Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 30

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»Bist du schon ausgeschlafen?«, fragte Adrian Wiesenstein die Frau, die leicht bekleidet in seinen Armen lag.

Sie seufzte leise und schmiegte ihren Rücken an seinen Oberkörper.

»Haben wir überhaupt geschlafen?« Unverkennbar! Das war Fee Nordens Stimme an Adrians Ohr.

Er lächelte verliebt.

»Ich kann mich nicht erinnern.« Seine Lippen streichelten zärtlich ihren Nacken.

Sie lachte leise. Er konnte ihrem süßen Duft nicht länger widerstehen und drehte sie zu sich um. Sie küssten sich so leidenschaftlich, dass ihm die Sinne schwanden.

»Ist jemand zu Hause? Hallo!« Lautes Rufen ließ Adrian hochfahren. Gleichzeitig riss er die Augen auf. Sein Blick fiel auf die leere Betthälfte. Schlagartig wurde ihm klar, dass er das alles nur geträumt hatte. Er war allein. Wie immer.

»Hallo! Adrian! Wenn du da bist, mach mir bitte auf! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Ein Schatten tanzte vor der Terrassentür auf und ab.

Adrian gönnte sich einen letzten Rest Bedauern, ehe ihn die Realität endgültig einholte.

»Schon gut. Ich komme ja schon!« Er zog ein T-Shirt über, zog den Vorhang zurück. Und erstarrte. »Paola! Was machst du denn hier?« Wie lange hatte er ihre Stimme nicht gehört?

Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn durch die Scheibe herausfordernd an.

»Was glaubst du denn? Blumen pflanzen?« Unwillig schnalzte sie mit der Zunge. »Ich war schon in der Klinik, aber dort sagte man mir, dass du heute Spätdienst hast. Und jetzt bin ich hier. Wenn du die Güte hättest, mir zu öffnen …«

Endlich kam Leben in Adrian Wiesenstein. Er legte den Hebel um und öffnete die Terrassentüren. Frische Luft wehte herein. Ein Windhauch blähte die weißen Stores zu beiden Seiten der Türen.

»Na endlich. Ich dachte schon, du lässt mich hier draußen übernachten.« Paola ging an ihrem Ex-Mann vorbei und sah sich neugierig im Zimmer um.

Adrian sah auf die Uhr.

»Nur zu deiner Information.: Es ist erst halb zehn.«

»Du hast auch schon mal mehr Spaß verstanden.«

»Und du warst auch schon mal witziger«, konterte er unwillig. »Warum schneist du eigentlich unangemeldet hier herein? Es hätte ja sein können, dass ich nicht allein bin.«

Paola drehte sich zu ihm um. Sie sah ihm dabei zu, wie er in eine Jogginghose schlüpfte.

»Und wenn du einen ganzen Harem hier versammelt hättest, wäre es mir egal. Auch auf die Gefahr hin, dich zu enttäuschen: Du bist nicht der Grund meines Besuchs. Ich bin wegen unseres Sohnes hier.«

»Sieh mal einer an! Du hast dich an Joshua erinnert.«

Sie verkniff sich eine schnippische Antwort und folgte ihm in die Küche. Der Tisch war gedeckt, die Kaffeemaschine durchgelaufen.

Die Luft war erfüllt von aromatischem Duft. »Auch eine Tasse?«

»Nein, danke. Du als Arzt solltest doch wissen, dass zu viel Kaffee dem Teint schadet.«

»Ach ja?« Adrian wirkte nicht sonderlich interessiert. Er schenkte sich eine Tasse ein, ehe er sich wieder an seine Ex-Frau wandte. Sie sah ihn herausfordernd an.

»Koffein verursacht eine erhöhte Ausschüttung von Stresshor­monen. Die bewirken, dass sich die­ Blutgefäße verengen …« Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Paola hielt inne und lauschte. Ihr Gesicht erstrahlte. »Das ist bestimmt Joshua.« Sie wollte sich auf den Weg in den Flur machen.

»Eher nicht. Ich tippe auf meine Mutter«, rief Adrian ihr nach.

»Karin?« Paola verzog das Gesicht.

»Korrekt. Das ist ihr Name.« Er schnitt eine Grimasse.

»Sie wohnt bei euch?«

»Sie kümmert sich seit Jahren um Joshua und macht nebenbei den Haushalt. Wie du dich vielleicht erinnern kannst, muss ich Geld verdienen und habe häufig Schichtdienst. Nachdem du es vorgezogen hast, dich den Mutterpflichten zu entziehen, mussten wir sehen, wie wir über die Runden kommen.«

Sie schickte ihm einen bitterbösen Blick, als der Ruf ihrer ehemaligen Schwiegermutter durch die Altbauwohnung hallte.

»Guten Morgen, ihr beiden. Seid ihr schon wach?«

»Nicht nur das. Stell dir vor: Ich habe auch schon Besuch«, antwortete Adrian.

Neugierig steckte Karin den Kopf zur Tür herein.«

»Paola! Das ist ja eine Überraschung.« Mit ausgestreckten Händen eilte sie auf die Besucherin zu. »Meine Güte, wie lange ist das her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben?«

Widerstrebend ließ sich Paola in die Arme schließen.

»Acht Jahre, nehme ich an. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir uns nach der Trennung noch einmal gesehen hätten.«

Karin schob sie von sich und betrachtete sie eingehend.

»In natura siehst du noch viel schöner aus als im Fernsehen. Weißt du, dass sich mir jeden Film ansehe, in dem du mitspielst? Es hat mir damals so leid getan, dass das zwischen meinem Sohn und dir auseinanderging.«

»Mama, bitte!« Adrian rollte mit den Augen.

Doch Karin winkte nur ab.

»Was denn? Die Wahrheit darf doch gesagt werden.«

»Vielen Dank.« Auch Paola war die Situation unangenehm. Sie drehte sich zu ihrem Ex-Mann um. »Wo steckt denn nun Joshua?«

»Ich weiß ja nicht, ob du dich an die Bedeutung des Wörtchens ›Ferien‹ erinnerst«, ätzte Adrian. »Soviel ich weiß, ist er bei seiner Freundin. Sie wollten zusammen frühstücken und dann an den See fahren.«

Diese Nachricht enttäuschte Paola zutiefst.

»Wann ist er zurück?«

Adrian lachte.

»Unser Sohn ist inzwischen süße sechzehn und informiert mich nicht mehr über jeden seiner Schritte.«

»Was durchaus an deiner inkonsequenten Erziehung liegen könnte«, konterte Paola.

»Falsch. Ich kämpfe immer noch gegen die Fehler an, die du in seinen ersten acht Jahren gemacht hast.« Adrian leerte die Kaffeetasse und stellte sie in die Spüle. »Abgesehen mal davon darf ich dich daran erinnern, dass dir deine Schauspielkarriere wichtiger war als der eigener Sohn. Du bist gegangen, während ich mich in all den Jahren um ihn gekümmert habe. Ich bin stolz darauf, wie Joshua und ich das hinbekommen haben.«

»Du unterschlägst deine tatkräftige Hilfe.« Paola sah hinüber zu ihrer ehemaligen Schwiegermutter.

»Kinder, was soll denn das?«, ging Karin dazwischen. »Benehmt euch doch wie zwei Erwachsene.«

Diese Chance nutzte Adrian.

»Gute Idee. Ich werde vor dem Dienst noch sehr erwachsen ins Fitness-Studio gehen.« Er fasste seine Ex-Frau am Ellbogen und wollte sie zur Tür führen.

Mit einem energischen Ruck befreite sie sich.

»Vielen Dank. Ich kann selbst gehen.« Paola warf den Kopf in den Nacken und stolzierte hinaus in den Flur. Vor der Wohnungstür drehte sie sich noch einmal um. »Bestelle Joshua schöne Grüße von mir. Ich erwarte ihn in einer Stunde in diesem netten, kleinen Café. Es heißt ›Schöne Aussicht‹ oder so. Dort warte ich auf ihn.«

Das, was ein Versprechen sein sollte, empfand Adrian Wiesenstein als Drohung. Er atmete auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

*

»Noch irgendwelche Fragen?« Erwartungsvoll blickte Dr. Felicitas Norden in die Runde der Kollegen, die sich zur OP-Besprechung in ihrem Büro versammelt hatten. Köpfe wurden geschüttelt und Stühle gerückt. Alle waren zum Aufbruch bereit. »Gut.« Fee lächelte zufrieden. »Dann wünsche ich uns allen einen erfolgreichen Tag.«

Raunen und Murmeln erfüllte das Zimmer, während sich die Kollegen auf den Weg machten. Felicitas kehrte an ihren Schreibtisch zurück, als sie ihren Stellvertreter Volker Lammers bemerkte, der im Büro zurückgeblieben war. Nach einem verlängerten Wochenende, das sie ihm zur Erholung verordnet hatte, war er den ersten Tag wieder in der Klinik. Trotz der freien Tage war seine Miene so düster wie eh und je.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sie sich betont freundlich.

»Haben Sie bei der Besprechung nicht einen Patienten vergessen?«, fragte Lammers zurück.

Felicitas warf einen Blick auf die Unterlagen.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Was ist mit dem kleinen Schindler?«

Fee sah ihn von unten herauf an.

»Was soll mit ihm sein?«

»Ich habe ihn mir vorhin noch einmal angeschaut. Das ist ganz klar ein Appendix. Die erhöhten Entzündungswerte sprechen für sich.«

»Ich habe ein CT angeordnet. Danach sehen wir weiter.« Felicitas dachte nicht daran, sich von ihrer Entscheidung abbringen zu lassen. »Zweifeln Sie etwa an meiner Kompetenz?«, fragte sie scharf.

Volker Lammers lächelte liebenswürdig.

»Ganz im Gegenteil. Ich bewundere Ihre Gelassenheit. Oder verwechsle ich sie mit Faulheit?«

Fee lehnte sich zurück und atmete tief durch. Nur jetzt nicht provozieren lassen!

»Jetzt weiß ich endlich, was ich in den letzten Tagen vermisst habe. Haben Sie sich meinen Rat nicht zu Herzen genommen und sich ein wenig erholt?«

»Doch, natürlich. Wie kommen Sie darauf?«

»Andere Menschen sind nach einer Erholungspause freundlich, gut gelaunt, entspannt … Was haben Sie denn Schönes unternommen?«

Das Interesse seiner Chefin verwirrte Dr. Lammers. Für gewöhnlich vermieden sie es, über Privates zu sprechen.

»Ich war am Gardasee.« Er hatte kaum ausgesprochen, als Schwester Elena in der Tür auftauchte.

Fee winkte sie herein, um sich gleich wieder an ihren Stellvertreter zu wenden.

»Und? War es nicht schön?«

»Mein Privatleben geht Sie überhaupt nichts an!« Lammers hatte seine Fassung wiedergefunden und wollte an der Schwester vorbei das Zimmer verlassen.

»Wollen Sie nicht zugeben, dass Sie an der falschen Stelle gespart und auf eine Billigreise hereingefallen sind?«, fragte Elena herausfordernd.

Lammers presste die Lippen aufeinander und drängte sich an ihr vorbei.

»Haben Sie keine kleine Italienerin gefunden, die Sie über Straßenlärm vor Ihrem Hotel und den überfüllten, verschmutzten Strand hinweg getröstet hat?«, fragte sie weiter.

Wenn Blicke töten könnten, wäre sie in diesem Moment auf der Stelle tot umgefallen. Wortlos stapfte Volker Lammers aus dem Büro und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Nur mit Mühe konnte sich Felicitas ein Lachen verkneifen.

»Warum bist du denn so garstig zu unserem geschätzten Kollegen?«

»Sagt dir der Begriff Karma etwas?«, antwortete Elena mit einer Gegenfrage. »Er bedeutet, dass jede physische oder geistige Handlung eine Folge hat«, gab sie die Antwort gleich selbst. »Der liebe Herr Dr. Lammers hat sich neulich über mich lustig gemacht, als er hörte, dass ich eine Pauschalreise an den Gardasee gebucht habe. Drei Mal darfst du raten, welchen schlecht gelaunten Mann wir vom Straßencafé aus beobachten konnten.«

»Sag, dass das nicht wahr ist!«, kicherte Fee.

Elena lächelte.

»Es ist wahr. Er hat sich so laut beim Reiseleiter über die Zustände in seinem Hotel beschwert, dass wir jedes einzelne Wort verstehen konnten.« Der Flyer, den sie unter ihrem Arm geklemmt hatte, fiel zu Boden und erinnerte sie an den Grund ihres Kommens. Fee lachte noch immer, als sie sich nach dem Kuvert bückte und es ihrer Freundin reichte. »Das hier ist übrigens der Prospekt von unserem Hotel am Gardasee. Vielleicht gefällt es dir ja.« In ihre Worte hinein klingelte ihr Handy. »Ja, gut, ich komme sofort.« Sie legte auf, steckte es zurück in die Kitteltasche und zuckte bedauernd die Schultern. »Mein Typ wird verlangt. Ein Unfall vor der Ambulanz.« Elena schickte Felicitas eine Kusshand. Unter den belustigten Blicken ihrer Freundin machte sie sich auf den Weg zur Notaufnahme.

*

»Und das ist meine Mutter.« Joshua Wiesenstein saß auf dem Sofa im Wohnzimmer der Familie Nordens. Er hatte eine Schachtel mit alten Fotos mitgebracht.

Seine Freundin Désirée, von allen nur Dési genannt, lümmelte neben ihm.

»Zeig mal her!« Sie nahm ihm das Foto aus der Hand und betrachtete es eingehend. »So eine schöne Frau!« Nachdenklich wiegte sie den Kopf. »Kann es sein, dass ich sie kenne?«

Joshua legte den Kopf auf Désis Schulter und betrachtete das Foto.

»Paola spielt fast nur Theater. Ab und zu nimmt sie aber auch Filmrollen an.« Seine Stimme klang wehmütig. »Vielleicht hast du sie schon einmal im Fernsehen gesehen.« Er griff in die Schachtel und zog das nächste Foto heraus. »Hier waren wir im Urlaub am Züricher See.«

Dési lachte.

»Da bist du ja noch richtig klein.«

»Ist ja auch schon ein paar Jahre her«, winkte Joshua ab. »Warst du mal da?«

Nachdenklich zwirbelte Dési eine blonde Strähne zwischen den Fingern.

»Ich glaube, ich war noch nie in der Schweiz. Wir sind höchstens mal durchgefahren auf dem Weg in den Urlaub.«

»Es ist sehr schön da. Das würde ich dir gern zeigen. Fährst du mit mir hin?«

»Aber nicht mit dem Roller.« Dési zwinkerte ihm zu und zog ein anderes Foto aus dem Karton. »Könnte sein, dass ich dann Ärger mit meinem Dad bekomme.«

Sie brauchte noch nicht einmal die Augen zu schließen, um den Fahrtwind wieder zu spüren, das atemberaubende Panorama vor sich zu sehen, während es in berauschender Fahrt den Berg hinunter gegangen war.

Doch auch der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Der Roller hatte gebockt und war quer über die Straße geschlingert, ehe er in Zeitlupentempo in eine Wiese gerollt und dort umgekippt war. Es war nur Joshuas Geistesgegenwart zu verdanken, dass nichts passiert war.

»Es platzt doch nicht jedes Mal ein Reifen, wenn ich mit dir unterwegs bin. Das war ein dummer Unfall. Hast du deinem Vater das gesagt?«, fragte Joshua eine Spur beleidigt.

»Natürlich. Trotzdem hat er Angst um mich.«

Joshua schickte Dési einen Blick, der ihr durch und durch ging. Er streckte die Hand aus, fasste in ihr Haar und zog sie zu sich, um sie sanft zu küssen.

»Ich glaube eher, dass er die wunderschöne Königstochter eifersüchtig bewacht.« Seine Stimme war heiser.

Dési lachte leise. Sie war glücklich und ein bisschen verlegen.

»Du bist wirklich süß!«

»Süß?« In gespieltem Entsetzen riss Joshua die Hände hoch. »Ein Mann will stark wie ein Löwe sein, atemberaubend sexy, umwerfend attraktiv.« Er ließ die Arme sinken und schickte ihr einen verzweifelten Blick. »Aber süß?«

Dési lachte noch, als Joshuas Handy auf dem Schreibtisch klingelte.

»Mein Vater hat das Talent, immer im unpassendsten Moment anzurufen«, bemerkte er kopfschüttelnd und nahm das Gespräch an. Nach und nach versickerte sein Lächeln. »Ja, klar. Ich habe verstanden. Ich kann in einer halben Stunde da sein.« Nach ein paar weiteren Worten verabschiedete er sich.

»Was ist los?« Auch Dési war das Lachen inzwischen vergangen. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Joshua schlechte Nachrichten bekommen hatte.

Einen Moment lang schien er mit sich zu hadern.

»Meine Mutter ist hier. Sie will mich sehen.«

»Aber das ist doch toll!« Mit einem Satz war Dési auf den Beinen. »Freust du dich nicht?«

»Doch … schon … oder … ach, ich weiß es nicht.« Die Hilflosigkeit ließ ihn verstummen. Bereitwillig ließ er sich von seiner Freundin in die Arme nehmen. »Seit sie uns verlassen hat, hatten wir kaum mehr Kontakt. Paola war viel zu sehr damit beschäftigt, an ihrer Karriere zu basteln.« Abwesend streichelte er Désis Rücken. »Ich möchte mal wissen, warum sie wie aus dem Nichts hier auftaucht.«

»Dann fahre nach Hause und finde es heraus«, machte Dési den einzig sinnvollen Vorschlag.

Liebevoll lächelnd stupste Joshua mit dem Zeigefinger auf ihre Nase.

»Du bist nicht nur wunderschön, sondern auch noch beängstigend klug.« Mit dem Versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten, steckte er das Handy ein und machte sich auf den Weg.

*

Der Verwaltungschef Dieter Fuchs hielt sich in der Ambulanz auf, um mit Dr. Weigand über die Anschaffung eines hochmodernen Multidetektor-Computer-Tomographen zu diskutieren. Er wollte gerade zu einer für seine Verhältnisse leidenschaftlichen Gegenrede ansetzen, als lautes Gezeter durch die Flure hallte.

»So eine Unverschämtheit!«, schimpfte die Patientin. Erleichtert darüber, der Verbalattacke zu entgehen, entschuldigte sich Dr. Weigand.

»Tut mir leid, ich werde gebraucht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er Dieter Fuchs stehen.

Auf dem Flur kam Matthias schon der Rettungsfahrer Erwin Huber entgegen, der die Patientin auf einer eilig beschafften Liege herein rollte.

»Das haben Sie absichtlich gemacht«, ging das Geschimpfe weiter.

»Dann hätte ich sie gleich ganz umgefahren und nicht nur touchiert«, raunte Erwin seinem Kollegen zu.

