Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 27

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»Tatsache ist aber, dass ich meinen Computer unbedingt zum Arbeiten brauche. Wozu, das muss ich Ihnen hoffentlich nicht erklären.« Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik und drückte den Telefonhörer ans Ohr. Das, was sie zu hören bekam, schien ihr nicht zu gefallen. »Das wäre wirklich reizend, wenn mich der Herr Techniker gleich zurückrufen würde. Danke, auf Wiederhören.« Wütend warf sie den Hörer auf den Telefonapparat. »Das ist doch zum Mäusemelken!« Sie sah hinüber zur Tür. Wer auch immer der ungebetene Gast war, der gleich hereinkam: Er konnte sich warm anziehen.

»Kannst du ein bisschen leiser schimpfen? Die Schwestern draußen bekommen Angst!«, bat Daniel Norden schmunzelnd.

Bei seinem Anblick atmete Fee durch und lehnte sich zurück.

»Natürlich. Es tut mir leid. Ich sollte endlich glauben, dass das alles hier meine Schuld ist. Wenn ich meinen Computer heute früh freundlich angelächelt hätte, wäre das System auch nicht abgestürzt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und wie läuft es bei dir?«

»Ausgezeichnet. Unsere ambitionierte Assistenzärztin Sophie Petzold hat sich soeben bei mir beschwert, dass ihre Leistungen von den Kollegen nicht entsprechend gewürdigt werden.«

»Und? Was ist dein Eindruck?«

Daniel trat ans Fenster. An diesem Sommertag konnte sich das Wetter nicht recht entscheiden. Immer wieder schoben sich unheilverkündende Wolken vor die Sonne, verschwanden aber wieder, ohne ihre Androhung wahr gemacht zu haben.

»Ehrlich gesagt habe ich wichtigere Dinge zu tun, als mich um solche diffusen Befindlichkeiten zu kümmern.«

»Wenn ich mich nicht irre, ist Mitarbeitermotivation ein Punkt in deiner Stellenbeschreibung«, scherzte Felicitas. Wie immer tat ihr die Gesellschaft ihres Mannes gut.

Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Daniel drehte sich um und lächelte sie an.

»Norwegische Forscher haben erst kürzlich wieder bewiesen, dass Frauen die besseren Führungskräfte sind. Die Ergebnisse ihrer Studie deuten darauf hin, dass Frauen in den Dimensionen Klarheit, Innovationskraft, Unterstützung und zielgerichtete Genauigkeit den Männern gegenüber im Vorteil sind.«

Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Und was willst du mir damit sagen?«

»Das war ein Jobangebot.« Er kehrte an den Schreibtisch zurück, setzte sich auf die Tischkante und lächelte seine Frau an. »Willst du nicht die Klinikleitung übernehmen?«

In Fees Lachen hinein klingelte das Telefon.

Sie streckte die Hand aus, als Daniel ihr Einhalt gebot.

»Das ist bestimmt der Computermensch. Ich regle das für dich.«

Ergeben ließ Felicitas die Hand sinken.

»Norden!« Seine Stimme war scharf. »Ja, das war meine Frau. Aber die kann im Augenblick nicht mit Ihnen sprechen. Sie hat ein wichtiges Personalgespräch. Wann können Sie hier sein, um das Computerproblem zu beheben?«

Fee verschränkte die Arme und beobachtete ihren Mann sichtlich belustigt.

»Offenbar ist Ihnen die Dringlichkeit nicht klar. Es handelt sich um den Computer der zukünftigen Klinikchefin«, fuhr Daniel fort. »Sie kommen jetzt sofort hierher und kümmern sich höchstpersönlich um dieses Computerproblem.«

Daniel hielt inne und lauschte der Antwort. Er lächelte und reckte den Daumen der rechten Hand hoch.

»In zehn Minuten? Wunderbar. Auf Wiederhören.« Zufrieden mit dem Ergebnis des Telefonats legte Daniel auf. »Na bitte, geht doch! Ich verstehe gar nicht, was daran so schwer ist.«

Fee lachte. Sie stand auf und legte die Arme um seinen Hals.

»Wenn du so mit deinen Mitarbeitern umgehst, wundert mich gar nichts mehr.«

»Ach ja? Wie meinst du das?«, fragte Daniel scheinheilig.

