ich etwas weiß.« Sie schickte ihm ein hoffnungsvolles Lächeln, ehe sie hinter ihren Kollegen herlief.

Wie versteinert stand Bastian auf dem Flur und versuchte, das Gefühlschaos in sich zu ordnen.

Unterdessen griff ein Rädchen in das andere wie bei einer gut geölten Maschine. Nachdem die Diagnose gesichert war, begannen die Ärzte mit ihrer Arbeit.

»Saugen, saugen, saugen!«, befahl Dr. Weigand. Er stand am OP-Tisch und beugte sich über das Operationsfeld. »Geht das nicht schneller hier?«

»Solche Kommentare sind normalerweise meine Sache«, bemerkte Sophie.

»Nur zu. Ich will Ihnen keine Konkurrenz machen.« An den Fältchen um seinen Augen erkannte sie, dass er lächelte. »Klemme. Saugen.« Mit sicheren Handgriffen setzte er seine Arbeit fort, ohne sich von dem Gespräch ablenken zu lassen. »Wie hält sie sich?«, wandte er sich an Dr. Klaiber, der für die Anästhesie verantwortlich war.

»Sehr instabil. Eher hyperton.«

»Dann müssen Sie doch noch trepanieren«, erklärte Sophie.

»Vielen Dank für die Aufklärung. Auf so eine Idee wäre ich gar nicht gekommen.« Unwillig schüttelte Matthias den Kopf. »Das alles wäre nicht nötig, wenn Frau Dehmel besser auf sich aufgepasst hätte.«

»Hier. Sie brauchen einen Clip.« Die Assistenzärztin reichte ihn ihm.

»Warum nur fühle ich mich wie im Kindergarten? Saugen.«

Die Operationsschwester tat, was er von ihr verlangte. Die Anspannung war förmlich mit Händen greifbar. Endlich atmete Dr. Weigand auf.

»Sieht aus, als hätten wir es geschafft.«

»Blutung steht«, bestätigte Sophie Petzold.

»Wir können zumachen.« Matthias sah hinüber zu seiner Kollegin. »Das übernehme ich. Ich will endlich mal in Ruhe arbeiten, ohne mich ständig belehren zu lassen.« An seiner Stimme hörte sie, dass er es nicht ganz ernst meinte. »Sie informieren den Ehemann. Den kennen Sie ja recht gut, nicht wahr?«

Diese Spitze überging Sophie Petzold geflissentlich.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, erwiderte sie.

»Dass ich das noch erleben darf.«

Sophie schnitt eine Grimasse und verließ den Operationssaal.

Ein paar Minuten später trat sie zu Bastian, der nervös auf dem Flur auf und ab gegangen war. Er blieb abrupt stehen und sah sie mit großen Augen an.

»Und?« Seine Stimme war heiser.

Sophie blieb vor ihm stehen.

»Sie kommt durch.«

»Gott sei Dank!« Er streckte die Arme aus und zog sie an sich.

Einen Moment ließ sie ihn gewähren. Dann löste sie sich sanft aus der Umarmung.

»Was danach wird, kann man allerdings noch nicht sagen.«

Bastian nickte gedankenverloren.

»Ich muss dir was sagen, Sophie.« Es war ihm anzusehen, dass es ihm nicht leicht fiel.

»Ja?«

»Als ich hier gewartet habe, habe ich über alles nachgedacht. Über Jutta und mich und über diesen unglaublichen Zufall, dass wir beide uns ausgerechnet hier wiedergetroffen haben.« Lächelnd streckte er die Hand aus und strich Sophie eine Locke aus der Stirn. »Du bist immer noch so schön wie früher, wenn nicht sogar schöner. Trotzdem werde ich bei Jutta bleiben.«

Obwohl Sophie sich längst gegen eine Neuauflage ihrer Beziehung mit Bastian entschieden hatte, kratzten seine Worte an ihrem Selbstbewusstsein. Sie biss sich auf die Lippe, und er fuhr fort.

»Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte dich ausgenutzt, um mir über meine Gefühle für Jutta klarzuwerden. Das ist nicht so. Einen Moment lang dachte ich wirklich, es wäre ein riesiger Fehler gewesen, dich damals verlassen zu haben. Aber du hast mir vorhin die Augen geöffnet. Du hast recht. Auch ohne Jutta wären wir heute kein Paar mehr.« Bastian lächelte schmerzlich. »Aber mit ihr bin ich heute noch zusammen. Vor dem Schlaganfall war sie meine Traumfrau. Für sie habe ich so vieles auf mich genommen. Das soll nicht umsonst gewesen sein. Das verstehst du doch?« Er schickte Sophie einen hoffnungsvollen Blick.