Matthias musste lachen.

»Ich möchte mal wissen, was daran so lustig ist.« Elfriede Lammers platzte fast vor Wut. »Wahrscheinlich stecken Sie unter einer Decke und rekrutieren auf diese Art und Weise neue Patienten.«

Der Verwaltungschef gesellte sich zu dem Trio.

»Was ist denn hier los?

»Dieser rücksichtslose Flegel hat mich einfach mit einer Krankenliege umgerollt.«

»Weil Sie so neugierig waren und nicht aus dem Weg gegangen sind«, rechtfertigte sich Erwin ­Huber. »Was haben Sie auch am Eingang zur Notaufnahme verloren?«

»Was kann ich dafür, dass ich einen Stein im Schuh hatte?«

An dieser Stelle beschloss Matthias Weigand, die Diskussion zu unterbrechen.

»Mein Name ist Dr. Matthias Weigand«, stellte er sich in aller Form bei der Dame vor. »Ich bin der Leiter der Notaufnahme und werde mich persönlich um Sie kümmern.«

Elfriede Lammers bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick.

»Die Mühe können Sie sich sparen!« Angewidert verzog sie das Gesicht. »Ich lasse mich nur vom Klinikchef persönlich behandeln.«

Matthias hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte.

»Sind Sie eine Privatpatientin von ihm?«

»Nein. Aber soviel ich weiß, gibt es das Recht auf freie Arztwahl. Oder ist das in dieser Klinik anders?«

Dr. Weigand verzog das Gesicht.

»Ich glaube kaum, dass Herr Dr. Norden Zeit und Lust hat, seine kostbare Zeit an einen verstauchten Knöchel zu verschwenden.«

»Meinen Sie? Dann holen Sie bitte meinen Sohn. Ich bin sicher, die Angelegenheit lässt sich schnell regeln.«

An dieser Stelle beschloss Dieter Fuchs, sich einzumischen. Er schickte dem Notarzt einen warnenden Blick.

»Wer ist denn Ihr Sohn?«, wandte er sich freundlich lächelnd an die Patientin.

Geschmeichelt fuhr sich Elfriede durch’s Haar.

»Der bekannte Kinderchirurg Dr. Volker Andreas Lammers.«

Matthias Weigand rollte mit den Augen. »In diesem Fall halte ich es tatsächlich für besser, Herrn Dr. Norden zu informieren.« Er nickte dem Verwaltungschef zu. »Ich sage einer Schwester Bescheid und übernehme dann die Erstversorgung von Frau Lammers.«

Zufrieden wandte sich Elfriede an Dieter Fuchs.

»Vielen Dank für Ihre freundliche Unterstützung.«

Ihr Lächeln schlug ein wie eine Bombe. Schon lange hatte ihn keine Frau mehr so angesehen. Vor Aufregung begann Dieters Herz schneller zu schlagen.

»Es war mir ein Vergnügen.« Er griff nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Falls es Probleme gibt, können Sie sich jederzeit gern an mich wenden.« Er suchte in der Innentasche seines Cordsakkos nach einer Visitenkarte und reichte sie ihr.

»Dieter Fuchs, financial and administrative director«, las sie mit deutlicher Bewunderung in der Stimme vor. Der Verwaltungschef beglückwünschte sich insgeheim für die Entscheidung, die Visitenkarten mit der englischen Bezeichnung seiner Position versehen zu haben. »Ich werde auf jeden Fall auf Ihr Angebot zurückkommen«, versicherte sie.

*

Versonnen saß Dr. Adrian Wiesenstein am Computer im Büro, das er mit anderen Kollegen teilte. Obwohl ungestört und allein im Zimmer, war an Arbeit nicht zu denken. Stattdessen starrte er aus dem Fenster und ließ die Gedanken schweifen.

Adrian dachte an die ersten Jahre mit Paola. Sie war so anders gewesen als die anderen Frauen, die er bis dahin kennengelernt hatte. Extravagant, übermütig und nie um eine verrückte Idee verlegen. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Die ersten Monate waren wie im Rausch an ihm vorbeigezogen. Krönung ihrer noch jungen Liebe war die Geburt ihres Sohnes Joshua gewesen. Doch irgendwann hatte sich das Blatt gewendet. Ihrer Freiheit beraubt, veränderte sich Paola. Sie war unzufrieden und mürrisch geworden, bis sie ihre Familie schließlich in einer Nacht- und Nebelaktion verließ. Nur zur Scheidung hatte sich das Paar noch einmal wiedergesehen. Seither kümmerte sich Adrian allein um den gemeinsamen Sohn. Das unvermutete Treffen des Morgens hatte ihn bis ins Mark erschüttert und alles wieder wachgerufen.

Derart versunken in seine Erinnerungen, bemerkte er nicht, dass seine Kollegin Christine Lekutat ins Büro gekommen war. Auf kurzen Beinen wuselte sie zur Kaffeemaschine, schenkte sich Kaffee ein und stellte sich neben den neuen Kollegen. Der smarte Chirurg verstärkte das Team der Behnisch-Klinik erst seit Kurzem. Bisher waren nicht allzu viele Einzelheiten über ihn bekannt geworden. Christine Lekutat wusste nur, dass er alleinerziehender Vater eines Teenagers war. Doch damit war ihre Neugier bei Weitem nicht befriedigt. Als er ihr nach einer Weile immer noch keine Beachtung schenkte, ging sie in die Offensive.

»Ich finde es sehr sympathisch, dass Sie so authentisch sind. Die Überforderung steht Ihnen ins Gesicht geschrieben«, erklärte sie in der ihr üblichen taktlosen Art.

Adrian zuckte zusammen und fuhr zu ihr herum.

»Welche Überforderung?«, fragte er erschrocken.

In aller Seelenruhe schlürfte Christine ihren Kaffee.

»Machen Sie sich nichts daraus.« Sie tätschelte seine Schulter. »Diese Phase geht vorbei. Und am Ende werden Sie feststellen, dass Sie an Ihrer neuen Aufgabe gewachsen sind.«

Adrian Wiesenstein verstand kein Wort.

»Von welcher Phase sprechen Sie?«

»Als Alleinerziehender muss man oft Vater und Mutter in einem sein. Es ist ein Prozess, das Gleichgewicht und richtige Maß zu finden. Das geht nicht so von heute auf morgen. Aber ich bin sicher, dass Sie das schaffen werden.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu.

Auch Adrian rang sich ein Lächeln ab. Er schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück.

»Das ist es nicht. Joshua und ich sind schon seit über acht Jahren allein.« Er haderte mit sich. Am liebsten hätte er seinem heimlichen Schwarm Felicitas Norden das übervolle Herz ausgeschüttet. Doch es stand in den Sternen, wann er sie wiedersehen würde. Und wahrscheinlich war das auch besser so. »Meine Ex-Frau ist aus heiterem Himmel heute Vormittag bei mir aufgetaucht. Und ich kann nur hoffen, dass sie wieder weg ist, wenn ich nach der Schicht heute nach Hause komme.«

»Das klingt ja ganz so, als hätten Sie Angst vor ihr.«

Diese Bemerkung ließ sich Adrian durch den Kopf gehen.

»Angst ist das falsche Wort.« Er stand auf, schob die Hände in die Kitteltaschen und sah die Kollegin an. »Aber als Paola mir vorhin gegenüberstand – das erste Mal seit acht Jahren –, da …«

»Da ist alles wieder hochgekommen«, fiel Christine ihm ins Wort.

Sie winkte ab.

»Da kann ich ein Lied davon ­singen. Aber ich sage Ihnen etwas: Aufgewärmt schmeckt nur Gulasch.«

Nur mit Mühe konnte sich Adrian ein Lachen verkneifen.

»Mir selbst das nicht«, erklärte er und ging zur Tür. Er hatte beschlossen, dieses wenig ergiebige Gespräch zu beenden und sich lieber an die Arbeit zu machen. »Ich bin nämlich Vegetarier.« Er hob die Hand zum Gruß und ließ eine verdutzte Christine Lekutat zurück.

*

Wie angekündigt wartete Paola Wiesenstein im Café ›Schöne Aussichten‹ auf ihren Sohn. Pro forma hatte sie ein Glas Wasser bestellt. Während sie daran nippte, fiel ihr Blick immer wieder durch das große Fenster hinaus auf die Straße. Sie hätte es niemals zugegeben, aber sie hatte tatsächlich Lampenfieber. Wie würde Joshua sie begrüßen? Würde er ihr Vorwürfe machen?

»Hallo, Paola.« Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr herum.

Unbemerkt war ein junger Mann an den Tisch getreten. Er trug einen Hut. Unter dunklen Augenbrauen blitzten warme braune Augen. Der erste Bart sprießte.

»Du siehst aus wie dein Vater.« Wie vom Donner gerührt starrte Paola ihren Sohn an. Obwohl sie in den letzten Jahren immer wieder Fotos von ihm gesehen hatte, war er männlicher, erwachsener als erwartet.

»Ich nehme mal an, dass er wesentlich an meiner Entstehung beteiligt war«, erwiderte Joshua kühl. Nicht das kleinste Wimpernzucken verriet, wie es wirklich in ihm aussah. Sein schauspielerisches Talent kam ihm dabei zugute.

Paola lächelte. Sie stand auf und breitete die Arme aus.

»Noch immer derselbe kleine Rebell wie früher.«

Joshua zögerte, ließ sich dann aber gnädig umarmen.

»Diese Eigenschaft scheine ich wiederum von dir zu haben.«

Lachend gab sie ihn frei.

»Dann bist du eine gelungene Mischung.« Sie machte eine einladende Geste. »Setz dich! Was möchtest du trinken?«

Tatjana trat an den Tisch, und Joshua bestellte Rhabarberschorle und Käsekuchen. Während sie warteten, saß er seiner Mutter schweigend gegenüber. Er hatte nicht vor, es ihr leicht zu machen. Es war an ihr, die richtigen Worte zu finden.

»Bestimmt fragst du dich, warum ich nach all den Jahren einfach so vor der Tür stehe.«

»Die Kandidatin hat hundert Punkte.«

Obwohl Paola nichts anderes erwartet hatte, schmerzte sie seine zur Schau gestellte Kälte.

»Komm schon, Tiger«, bat sie ihn mit sanfter Stimme um Nachsicht. »Sei nicht nachtragend. Du weißt doch, dass ich sehr beschäftigt bin.«

»Zu beschäftigt, um deinen einzigen Sohn hin und wieder einmal zu besuchen?« Joshuas Stimme war so scharf, dass Tatjana vorn am Tresen unwillkürlich zu ihm hinübersah. Sie kannte weder den jungen Mann noch die Frau am Tisch. Doch ihre fast magische Sensibilität, gepaart mit einem hervorragenden Hörvermögen, erzählte ihr von Spannungen und Enttäuschung.

Um Zeit zu gewinnen, trank Paola einen Schluck Wasser. Sie wagte es nicht, Joshua ins Gesicht zu sehen.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht den Mut, dich zu besuchen«, gestand sie leise und drehte das Glas in den Händen. »Ich hatte Angst, dass ein Wiedersehen meinen Entschluss zu arbeiten ins Wanken bringen könnte. Diese Gefahr konnte und wollte ich nicht eingehen. Kannst du das nicht verstehen?«, appellierte sie an seinen Verstand.

Erbarmungslos schüttelte Joshua den Kopf.

»Andere Mütter sind auch berufstätig und verlassen ihre Kinder trotzdem nicht.« Er stach ein Stück Kuchen vom Teller und schob die Gabel in den Mund. Dabei ließ er Paola nicht aus den Augen.

Sie wand sich unter diesem vorwurfsvollen Blick.

»Andere Mütter sind keine Schauspielerinnen«, entgegnete sie. »Das ist ein großer Unterschied.«

»Ach ja?« In Joshuas Mundwinkel zuckte ein hämisches Lächeln. »Und welcher?«

Allmählich wurde Paola böse.

»Weißt du, wie viele Kolleginnen ihre kleinen Kinder mit ins Theater oder ans Set zerren? In meinen Augen hat das nicht viel mit Liebe zu tun, sondern vielmehr mit Egoismus. Ein Kind braucht Routine und Rituale, keine Wohnwagen und Hotelzimmer in immer verschiedenen Städten. Ich wollte es dir einfach nicht zumuten, abends in verrauchten Garderoben zu sitzen, mich zu Essenseinladungen zu begleiten zu Zeiten, in denen du längst im Bett liegen solltest. Ich habe meine Gefühle hintenan gestellt und dir einen geregelten Alltag ermöglicht. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«

Ihre Kehle war trocken. Hastig trank einen großen Schluck Wasser.

Betroffen senkte Joshua den Kopf. So weit hatte er in der Tat noch nicht gedacht.

»Nein, das habe ich nicht.«

Paola holte tief Luft und lächelte.

»Siehst du. Jede Medaille hat zwei Seiten.«

Joshua schob den Teller von sich. Er streckte die Beine aus und faltete die Hände über dem Bauch.

»Und warum traust du dich jetzt, herzukommen? Was hat sich geändert?«

Paola legte den Kopf ein wenig schief.

»Erstens bist du fast erwachsen und brauchst keinen Babysitter mehr. Und zweitens war ich auf der Durchreise in die Schweiz, wo ich ein Engagement angenommen habe.« Mit einem Mal füllten sich ihre Augen mit lange zurückliegenden Erinnerungen. »Weißt du noch? Unser Urlaub am Zürichsee?«

»Zufällig habe ich erst heute Fotos davon angeschaut.« Joshua konnte nur den Kopf schütteln über diesen Zufall. »Ist das nicht merkwürdig? Jahrelang habe ich nicht daran gedacht. Und plötzlich stoße ich an jeder Ecke auf diese Erinnerungen.«

»Ich kenne dieses Phänomen.« Unauffällig sah Paola auf die Uhr.

Joshua bemerkte es. Die Enttäuschung legte sich wie ein schwarzes Tuch auf sein Gemüt.

»Du musst schon wieder los?«

»Ich fahre erst morgen in die Schweiz. Aber ich habe gleich noch einen Termin mit einem ehemaligen Kollegen. Wenn du willst, können wir uns später wieder treffen.« Paola beglich die Rechnung. Seite an Seite mit ihrem Sohn trat sie hinaus in den hellen Sonnenschein. Sie hielt die Hand über die Augen und blinzelte ihn an. »Ich möchte noch so viel über dich und von dir erfahren.«

Ein Taxi wartete schon an der Straße. Paola machte Anstalten einzusteigen. Joshua dachte nicht lange nach.

»Wenn du mich an der Klinik absetzt, können wir gleich damit anfangen.« Paola sah ihn fragend an. »Ich habe meinen Schlüssel vergessen«, erklärte er schnell.«

»Also gut. Dann auf in die Klinik«, stimmte sie zu und rutschte auf den Rücksitz.

*

Auf dem Weg in ihre Abteilung kam Fee Norden am Büro ihres Mannes vorbei. Spontan beschloss sie, die Gunst der Stunde zu nutzen. Es grenzte an ein Wunder, aber sie fand Daniel tatsächlich an seinem Schreibtisch.

»Schau doch mal!« Sie zog den Prospekt aus der Kitteltasche, den ihre Freundin Elena ihr gegeben hatte. »Was hältst du davon?«

Daniel faltete den bunt bedruckten Flyer auf.

»Kurzurlaub am Gardasee?«

»Elena war mit ihrem Mann da und hat in den höchsten Tönen davon geschwärmt.«

»Das ist bestimmt eine Falle«, versuchte er, diese Idee gleich im Keim zu ersticken. »Hast du dich noch nicht mit deinem geschätzten Kollegen Lammers unterhalten? Sein Pauschal-Kurzurlaub am Gardasee war eine einzige Katastrophe.«

Die Klinikpost funktionierte wieder einmal einwandfrei.

»Daran war sein schlechtes Karma schuld.«

Daniel sah seine Frau fragend an.

»Wie soll ich das denn jetzt verstehen?«

»Nicht so wichtig«, winkte Fee ab. »Also, was meinst du? So ein verlängertes Wochenende in Italien wäre die ideale Entschädigung für das verpatzte Wochenende am Chiemsee.«

Bedauernd schüttelte Daniel den Kopf.

»Schlimm genug, wie die Männer auf der Fraueninsel hinter dir und Dési her waren. Ich möchte gar nicht daran denken, was in Italien passieren würde.«

»Du darfst mich einfach nicht allein fahren lassen«, gab Fee keck zurück. Ihr sehnsüchtiger Blick hing an dem Foto des kleinen Hotels direkt am Wasser.

»Manche Dinge habe ich einfach nicht in der Hand.«

»Dann musst du eben Prioritäten setzen.« Es war Felicitas anzusehen, dass ihr diese kleine Diskussion Spaß machte. »Wenn du es nämlich nicht tust, lasse ich mich auf der Stelle scheiden.«

»Ach so!« Daniel tat ihr den Gefallen und spielte ihr Spiel mit. »Wenn das so ist, buche ich die Reise natürlich gleich heute Abend nach Dienstschluss.«

Felicitas lächelte siegessicher.

»Das war genau das, was ich hören wollte.« Sie beugte sich über ihn, um ihn zu küssen, als das Telefon klingelte. Daniel hob ab. Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ich werde dringend in der Notaufnahme erwartet«, teilte er Fee mit und legte den Hörer zurück auf den Apparat.

»Was ist passiert?« Gemeinsam mit ihm ging sie zur Tür.

»Es geht um einen schwierigen Fall. Weniger medizinisch als menschlich.«

»Aha!« Diese Formulierung alarmierte Felicitas. »Und was heißt das genau?«

Daniel nahm sie sanft am Ellbogen und führte sie aus dem Büro.

»Elfriede Lammers, die Mutter deines heißgeliebten Stellvertreters, wurde mit einer Knöchelverletzung eingeliefert. Offenbar ist sie ähnlich rebellisch wie ihr Sohn und hält in der Ambulanz alle auf Trab. Und sie besteht darauf, nur vom Chef persönlich behandelt zu werden.«

»Wenn die Mutter unseres besten Kinderchirurgen ruft, kannst du dich natürlich nicht verweigern.«

Daniel Norden drehte sich um und zwang Fee, ebenfalls stehenzubleiben. Er tippte mit der Fingerspitze auf ihre Nase.

»Du hast es erfasst.« Er zwinkerte ihr zu, ehe er nach links abbog, während Fee den rechten Gang wählen musste.

»Vergiss aber nicht die Urlaubsbuchung!«, rief sie ihm nach.

»Ich will doch keinen Rosenkrieg riskieren.« Daniels Lachen hallte über den Flur.

Felicitas stand kurz da und sah ihm lächelnd nach, wie er mit wehendem Kittel davon eilte.