»Lass mich nachdenken. Zu Hause ist der Fernseher kaputt, und der Kundendienst hat sich bis heute nicht blicken lassen.«

»Kein Problem. Gib mir die Nummer, und der Schaden ist spätestens morgen repariert.«

»Abgemacht.«

Fee küsste ihn auf den Mund, ehe sie sich abwandte. »Ich kümmere mich inzwischen um deine armen Kollegen.« Sie ging zur Tür.

Daniel Norden sah ihr nach. Ihm schwante nichts Gutes. War es möglich, dass Fee sein scherzhafter Unterton entgangen war?

»Wo willst du hin?«, fragte er.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Ich fange gleich an mit der Mitarbeitermotivation.« Mit dem Zeigefinger lockte sie ihn zu sich. »Lust auf Bienenstich im ›Allerlei‹? Oder lieber eine Biskuitroulade mit Sahne und Erdbeeren aus Tatjanas Schrebergarten?«

»Wenn ich dich nachher mit nach Hause nehmen darf, entscheide ich mich für den Bienenstich«, raunte er ihr ins Ohr, ehe sie sich Hand in Hand auf den Weg machten, um ihre wohlverdiente Pause gemeinsam zu genießen.

*

Die Assistenzärztin Sophie Petzold saß am Schreibtisch in der Notaufnahme und war in einen Unfallbericht vertieft.

»Guten Tag!«

Erschrocken zuckte sie zusammen. Schon wollte sie über die Schwester herfallen, die sich erdreistete, sie derart rücksichtslos zu stören. Zum Glück konnte sie sich im letzten Moment zurückhalten. Es handelte sich nicht um eine Schwester, sondern um eine wildfremde, gut gekleidete Frau, die ihr gegenüberstand und sie abschätzig musterte.

»Was kann ich für Sie tun?«

Die Dame fuhr sich über den nussbraunen Pagenkopf, durch den sich einzelne Silberfäden zogen. Sophie bemerkte die sorgfältig lackierten und manikürten Fingernägel. Ein farbloser Stein funkelte am Ringfinger.

»Mein Name ist Endress. Alexandra Endress.«

Sie sah Sophie erwartungsvoll an.

»Kennen wir uns?«

Eine ärgerliche Falte erschien zwischen Alexandras Augen. Ihr Blick fiel auf das Namensschild an Sophies Kittel.

»Von einer Assistenzärztin hätte ich einen gewissen Bildungsgrad erwartet. Ich möchte gern den Chefarzt sprechen.«

In Sophie sträubte sich alles. Um nicht länger zu ihrer Kontrahentin aufsehen zu müssen, erhob sie sich vom Stuhl und hielt Alexandra Endress die Hand hin.

»Ich bin die diensthabende Ärztin. Dr. Petzold.«

Alexa zögerte, die dargebotene Hand zu nehmen.

»Also gut. Ich möchte mich einweisen.«

Irritiert legte Sophie Petzold den Kopf schief.

»Haben Sie einen Einweisungsschein von Ihrem Arzt? Eine Überweisung?«

»Junge Frau, Sie können mir glauben, dass ich selbst sehr gut beurteilen kann, wann ein Aufenthalt in einer Klinik unerlässlich ist.«

»Und was fehlt Ihnen, wenn ich fragen darf?«

»Sind Sie die Ärztin oder ich?«, fragte Alexandra Endress postwendend.

Nur mit Mühe konnte sich Sophie Petzold einen passenden Kommentar verkneifen.

»Kommen Sie bitte mit. Ich werde mir die Sache ansehen.« Sie ging vor und winkte die Patientin mit sich. Auf dem Weg ins Behandlungszimmer liefen sie Oskar Roeckl über den Weg. Er balancierte zwei Kisten in Richtung Klinikkiosk. Obwohl Lenni ihn schon händeringend erwartete, blieb er beim Anblick von Alexandra Endress abrupt stehen. Wie eine Königin stolzierte sie an ihm vorbei, mit hoch erhobenem Kopf, wehendem Mantel und entschlossenen Schritten. Erst als sie an ihm vorbei war, erwachte er zu neuem Leben.

»Einen Moment bitte!«, rief er ihr nach.