Sie nickte und war trotz allem zutiefst gekränkt.

»Du kannst jetzt zu ihr gehen. Ich wünsche euch alles Gute!«, sagte sie, steckte die Hände in die Kitteltaschen und ging an ihm vorbei den Flur hinunter.

*

Bastian Dehmel musste sich noch viele Stunden gedulden, bis seine Frau endlich die Augen aufschlug. Endlich war es so weit. Als sie ihn erkannte, lächelte sie.

»Bastian!«

»Gott sei Dank, du kannst sprechen!« Am liebsten hätte er geweint vor Erleichterung. »Weißt du, was passiert ist?«

Jutta dachte nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Ich wollte aufstehen, um dich aufrecht zu begrüßen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Du hattest einen zweiten Schlaganfall. Wenn ich dich nicht rechtzeitig gefunden hätte …« Er konnte nicht weitersprechen.

»Es tut mir leid.« Eine einsame Träne rann über Juttas Wange.

Bastian zupfte ein Tuch aus dem Spender und tupfte sie zärtlich weg. Seit er wusste, dass sie überleben würde, brannte eine Frage auf seiner Seele. Endlich war der Zeitpunkt gekommen, um sie zu stellen.

»Warum wolltest du eigentlich mit mir reden?«

»Ich wollte dich um eine zweite Chance für uns bitten«, gestand sie leise. »Dr. Norden und Schwester Elena haben mir klar gemacht, was ich von Judica und dir nicht hören wollte. Dass ich mein Glück selbst in der Hand habe.« Wieder kämpfte sie mit den Tränen. »Hoffentlich ist es jetzt nicht zu spät.«

Bastians Herz wurde weit und leicht vor Glück. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, solche Worte aus dem Mund seiner Frau zu hören!

»Wenn man etwas wirklich will, dann ist es selten zu spät.«

Sie streckte die Hand aus und zog ihn zu sich.

»Das, was ich wirklich will, bist du«, raunte sie an seinen Lippen. »Das habe ich endlich begriffen. Und ich werde dafür kämpfen, dass es wieder so wird zwischen uns wie früher. Auch wenn der Körper vielleicht nicht mehr ganz mitmacht.«

»Das ist doch ganz egal. Hauptsache, wir haben uns«, gab Bastian heiser zurück und küsste sie, als wäre es das erste Mal.

Die beiden waren so vertieft ineinander, dass sie nicht bemerkten, wie leise die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.

»Ich glaube, der Zeitpunkt ist gerade ungünstig«, sagte Sophie zu Judica, die gekommen war, um ihre Schwester zu besuchen. »Das Ehepaar Dehmel feiert Versöhnung.«

»Aber das ist doch ein Grund zur Freude!« Judica sah Sophie verwundert nach, als sie grußlos davonging.

Wenige Augenblicke später stürmte die Assistenzärztin in den Aufenthaltsraum, wo Dr. Weigand am Tisch saß, in eine Fachzeitschrift vertieft.

Er sah ihr nach, wie sie durch das Zimmer zum Kühlschrank stapfte, die Tür aufriss und hineinstarrte.

Schwester Laura hatte ihm brühwarm von der neu erwachten Liebe zwischen dem Ehepaar Dehmel erzählt, und er ahnte, wie es in Sophie aussehen mochte.

»Alles in Ordnung?«

»Großartig. Könnte nicht besser sein.«

Matthias lächelte mitfühlend.

»Dann passt es ja, wie es ist.«

Sophie versetzte der Kühlschranktür einen wütenden Stoß. Rumpelnd fiel sie ins Schloss.

»Das ist ja ein schöner Trost.« Sie kam zu ihm an den Tisch, ließ sich neben ihn auf den Stuhl fallen und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. »Das nächste Mal, wenn ein Bekannter als Patient hier auftaucht, gebe ich Fersengeld.«

»Das bringt nichts. Weglaufen war noch nie eine gute Lösung«, erwiderte Matthias. »Mal abgesehen davon sollten Sie froh sein. Oder wollten Sie diese Verantwortung wirklich auf sich nehmen? Eine Beziehung zu einem Mann eingehen, der wegen Ihnen seine kranke Frau verlässt?«

»Natürlich nicht.« Beleidigt starrte Sophie in die andere Richtung. »Trotzdem. Es geht ums Prinzip.«

Matthias schnitt eine Grimasse.