Nachdem er um die nächste Ecke verschwunden war, machte auch sie sich auf den Weg. Sie hatte einen Termin mit den Eltern des kleinen Raphael.

*

»Soll ich dir etwas von der Drogerie mitbringen?«, fragte Adrian Wiesenstein. Er wollte seine Mittagspause nutzen, um seiner Mutter die Möbelpolitur zu besorgen, um die sie ihn gebeten hatte.

»Danke für das Angebot, aber ich brauche nichts«, lehnte Matthias Weigand freundlich ab. Die beiden Männer waren sich von Anfang an sympathisch gewesen. Die Tatsache, dass sie beide Singles waren, hatte diese Sympathie nur verstärkt. »Wie wäre es mit einem Bier heute Abend?«, bot er stattdessen an.

»Warum nicht? Ich habe etwas zu erzählen.«

»Da bin ich aber mal gespannt!« Matthias hob die Hand zum Gruß, und Adrian machte sich auf den Weg.

Er war kaum auf die Straße hinaus getreten, als er feststellen musste, wie ungünstig der Zeitpunkt gewählt war. Genau in diesem Moment fuhr ein Taxi vor, aus dem freudstrahlend Joshua kletterte. Eigentlich hatte Paola gleich weiterfahren wollen. Aus Gründen des Anstands entschied sie sich allerdings dafür, ebenfalls auszusteigen.

»Das ist ja ein Zufall!«, begrüßte Adrian zuerst seinen Sohn und dann seine Ex-Frau. »Was führt euch hierher? Doch hoffentlich kein Unfall?« Sein besorgter Blick ruhte auf seinem Sohn.

»Keine Sorge, Papa, alles in bester Ordnung. Ich habe nur mal wieder meinen Schlüssel vergessen, und Oma ist ja heute Nachmittag nicht da.«

Adrian schüttelte den Kopf.

»Machmal könnte man meinen, du seist erst zwölf Jahre alt.«

Joshua schnitt eine Grimasse.

»Wer weiß.«

»Ich mach dir einen Vorschlag: Du läufst in den Markt und kaufst Möbelpolitur für deine Großmutter.« Adrian zückte das Portemonnaie und gab seinem Sohn einen Zehn-Euro-Schein. »Und ich hole inzwischen den Schlüssel.«

»Einverstanden.« Dankend nahm Joshua den Geldschein und sprang davon wie ein Wirbelwind.

Paola sah ihm nach.

»Ist er immer noch so aufgedreht?« Sie erinnerte sich an früher, als Joshua nichts als Unsinn im Kopf gehabt hatte.

»Was hast du erwartet?«, stellte Adrian eine Gegenfrage. »In dieser Hinsicht ist er zweifellos dein Sohn.« Die großen Glastüren der Klinik schoben sich lautlos vor ihnen auf. Adrian Wiesenstein ließ seiner Ex-Frau den Vortritt. In weiser Voraussicht hatte Paola ihren Termin verschoben, sodass sie ein wenig Zeit übrig hatte. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dich zu fragen, was dich nach München geführt hat.«

»Keine Sorge, ich bin lediglich auf der Durchreise.« Sie konnte seine Gedanken lesen. »Morgen fahre ich weiter nach Zürich. Dort habe ich ein mehrjähriges Engagement angenommen.«

Sie hatten den Aufenthaltsraum der Ärzte erreicht. In einem der Spinde in der Ecke bewahrte Adrian seine privaten Sachen auf. Er schloss auf und fischte den Schlüssel aus der Sakkotasche. Er reichte ihn Paola.

»Es freut mich für dich, dass deine Träume wahr geworden sind.« Adrian machte gar nicht erst den Versuch, seine Gefühle zu verstecken. »Und es freut mich für mich, dass du nicht vorhast, unser Leben zu stören.« Er maß sie mit bedeutungsvollem Blick. »Es hat lange gedauert, bis wir uns in der neuen Situation zurechtgefunden haben. Heute läuft es sehr gut, und ich bin ehrlich gesagt nicht bereit, Joshua wieder einmal auf dem Altar deiner Ideen zu opfern.« Er holte tief Luft. »Wir haben ein gutes Leben.«

Paola biss sich auf die Unterlippe.

»Schon irgendwie seltsam«, murmelte sie auf dem Rückweg zum Ausgang. »Da sehen wir uns nach acht Jahren zum ersten Mal wieder. Und dann reden wir über nichts anderes als darüber, dass ich so schnell wie möglich wieder verschwinden soll.«

Adrian musterte sie so kühl, wie er konnte.

»Damals war es deine Entscheidung. Heute ist es meine.«

Diese klare Ansage ließ Paola schlucken. Sie war es nicht gewohnt, mit Zurückweisungen umzugehen. Mitten in der Lobby blieb sie stehen und drehte sich zu Adrian um.

»Gib dir keine Mühe, ich finde selbst hinaus.« Sie wartete nicht auf eine Antwort.

Adrian tat ihr den Gefallen und blieb stehen. Er schob die Hände in die Hosentaschen und sah ihr nach. Ganz offensichtlich wusste Paola, dass sie immer noch atemberaubend attraktiv war. Niemals hätte er zugegeben, dass die Begegnung mit ihr gefährlicher war, als er es nach dieser langen Zeit vermutet hätte.

*

»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so zärtliche Hände haben, hätte ich nicht auf einer Chefarztbehandlung bestanden.« Hingegossen lag Elfriede Lammers auf der Behandlungsliege und sah Dr. Weigand dabei zu, wie er ihr Bein untersuchte.

»Ich werde veranlassen, dass der Knöchel geröntgt wird. Dr. Norden befundet die Bilder im Anschluss«, erklärte Matthias Weigand schnell. Gekonnt ignorierte er Schwester Elenas belustigten Blick.

»Tun Sie, was getan werden muss. Ich habe volles Vertrauen in Ihre Fähigkeiten.«

Diese Bemerkung konnte Matthias nicht übergehen.

»Das klang aber vorhin anders.«

Elfriede Lammers kicherte in sich hinein.

»Sie dürfen nicht so nachtragend sein, junger Mann.« Sie richtete sich ein Stück auf und winkte ihn zu sich heran. »Ich wollte doch nur herausfinden, ob das Personal hier wirklich so unmöglich ist, wie mein Sohn es immer behauptet.«

»Tut er das?« Matthias Weigand runzelte die Stirn. »Das ist aber kein netter Zug von ihm.«

Unvermittelt wurde Elfriede Lammers ernst.

»Wem sagen Sie das?«, seufzte sie aus tiefstem Herzen. »Volker behandelt mich keinen Deut netter, falls Sie das erwartet haben.«

Auf dem Flur hallten Schritte, die schnell näher kamen. Gleich darauf betraten Dr. Daniel Norden und der Kollege Lammers die Bühne. Auf dem Weg in die Notaufnahme hatte Daniel den Kollegen getroffen und über die Einlieferung seiner Mutter informiert.

»Mutter, was machst du denn hier?«, fragte Volker wenig erfreut.

Elfriede beachtete ihn nicht. Ihre Augen hingen an Daniel Norden.

»Sie sind sicher der Chef dieser Klinik.« Sie schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.

Daniel reichte ihr die Hand.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Moment!«, funkte Lammers dazwischen. »Zuerst will ich wissen, was passiert ist«, verlangte er in gewohnt unfreundlicher Manier.

Elfriede schickte ihm einen schiefen Seitenblick.

»Ich wollte mir diese berühmte Klinik einmal ansehen, in der du arbeitest. Als ich vor der Notaufnahme einen Stein im Schuh hatte, hat mich ein Rettungsfahrer um ein Haar mit einer Liege umgefahren.«

»Was machst du auch in der Notaufnahme?«

»Auf der Suche nach dem Haupteingang habe ich mich verirrt.« Elfriede Lammers spielte die Rolle der hilflosen, älteren Dame perfekt. »So etwas passiert dir natürlich nicht. Wir wissen ja alle, dass du unfehlbar bist.«

Nur mit Mühe konnten Elena und Matthias das Lachen unterdrücken.

Auch um Daniel Nordens Lippen spielte ein Lächeln. Er versuchte, die Situation zu entschärfen.

»Darf ich mir die Sache einmal ansehen?«, fragte er.

Elfriede nickte gnädig. So beugte sich Dr. Norden über den Knöchel und bewegte ihn vorsichtig hin und her.

»Was denkst du, Matthias?«

»Wir könnten es mit einer Außenbandruptur oder zumindest einem Anriss zu tun haben. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Ich wollte Frau Lammers gerade in die Radiologie bringen lassen.«

»Gut. Dann schlage ich eine stationäre Aufnahme vor.«

»Muss das sein?« Lammers’ Stimme knallte wie ein Peitschenhieb.

Dr. Norden zögerte, ehe er sich zu dem Kollegen umdrehte.

»Ihre Mutter ist ein erwachsener Mensch, der sehr gut für sich selbst die Verantwortung übernehmen kann«, erwiderte er freundlich, ehe er sich wieder an Elfriede wandte. »Natürlich müssen Sie nicht bleiben, wenn Sie nicht wollen.«

»Solange ich nicht Gefahr laufe, von meinem Sohn behandelt zu werden, bleibe ich gern hier«, erwiderte sie nonchalant lächelnd.

Es war Volker anzusehen, dass er sie am liebsten erwürgt hätte. Allein das Publikum hinderte ihn daran.

»Macht doch, was ihr wollt«, schimpfte er und verließ grußlos das Behandlungszimmer.

»Verlegen Sie Frau Lammers nach dem Röntgen bitte auf Station«, ordnete Dr. Norden an, ehe er sich von seiner Patientin verabschiedete.

»Ach, eine Bitte noch. Könnten Sie vielleicht diese Nummer für mich anrufen?«, rief sie ihm nach und reichte ihm die Visitenkarte von Dieter Fuchs.

Daniel warf einen Blick darauf und schmunzelte.

»Mit dem allergrößten Vergnügen.« Damit zog er sich endgültig zurück. Schon jetzt freute er sich auf Fees Gesicht, wenn er ihr diese Geschichte erzählte.

*

Das Gespräch mit den Eltern des kleinen Raphael Schindler stand kurz bevor. Fee Norden saß in ihrem Zimmer und studierte die Computerbilder, die sie aus der Radiologie bekommen hatte. Sie hob den Kopf, als Dr. Lammers ins Zimmer stapfte.

»Sie wollten mich sprechen?« Er machte keinen Hehl aus seiner schlechten Laune.

Felicitas lehnte sich zurück.

»Kommen Sie her und sehen sich das an«, bat sie und deutete auf den Monitor. »Was halten Sie davon?«

»Nicht aufgepasst in Diagnostik, was?«, spottete er, tat ihr aber doch den Gefallen. Er beugte sich hinab und betrachtete die Bilder. Doch so sehr er versuchte, sich zu konzentrieren, so wenig gelang es ihm. Die Bilder seiner Mutter tanzten vor seinem geistigen Auge. Ihre Bemerkung ärgerte ihn noch immer. »Das ist eindeutig ein Tumor an der Leber.«

Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Heute Vormittag diagnostizierten Sie noch einen Blinddarm, den ich unbedingt operieren sollte«, erinnerte sie ihn.

»Tatsächlich?« Ungerührt zuckte Lammers mit den Schultern. »Das ist Ihr Patient. Ich wollte Sie nur auf die Probe stellen.«

»Ein Glück, dass ich nicht auf Sie gehört habe.«

Volker Lammers richtete sich auf. »Wollen Sie mir eine Lektion erteilen, oder was soll das hier werden?«

»Nein«, erwiderte Fee bestimmt. »Ich will von Ihnen wissen, was das Ihrer Ansicht nach ist.«

»Ein Tumor an der Leber. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«

Nachdenklich legte Felicitas den Zeigefinger an die Wange.

»Ich weiß nicht. Die Struktur macht mich unsicher.«

»Schneiden Sie die Rotznase auf, dann wissen Sie mehr«, machte Lammers einen ebenso herzlosen wie pragmatischen Vorschlag.

Fee verzog das Gesicht.

»Vielen Dank für den Tipp. Sie waren mir eine große Hilfe.«

Geflissentlich überhörte er den Sarkasmus in ihrer Stimme.

»Immer wieder gern.« Er deutete eine Verbeugung an und verabschiedete sich.

Felicitas Norden blieb ratlos zurück. Wieder wandte sie sich den Bildern auf dem Monitor zu. Sie konnte nicht genau sagen, was sie daran störte. Doch eine innere Stimme sagte ihr, vorsichtig mit Lammers’ Rat umzugehen. Sie war noch immer in die Betrachtung der Aufnahmen vertieft, als es klopfte. Beim Anblick von Rita und Josef Schindler sprang sie vom Stuhl auf.

»Ah, da sind Sie ja schon!« Sie begrüßte die Eltern und bat sie in die Besucherecke. Dort servierte sie Kaffee und Wasser, ehe sie das Tablet holte und sich zu dem Ehepaar gesellte. Ihr Herz war schwer. Solche Gespräche vermiesten ihr immer wieder die Freude am Arztberuf.

»Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie«, begann sie zögernd und schaltete den kleinen Computer ein.

Rita Schindler griff nach der Hand ihres Mannes.

»Was fehlt unserem Sohn?«, fragte sie tonlos.

Fee öffnete die Bilder aus der Radiologie.

»Hier sehen Sie die Leber Ihres Sohnes.« Mit dem Zeigefinger umkreiste sie den entsprechenden Bereich. »Dort ist deutlich eine Veränderung in der Gewebestruktur zu erkennen, was auf einen Tumor hindeutet.«

Joseph schnappte nach Luft.

»Ein Tumor? Bei so einem kleinen Kind?«

Felicitas Norden nickte bekümmert.

»In der Tat sind Lebertumore bei Kindern selten. Sie stellen nur etwa ein Prozent aller Tumore im Kindesalter dar«, erläuterte Felicitas. »In zwei Drittel aller Fälle sind sie bösartig. Doch davon wollen wir im Augenblick noch nicht ausgehen.«

Als suchten die Eltern Schutz und Halt beim anderen, rückten sie dicht zusammen.

Fee ließ ihnen die Zeit, die sie brauchten, um diese schreckliche Neuigkeit zu verdauen. Sie lehnte sich zurück und betrachtete die beiden. Es waren einfache, sympathische Leute. Sie kamen aus einem Dorf im Umland von München, und sie wollte sich schon nach den Berufen der beiden erkundigen, als Josef die Sprache wiederfand.

»Und wie kann man feststellen, um welchen Tumor es sich handelt?«

»Außer erhöhten Entzündungswerten haben wir in Raphaels Blut keine Anhaltspunkte gefunden, die auf irgendeine spezielle Erkrankung hinweisen. Im Grunde bleibt daher nichts anderes übrig als eine Operation, bei der eine Gewebeprobe genommen wird. Erst, wenn diese Probe ausgewertet ist, haben wir Gewissheit.«

Rita schickte ihrem Mann einen fragenden Blick. Joseph beantwortete ihre stumme Frage mit einem Nicken.

»Bitte tun Sie alles, was nötig ist, um Raphael zu helfen«, bat die besorgte Mutter.

Lächelnd erhob sich Fee, um die nötigen Formulare vom Schreibtisch zu holen. Sie hatte alles vorbereitet.

*

Mit kritischem Blick musterte Joshua den gedeckten Tisch auf der Terrasse. Es war ein schöner, warmer Sommerabend, perfekt für ein Dinner im Garten. Der Kerzenschein der Windlichter spiegelte sich in den polierten Weingläsern. Auf den Tellern lagen rote Servietten, auf die er Blüten aus dem Garten gestreut hatte. Mit Oliven, getrockneten Tomaten und Garnelen gefüllte Schalen verströmten einen verlockenden Duft. Auf dem Heimweg war er noch einmal in der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ vorbeigegangen und hatte frisches Weißbrot besorgt. Er konnte wirklich zufrieden sein mit seinen Vorbereitungen.

»Jetzt fehlt nur noch die Hauptdarstellerin des Abends«, murmelte er. Genau in diesem Moment klingelte es. »Na bitte, wenn das kein Timing ist!« Er klopfte sich selbst auf die Schulter und ging, um zu öffnen.

»Dési? Du?« Joshua starrte seine Freundin an, als hätte sie plötzlich grüne Haare.

Enttäuscht wich sie zurück.

»Tut mir leid, wenn ich störe.« Sie blitzte ihn herausfordernd an. »Dummerweise habe ich den ganzen Tag auf dich gewartet. Wir wollten zum Schwimmen gehen. Erinnerst du dich?«

Joshua schlug sich an die Stirn.

»O Mann, das habe ich völlig vergessen. Du weißt doch, dass meine Mutter heute völlig überraschend zu Besuch gekommen ist.«

»Das ist ja alles schön und gut. Aber du hättest wenigstens absagen können. Ich habe ein paar Mal versucht, dich anzurufen. Aber sogar dein Handy ist ausgeschaltet.«

Wie ein begossener Pudel stand Joshua vor der Tür. Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und warf einen Blick darauf.

»Leer. Ich habe vergessen, es zu laden.«

»Das dachte ich mir.« Dési zuckte mit den Schultern. »Ich fahre jetzt auf jeden Fall ins Freilichtkino. Du kommst nicht mit, oder?«

Am liebsten wäre Joshua im Erdboden versunken.

»Ich würde liebend gern. Aber meine Mutter hat versprochen, mich zu besuchen. Sie fährt morgen weiter in die Schweiz. Danach steht dir dein ergebenster Diener wieder ganz zur Verfügung.« Er machte eine großartige Verbeugung.

Dési lachte widerwillig.

»Warum kann ich dir nur nicht böse sein?«

»Weil Ihr mir mit Haut und Haaren verfallen seid, holde Maid.« Er zog sie an sich. Sein verliebter Blick streichelte ihr Gesicht. Er strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Und ab morgen werde ich wieder alles dafür tun, dass das so bleibt.«

»Wer weiß, vielleicht begegne ich im Kino ja meinem Traummann. Dann hast du deine Chance leider vertan.« Dési stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Im nächsten Augenblick schwang sie sich auf ihr Fahrrad.

Joshua wollte ihr noch etwas nachrufen, als er aus den Augenwinkeln sah, wie seine Mutter auf der anderen Straßenseite aus dem Taxi stieg. Sein Herz schlug schneller, als er ihr gemessenen Schrittes entgegenging. Auf keinen Fall sollte Paola wissen, wie sehr er sich freute, sie wiederzusehen.

*

Dr. Daniel Norden und sein Kollege Matthias Weigand standen zusammen vor dem Computer in Daniels Büro und betrachteten die Röntgenbilder, die die Kollegen von der Radiologie an den Klinikchef geschickt hatten.

»Das sieht leider gar nicht gut aus.« Matthias Weigand deutete auf einen Bereich im Fußgelenk. »Ich tippe auf eine Osteonekrose.