Sofort fühlte sich Alexandra angesprochen. Sie blieb stehen und drehte sich um. Ihr abschätziger Blick glitt an Oskar hinunter und wieder hinauf. Das, was sie zu sehen bekam, erfüllte sie mit Wohlwollen.

»Ja?«, fragte sie überraschend freundlich.

Strahlend kam Oskar auf sie zu. Er stellte die Kisten auf den Boden und bat um ihre Hand. Ganz Gentleman hauchte er einen Kuss auf den Handrücken.

»Sie sind die Unternehmerin Alexandra Endress, nicht wahr?«

»Ganz recht.« Sie nickte huldvoll. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Schlagartig färbten sich Oskars Wangen tiefrot.

»Mein Name ist Oskar Roeckl. In früheren Jahren war ich selbst Unternehmer. Noch heute bin ich Mitglied im Unternehmerverband und verfolge die Entwicklung mit Spannung. Besonders Ihre Geschichte begeistert mich seit vielen Jahren. Ich bewundere Ihre Durchsetzungskraft in dieser Männerdomäne.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Geschäftsführerin einer großen Brauerei … das muss Ihnen erst einer nachmachen.«

»Ich habe nicht vor, mich vom Thron stoßen zu lassen«, erwiderte Alexandra sichtlich geschmeichelt.

Schon wollte Oskar das Gespräch fortsetzen, als er ein Tippen auf der Schulter spürte. Er fuhr herum und sah in Lennis zornblitzende Augen.

»Hier steckst du also! Und ich kann sehen, wie ich die Kunden vertröste.« Sie sah hinüber zu Alexandra Endress. »Tut mir leid, dass ich Ihnen Ihren Kavalier jetzt entführen muss. Sie können uns ja bei Gelegenheit in unserem Kiosk besuchen.« Sie lächelte süßlich.

»Vielen Dank. Vielleicht tue ich das ja sogar.« Alexandra Endress Blick wanderte von Lenni zurück zu Oskar. »Vorausgesetzt, mein Gesundheitszustand lässt es zu.« Sie nickte ihm zu, ehe sie sich abwandte und Sophie Petzold bedeutete, dass sie bereit war.

Oskar und Lenni sahen den beiden nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren.

»Darf ich mal erfahren, was das für eine Darbietung war?«, fragte Lenni scharf.

Oskar bückte sich wieder nach den Kisten und hob sie vom Boden auf. »Was für eine Darbietung meinst du? Frau Endress ist eine wunderbare Frau. Das musste ich ihr einfach einmal sagen«, erwiderte er, ehe er sich mit verzückter Miene auf den Weg zum Kiosk machte.

*

Die Sirene war schon von Weitem zu hören. Felicitas Norden war bereits informiert.

»Tut mir leid, aber ich muss unser Schäferstündchen an dieser Stelle beenden.« Sie schickte dem Teller mit der restlichen Erdbeerroulade einen bedauernden Blick.

»Früher hast du mich so angesehen«, reklamierte Daniel.

»Früher hatte das Wort Schäferstündchen auch eine andere Bedeutung.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn zum Abschied.

Auf dem Weg in die Notaufnahme traf sie auf ihren Stellvertreter Volker Lammers.

»Was machen Sie denn schon hier? Haben Sie kein Zuhause?«

»Antwort auf Frage eins: Ich bin immer noch hier. Zu Frage zwei: Ich erinnere mich dunkel, dass es einen Ort mit diesem Namen gibt«, gab er im Laufschritt Auskunft.

»Dann machen Sie, dass Sie dorthin kommen.« Seite an Seite bogen sie um die Ecke.

Im Laufschritt schoben die Sanitäter eine Liege durch die Türen der Notaufnahme.

»Ausgeschlossen. Außer, wir lassen die Rotznase nebenan verbluten.« Volker bemerkte die Irritation seiner Chefin. »Verkehrsunfall.«

»Wie bitte?« Entsetzt sah sich Fee um. Ihr Blick fiel auf die Schwester, die ihr hektisch zuwinkte. Felicitas dachte keine Sekunde nach. »Gut. Dann erledigen Sie das hier. Ich kümmere mich um das Unfallopfer.«

»Meine Rede.« Lammers grinste. Er sah seiner Chefin nach, ehe er sich an die Sanitäter wandte.