»Ich kenne das. Dieses Prinzip nennt sich verletzte Eitelkeit.«

»Ach, was wissen Sie schon!«, schnaubte sie, doch Matthias bemerkte das Lächeln um ihre Mundwinkel.

»Eine ganze Menge. Im Laufe meines langen Lebens habe ich viele Erfahrungen gesammelt, die man nicht an einer Uni lernen kann.« Er stand auf und sah sie auffordernd an. »Und jetzt kommen Sie mit.«

»Wohin?«

»In den Kiosk. Ich habe gehört, dass es heute frischen Erdbeerkuchen mit Vanillecreme gibt. Den sollten wir uns nicht entgehen lassen.« Er zwinkerte ihr zu. »Die Erfahrung, dass Tatjanas Kuchen trösten kann, sollten Sie sich nicht entgehen lassen!« Mit diesen Worten verließ er den Aufenthaltsraum.

Sophie überlegte kurz, ob sie sich über ihn ärgern oder lachen sollte. Schließlich entschied sie sich für Letzteres und dafür, dass eine süße Erfahrung mehr auf keinen Fall schaden konnte.

*

Nach dem Frühstück in Adrian Wiesensteins Gesellschaft und einem Spaziergang im Regen hatte sich Felicitas Norden verabschiedet und es sich mit einem Buch im Zimmer gemütlich gemacht. Trotz der wohltuenden Ruhe konnte sie sich nicht auf die Geschichte konzentrieren. Immer wieder griff sie zum Handy und sah nach, ob eine Nachricht von Dési gekommen war. Vergeblich.

»Du stellst dich an wie eine Glucke«, maßregelte sie sich selbst und legte das Telefon wieder weg.

Die Schritte auf dem Flur ließen sie hellhörig werden.

»Siehst du, es ist doch nichts passiert«, sagte sie zu sich selbst. In der Gewissheit, dass Dési jeden Moment ins Zimmer stürmte, wollte sie sich endlich auf ihr Buch konzentrieren. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen klopfte es. Bitte nicht schon wieder Wiesenstein!, flehte Fee im Geiste und öffnete.

»Dan?«

»Wen hast du denn erwartet?«, fragte er und schloss sie in die Arme.

Ein leidenschaftlicher Kuss raubte Fee den Atem.

»Wo kommst du denn her?«, fragte sie, als sie endlich wieder Luft bekam. Sie lag in seinen Armen, ihre Augen streichelten sein Gesicht.

Ohne seine Frau loszulassen, versetzte Daniel der Tür einen Stoß mit dem Fuß. Leise fiel sie ins Schloss.

»Nachdem meine Kollegen ein Leben gerettet haben, habe ich mir freigegeben«, erklärte er dicht an ihrem Ohr. Seine Lippen streichelten über ihre Wange. »Ich habe noch einmal nachgedacht. Wir sollten uns ein bisschen mehr Zeit für uns nehmen, solange wir es noch können. Die Arbeit ist nicht alles.«

»Das klingt wie Musik in meinen Ohren«, murmelte Fee und bugsierte ihn hinüber zum Bett. »Für diese Erkenntnis darfst du dich an mir vergreifen.«

Sie lagen auf dem Bett, Fee war im Begriff, ihm das Hemd aufzuknöpfen, als Daniel ein Gedanke in den Sinn kam.

»Liebend gern. Aber ist das hier auch sicher?« Er sah sich im Zimmer um. »Ich meine wegen Dési. Wo steckt sie denn? Was, wenn sie gleich ins Zimmer kommt?«

Fee setzte sich auf dem Bett auf. Schlagartig kehrten die Sorgen zurück.

»Dési ist mit Joshua unterwegs. Ich habe schon seit Stunden nichts mehr von ihr gehört. Allmählich mache ich mir Sorgen.«

»Und das sagst du erst jetzt?« Empört sprang Daniel vom Bett auf. »Wer ist dieser Joshua überhaupt?«, fragte er, während er das Hemd wieder zuknöpfte.

»Der Sohn von Wiesenstein. Das habe ich doch erzählt.«

Daniel verdrehte die Augen. Dieser Name war schon jetzt ein Reizwort für ihn. Dazu musste er den Mann gar nicht kennen.

»Hast du schon versucht, sie auf dem Handy zu erreichen?«

»Ich wollte keine Glucke sein.«

»Glucke? Unsere Tochter ist sechzehn und noch lange nicht erwachsen.« Daniel zog das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer seiner jüngsten Tochter.

Trotz ihrer eigenen Sorgen musste Fee lächeln.