Diese Befürchtung konnte Dr. Norden nur bestätigen.

»Wir haben es mit einer charakteristischen Zerfallserscheinung des Knochens zu tun.«

»Hier hat sich bereits eine Zyste gebildet. Der Sturz hat die ganze Sache nur noch schlimmer gemacht.«

Daniel Norden wiegte nachdenklich den Kopf. Er betrachtete ein Bild nach dem anderen, kam aber immer wieder zu demselben Schluss.

»Frau Lammers muss extrem starke Schmerzen haben. Hast du bei der Untersuchung etwas davon bemerkt?«

Dr. Weigand schüttelte den Kopf.

»Nichts. Ganz im Gegenteil hat sie meine zärtlichen Hände gelobt.« Er schnitt eine Grimasse.

»Bei mir hat sie auch nicht mit der Wimper gezuckt«, warf Daniel ein.

»Das heißt aber noch lange nicht, dass du so zartfühlend und sensibel bist wie ich.« Matthias zwinkerte seinem Freund zu.

Daniel Norden lachte kurz auf, kehrte aber gleich wieder zu dem problematischen Fall zurück.

»Welche Therapie schlägst du vor?«

»Nachdem die Erkrankung schon weiter fortgeschritten ist, kommt eine Knorpeltransplantation in Frage. Wenn sich die Schmerzen damit nicht lindern lassen, müssen wir über eine Sprunggelenkprothese nachdenken.«

Daniel seufzte.

»Ich bin ja mal gespannt, was der Kollege Lammers dazu sagen wird, nachdem er seiner Mutter ja schon unterstellt hat, sich nur wichtig machen zu wollen.« Er lehnte sich zurück. »Die beiden scheinen nicht das beste Verhältnis zu haben.«

»Das wundert mich nicht wirklich«, gestand Matthias Weigand. »Aber ehrlich gesagt habe ich keine Lust, mir an meinem wohlverdienten Feierabend den Kopf darüber zu zerbrechen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Er hob die Hand zum Gruß und verließ das Büro in dem Moment, als Fee hereinkam.

»Ist mein Göttergatte zu sprechen?«, erkundigte sie sich bei Matthias.

»Wenn ich mich nicht irre, wartet er schon sehnsüchtig auf dich.« Er sah Felicitas nach, wie sie lachend in Daniels Büro verschwand.

Ein kleiner, eifersüchtiger Stich fuhr ihm ins Herz. Es gab nichts, was er sich sehnlicher wünschte, als eine Frau an seiner Seite, mit der er das Leben teilen konnte. In guten wie in schlechten Tagen. Doch das Schicksal schien anderes mit ihm vorzuhaben. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Wege zu gehen. Unterwegs beschloss er, sein Vorhaben wahr zu machen und mit Adrian ein Bier trinken zu gehen.

Unterdessen begrüßte Fee ihren Mann mit einem Kuss.

»Na, mein Liebster? Wie geht es dir?« Sie versuchte, einen Blick auf den Computer zu erhaschen. »Das sieht aber nicht nach der Buchung eines Pauschalurlaubs am Gardasee aus«, neckte sie ihn.

Ertappt zuckte Daniel zusammen. Das hatte er völlig vergessen.

»Ich habe noch jede Menge Zeit, mein Versprechen einzulösen«, behauptete er schnell und schielte auf die Uhr.

»Es ist kurz nach sieben, und kein Reisebüro der Welt hat jetzt noch offen.« Fee machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung.

»Ich könnte online buchen.«

»Diese Reise gibt es nur im richtigen Leben.«

»Dann kann ich nur von Glück sagen, dass auch Anwälte um diese Uhrzeit nicht mehr arbeiten.« Daniel stand auf und wollte Fee in die Arme schließen.

Sie ahnte sein Vorhaben und wich ihm geschickt aus.

»Das könnte dir so passen, mein Lieber. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.« Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Schon gut. Ich habe verstanden. Was kann ich tun, damit du mir verzeihst?«

Auf diese Frage hatte Felicitas nur gewartet.

»Für jeden Tag, den du später buchst, bleiben wir einen Tag länger im Urlaub.«

»Das ist Erpressung.«

»Du wolltest es nicht anders«, lächelte Fee verschlagen.

Daniel ahnte, dass er keine Wahl hatte. Diesmal wich sie ihm nicht aus und ließ sich widerstandslos in die Arme schließen.

»Du hast gewonnen«, raunte er ihr ins Ohr. »Aber eines verspreche ich dir: Im nächsten Leben bleibe ich Single. Wie Matthias. Der muss sich nicht mit Erpressungen, Liebesentzug und anderen Gemeinheiten auseinandersetzen«, gab er zu bedenken, während er ihren Hals mit kleinen Küssen bedeckte. Fee gluckste vor Wonne.

»Und du denkst, er ist glücklich damit?«

Eine Antwort bekam sie nicht. Bevor er sich um Kopf und Kragen redete, beschloss Daniel, die Unterhaltung mit einem innigen Kuss zu beenden.

*

Die Kerzen waren herunter gebrannt. Neben leer gegessenen Tellern und zerknüllten Servietten stand eine leere Flasche Wein. Den Rest der zweiten verteilte Joshua auf die beiden Gläser.

»Nicht so viel! Ich bin schon ganz betrunken!«, wehrte sich Paola halbherzig und mit verwaschener Stimme. »Das ist nicht gesund.«

»Schon Seneca wusste: Mit dem Leben ist es wie mit einem Theaterstück.« Mit dem Glas Wein in der Hand drehte Joshua eine vollendete Pirouette und blieb direkt vor seiner Mutter stehen. Er kniete vor ihr nieder und hielt ihr das Glas hin. »Es kommt nicht darauf an, wie lang es ist, sondern wie bunt.«

Paolas Lachen vermischte sich mit dem hellen Klang der Gläser.

»Du hast wirklich Talent, mein wunderbarer Sohn.« Ihr verliebter Blick klebte förmlich an Joshua. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Spau … Schaup … Schauspieler zu werden?«

Schlagartig verging Joshua das Lachen. Ernüchtert kehrte er an seinen Platz zurück. Er schlug die Beine übereinander und dachte nach.

»Ehrlich gesagt ist das schon lange mein Traum«, gestand er endlich. »Aber bisher habe ich nicht gewagt, mit Papa darüber zu sprechen.«

»Warum nicht?« In einer der Schüsseln hatte Paola eine einsame Olive entdeckt. Mit spitzen Fingern steckte sie sie in den Mund.

»Na ja.« Joshua druckste herum. »Adrian ist nicht gut auf die Schauspielerei zu sprechen. Immerhin gibt er deinem Beruf die Schuld daran, dass das mit euch nicht geklappt hat.«

Paola wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und schwieg. Die Grillen zirpten, irgendwo in der Nachbarschaft spielte jemand leise Klavier.

Der Duft nach gemähtem Gras und Sommerblumen wehte sanft durch den Garten.

»Hat dein Vater eine Freundin?«, fragte Paola endlich.

Eine plötzliche Hoffnung blitzte in Joshua auf. Was, wenn sein Vater und seine Mutter es noch einmal miteinander versuchten? So etwas passierte ständig in Filmen. Warum nicht auch im richtigen Leben?

»Nein«, erwiderte er ehrlich. »Ab und zu geht er mal mit einer Frau aus. Aber bis jetzt war offenbar keine dabei, die dir das Wasser reichen konnte.«

»Interessant.« Eingehüllt in eine wattweiche Wolke aus Rotwein, wurde Paola müde. Sie hielt die Hand vor den Mund und gähnte herzhaft. »Sei nicht böse, Josh. Aber ich glaube, ich muss mich jetzt verabschieden.« Träge kämpfte sie sich hoch, um im nächsten Augenblick wieder in den Stuhl zurückzufallen. »Hoppla.« Sie kicherte albern. »Ich glaube, ich bin ein bisschen betrunken.«

»Warum bleibst du nicht einfach hier? Du musst doch erst morgen nach Zürich«, machte Joshua einen Vorschlag.

Paola wackelte mit dem Zeigefinger hin und her.

»Ich glaube nicht, dass das deinem Vater gefallen würde.«

Blitzschnell dachte Joshua über die richtige Antwort nach.

»Papa ist manchmal ein bisschen spießig. Ich glaube, ihm tun ein paar Überraschungen ganz gut.«

Als die Augen seiner Mutter aufblitzten, wusste Joshua, dass sie angebissen hatte.

»Ach ja?«, fragte sie gedehnt.

»Ja«, wiederholte Joshua bestimmt. »Du weißt doch, was Seneca gesagt hat.«

Sie nickte langsam.

»Es kommt nicht darauf an, wie lang das Leben ist, sondern wie bunt.« Ein vielsagendes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie Joshua in die Wohnung folgte und sich das Gästezimmer zeigen ließ, das direkt neben dem Schlafzimmer lag.

*

Mit verzweifelter Miene saß Elfriede Lammers am Tisch und ließ sich ein Glas Früchtetee nachschenken.

»Ich leide unter einer Krankheit, bei der die Knochen im Sprunggelenk absterben«, klagte sie ihrem Besucher ihr Leid. »Können Sie sich das vorstellen? Als wäre ich eine alte Frau.« Sie betupfte die geröteten Augen mit einem Taschentuch.

Dieter Fuchs schenkte sich selbst Tee nach, ehe er die Kanne zurück auf den Tisch stellte.

»Erstens wirken Sie ganz und gar nicht wie eine alte Frau. Und zweitens sind wir beide nicht mehr die Jüngsten. Da geht schon einmal das eine oder andere kaputt.« Seine monotone Stimme hatte etwas Tröstliches.

»Aber eine Prothese!«

»Wir sollten froh sein, dass es solche Ersatzteile für Menschen unseres Alters gibt«, gab Dieter Fuchs zu bedenken. Mahnend hob er den Zeigefinger. »Das erlaubt uns, noch lange unsere Arbeit zu tun.«

»Arbeit!« Elfriede schnaubte verächtlich. »Ich fürchte viel mehr um meinen Spaß. Was wird jetzt aus all meinen schönen Plänen? Die vielen Reisen, die ich noch machen wollte? Den Yogakursus, den ich belegt habe? Das Theaterabo?«

»Das ist verkraftbar. Viel wichtiger ist es, nicht arbeitsunfähig und keine Last für die Gesellschaft zu werden«, tat Fuchs seine Meinung kund.

Noch bevor Elfriede Gelegenheit hatte, seine Worte zu verstehen, öffnete sich die Tür, und ihr Sohn kam herein.

Als Volker Lammers den Verwaltungsdirektor am Bett seiner Mutter entdeckte, stutzte er kurz. Nachdem die Verschwörung gegen den neuen Klinikchef gescheitert war, waren die ehemals Verbündeten erbitterte Feinde geworden. Wenn sie sich nicht aus dem Weg gehen konnten, ignorierten sie einander. So hielt es Lammers auch diesmal.

»Gibt es schlechte Nachrichten?«, wandte er sich grußlos an seine Mutter.

Elfriede schenkte ihrem Sohn ein gekünsteltes Lächeln.

»Ich brauche eine Sprunggelenkprothese.«

»Als Folge des Unfalls?«, empörte er sich sofort. »In diesem Fall werde ich die Sache mit dem Notarztwagen …«

»Der Unfall hat rein gar nichts damit zu tun«, korrigierte sie ihn scharf. »Laut Dr. Norden handelt es sich um das Absterben des Knochens aufgrund von Durchblutungsstörungen.«

»Und deshalb will er dir gleich eine Prothese verpassen?« Volker rollte mit den Augen. »Das werden wir ja sehen.«

»Willst du deiner Mutter die optimale Behandlung verwehren?« In seinem Ärger vergaß Dieter Fuchs ganz, dass er nicht mehr mit Volker sprach.

Der Feind grinste.

»Ich dachte, das wäre in deinem Sinne. Eine Prothese ist teuer und meine Mutter keine Privatpatientin. Ich wollte dir lediglich Kosten sparen.«

»Und ich denke nicht im Traum daran, bei einer aparten Frau wie Elfriede die Kostenschere anzusetzen.« Dieter Fuchs hatte genug. Er erhob sich, drückte einen feuchten Kuss auf Elfriede Lammers’ Hand und ging zur Tür.

»Vielen Dank für Ihren Besuch, mein Lieber.« Sie winkte ihm und sah ihm nach, wie er eilig das Zimmer verließ.

»Mein Lieber!«, schnaubte Volker. »Hast du keine Schmerzgrenze? Reicht es nicht, dass du in unserem Urlaub mit jedem dahergelaufenen Paparazzo geflirtet hast? Muss es jetzt auch noch der langweilige Verwaltungsdirektor sein?«

Elfriede zuckte mit den Schultern.

»Mag sein, dass er langweilig ist. Dafür ist er mindestens zehn Mal so charmant wie du.«

Volker Lammers’ Augen wurden schmal.

»Komm bloß nicht auf die Idee, meine Autorität in der Klinik zu untergraben.«

Seine Drohung ließ Elfriede kalt. In aller Seelenruhe betrachtete sie ihre Fingernägel und polierte sie anschließend an ihrer Bluse.

»Wenn du um deine Autorität fürchten musst, bist du ohnehin keine Autoritätsperson.«

Lammers wollte aufbegehren, als sie ihn mit einer kleinen Geste zum Schweigen brachte.

»Und wenn du mir die Operation nicht gönnst, werde ich zum Pflegefall und quartiere mich bei dir ein.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Volker platzte fast vor Wut.

»Wenn du das tust, mache ich dir das Leben zur Hölle.«

»Oder ich dir. Und jetzt lass mich bitte allein.« Elfriede wedelte mit der Hand hin und her, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben. »Ich soll mich nicht aufregen. Das ist nicht gut für meine Nerven, ganz zu schweigen vom Heilungsprozess.«

Volker schnappte nach Luft. In den vergangenen Jahren hatte es niemand mehr gewagt, ihn an die frische Luft zu setzen. Beleidigt rauschte er aus dem Zimmer. Elfriede dagegen lehnte sich zurück und lachte leise in sich hinein.

*

Es war schon spät, als Adrian Wiesenstein nach Hause kam. Er hatte einen vergnüglichen Abend mit seinem Kollegen Matthias Weigand verbracht und in aller Ausführlichkeit die Vorteile des Single-Lebens erörtert.

Mit der gestärkten Gewissheit, Paola so schnell wieder zu vergessen, wie sie in seinem Leben aufgetaucht war, schloss er die Wohnungstür auf. Sie knarrte genauso wie der alte Dielenboden der Altbauwohnung.

Adrian schlüpfte aus den Schuhen und schlich auf Zehenspitzen hinüber zum Schlafzimmer. Vor dem Lichtschein, der aus dem Gästezimmer über den Flur fiel, blieb er stehen.

»Ich bin gespannt, ob Joshua noch lernt, dass man Licht auch wieder ausschalten kann«, murmelte er und wollte den Schalter umlegen, als sein Blick auf das Bett in der Ecke fiel. »Das kann ja wohl nicht wahr sein!«, entfuhr es ihm.

Aufgeschreckt von dem Lärm regte sich Paola. Sie öffnete die Augen und blinzelte in das Deckenlicht. Schnell verkroch sie sich unter der Bettdecke.

»Wo bin ich? Was ist passiert? Aua, mein Kopf«, klang es dumpf darunter hervor.

Es kostete Adrian alle Mühe, wütend zu wirken.

»Paola, was soll denn das?«, fragte er streng. »Ich dachte, ich hätte mich heute in der Klinik deutlich ausgedrückt.«

Langsam schob sich ihre Stirn, gefolgt von ihrer Nasenspitze, unter der Bettdecke hervor.

»Adrian?«

»So heiße ich. Was hast du hier zu suchen?«

Stöhnend rappelte sich Paola hoch und fuhr sich durch das verwuschelte Haar. Sie sah zum Anbeißen aus.

»Unser Sohn hat mich nach allen Regeln der Kunst mit Rotwein abgefüllt«, gestand sie so zerknirscht, dass Adrian um ein Haar laut herausgelacht hätte. »Nachdem ich erst morgen nach Zürich fahre, meinte er, ich solle heute einfach hierbleiben.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Er wünscht sich ein Frühstück mit uns beiden, wie in einer richtigen Familie. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Ich kann so jungen, charmanten Männern einfach nicht widerstehen.«

Adrian haderte mit sich. Er trat ans Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit.

»Dir ist doch klar, dass das nicht geht, oder?«

»Komm schon! Sei nicht so. Es war einfach schön mit ihm. Wir hatten Spaß und haben so viel gelacht.«

Ein eifersüchtiger Stich fuhr Adrian durch das Herz. Schlagartig war jede Sympathie für Paola verflogen. Er fuhr zu ihr herum und starrte sie wütend an.

»Spaß? Du hast vor acht Jahren entschieden, dass du dieses langweilige Leben nicht mehr haben willst. Von Spaß war keine Rede.«

Paola kämpfte sich aus den Decken und krabbelte aus dem Bett. Joshua hatte ihr ein T-Shirt geliehen, das ihr bis zu den Knien reichte. Derart leicht bekleidet setzte sie sich auf die Bettkante. Ihr trauriger Blick hing an Adrian.

»Bitte versteh doch. Ich konnte damals einfach nicht anders.«

Einen Moment war Adrian versucht, die alte Geschichte wieder aufzuwärmen. Schnell gewann seine Vernunft aber wieder die Oberhand.

»Das, was geschehen ist, ist vorbei, Paola. Ich habe mich damit abgefunden. Wir beide, Joshua und ich, haben uns ein schönes Leben aufgebaut. Und ich sage dir ganz ehrlich: Ich habe keine Lust, dieses Leben von dir durcheinanderbringen zu lassen.«

Allmählich wurde auch Paola wütend.

»Joshua hat recht. Du bist ein Spießer!«, entfuhr es ihr. »Es geht um eine Nacht, um ein Frühstück, das er sich sehnlich wünscht. Den Rest deines langweiligen Lebens kannst du getrost behalten.«

Adrian ballte die Hände zu Fäusten. Er kämpfte mit sich, und einen Moment lang fürchtete Paola, sie würde verlieren.

»Also gut. Ein Frühstück. Und dann verschwindest du dorthin, woher du gekommen bist. In die Versenkung.« Er drehte sich um und stapfte aus dem Zimmer. Diesmal achtete er nicht auf den knarrenden Dielenboden. Doch das machte nichts. Joshua war längst wach und hatte jedes einzelne Wort des Streits angehört.

*

Fee Norden lag im Bett und dachte über die Operation des kleinen Raphael Schindler nach, die für den nächsten Morgen angesetzt war. Irgendetwas stimmte nicht an der Geschichte. Doch sie kam nicht darauf, was es war. Als ihr Mann aus dem Bad kam und zur ihr unter die Decke schlüpfte, beschloss sie, die quälenden Gedanken für diesen Abend zu verdrängen.