»Was haben wir denn hier Schönes?«

»Severin Lohns, acht Jahre alt, Sturz vom Fahrrad. Verdacht auf Wirbelsäulentrauma.«

»Ich werde nie verstehen, warum diese Kröten Fahrrad fahren müssen«, schimpfte Lammers. Die Eltern des Kleinen sahen sich entsetzt an. Eine Schwester beruhigte sie, während Volker den Kollegen seine Befehle gab. »Monitor anschließen. Blutdruck. EKG. Sättigung.« Während sich die Kollegen in Windeseile an die Arbeit machten, beugte er sich über den Jungen. »Hey, Sportsfreund, hörst du mich?«

»Severin ist seit dem Unfall nicht ansprechbar«, informierte Rettungsarzt Huber den Kollegen und reichte ihm das Klemmbrett mit dem Formular, auf dem er alle nötigen Informationen festgehalten hatte.

Ohne einen Blick darauf zu werfen, legte Lammers die Unterlagen auf die Liege. Er zog eine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete in die Augen des Jungen.

»Direkte Reaktion der Pupillen«, sagte er laut. »Wie sieht es sonst aus?«

»Blutdruck bei 70 zu 40. Herzfrequenz 130 die Minute. Sättigung bei 95 Prozent«, erklärte einer der unterstützenden Kollegen.

»Wir brauchen mehr Volumen«, befahl Lammers. »Machen Sie ein Schädel-Wirbelsäulen-CT. Ich gehe davon aus, dass wir uns in weniger als einer halben Stunde im OP wiedersehen.« Er sah sich unter seinen Mitarbeitern um. »Wer bringt Kaffee mit?«

Sein Scherz fand keine Erwiderung. Schulterzuckend wandte er sich ab und gähnte herzhaft. Er war schon viel zu lange im Dienst. Doch für eine Pause gab es keinen Grund. Zu Hause wartete niemand auf ihn, und an Schlaf war selbst in Ruhezeiten schon seit Tagen nicht mehr zu denken. So konnte er auch genausogut in der Klinik bleiben und das tun, was er am liebsten tat: Operieren.

*

»Schon zurück, Chef?« Verwundert blickte Andrea Sander auf, als Dr. Norden früher als erwartet in sein Büro zurückkehrte.

»Meine Frau wurde zu einem Notfall gerufen«, erwiderte er. »Ich kann Ihnen nur raten, sich niemals mit einem Arzt einzulassen. Da ist man die meiste Zeit allein.«

»Außer man ist selbst Arzt.« Andrea lachte und schob ihm einen Zettel hin. »Eine gewisse Frau Endress hat sich vor etwa einer Stunde selbst in die Klinik eingewiesen.«

»Endress … Endress«, murmelte Daniel vor sich hin. Sein Blick ruhte auf dem Stück Papier. »Der Name sagt mir etwas.«

»Alexandra Endress ist die Chefin einer namhaften Brauerei«, klärte Andrea Sander ihn auf. »Sie wünscht Chefarztbehandlung.«

»Die kann sie gern bekommen. Ich wollte schon immer eine Frau kennenlernen, die sich in einem ausgesprochenen männlichen Um­feld behaupten kann.« Daniel ließ sich von Andrea Station und Zimmernummer nennen und machte sich auf den Weg. Unterwegs machte er bei Sophie Petzold Halt, um sich bei ihr nach den Untersuchungsergebnissen zu erkundigen.

»Endress, Endress … «, murmelte sie und suchte in den Unterlagen, die sich neben benutzten Kaffeetassen, Schokoladenpapier und Fachzeitschriften auf dem Schreibtisch stapelten. »Die können nicht weit sein.«

»Bis Sie fündig werden, versuche ich es mit diesen hier.« Daniel hielt eine Mappe hoch.

Sophie richtete sich auf.

»Oh. Ja. Na ja.«

»Was halten Sie davon, die Akten in Zukunft gleich an Ort und Stelle zu verstauen? Das ist zwar nicht so spannend, erleichtert das Arbeitsleben aber ungemein.«

»Sehr gern. Wenn Sie mir verraten, wann ich auch noch Ablage machen soll«, fauchte Sophie so zornig, dass Daniel Norden die Ohren klingelten.