»Du führst dich auf wie ein eifersüchtiger Gockel. So kenne ich dich gar nicht.«

Daniel lauschte angestrengt in den Hörer. Als die Mailbox ansprang, legte er auf.

»Ich bin kein eifersüchtiger Gockel. Ich mache mir Sorgen. Was, wenn Wiesenstein seine Finger im Spiel hat?«

Fee konnte sich das Lachen nicht verkneifen.

»Du denkst doch hoffentlich nicht, dass er sie entführt hat und sie nur freigibt, wenn du deinen Chefarztposten räumst?«

Wie ertappt wandte sich Daniel ab. Im nächsten Moment erklangen Stimmen im Treppenhaus. Eine weiche, dunkle, männliche und eine helle, weibliche.

Mit einem Satz war Daniel an der Tür. Wie angewurzelt blieben Joshua und Dési stehen.

»Da bist du ja! Wo hast du gesteckt?« Erst auf den zweiten Blick bemerkte Daniel die schmutzige Jeans, die verdreckte Regenjacke. »Und wie siehst du überhaupt aus?«

Joshua trat vor und wollte sich entschuldigen, als Dési ihn am Ärmel zurückzog.

»Lass mich das machen«, raunte sie ihm zu. »Wir sehen uns später.« Sie gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange.

Joshua sah hinüber zu Daniel und beschloss, Désis Vorschlag anzunehmen. Mit eiligen Schritten verschwand er im Treppenhaus.

Darauf hatte Daniel nur gewartet.

»Ich erwarte eine Erklärung, junge Frau! Deine Mutter und ich kommen fast um vor Sorge, während du offenbar eine Schlammschlacht hinter dir hast«, schimpfte er und schloss die Tür hinter Dési.

»Dad, du tust ja gerade so, als wäre ich zwölf Jahre alt«, beschwerte sie sich, während sie aus Jacke und Hose schlüpfte.

»Sie hat recht, Dan.« Fee legte die Hand auf seine Schulter.

Unschlüssig sah er von einer zur anderen.

»Ein Mann gegen zwei Frauen. Das ist unfair«, gab er sich seufzend geschlagen. »Also, was ist passiert?«

Dési senkte den Kopf.

»Wir hatten einen Unfall mit dem Roller.«

Schon wollte Daniel wieder aufbrausen. Es war Fee zu verdanken, dass er ruhig blieb. Sie zog eine Augenbraue hoch und sah Dési forschend an.

»Joshua kann nichts dafür«, versicherte die schnell. »Der Hinterreifen ist geplatzt. Da lag etwas auf der Straße. Wäre er nicht so ein guter Fahrer, würden wir jetzt in der Klinik liegen.«

Die Eltern sahen sich an und schnappten nach Luft. Felicitas fand als Erste die Sprache wieder.

»Es ist alles gut, mein Schätzchen. Hauptsache, euch ist nichts passiert.«

»Dieser Kerl …«

»Dad, bitte.« Ein süßes Lächeln auf den Lippen schmiegte sich Dési an ihren Vater. »Du musst nicht eifersüchtig sein. Du weißt doch, dass die Erste große Liebe eines Mädchens der Papa ist. Daran wird kein Mann der Welt etwas ändern.«

Mit einem Schlag verrauchte Daniels Ärger. Er schloss seine fast erwachsene Tochter in die Arme und wiegte sie wie ein Kind.

»Trotzdem lasse ich deine Mutter und dich so schnell nicht mehr allein wegfahren. Ihr zieht die Männer an wie das Licht die Motten.«

»Freu dich doch, dass wir so begehrt sind.«

»Das sehe ich genauso. Jeder andere Mann wäre stolz darauf!« Fee zwinkerte ihrer Tochter zu.

»Das bin ich ja auch«, gab Daniel zähneknirschend zu. »Trotzdem muss sich dieser Wiesenstein in acht nehmen.«

»Adrian ist ein sehr netter Mann. Du wirst ihn heute Abend beim Essen kennenlernen«, gestand Fee. »Und es wird mir ein Vergnügen sein, ihm zu zeigen, wie sehr ich dich liebe«, fügte sie hinzu, ehe Daniel Gelegenheit zu einer weiteren Reklamation hatte.

Entwaffnet schüttelte er den Kopf. Sein zärtlicher Blick ruhte auf Fee.

»Wenn du nicht längst meine Frau wärst, würde ich jetzt um deine Hand anhalten.«

»Und ich würde sofort Ja sagen«, erwiderte Fee. »Obwohl ich schon so lange deine Frau bin.«

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

Подняться наверх