»Da bist du ja! Ich dachte schon, du wärst durch das Badfenster getürmt.«

»Habe ich denn Grund dazu?« Er klopfte das Kissen auf und steckte es in den Rücken.

»Kommt darauf an, ob du morgen daran denkst, unseren Urlaub zu buchen.«

»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass unser geschätzter Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs der Mutter von Lammers den Hof macht?«

Daniels Plan ging auf. Die Neuigkeit lenkte Fee von dem unangenehmen Thema ab.

»Dieter Fuchs hat Gefühle?«, entfuhr es ihr.

»Das hat mich, ehrlich gesagt, auch gewundert«, gestand Daniel belustigt.

»Wie geht es Frau Lammers eigentlich?« Fee machte es sich in seiner Armbeuge gemütlich.

»Ich werde sie morgen mit Matthias und Bernhard Kohler aus der Orthopädie operieren.«

»Die Ärmste. Aber eigentlich kein Wunder.« Aus ihren Augen blitzte der Schalk.

»Wie meinst du das?« Daniel kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, wann sie etwas im Schilde führte.

»Mir würde es auch schlecht gehen, wenn ich drei Tage am Stück mit dem Kollegen Lammers verbringen müsste.« Sie ließ ihn nur zu gern am Kliniktratsch teilhaben. »Daran könnte auch der schöne Gardasee nichts ändern.«

»Sag bloß, die beiden haben zusammen Urlaub gemacht?«

»Deshalb hatte Lammers heute Morgen so schlechte Laune«, verriet Fee. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war sie in Plauderlaune. Ihr Mann dankte es ihr mit großem Interesse. »Elena hat im Laufe des Tages herausbekommen, dass sein Unmut weder mit dem schlechten Hotel noch mit dem dreckigen Strand zu tun hatte. Vielmehr hat er sich über den Reiseleiter geärgert, der seiner Mutter hartnäckig den Hof machte.«

Daniel ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen.

»Eifersüchtig war er mit Sicherheit nicht. Lammers hat zu seiner Mutter kein besseres Verhältnis als zum Rest der Welt.« Er erzählte von der Szene, deren Zeuge er im Krankenzimmer geworden war.

Fee konnte nur den Kopf schütteln über ihren ungeliebten Stellvertreter.

»Dann war sein Ärger wahrscheinlich wieder einmal dem Rest der Welt geschuldet, der den genialen Volker Lammers nicht zu würdigen weiß«, seufzte sie. »Eigentlich kann er einem nur noch leidtun.«

Daniel bedachte die Frau in seinem Arm mit einem prüfenden Blick.

»Davon hat er nichts. Statt deine Gefühle an einen eiskalten Klotz zu verschwenden, solltest du dich lieber an mich halten. Ich weiß deine Regungen wenigstens zu schätzen.«

Fee lächelte ihn verliebt an.

»Du bist ein großartiger Mann. Wie schade, dass ich mich morgen von dir scheiden lassen muss.«

»Musst du nicht! Wir machen Urlaub. Am Gardasee«, versprach Daniel hoch und heilig. »Aber ohne Reiselei …« Weiter kam er nicht. Den letzten Rest des Satzes erstickte Fee mit einer leidenschaftlichen Umarmung.

*

Trotz des abendlichen Ausflugs war Matthias Weigand am nächsten Morgen pünktlich wie immer an seinem Arbeitsplatz in der Notaufnahme.

»Haben Sie kein Zuhause, oder warum fangen Sie immer so früh an?«, erkundigte sich die Assistenzärztin Sophie Petzold bei ihrem Kollegen.

»Vielleicht liegt es an meinem Misstrauen gegenüber Ihnen und Ihren experimentellen Therapieansätzen.«

»Ohne modern denkende Kollegen wie mich würden Sie doch heute noch ein kaputtes Bein mit einer Säge amputieren«, gab sie frech zurück.

Obwohl Matthias bereits mehrfach Bekanntschaft mit der Überheblichkeit der jungen Kollegin gemacht hatte, blieb ihm jedes Mal wieder die Spucke weg.

»Sie können von Glück sagen, dass Sie nicht meine Tochter sind. Sonst würde ich Ihnen spätestens jetzt den Hosenboden stramm ziehen.«

»Ich denke, da haben Sie Besseres zu tun«, bemerkte Volker Lammers, der, unbemerkt von den beiden Streithähnen, in der Tür des Aufenthaltsraums aufgetaucht war.

Argwöhnisch sah Matthias zu ihm hinüber.

»Sie haben bestimmt einen Vorschlag.«

»Richtig geraten.« Lammers schickte Sophie Petzold einen vielsagenden Blick.

Die dachte allerdings nicht daran, sich vertreiben zu lassen. So blieb dem Kinderchirurgen nichts anderes übrig, als seinen Kollegen vor die Tür zu bitten.

»Sie haben ja sicherlich mitbekommen, dass meine Mutter hier in der Klinik liegt«, begann er überraschend freundlich.

Matthias war auf der Hut.

»Ich habe die Erstuntersuchung übernommen und werde bei der Operation dabei sein.«

Lammers nickte mehrmals hintereinander.

»Davon habe ich gehört. Aber unter uns: Dieser Eingriff ist doch nicht wirklich notwendig, oder?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Sie sind doch ein erfahrener Kollege. Sicherlich gibt es konservative Methoden, um die Erkrankung zu behandeln, also ohne operativen Eingriff.«

Allmählich ahnte Dr. Weigand, worauf der Kollege hinauswollte. Seine Augen wurden schmal.

»Sollen wir Ihre Mutter entlassen, nur damit Sie Ihre Ruhe haben.«

Der Ärger stand Lammers ins Gesicht geschrieben.

»Warum beantworten Sie nicht einfach meine Frage?«, fragte er scharf.

»Weil ich keinem Kollegen in den Rücken falle. Ganz gleich, ob es sich um meinen Chef oder eine Assistenzärztin handelt. Aber solche moralischen Anwandlungen sind Ihnen offenbar fremd.« Matthias Weigand war wild entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen.

»Mein Verständnis von Moral tut hier nichts zur Sache«, erwiderte Volker Lammers scharf. »Warum geben Sie nicht zu, dass Sie nicht wissen, warum der Chef unbedingt die Klingen wetzen will?«

»Weil das nicht richtig ist.« Allmählich verlor Matthias die Geduld. »Entscheidend für den Erfolg einer konservativen Behandlung ist das Stadium der Erkrankung. Bei Ihrer Mutter ist sie ganz offensichtlich schon so weit fortgeschritten, dass wir auf jeden Fall operieren müssen.«

Lammers wurde hellhörig.

»Ganz offensichtlich? Das klingt danach, als ob Sie sich Ihrer Sache nicht so sicher sind wie unser werter Chef.« Plötzlich schlug die Stimmung um. Er lächelte übertrieben freundlich. »Vielen Dank für Ihre geschätzte Meinung.«

Ehe Matthias Weigand Gelegenheit hatte, seine Worte zu korrigieren, marschierte Dr. Lammers über den Flur davon. Nachdem der Notarzt keine Lust hatte, ihm nachzurufen geschweige denn nachzulaufen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seufzend an seine Arbeit zu machen.

*

Wie schon den Rest der Woche hatte Dr. Adrian Wiesenstein auch an diesem Tag Spätschicht. Kaffeeduft weckte ihn. Er reckte und streckte sich genüsslich, bis ihm der vergangene Abend wieder in den Sinn kam. Schlagartig war er hellwach und seine Laune im Keller. Entsprechend mürrisch war seine Miene, als er in die Küche kam. Geschäftig eilte seine Mutter Karin hin und her und deckte den Tisch.

»Ach, Adrian, da bist du ja.« Sie stellte ein Glas Marmelade und eines mit Honig auf den Tisch und tätschelte im Vorbeigehen seine Wange. »Ich habe schon gehört, dass wir heute hohen Besuch haben. Wenn ich auf dich angewiesen wäre, würde ich überhaupt nichts erfahren.« Trotz ihrer Reklamation schien sie nicht böse zu sein. Ganz im Gegenteil wirkte Karin höchst zufrieden. »Ich wusste immer, dass zwischen Paola und dir das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.«

Adrian rollte mit den Augen.

»Paola hat nur ein Mal hier übernachtet. Im Gästezimmer! Sie bleibt zum Frühstück, weil Joshua sich das gewünscht hat«, erwiderte er schroff. »Danach fährt sie weiter nach Zürich. Das war’s.« Er sah sich suchend um. »Wo steckt sie überhaupt? Und wo ist Joshua?«

»Joshua hat darauf bestanden, Brötchen zu holen.« Karin zündete eine Kerze an. Versonnen blies sie das Streichholz aus.

»Und ich bin hier!«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund.

Adrian fuhr herum und starrte seine Ex-Frau an. Zum Glück war sie fix und fertig angezogen. Mit wiegenden Schritten kam sie auf ihn zu. Ehe er wusste, wie ihm geschah, legte sie die Hand um seinen Nacken und zog ihn zu sich hinunter. Ihr unschuldiger Kuss weckte Erinnerungen, die Adrian längst vergessen wähnte.

»Guten Morgen, mein Lieber.« Paola lächelte, ehe sie auch Karin begrüßte und sich an den Tisch setzte. »Das ist ja das reinste Schlaraffenland.« Sie streckte sich nach einer Rebe Trauben und zog die Füße hoch. »Das fühlt sich an wie ein richtiges Zuhause.«

Karin lächelte geschmeichelt. Ihr Plan war aufgegangen.

»Genau so sollte es sein. Du sollst dich willkommen fühlen.«

»Danke, das tue ich.« Paola schickte ihrem Ex-Mann einen vielsagenden Blick.

Karin legte die Hände ineinander und lächelte selig.

»Ach, Kinder, ist das schön.«

Adrian war froh, dass Joshua mit den Brötchen zurückkam. Sie setzten sich an den Tisch und machten sich über die reich gedeckte Tafel her.

Es dauerte nicht lange, und die Verstimmung war verflogen. Joshua war in Bestform. Zitate aus den verschiedensten Theaterstücken und Filmen flogen zwischen Mutter und Sohn hin und her, und auch Adrian und seine Mutter amüsierten sich prächtig. Viel zu schnell verflog die Zeit.

»Wenn ich jetzt noch einen Happen esse, platze ich«, seufzte Paola schließlich. Erschöpft lehnte sie im Stuhl zurück, die Hände auf dem flachen Bauch.

Joshuas Blick ruhte auf ihr.

»Kannst du nicht noch länger bleiben? Wenigstens noch einen Tag? Dann könnten wir zusammen etwas unternehmen«, platzte er heraus.

Der Vorschlag kam überraschend.

Adrian verschluckte sich an seinem Kaffee. Karin dagegen applaudierte.

»Was für eine wundervolle Idee.«

Geschmeichelt und voller Liebe musterte Paola ihren Sohn.

»Komisch!«, murmelte sie. »Dasselbe ging mir auch gerade durch den Kopf. Mein Engagement beginnt erst in ein paar Tagen, die ersten Termine habe ich morgen im Laufe des Nachmittags. Es würde also genügen, wenn ich morgen früh losführe«, dachte sie laut nach.

Joshua sprang auf und fiel ihr spontan um den Hals. Er lachte über das ganze Gesicht.

»Das wäre so cool!«

Adrian fühlte sich belogen und betrogen. Ehe ihm eine passende Bemerkung eingefallen war, wandte sich Paola an ihn.

»Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.«

Wie ertappt sah er zu Boden.

»Warum sollte ich?«, fragte er und schämte sich gleichzeitig. Er war hin und her gerissen zwischen seiner Eifersucht wegen Joshua und den Gefühlen für Paola. Wenn er nur gewusst hätte, was sie im Schilde führte …

In seine Gedanken hinein klatschte sie in die Hände.

»Dann ist es abgemacht. Wisst ihr was? Wir gehen heute Abend ins Theater. Ein Freund von mir hat mir Karten angeboten. Eigentlich wollte ich absagen, da ich dachte, ich sei nicht mehr hier. Aber jetzt …« Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes. »Oh, das wird wundervoll.«

»Die kleine, heilige Familie zum ersten Mal seit Jahren wieder vereint. Ich freue mich so«, seufzte Karin aus tiefstem Herzen.

»Du kannst gern mitkommen«, bot Paola großzügig an.

»Nein, nein. Ich muss nicht überall dabei sein«, winkte Karin ab. »Es genügt mir zu wissen, dass ihr glücklich seid.«

*

Anders als sonst führte Dieter Fuchs’ Weg nicht direkt in sein Büro. An diesem Morgen wählte er einen Umweg. Bewaffnet mit einem Blumenstrauß hoffte er, niemandem zu begegnen. Vergeblich.

»Blumen?« Dr. Daniel Norden war schon an dem Verwaltungsdirektor vorbei geeilt, als ihm bewusst wurde, was er gesehen hatte. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. »Wache oder träume ich? Sie haben tatsächlich eine leichtsinnige Investition getätigt und höchst vergängliche Blumen gekauft?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Fuchs beleidigt. »Die Blumenhändlerin neben dem Kiosk hat sie mir geschenkt. Die sind von gestern. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen! Ich habe es eilig.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er weiter und betrat wenig später das Krankenzimmer von Elfriede Lammers.

Sie saß aufrecht im Bett und sah ängstlich hinüber zur Tür.

»Ach, Sie sind es!«, seufzte sie. »Ich dachte schon, Dr. Norden kommt mich holen.«

Er erschrak.

»So früh schon?«

»Besser, ich bringe es gleich hinter mich.« Elfriede dankte ihm für den Strauß. Schüchtern wie ein Mädchen schnupperte sie daran.

»Ich bin sicher, die Herrschaften tun ihr Bestes, um Ihnen zu helfen.« Dieter stand vor dem Bett. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, schob sie in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus und verschränkte sie schließlich vor dem Körper.

Belustigt sah Elfriede ihm zu. Seine offensichtliche Unsicherheit reizte sie. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken.

»Ich bin heute Nacht fast gestorben vor Angst. Wenn Sie mir Gesellschaft geleistet hätten, wäre das sicher nicht passiert.«

»Die Nachtschwester hätte Ihnen sicher ein Schlafmittel gegeben.«

Elfriede Lammers’ Lächeln gefror. War es möglich, dass ein Mann derart steif war?

»Natürlich. Wie dumm von mir.«

»Aber nicht doch. Jeder Mensch vergisst mal etwas.« Dieters Mundwinkel zogen sich kaum merklich hoch. »Machen Sie sich keine Sorgen. In ein paar Stunden ist alles vorbei.«

Elfriede dachte nach. Einen Versuch wollte sie noch wagen.

»Ich habe Ihnen ja gestern schon erzählt, dass ich große Angst davor habe, nicht mehr tanzen und reisen zu können. Wenn ich natürlich wüsste, dass Sie mich begleiten …«

»Reisen? Was für eine Zeit- und Geldverschwendung«, entfuhr es Dieter Fuchs. »Ich habe ein paar nette Naturfilme auf Video. Es ist doch viel bequemer, die Welt vom Fernsehsessel aus zu betrachten. Und günstiger natürlich. Warum kommen Sie nicht mal vorbei? Wenn Sie wieder gesund sind, meine ich.« Als ihm bewusst wurde, dass er gerade eine Einladung ausgesprochen hatte, schoss ihm das Blut in die Wangen.

»Ich wüsste nicht, was ich lieber täte«, sagte Elfriede spontan zu. Insgeheim lobte sie sich für ihre Flirtkünste. Sogar ein harter Brocken wie dieser Fuchs konnte ihr nicht widerstehen.

Dieter dagegen suchte bereits nach einer Ausflucht.

»Ich bin mir nur nicht sicher, was Ihr strenger Herr Sohn dazu sagen wird …«

»Volker?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der hat mir ja schon eine Szene gemacht, nur weil ich Ihnen gestern zum Abschied zugeläch …« Weiter kam sie nicht.

»Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch«, peitschte Volker Lammers’ Stimme durch das Zimmer.

Erschrocken fuhren Elfriede und Dieter herum. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatten. Wie immer in letzter Zeit ignorierte er den Verwaltungsdirektor und wandte sich direkt an seine Mutter.

»Im Übrigen müsst Ihr Eure Zukunftspläne ab sofort anderswo schmieden«, verkündete er zufrieden. »Ich habe nämlich gerade mit dem Kollegen Weigand gesprochen. Anders als Dr. Norden behauptet, ist es durchaus möglich, dein Bein konservativ, also ohne Operation zu behandeln.« Er schlug die Bettdecke zurück. »Steh auf und zieh dich an. Du kannst gehen.«

Elfriede rang noch mit der Fassung, als Dieter Fuchs das Wort ergriff.

»Ich kann verstehen, dass du deiner Mutter diesen Eingriff ersparen willst«, bemerkte er grimmig in Volkers Richtung. »Aber ich dulde nicht, dass du den Chef dieser Klinik verunglimpfst. Dr. Nordens fachliche Kompetenz ist über jeden Zweifel erhaben.«

Ein bösartiges Lächeln zuckte um Lammers’ Lippen.

»Da warst du aber schon einmal anderer Meinung.«

»Das tut jetzt nichts zur Sache.«

Mit Genugtuung verfolgte Elfriede Lammers die Debatte, die ihretwegen entbrannt war. Selten wurde ihr so viel Aufmerksamkeit zuteil wie in dieser Klinik.

»Ich sagte es gestern schon einmal: Deine Mutter ist eine erwachsene Frau und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

»Nicht, wenn sie ständig von Verrätern wie dir becirct wird«, konterte Lammers.

Der Verwaltungsdirektor bebte vor Zorn.

»Unter diesen Umständen muss ich leider Dr. Norden informieren«, wandte er sich an Elfriede. »Ich könnte mir vorstellen, dass er die Operation absagen wird.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach Elfriede energisch. »Und bitte entschuldigen Sie das unmögliche Benehmen meines Sohnes.«

Dieter Fuchs zögerte.

»Wie Sie wollen.« Er nickte ihr zu, schickte Lammers einen vernichtenden Blick, und rauschte aus dem Zimmer.

»Und du kannst auch gleich verschwinden«, schleuderte Elfriede ihrem Sohn entgegen.

Volker ballte die Hände zu Fäusten.

»Ist das der Dank dafür, dass ich nur dein Bestes will?« Der zweite Rauswurf innerhalb von 24 Stunden brachte das Fass zum Überlaufen. »Das wird dir noch leidtun.«

»Raus habe ich gesagt!«

Im nächsten Moment fiel die Tür zum zweiten Mal innerhalb von Minuten krachend ins Schloss.

*

Der kleine Raphael lag schon im OP. Die Biopsie sollte in wenigen Augenblicken beginnen. Falls ein Schnellschnitt den Verdacht eines Tumors bestätigte, wollten die Kollegen gleich weiter operieren.

»Was ist los?« Die Kinderärztin Carola May stand neben der Leiterin der Pädiatrie im Vorraum des OPs und wusch sich die Hände. Anders als sonst, wirkte Fee Norden unentschlossen. Das entging ihrer Kollegin nicht. »Ist alles in Ordnung?«

Fee schaltete den Wasserhahn ab und griff nach einem Handtuch.

»Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl bei der Sache«, gestand sie. Sie musterte Carola nachdenklich. »Was, wenn wir es gar nicht mit einem Tumor zu tun haben?«

»Der Befund ist doch eindeutig.« Im Vorfeld der Operation hatten die teilhabenden Ärzte alles ganz genau besprochen. »Es kommt keine andere Erkrankung in Frage. Weder die Blutwerte noch die bildgebenden Verfahren lassen einen anderen Schluss zu. Das hat auch Lammers bestätigt. Der ist vielleicht nicht unser Liebling, aber der beste Kinderchirurg im Haus.« Carola zwinkerte ihrer Chefin zu.

Felicitas warf das Handtuch in den Wäscheeimer in der Ecke. Eine Schwester half ihr in den Operationskittel.

»Der geschätzte Kollege Lammers ist wegen der Einlieferung seiner Mutter gestern nicht gerade auf der Höhe«, erwiderte sie. »Zumindest ist das mein Eindruck. Sie haben doch selbst gehört, dass er Raphael gestern Morgen am liebsten am Blinddarm operiert hätte. Gestern Nachmittag war er dann felsenfest davon überzeugt, wir hätten es mit einem Tumor zu tun.« Die Schwester band ihr die Maske um, und sie betrat den OP.

Raphael schlief tief und fest. Das Team stand bereit, der Operationsbereich war abgedeckt. Felicitas Norden holte tief Luft. Sie streckte die Hand aus. Die Schwester legte das Skalpell hinein. Doch Fee zögerte. Ihr Blick ging ins Leere. Sie dachte über die Frage nach, die sie den Eltern am vergangenen Nachmittag hatte stellen wollen. Was war es nur gewesen? Wie schon in den Stunden zuvor rief sie sich die Bilder in Erinnerung. Eingefallen war es ihr nicht. Doch in diesem Moment war es anders. Plötzlich zog eine unsichtbare Hand den Vorhang beiseite, und Licht erhellte das Dunkel. »Ich wollte sie nach ihrem Beruf fragen.«

»Wie bitte?«, fragte Carola verständnislos. Sie stand ihrer Chefin gegenüber am Tisch.

Noch immer hielt Fee das Skalpell in der Hand. Mit einem Mal war sie aufgeregt.

»Raphaels Eltern! Ich wollte sie nach ihren Berufen fragen.«

»Was spielt denn das für eine Rolle?«, wunderte sich Dr. May.

Doch Fee hörte sie nicht mehr. Sie ließ das Skalpell fallen, riss die Maske vom Mund und stürmte los. Durch den Operationsbereich hinaus auf den Flur. Dort blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Im nächsten Moment hetzte sie weiter. Wie erwartet fand Felicitas die Eltern in einem der Aufenthaltsräume für Angehörige.

Als sie ins Zimmer stürzte, sprangen Josef und Rita auf.

»Ist etwas passiert?«

Mit wild schlagendem Herzen blieb Fee vor den beiden stehen.

»Ich wollte Sie gestern noch etwas Wichtiges fragen. Aber dann kam mein Kollege herein und hat mich abgelenkt.« Sie musste innehalten, um Luft zu holen. »Welche Berufe üben Sie aus?«

Es war Rita anzusehen, was sie von dieser Frage hielt. Sie schickte ihrem Mann einen fragenden Blick. Josef nickte kaum merklich.

»Ich bin Grundschullehrerin«, gab sie zögernd Auskunft.

Diese Information brachte Fee nicht weiter.

»Und Sie?«, wandte sie sich an Josef.

»Förster. Aber ich verstehe nicht, was das mit der Krankheit unseres Sohnes …«

»Förster?«, unterbrach Felicitas ihn aufgeregt. Blitzschnell zählte sie eins und eins zusammen. Des Rätsels Lösung war nah. »Dann verbringt Raphael sicher auch viel Zeit im Wald.«

»Er hilft regelmäßig am Wochenende mit.« Es war Josef anzusehen, dass er immer noch nicht verstand.

Von einer plötzlichen Schwäche erfasst sank Fee auf einen der Stühle. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Rita und Josef standen vor der Ärztin und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Also schwiegen sie und warteten ab. Endlich nahm Fee die Hände vom Gesicht und lächelte.

»Ich hatte die ganze Zeit so ein komisches Gefühl«, gestand sie. »Ihr Sohn hat keinen Tumor. Wir haben es mit einem Bandwurm zu tun. Möglicherweise einem Fuchsbandwurm.«

»Ein Bandwurm?« Josef schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe Raphael immer gesagt, dass er keine Beeren essen soll.«

»Inzwischen weiß man, dass eine Übertragung durch Waldfrüchte aufgrund der Wuchshöhe relativ unwahrscheinlich ist«, erklärte Felicitas. »Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich Raphael beim Holzsammeln oder Spielen mit Tannenzapfen angesteckt hat. Bestimmt hat er dabei die Finger in den Mund gesteckt. Eine Übertragung der Wurmeier auf den Menschen findet ausschließlich über den Kontakt zum Mund statt. So wird es passiert sein.« Sie erhob sich, um in den OP zurückzukehren. Jetzt wusste sie genau, was sie zu tun hatte.

»Aber warum konnten Sie das nicht früher feststellen?«

»Weil sich die Infektion bei Ihrem Sohn noch in einem frühen Stadium befindet. Natürlich haben wir Raphaels Blut auch auf einen möglichen Wurmbefall untersucht, aber nichts Verdächtiges gefunden. Und auch die Röntgenbilder waren nicht eindeutig.« Noch immer konnte Fee ihr Glück nicht fassen. »Sicher, die Leberstrukturen sind verändert, aber eben nicht in für einer für eine Wurminfektionen typischen Art und Weise.« Ihr Lächeln zeugte von ihrer Erleichterung. »Hätte ich die Biopsie durchgeführt, hätte das fatale Folgen für Raphael haben können. Bei dem veränderten Gewebe in der Leber handelt es ich um Zysten, die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Läuft diese Flüssigkeit aus, werden Bandwurm-Finnen in das umliegende Gewebe gespült. Schwere allergische Reaktionen können die Folge sein.« Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr übel. »Ich bin sehr froh, auf meine innere Stimme gehört zu haben.« Felicitas Norden nickte den Eltern zu. »Jetzt muss ich aber zurück in den Operationssaal. Wir haben später noch genug Zeit, uns zu unterhalten.« Sie schenkte den Eltern ein letztes Lächeln, ehe sie sich im Laufschritt auf den Rückweg machten.

Rita und Josef Schindler blieben zurück. Sie brauchten noch Zeit, um die frohe Botschaft zu verarbeiten.

*

Die Geräte zur Überwachung der Vitalfunktionen piepten leise vor sich hin. Gemeinsam mit Dr. Matthias Weigand und Dr. Bernhard Kohler stand der Klinikchef Daniel Norden am Operationstisch. Er war hochkonzentriert, führte die Instrumente mit ruhiger Hand.

»Absaugen!«, verlangte er und sah der Schwester dabei zu, wie sie seinen Befehl ausführte. Er ließ sich eine Pinzette reichen.

Ein schriller Ton zerriss die Luft. »Massiver Blutdruckabfall«, warnte der Anästhesist Dr. Klaiber.

Daniel sah hoch zum Monitor. Verwunderung lag in seinem Blick.

»Ich kann nichts dafür. Der Blutverlust ist minimal.«

»Ich gebe Adrenalin«, teilte Klaiber seinen Kollegen mit. »Beeilt euch. Der Druck fällt weiter.«

Mit fliegenden Fingern arbeitete Dr. Norden weiter.

»Wird es besser?«, erkundigte er sich.

Arnold Klaiber schüttelte den Kopf. Ein weiteres Signal warnte das OP-Team. Der Kontrollmonitor des EKGs schlug Alarm. Alles wussten, was das bedeutete.

»Herzstillstand!«

»Runter mit dem Tisch!«, befahl Dr. Weigand. Im nächsten Moment begann er mit der Herz-Druck-Massage. »Defibrillator. Schnell!«

Bernhard Kohler setzte das Gerät an.

»Zurück! Und los!«

Elfriedes Körper bäumte sich auf und fiel mit einem dumpfen Geräusch zurück auf den Tisch. Alle starrten gebannt auf das EKG. Die Linie blieb flach.

»Noch mehr Adrenalin!«, verlangte Daniel. »Nun mach schon!« Damit meinte er Elfriede Lammers’ Herz. »Na los!«

»Noch einmal?« Dr. Kohler hielt den Finger an den Auslöser des Defibrillators.

»Natürlich. Worauf warten Sie noch?«

Wieder zuckte ein Stromstoß durch den Körper.

»Sie kommt wieder!«, verkündete Dr. Klaiber gleich darauf.

Daniel atmete auf.

Feine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

»Wir brechen ab. Naht, schnell!«, befahl er.

Matthias Weigand zögerte nicht. Mit sicheren Handgriffen versorgte er die Wunde. Daniel blieb noch einen Moment, um sich zu vergewissern, dass die Krise überstanden war. Erst dann verließ er den Operationssaal, um direkt in Lammers’ Arme zu laufen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er überrascht und stellte sich ans Waschbecken. Das Wasser spritzte ins Becken. »Haben Sie nicht gesagt, dass Ihre Mutter bleiben kann, wo der Pfeffer wächst?«, erinnerte er den Kollegen an die Worte, die er kurz vor dem Eingriff losgeworden war.

»Was ist mit meiner Mutter?«, fragte Lammers statt einer Antwort.

»Wir mussten abbrechen. Sie wird gerade auf die Intensivstation verlegt.«

»Na bravo! Da haben Sie ja ganze Arbeit geleistet.«

Daniel stellte den Wasserhahn ab und fuhr zu Volker herum.

»Ich verbitte mir diesen Ton!«, fauchte er. »Sie wissen selbst, dass eine OP immer ein Restrisiko birgt. Dass es ausgerechnet bei Elfriede passieren musste, tut mir außerordentlich leid.«

»Wenn Sie auf mich gehört hätten, wäre das nicht passiert«, behauptete Volker. »Aber Sie mussten sich ja unbedingt als Heiland aufspielen.«

»Ach ja? Im Gegensatz dazu hätten Sie Ihrer Mutter lieber ein Leben mit grauenhaften Schmerzen zugemutet. Das sieht Ihnen ähnlich.« Wütend trocknete sich Dr. Norden die Hände ab und machte Anstalten, den OP-Bereich zu verlassen.

»Wo wollen Sie hin?«

»Zu Ihrer Mutter, für die Sie sich angeblich brennend interessieren.« Damit ließ Daniel den Kollegen stehen und stapfte aus dem Vorraum des OPs.

*

Gestärkt vom Frühstück machten sich Paola und Joshua zum Aufbruch bereit.

Adrian sah ihnen sehnsüchtig dabei zu.

»Ihr habt es gut«, seufzte er. »Ich würde auch lieber mit euch durch die Stadt bummeln, anstatt mir die muffige Klinikluft um die Nase wehen zu lassen.«

Joshua schnitte eine Grimasse.

»Das ist allein dein Verdienst«, sagte er zu seiner Mutter. »So hat er noch nie über seinen Arbeitsplatz gesprochen. Bis jetzt hatte ich immer das Gefühl, er könne nicht genug von der ›muffigen Klinikluft‹ bekommen.«

Adrian gab seinem Sohn einen Klaps.

»Etwas mehr Respekt vor dem Alter, wenn ich bitten darf!«, verlangte er lächelnd. Paolas durchdringender Blick machte ihn nervös.

Sie lächelte von einem zum anderen.

»Geh schon mal vor zum Taxi, sonst fährt es ohne uns davon. Ich muss noch etwas mit deinem Vater besprechen.«

Joshua meinte zu ahnen, was Paola vorhatte, und das Glück sprang ihm aus den Augen.

»Lasst euch Zeit. Ich kenne ein paar lustige Taxi-Witze, mit denen ich unseren Chauffeur unterhalten kann.« Er schnappte sich den Hut von der Garderobe, setzte ihn schief auf den Kopf und war im nächsten Moment verschwunden.

Seine Eltern blieben zurück. Karin rumorte irgendwo im hintersten Eck der Wohnung. Diese Gelegenheit nutzte Paola und trat auf ihren Ex-Mann zu. Ihr lasziver Blick raubte Adrian den Atem.

»Schade, dass du uns nicht begleiten kannst«, raunte sie ihm zu und legte die Arme um seinen Nacken. »Bevor ich gehe, möchte ich dir noch etwas sagen.«

Adrian schluckte.

»Ja?«, krächzte er. Er zögerte, legte aber dann doch die Arme um ihren schmalen Rücken. Durch das dünne Shirt spürte er die Wärme ihrer Haut. Er erinnerte sich daran, wie sie sich angefühlt hatte. Ob ihre Haut immer noch so weich und samtig war wie früher?

»Es tut mir leid, was ich euch damals angetan habe«, murmelte Paola dicht an seinen Lippen. »All die verlorenen Jahre …«

»Das waren sie nicht. Nicht für mich.«

»Aber vielleicht für mich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, hob leicht das Kinn, tauchte ein in seinen Blick. Wie magisch angezogen beugte sich Adrian über Paola und küsste sie. Diesmal war der Kuss alles andere als unschuldig. Er presste sie an sich, seine Hände zeichneten die Linien ihres Körpers nach. Paola wehrte sich nicht. Ganz im Gegenteil.

»Du hast nichts verlernt«, lachte sie leise, als sie sich voneinander lösten. »Ein Glück, dass Joshua unten wartet. Sonst könnte ich für nichts garantieren.« Sie schob ihn von sich, streichelte seine Wange und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal um und schickte ihm eine Kusshand. Dann war sie auch schon verschwunden. Vom Fenster aus beobachtete Adrian, wie sie zu Joshua ins Taxi stieg. Er hörte Schritte hinter sich, drehte sich aber nicht um.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, dass Paola hier ist«, sagte Karin. »Ihr scheint euch ja blendend zu verstehen.« Sie zögerte. »Wenn sie bleiben will: Ich habe nichts dagegen und werde euch nicht stören.«

Adrian stand noch ganz unter dem Eindruck des Kusses. Gerührt legte er den Arm um die Schultern seiner Mutter. Ohne sie hätte er die vergangenen Jahre nicht gemeistert.

»Danke, Mama«, sagte er heiser und drückte sie an sich.

*

Fee Norden war auf dem Weg zu Raphael Schindler, als ihr Volker Lammers über den Weg lief. Er wollte grußlos an ihr vorbei hasten.

»Die Nähe Ihrer Mutter scheint Ihnen nicht allzu gut zu bekommen«, rief sie ihm nach.

Lammers machte keinen Hehl daraus, dass er nicht gerade erpicht auf ein Gespräch mit seiner Chefin war.

»Seit wann verfügen Sie über hellseherische Fähigkeiten?«, ätzte er schlecht gelaunt.

Damit kam er ihr gerade recht.

»Seit Sie zwei Mal eine falsche Diagnose gestellt haben.«

Volker musste nicht lange darüber nachdenken, über wen Felicitas sprach.

»Ich sagte doch schon, dass mich die kleine Rotznase nichts angeht.«

»Ich hatte Sie um Ihre Meinung gefragt, weil ich Ihren Fähigkeiten als Arzt vertraut habe. Aber selbst das werde ich mir in Zukunft drei Mal überlegen. Hätte ich auf Sie gehört, hätte ich heute Raphaels Leben aufs Spiel gesetzt.« Diesen Vorwurf konnte sie ihm nicht ersparen.

Zu ihrem großen Ärger grinste Lammers frech.

»Zum Glück strahlen Ruhm und Glanz Ihres Göttergatten auf Sie ab und haben offenbar für die nötige Erleuchtung gesorgt.« Er deutete eine Verbeugung an. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich hatte heute schon genug Erleuchtete um mich. Mehr verkrafte ich nicht.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte davon.

Felicitas sah ihm nach. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich über ihn ärgern sollte, entschied sich aber dagegen. Sie dachte nicht daran, sich ihr Erfolgserlebnis kaputt machen zu lassen.

»Dieser Mensch, ach was, dieses Monster ist es nicht wert!«, beschwichtigte sie sich selbst. Vor Raphaels Krankenzimmer machte sie Halt und holte tief Luft, ehe sie mit einem Lächeln auf den Lippen eintrat.

Seine Eltern waren bei ihm. Das Misstrauen war wie weggeblasen, und sie begrüßten die Ärztin mit strahlenden Gesichtern.

»Wir wissen gar nicht, wie wir Ihnen danken sollen.«

»Am besten, indem Raphael wieder ganz gesund wird.« Felicitas zwinkerte dem Jungen im Bett zu.

Die Narkose war nicht spurlos an ihm vorbei gegangen. Der Achtjährige war noch recht blass um die Nase.

Doch aus seinen Augen blitzte schon wieder der Schalk.

»Wenn es Schokocreme zum Frühstück gibt, muss ich unbedingt ganz lange hierbleiben«, verkündete er.

»Warum das denn?«

»Weil ich die zu Hause nicht essen darf.«

Fee legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Zu ihrer Erheiterung trug auch die Erleichterung bei, Raphael wieder so munter zu sehen. Nur sie allein konnte ermessen, wie knapp er einer Katastrophe entkommen war.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Schokocreme haben. Wenn du willst, frage ich später mal nach. Aber ob du sie auch essen darfst, musst du mit Mama und Papa besprechen.«

»Die sind so froh, dass ich kein Bauchweh mehr habe, dass ich alles darf«, erwiderte der Junge im Brustton der Überzeugung.

»Ganz schön selbstbewusst, junger Mann«, tadelte Josef schmunzelnd.

Es tat Fee leid, das scherzhafte Gespräch in eine ernstere Richtung lenken zu müssen. Doch die Eltern mussten alles erfahren, was wichtig war.

»Bei der Operation haben wir ganz besonders darauf geachtet, dass es uns gelingt, alle Finnen – das sind Bandwürmer in einem sehr frühen Entwicklungsstadium – zu entfernen. Wie vermutet, handelte es sich bei dem veränderten Gewebe in der Leber um kleine Zysten, die wir ebenfalls entfernt haben.«

»Dann ist er jetzt wieder ganz gesund?«, fragte Rita hoffnungsvoll. Sie konnte den Blick kaum von ihrem einzigen Sohn wenden.

»Das wissen wir noch nicht so genau«, musste Felicitas zugeben. »Wenn Raphael sich von dem Eingriff erholt hat, können wir ihn entlassen. Es ist möglich, dass wir nicht alle Finnen erwischt haben. Deshalb muss er zu Hause noch eine Zeit lang Medikamente einnehmen, um auch den letzten Rest abzutöten.«

»Im Gegensatz zu dem Leid der vergangenen Monate ist das bei Weitem das kleinere Übel«, erwiderte Rita aus tiefstem Herzen und wuschelte ihrem Sohn durch das Haar.

Fee blieb noch eine Weile und plauderte mit der liebenswerten Familie, bis es schließlich Zeit für den Abschied wurde. Doch sie ging nicht ohne das Versprechen, am nächsten Morgen bei der Visite wieder wie gewohnt zur Stelle zu sein.

*

So glücklich wie seine Frau war Dr. Daniel Norden nicht. Bedrückt stand er am Bett seiner Patientin Elfriede Lammers, die vor kurzem aus der Narkose erwacht war. Obwohl er sich sicher war, keinen Fehler gemacht zu haben, fühlte er sich schuldig an dem Vorfall. In einfachen Worten erklärte er ihr, was passiert war.

»Wie konnte das geschehen, Herr Doktor?«

»Das müssen wir erst noch herausfinden. Wenn es uns gelungen ist, dem Grund auf die Spur zu kommen und die Ursache auszuschalten, würde ich gern einen weiteren Versuch wagen.« Er musterte sie ernst. »Natürlich nur, wenn Sie mir noch vertrauen. Andernfalls übergebe ich selbstverständlich an einen Kollegen.«

Erschöpft von den Strapazen, hob Elfriede die Hand.

»Ich bestehe darauf, dass Sie mich weiter behandeln.« Ihr Atem ging schwer. »Ist mein Sohn schon informiert?«

Daniel nickte.

»Er hat mir die Schuld gegeben.«

»Typisch.« Sie schloss die Augen.

»Er ist hier und will Sie sehen.«

»Muss das sein?«, fragte Elfriede, ohne die Augen zu öffnen. »Sie könnten sagen, dass ich schlafe.«

»Wenn möglich, erfülle ich meinen Patienten jeden Wunsch. Aber lügen gehört nicht zu meinem Repertoire.«

»Sie sind so ein anständiger Mann.« Elfriede lächelte. »Schade, dass Sie schon verheiratet sind.« Sie blinzelte ihm zu, und Daniel lächelte.

»Schon seit Menschengedenken. Und immer noch sehr glücklich.«

»Beneidenswert. Bei Gelegenheit müssen Sie mir verraten, wie Sie das angestellt haben.« Obwohl Elfriede das Sprechen schwerfiel, konnte sie nicht schweigen. »Ich war schon vier Mal verheiratet. Geblieben ist mir keiner.«

Unwillkürlich musste Daniel an ihren Flirt mit Dieter Fuchs denken.

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, versprach er ihr. »Ich hole jetzt Ihren Sohn herein.«

»Bleiben Sie hier, um mich zu retten, wenn er über mich herfällt?«

»Leider habe ich nebenbei auch noch eine Klinik zu leiten«, musste Daniel ihr Ansinnen ablehnen. »Aber ich bin sicher, dass er es nicht wagt, Ihnen in diesen heiligen Hallen etwas anzutun.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr!«, rief Elfriede ihm krächzend nach, ehe er das Intensivzimmer verließ.

Bei Lammers’ Anblick verschwand das Lächeln von seinen Lippen. Bevor er den Kollegen eintreten ließ, nahm er ihn sich zur Brust.

»Nur zu Ihrer Information: Ich habe Ihre Mutter gefragt, ob sie sich weiter von mir behandeln lassen will.«

Volker musterte seinen Chef aus schmalen Augen.

»Lassen Sie mich raten: Sie haben Sie ein weiteres Mal herum gekriegt.«

Es war nicht leicht, Dr. Norden zu provozieren.

Doch Volker Lammers gelang es schon zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Das war gar nicht nötig.« In Daniels Stimme lag eine deutliche Drohung. »Abgesehen davon haben Sie den Bogen heute deutlich überspannt. Wenn Sie nicht augenblicklich zur Vernunft kommen, vergesse ich, warum Sie trotz ihrer menschlichen Defizite immer noch Arzt an dieser Klinik sind.« Mehr gab es nicht zu sagen.

Grußlos wandte sich Dr. Daniel Norden ab und machte sich auf den Weg in sein Büro. Statt sich mit einem Dr. Lammers herumzuschlagen, gab es jede Menge andere sinnstiftendere Dinge zu tun. Zum Beispiel, eine Erklärung für die lebensbedrohliche Krise von Elfriede Lammers zu finden.

*

»Augen zu!« Joshua stand in der Umkleidkabine, seine Mutter in der Ankleide gegenüber.

Paola schloss die Augen.

»Du aber auch!«, verlangte sie, glucksend vor Vergnügen.

»Versprochen.« Um der Versuchung zu widerstehen, legte sie die Handflächen über die Augen. »Auf drei. Eins, zwei …«

Joshua warf einen letzten Blick in den Spiegel. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Auf drei schloss er die Augen. Mit einem Ruck zog er den Vorhang zurück.

»Und aufmachen!«

Gleichzeitig öffneten sie die Augen wieder. Einen Moment lang starrten sie sich sprachlos an, ehe sie in wieherndes Gelächter ausbrachen.

»Du bist die hübscheste Gangsterbraut, die ich je gesehen habe«, japste Paola, als sie endlich wieder Luft bekam.

»Und du der attraktivste Clyde aller Zeiten. Ein Glück, dass der echte Clyde nicht mehr unter uns weilt. Er würde dich schon aus Neid erschießen.« Joshua wischte sich die Lachtränen von den Wangen.

Paola rückte den Hut auf ihrem Kopf zurecht, strich die Anzugweste glatt und bot ihrem Sohn den Arm.

»Darf ich bitten, Mylady?«

»Es ist mir eine Ehre.« Formvollendet legte Joshua seine Hand auf ihren Arm, und sie stolzierten im Geschäft auf und ab. Er musste achtgeben, nicht über den Saum des langen, schwarzen Kleides zu stolpern. Die Verkäufer scharten sich um das ungewöhnliche Paar und schossen Fotos mit ihren Handys. Der Auftritt war spektakulär.

Am Ende des Geschäfts angelangt, umarmte Paola ihren Sohn stürmisch.

»Du bist einfach großartig«, machte sie ihrer Begeisterung lautstark Luft. »O Josh, du musst unbedingt mit mir nach Zürich kommen.«

Schlagartig verging Joshua das Lachen. Wie vom Donner gerührt stand er da und starrte seine Mutter an.

»Ist das dein Ernst?« Die tiefe Stimme wollte nicht zur damenhaften Aufmachung passen, und die Umstehenden lachten. Joshua bemerkte es ebenso wenig wie Paola.

»Natürlich ist das mein Ernst!«, versicherte sie überschwänglich. »Ich sorge dafür, dass du erstklassigen Schauspielunterricht bekommst. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir.« Ihre Hände schlugen eine imaginäre Zeitung auf. »Joshua Wiesenstein tritt in die Fußstapfen seiner legendären Mutter.« Sie ließ die Hände sinken und strahlte ihn an. »Na, wie klingt das?«

Joshuas Augen begannen zu leuchten. Schon sah er sich auf den Bühnen der Welt stehen, Shakespeare, Büchner und Brecht rezitierend. Der frenetische Applaus seines Publikums klang ihm in den Ohren. Er befand sich außerhalb von Raum und Zeit, vergaß die reale Welt um sich herum, dachte weder an seinen Vater noch an seine Freunde oder die Schule.

»Das ist zu schön, um wahr zu sein«, erwiderte er aus tiefstem Herzen.

Nichts anderes hatte Paola erwartet.

Wie jeder neuen Idee, gab sie auch diesem Impuls begeistert nach. Sie schob Joshua zurück in die Umkleidekabine.

»Los, zieh dich um! Wenn du morgen früh mit mir nach Zürich fahren willst, müssen wir noch jede Menge erledigen.«

Mit einem Ruck zog sie den Vorhang zu.

Hastig tauschte er das bodenlange Kleid gegen Jeans und T-Shirt. Schon jetzt freute er sich auf Désis Gesicht, wenn er ihr von dieser tollen Chance erzählte. Wie stolz würde sie auf ihn sein!

*

»Haben Sie eine Erklärung für den Vorfall?«, erkundigte sich Dr. Norden bei dem Anästhesisten Arnold Klaiber.

Der hatte sich gerade einen Kaffee aus der Maschine eingeschenkt. Er nippte an der Tasse und verzog angewidert das Gesicht.

»Warum schaffen wir teure Kreislaufmittel an, wenn sie hier kostenlos herumstehen? Dieses Gebräu hätte Frau Lammers sofort wieder zum Leben erweckt.«

Daniel lächelte pflichtschuldig. Ihm war nicht nach Scherzen zumute.

»Ich werde Ihren Vorschlag bei der nächsten Sitzung vorbringen«, erklärte er und ließ sich auf einen der freien Stühle fallen, die um den Tisch herumstanden. »Aber vorher brauchte ich eine Erklärung, was da vorhin im OP passiert ist.« Er sah Arnold Klaiber fragend an.

»Im ersten Moment habe ich an einen Herzinfarkt gedacht.«

Daniel nickte.

»Das war auch mein Gedanke. Es könnte sich aber auch um eine Lungenembolie gehandelt haben.«

»Auch eine hübsche Idee. Aber beides ist inzwischen ausgeschlossen.« Dr. Klaiber deutete auf eine Mappe auf dem Tisch. »Das EKG ist auffallend unauffällig, genauso wie Blutwerte und Blutgasanalyse.«

Daniel öffnete die Mappe und überflog die Untersuchungsergebnisse.

»Wäre ich Verschwörungstheoretiker, würde mein Verdacht auf den Kollegen Lammers fallen. War er nicht massiv gegen den Eingriff?«, fuhr Klaiber fort.

»Sie denken, er hätte seiner Mutter ein Präparat verabreicht, das in dieser Weise mit dem Narkosemittel reagiert?« Daniel schüttelte den Kopf. »Bei aller Antipathie. Aber so weit würde er nicht gehen. Das traue ich ihm dann doch nicht zu.«

Arnold Klaiber zuckte mit den Schultern und streckte sich nach einem der Kekse auf dem Teller.

»Das fast perfekte Verbrechen.« Mit einem Happen verschwand das Gebäck in seinem Mund.

So abwegig diese Theorie auch war, brachte sie Dr. Norden dennoch auf eine Idee.

»Könnte es nicht auch sein, dass Frau Lammers uns etwas verschwiegen hat?«

»Sie denken an eine Erkrankung?«

»Eher an ein Medikament, das diese Reaktion auf das Narkotikum bewirkt hat.«

»Interessante Theorie.« Dr. Klaiber wischte sich einen Kekskrümel aus dem Mundwinkel.

»Und möglicherweise haltbarer als der versuchte Mord des Kollegen Lammers.« Endlich fand Daniel Norden seinen Humor wieder. Er riss noch ein paar Witze mit dem Kollegen, ehe er aufstand. »Dann begebe ich mich mal auf Wahrheitssuche.«

Der Anästhesist sah ihn von unten herauf an.

»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden. Falls doch Lammers dahinter steckt, habe ich etwas gut bei Ihnen.«

»Abgemacht!« Daniel lachte, ehe er sich auf den Weg machte, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

*

Eine leichte Brise wehte und sorgte für angenehme Kühlung. Dési Norden lag auf ihrem Balkon im Halbschatten und versuchte, sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Vergeblich. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Joshua ab. Seit seine Mutter wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hörte sie kaum mehr etwas von ihm, von sehen ganz zu schweigen. Umso überraschter war sie, als sie durch die Streben des Balkon-Geländers bemerkte, wie ausgerechnet ihr Freund den Gartenweg hinauflief.

In hohem Bogen flog das Buch auf den Boden, und Dési sprang auf.

»Joshua, endlich!«, rief sie, ehe sie in Windeseile die Treppe hinunter stürmte, um ihm zu öffnen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, beleidigt zu sein. Als sie ihm aber gegenüberstand, gab es kein Halten mehr. Sie flog in seine Arme und ließ sich von ihm durch die Luft wirbeln. Ihr weißblondes Haar, ein Erbe ihrer Mutter, umwehte sie.

Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, strich sie es zu Seite. Verliebt sah sie zu Joshua auf.

»Du hast dich ganz schön rar gemacht in letzter Zeit. Das darf nicht mehr vorkommen. Sonst suche ich mir einen anderen«, neckte sie ihn.

Unvermittelt wurde Joshua ernst.

»Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?« Er sah sich im Flur um.

Dési wurde hellhörig.

»Stimmt was nicht?«

»Alles bestens. Ich muss nur mit dir reden.«

»Wir sind allein.« Alarmiert trat Dési zurück. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und sah ihn forschend an. »Mum und Dad sind in der Klinik, Janni spielt bei einem Freund Computer und Lenni und Oskar haben sowieso Besseres zu tun, als bei dem schönen Wetter hier herumzugammeln.«

»Vorwurf angekommen. Es tut mir leid.«

Dési dachte kurz nach. Dann drehte sie sich um und ging ins Wohnzimmer. Sie ließ sich auf die Couch fallen.

»Also raus mit der Sprache! Was hast du mir Großartiges zu erzählen.«

Joshua machte keine Anstalten, sich zu setzen. Er schob die Hände in die Hosentaschen und wippte verlegen auf den Sohlen vor und zurück. Beim Anblick seiner Freundin hatte sich seine Euphorie in Luft aufgelöst.

»Meine Mutter geht morgen nach Zürich. Sie hat dort ein mehrjähriges Engagement.«

»Lass sie doch.« Ungerührt zuckte Dési mit den Schultern. »Sie hat sich in all den Jahren eh kaum um dich gekümmert.«

Joshua konnte nicht länger stehen bleiben.

Er begann, vor dem Sofa auf und ab zu gehen.

»Ja, schon«, erwiderte er gedehnt. »Aber ich glaube, Paola hat sich geändert. Wir verstehen uns super und haben jede Menge Spaß zusammen.«

Seine Schilderung machte Dési stutzig. Sie legte den Kopf schief.

»Und was willst du mir wirklich sagen?«

Joshua blieb wieder vor ihr stehen. Er zögerte kurz, ehe er sich auf den Hocker neben der Couch setzte. Er nahm die Hände seiner Freundin in die seinen. Es fiel ihm schwer, ihren Blick zu erwidern. Aber es musste sein.

»Paola hat mich gefragt, ob ich nicht mit ihr kommen will. Sie hat tolle Kontakte. Ich könnte Unterricht bei den besten Schauspiellehrern nehmen. Das ist eine großartige Chance.«

Mit einem Ruck zog Dési ihre Hände zurück.

»Und du gehst natürlich mit.« Sie fühlte sich, als hätte er ihr eine Ohrfeige verabreicht.

»Komm schon, Dési! Ich dachte, du freust dich für mich«, appellierte Joshua an ihre Empathie. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Klar. Natürlich.« Ihre Stimme war spitz. »Herzlichen Glückwunsch auch.« Sie stand auf. »Du, es tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich habe ganz vergessen, dass ich Mum versprochen habe, mich mit ihr im Klinikkiosk zu treffen.« Sie durchquerte das Wohnzimmer und sah Joshua auffordernd an. »Kommst du?«

Dieses Gespräch war ganz anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Er stemmte sich hoch und folgte ihr durch den Flur zur Haustür.

»Dési, ich …« Vergeblich suchte er nach Worten.

Und sie ließ ihm keine Wahl.

»Ciao, Joshua!«

Er schickte ihr einen verzweifelten Blick. Schließlich blieb ihm aber nichts anderes übrig als zu gehen.

*

Wild entschlossen, die Wahrheit aus seiner Patientin herauszukitzeln, betrat Dr. Daniel Norden das Krankenzimmer. Dieter Fuchs war bei ihr. Beim Anblick des Chefarztes sprang er vom Stuhl auf.

»Ich habe nur gerade mit Frau Lammers die Abrechungsmodalitäten besprochen. Immerhin ist sie ja keine Privatpatientin und kann deshalb auch nicht auf einer Chefarztbehandlung bestehen«, rechtfertigte er seinen Besuch während der Arbeitszeit.

In Normalfall hätte sich Daniel über seine Inkonsequenz lustig gemacht. Kleinlich gegenüber jeder Verfehlung der Klinik-Mitarbeiter, war der Verwaltungsdirektor im Augenblick gegen sich selbst sehr großzügig. Doch die momentane Lage ließ keinen Scherz zu.

»Falls es Probleme geben sollte: Sie wissen ja, dass die Klinik über Gelder der Stiftung verfügen kann«, teilte Daniel ihm mit. »Wenn Sie uns jetzt bitte allein lassen würden.«

»Natürlich. Ich wollte ohnehin gerade gehen. Ein wichtiger Termin mit der Buchhaltung wegen des Quartalsabschlusses.« Betont kühl verabschiedete sich Dieter Fuchs von seiner Angebeteten.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schüttelte Elfriede den Kopf.

»Ich weiß wirklich nicht, was mit diesem Mann los ist. Er schenkt mir Blumen, lädt mich zu sich nach Hause ein und besucht mich ständig, leugnet aber hartnäckig, dass ich ihm gefalle.«

»Sie müssen Geduld mit ihm haben«, erwiderte Daniel und bezog seinen Posten am Fußende des Bettes. »Ich vermute, dass Herr Fuchs eine schwere Kindheit hatte.«

Elfriede lachte belustigt auf.

»Ach, wirklich?«. Dr. Nordens Miene ließ sie jedoch schnell wieder ernst werden. »Was ist denn? Warum sehen Sie mich so streng an?«

»Nehmen Sie Medikamente ein, die Sie bei der Anamnese verschwiegen haben?«

Elfriede schluckte.

»Ab und zu … gegen Kopfschmerzen. Aber das tut doch jeder. Ich wusste nicht, dass das so wichtig ist.«

Daniel stand der Ärger ins Gesicht geschrieben.

»Ich schätze es nicht, für dumm verkauft zu werden«, fuhr er sie an. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Nach dem Zwischenfall bei dem Eingriff heute hat ein Kollege den Verdacht geäußert, dass Sie regelmäßig Mittel einnehmen, die zusammen mit dem Narkotikum die Krise ausgelöst haben.«

Beleidigt wandte Elfriede den Kopf ab.

»Warum fragen Sie mich überhaupt, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind?«, erwiderte sie trotzig.

Daniel ballte die Hände zu Fäusten.

»Ist das ein Ja?«

Elfriede biss sich auf die Lippe. Sie kämpfte mit sich.

»Ich habe vor einigen Jahren einen Mann kennengelernt, einen Apotheker. Er versorgt mich regelmäßig mit Schmerzmitteln.«

»Aber warum haben Sie uns das verschwiegen?«

Mit Tränen in den Augen sah Elfriede ihn wieder an.

»Weil ich versprochen habe, keiner Menschenseele davon zu erzählen. Sie hätten mich doch sicher gefragt, woher ich die Medikamente habe. Damit hätte ich Gustav in Teufels Küche gebracht. Das wollte ich nicht.«

»Und nehmen lieber in Kauf, bei der Operation zu sterben?« Daniel konnte es nicht fassen.

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass das solche Auswirkungen hat«, beteuerte sie.

Über diese Naivität konnte Dr. Norden nur den Kopf schütteln.

»Was glauben Sie eigentlich? Dass der Anästhesist das Operationsgespräch zum Spaß führt? Weil ihm nichts Besseres einfällt?«

Zutiefst betroffen senkte Elfriede Lammers den Blick. Auf diese Frage hatte sie keine Antwort. Das sah auch Daniel schließlich ein.

»Lassen Sie uns über den weiteren Verlauf der Behandlung sprechen. Ich möchte die abgebrochene OP möglichst bald beenden. Vorausgesetzt natürlich, Sie geben unserem Anästhesisten Dr. Klaiber diesmal genau Auskunft über die Präparate, die Sie zu sich genommen haben.«

»Ich verspreche es!« Elfriede hob die Hand zum Schwur.

Daniel Norden nickte. Wenigstens einen Teilsieg hatte er errungen. Auf dem Weg zur Tür blieb er noch einmal stehen.

»Was soll ich übrigens Ihrem Sohn sagen?«

»Die Wahrheit, was sonst?«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Nun musste Daniel doch noch lächeln.

»Eines muss man Ihnen lassen: Mut haben Sie!« Er nickte Elfriede zu, ehe er das Zimmer mit einem Lächeln auf den Lippen verließ.

*

Nachdem Fee Norden eine halbe Stunde vergeblich auf ihre Tochter gewartet hatte und es ihr auch nicht gelungen war, Dési am Handy zu erreichen, machte sie sich auf den Weg in den Klinikkiosk. Auf halber Strecke kam ihr der neue Kollege Wiesenstein entgegen.

»Ach, Adrian, gut, dass ich Sie treffe. Wissen Sie zufällig, ob Joshua und Dési gemeinsam unterwegs sind?«

Beim Anblick seines heimlichen Schwarms blieb der Chirurg sofort stehen. Überrascht stellte er fest, dass die Schmetterlinge, die bei jedem Aufeinandertreffen heftig flatterten, offenbar ausgeflogen waren.

»Felicitas«, begrüßte er sie lächelnd. »Tut mir leid. Aber Joshua ist heute mit seiner Mutter unterwegs.«

»Richtig!«, erinnerte sich Fee. »Dési hat davon erzählt. Na, dann wird sie schon irgendwann auftauchen.« Sie bedankte sich und ging ihres Wegs. Tief in Gedanken versunken bog sie um die letzte Ecke auf dem Weg zum Kiosk, als sie einen dumpfen Schlag an der Schulter fühlte. Benommen taumelte sie rückwärts.

»Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid!«, stammelte eine wohlbekannte Stimme.

»Dési! Was um alles in der Welt … !«

»Mum?« Erst jetzt erkannte die Arzttochter, wen sie da, blind vor Tränen, angerempelt hatte.

»Ich schätze mal, das bin ich.« Fee rieb den schmerzenden Arm. Ihr forschender Blick ruhte auf ihrer Tochter. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Nichts.« Trotzig wischte Dési die Tränen fort. »Das hat der Mistkerl gar nicht verdient!«

Blitzschnell zählte Fee eins und eins zusammen. Sie legte den Arm um ihre Tochter und wanderte mit ihr Richtung Kiosk. Im Zuge von Renovierungsarbeiten hatte die ehemalige Klinikchefin Jenny Behnisch im Innenhof ein kleines, subtropisches Paradies geschaffen. Palmen und andere exotische Pflanzen reckten sich hinauf zum Glasdach. Ein Wasserfall stürzte über ein künstliches Gefälle aus weißem Marmor in die Tiefe. Das Rauschen wirkte beruhigend auf Patienten, Personal und Gäste, die sich an den Tischen vor dem Kiosk trafen, um einen Kaffee zu trinken oder Gebäck aus der besten Bäckerei der Stadt zu genießen. Dorthin brachte Felicitas Norden ihre Tochter in der Hoffnung, Dési möge sich beruhigen. Als sie Schoko-Sahnetorte und Milchkaffee bestellte, musste Dési lachen, wenn auch widerwillig.

»Als Ärztin solltest du eigentlich mehr Ahnung von gesundem Essen haben.«

»Das habe ich nur für dich getan«, verteidigte sich Felicitas. »Schokolade ist gut für die Nerven.«

»Das ist ein Ammenmärchen und längst widerlegt.«

»Stimmt. Trotzdem gefällt mir der Gedanke«, erwiderte Fee unbeeindruckt. »Was aber nicht widerlegt ist, ist die Tatsache, dass es glücklich macht, sich selbst etwas Gutes zu tun. Solange es nicht jeden Tag so kalorienreich ist.« Sie dankte der Bedienung, die Torte und Kaffee servierte. »Aber jetzt erzähl mal! Mit dem Mistkerl meinst du doch sicher Joshua?« Ohne ihre Tochter aus den Augen zu lassen, schob Fee eine Gabel der sahnigen Köstlichkeit in den Mund.

»Klar, wen sonst?«, schnaubte Dési unwillig. »Stell dir vor: Er geht mit seiner Mutter nach Zürich.«

»Zürich ist doch nicht aus der Welt«, wagte Fee einen vorsichtigen Einspruch.

»Toller Trost.« Dési wollte aufspringen und davonlaufen.

Im letzten Moment bekam Felicitas sie am Ärmel zu fassen.

»Tut mir leid.« Sie bat ihre Tochter auf den Stuhl zurück. »Du denkst, dass du ihm nicht wichtig bist, wenn er mit in die Schweiz geht, stimmt’s?«

»Natürlich. Was sollte ich denn sonst denken?«

Felicitas ließ einen weiteren Happen Torte auf der Zunge zergehen. Dabei dachte sie angestrengt nach.

»Sag mal, was hast du eigentlich nach deinem Abi vor?«

»Ich will ein Auslandsjahr machen.« Dési musterte ihre Mutter verständnislos. »Aber was hat das denn jetzt damit zu tun?«

»Würdest du diesen Traum für einen Mann aufgeben?«

»Niemals.« Energisch schüttelte Dési den Kopf. »Dann würde es mir vielleicht genauso gehen wie Eileen aus der Parallelklasse. Sie wollte die Elfte eigentlich in Amerika machen. Ihrem Freund zuliebe ist sie dageblieben. Nur, um ihn ein paar Wochen später mit einer anderen zu erwischen.«

Fee lächelte. Instinktiv hatte Dési genau die richtige Antwort gegeben.

»Siehst du. Und deshalb sollte jeder junge Mensch seine Entscheidungen möglichst unabhängig treffen. Oder willst du eines Tages die Verantwortung dafür übernehmen, dass Joshua dir zuliebe dageblieben ist? Dir Vorwürfe machen lassen?«

Dési zögerte.

»Nein«, gestand sie nach einer Weile leise. Endlich griff auch sie nach der Gabel und schob sich ein Stück Torte in den Mund. Im nächsten Augenblick huschte ein seliges Lächeln über ihr Gesicht. »Die schmeckt echt gut.«

»Und? Glaubst du jetzt, dass gute Laune käuflich ist?«, fragte Fee und zwinkerte ihr zu.

Dési lachte.

»Warum musst du eigentlich immer recht haben?«

»Weil ich eine alte Frau mit einem ganzen Sack voller Erfahrungen bin«, antwortete Felicitas, und im nächsten Moment tanzte das Gelächter der beiden Frauen durch die Halle, bis es vom Rauschen des Wasserfalls verschluckt wurde.

*

Elfriede Lammers’ Bitte war es zu verdanken, dass der Verwaltungsdirektor während der Arbeitszeit ein weiteres Mal seinem privaten Vergnügen nachging.

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte er, als er an ihrem Bett stand.

»Ich wollte Sie noch einmal sehen, bevor ich ein zweites Mal operiert werde.«

Ihre Antwort machte Dieter Angst.

»Das klingt ja so, als ob wir uns nicht wiedersehen würden.« Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie schon einmal etwas von selbsterfüllenden Prophezeiungen gehört? Sie dürfen gar nicht erst daran denken, dass Ihnen während der Operation etwas passiert.«

»Aber das tue ich ja auch nicht. Diesmal bin ich perfekt vorbereitet. Ich habe meine Seele vor Dr. Klaiber ausgebreitet. Jetzt kann nichts mehr schief gehen.« Elfriede machte eine kunstvolle Pause. »Wir werden uns trotzdem nicht wiedersehen.«

»Aber warum denn nicht?«

Die Antwort fiel ihr nicht leicht. Irgendwie tat ihr der verklemmte Verwaltungsdirektor leid.

»Wissen Sie, dieses Erlebnis mit dem Eingriff war sehr lehrreich für mich. Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft immer ehrlich und aufrichtig mit mir und anderen zu sein.« Sie wählte ihre Worte mit Sorgfalt. »Ich will Menschen nicht mehr für meine Zwecke benutzen, wie ich es in der Vergangenheit oft getan habe. Ich will keine Männerbekanntschaften mehr schließen, nur damit ich nicht allein sein muss. Ich will mich auch nicht kaufen lassen, nicht mit Medikamenten und auch nicht mit Blumen oder Naturfilmen auf Video. Ich finde, ich bin alt genug, um gut mit mir selbst auszukommen.« Sie lächelte Dieter Fuchs traurig an. Wie zufällig legte sie die Hand auf seinen Arm. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als er seinen Arm abrupt zurückzog.

»Wenn das so ist, dann bekomme ich von Ihnen … Moment …« Er zog einen Zettel und einen Taschenrechner aus der Sakkotasche und tippte ein paar Zahlen ein. »Einhundertdreiundzwanzig Euro und fünfundsechzig Cent von Ihnen.«

Elfriede sah ihn entgeistert an.

»Wie bitte?«

»Die Blumen von gestern, eine Stunde und vierzehn Minuten meiner Arbeitszeit, eine Thermoskanne Tee.«

»Abzüglich Ihrer Tasse.« Ein Lächeln spielte um Elfriedes Lippen. Sie freute sich so sehr darüber, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, dass sie Dieter nicht böse sein konnte. »Den Rest spendiert Herr Dr. Norden bestimmt aus dem Stiftungskonto. Bitte wenden Sie sich vertrauensvoll an ihn.«

Es klopfte, und die Schwester kam herein.

»Frau Lammers, wir wären dann so weit.«

»Sehr gut. Ich auch.« Sie lächelte noch immer, als sie im Bett aus dem Zimmer gefahren wurde.

Erst, als sie ihrem Sohn auf dem Flur begegneten, verschloss sich ihre Miene. Auch Volker wirkte alles andere als erbaut über diese Begegnung.

»Was fällt dir ein? Wegen dir habe ich mich zum Gespött der ganzen Klinik gemacht«, schimpfte er ungehalten.

»Ich habe dich nicht gebeten, Dr. Norden in aller Öffentlichkeit zu diffamieren«, gab Elfriede kühl zurück. »Er ist der beste Arzt weit und breit und zu Recht Chef dieser Klinik. Wenn du es irgendwann einmal zu etwas bringen willst, dann nimm dir ein Beispiel an ihm.« Sie gab der Schwester ein Zeichen, dass sie weiterfahren konnten.

Schwester Elena platzte beinahe vor unterdrücktem Lachen. Doch sie ließ sich nichts anmerken und lieferte Elfriede Lammers sicher im Operationssaal ab.

*

Paola stieg aus dem Taxi, das vor der Behnisch-Klinik gehalten hatte. Ihr Blick wanderte über die freundliche Fassade bis hinüber zu den großen Eingangstüren aus Glas. Sie gab sich einen Ruck und marschierte los. In der Halle – einladend wie die Lobby eines schicken Hotels – erkundigte sie sich bei einer der Schwestern am Empfang nach Dr. Adrian Wiesenstein.

»Moment.« Schwester Ina warf einen Blick in den Computer. »Im OP ist er zumindest nicht. Wahrscheinlich finden Sie ihn in einem der Büros auf Station.«

»Können Sie ihn anrufen und ihm ausrichten, Paola sei hier? Ich warte dort drüben.« Sie deutete auf eine der Sitzgruppen in der Ecke.

»Natürlich!«

Paola schlenderte hinüber, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Während sie wartete, kontrollierte sie die Nachrichten in ihrem Handy. Eine davon zauberte ihr ein zärtliches Lächeln ins Gesicht.

»Ich liebe dich auch, Pierre«, murmelte sie, während sie eine Antwort tippte. Sie hatte gerade auf »Senden« gedrückt, als ein Schatten vor ihr auftauchte. Sie sah hoch. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde tiefer. »Adrian, mein Lieber.«

»Paola!« Adrians Stimme war heiser. Er zog sie an den Händen hoch und wollte sie küssen.

Geschickt wich sie seiner Liebesbekundung aus.

»Hier arbeitest du also.«

Nichts Böses ahnend lachte Adrian.

»Ja, hier arbeite ich. Soll ich dich herumführen?«

»Nein, nein, danke. Ich bin eigentlich nur hier, um dir zu sagen, dass es eine kleine Planänderung gibt.« Sie spielte mit dem obersten Knopf seines Hemdes.

»Gehen wir heute Abend nicht ins Theater?«

»Doch, natürlich. Es geht um morgen.«

Adrians Augen leuchteten auf.

»Du hast dich entschieden, das Engagement in Zürich nicht anzunehmen?« Er war sich seiner Sache so sicher, dass er seine große Hoffnung ohne Scheu laut aussprach.

Paola sah ihn überrascht an.

»Wie bitte? Wie kommst du denn auf so eine Idee?«

Langsam versickerte das Lächeln auf Adrians Gesicht.

»Aber ich … Ich dachte, du bist so glücklich mit Joshua.« Er zögerte. »Mit mir. Mit unserer kleinen Familie.«

»Das bin ich doch auch. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich meine Pläne über den Haufen werfe«, erklärte Paola wie selbstverständlich. »Mal abgesehen davon, dass in Zürich ein Mann auf mich wartet.« Sie löste sich aus der Umarmung und begann, geschäftig vor Adrian auf und ab zu laufen. Dabei gestikulierte sie eifrig.

»Es geht darum, dass ich eine tolle Idee hatte. Joshua ist so ein begabter junger Mann. Es wäre eine Schande, sein Talent nicht zu fördern. Deshalb habe ich ihn gefragt, ob er mich nicht nach Zürich begleiten will.«

Adrian schnappte nach Luft.

»Wie bitte?«

»Komm schon, Adri, mach kein solches Gesicht.« Lachend streichelte Paola ihm über die Wange.

Mit einer unwirschen Bewegung schlug er ihre Hand fort. »Lass das! Und nenn mich nicht Adri!«

»Meine Güte.« Verächtlich verzog Paola das Gesicht. »Joshua hat recht. Du bist ein Spießer. Und was für einer.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn stehen.

In seiner Verzweiflung zog Adrian das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines Sohnes. Die automatische Ansage teilte ihm mit, dass Joshua Wiesenstein in diesem Augenblick nicht erreichbar war.

*

»Hallihallo!« Daniel Nordens Stimme hallte durch den Hausflur. »Ist jemand zu Hause?«

Einen Moment lang war alles ruhig.

Dann hörte er Schritte.

»Sieh mal einer an! Du hast es also auch schon geschafft.« Fee tauchte in der Tür auf. Sie lehnte sich in den Türrahmen, verschränkte die Arme und sah ihrem Mann dabei zu, wie er die Schuhe auszog und die Jacke an die Garderobe hängte. »Ich habe mich schon gewundert, wo du so lange bleibst.«

»Ich hatte doch noch diese komplizierte OP.«

»Frau Lammers, ich weiß. Die Vögel haben es mal wieder von den Dächern gezwitschert.«

»Diesmal ist alles gut gegangen.« Daniel seufzte zufrieden, ehe er seine Frau in die Arme schloss und zur Begrüßung küsste. »Die Osteonekrose war doch noch nicht so weit fortgeschritten wie befürchtet. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir bald ihre Schmerzfreiheit feiern können.«

»Das freut mich für dich, mein Lieber.« Felicitas lächelte süß. Gleichzeitig löste sie sich aus der Umarmung. Sie wandte sich ab und wanderte durch den Flur, um nach rechts ins Wohnzimmer abzubiegen. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen. Daniel folgte ihr. Nichts Gutes ahnend blieb er vor der Couch stehen. Ein Glas Wein in der Hand, blitzte sie ihn herausfordernd an. »Leider wirst du allein feiern müssen. Ab morgen früh sind wir nämlich geschiedene Leute. Dann werde ich nämlich einen Anwalt aufsuchen und hochoffiziell die Scheidung einreichen.«

Entgeistert starrte Daniel seine Frau an.

»Aber das kannst du nicht machen! Du bist mindestens zu fünfzig Prozent mitschuldig daran, dass ich Klinikchef geworden bin und nur noch wenig Zeit habe.«

Bedauernd zuckte Fee mit den Schultern.

»Tut mir leid, mein Lieber. Diese Ausrede lasse ich nicht gelten. Schließlich verlange ich keine Woche Urlaub von dir, sondern lediglich ein verlängertes Wochenende.«

»Das ist jetzt wirklich schade.« Daniel griff nach hinten und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hosentasche. »Dann muss ich Dési fragen, ob Sie mit mir eine Woche Urlaub in einem ehemaligen Jagdschloss machen möchte.« Er faltete das Papier auseinander. »Es handelt sich um das Sommerdomizil der Adelsfamilie Fratellini, das eine elegante und historische Atmosphäre verbreitet. Es gibt ein türkisches Bad sowie ein Restaurant mit Taverne. Die weitläufige Parklandschaft beherbergt einen Pool mit Seeblick …«

»Genug, genug, du hast mich überzeugt.« Fee war aufgesprungen. Das Glas Wein in der Hand, legte sie die Arme um den Nacken ihres Mannes. »Ich habe es mir noch einmal überlegt. Ich werde mich doch noch nicht scheiden lassen.«

»Und was, wenn ich schon eine andere gefunden habe?«, fragte Daniel frech.

»Ausgeschlossen. Denn eine, die besser zu dir passt, gibt es nicht«, raunte Fee ihm ins Ohr und zögerte nicht, den Beweis für diese selbstbewusste Behauptung anzutreten.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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