»Sie haben Glück, dass ich keine Mimose bin, Frau Petzold«, wies er sie streng zurecht.

»Ist doch wahr.«

Beleidigt starrte sie ihn an. »Aber vielleicht schaffe ich es ja morgen. Da habe ich wieder Doppelschicht und im Anschluss Rufbereitschaft. Ich kann zwar nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden, und mein Rhythmus ist völlig durcheinander. Aber hey, was soll’s.«

Daniel erinnerte sich genau an die Worte seiner Frau. Trotzdem fehlte ihm das Verständnis für die Beschwerden der jungen Ärztin, die sich mit ihrem vorlauten, überheblichen Verhalten nicht gerade beliebt gemacht hatte bei den Kollegen.

»Falls es Sie beruhigt: Sie sind nicht der einzige Arzt auf der Welt, dem es so ergeht. Das werden Sie auch noch herausfinden.«

»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie eine besondere Gabe haben, anderen Mut zuzusprechen?«, fragte Sophie. Ihre Stimme troff vor Ironie.

»Meine Kinder waren immer zufrieden mit mir.«

»Schwer vorstellbar«, gab sie patzig zurück.

Schon deshalb sah Daniel keinen Grund, sie zu schonen. Mit der Akte der Unternehmerin ging er zur Tür.

»Entweder wollen Sie eine gute Ärztin werden oder nicht. Wenn ja, dann hilft Ihnen Jammern nicht weiter, und Sie müssen sich durchboxen. Wenn nein, bleibt nur aufzuhören.« Damit verließ er das Zimmer und machte sich auf den Weg zu Alexandra Endress.

*

Die Unternehmerin saß in einem exklusiven Einzelzimmer am Tisch am Fenster, einen kleinen Laptop vor sich, und tippte eifrig. Als es klopfte, unterbrach sie ihre Arbeit.

»Ja, bitte?« Erwartungsvoll sah sie zu dem Mann hinüber, der auf sie zukam.

»Mein Name ist Dr. Daniel Norden. Ich bin Chef an dieser Klinik hier.«

Erleichtert atmete Alexa auf.

»Endlich habe ich es mit einem Profi zu tun.« Sie bot ihm einen Platz an.

»Sind Sie mit der Behandlung nicht zufrieden?«, erkundigte sich Daniel besorgt.

»Ach, wissen Sie … diese Assistenzärztin … diese Frau Dr. Petzold … bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber Feingefühl ist etwas anderes.«

»Frau Petzold ist eine junge Kollegin, die unser Team noch nicht lange unterstützt. Ich fürchte, Sie muss sich erst an den Klinikalltag gewöhnen. Sie kennen das doch sicher aus eigener Erfahrung.« Daniel lächelte ihr verschwörerisch zu. »Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie ihr diese Zeit geben.«

Diesen Worten hatte Alexandra nichts entgegenzusetzen.

»Ich bin ja kein Unmensch.« Sie lächelte jovial. »Trotzdem bin ich froh, dass Sie jetzt hier sind. Was bringen Sie mir denn Schönes mit?« Sie deutete auf die Akte auf seinen Knien.

»Ihre Untersuchungsergebnisse. Dazu hätte ich allerdings ein paar Fragen.« Dr. Norden schlug die Akte auf und zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche des Kittels.

»Nur zu!« Alexandra genoss die Gesellschaft des attraktiven Arztes sichtlich. »Fragen Sie!«

»Welche Medikamente nehmen Sie regelmäßig?«

»Im Ernst?« Sie lachte ungläubig. »Sie denken, das weiß ich auswendig?« Alexandra stand auf und ging zum Schrank. Mit einem Zettel kehrte sie zurück. »Bevor ich hierher kam, habe ich zu Hause alles aufgeschrieben. Machen Sie sich selbst ein Bild.« Sie reichte ihm das Stück Papier.

Daniel faltete es auseinander. Er überflog die Liste und erschrak.

»Wer hat Ihnen das alles verordnet?«

»Verschiedene Ärzte.« Alexandra schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen. »Vielleicht haben Sie die Geschichte damals in der Presse mitverfolgt«, sagte sie langsam. »Mein Mann und ich hatten uns von Freunden ein altes Cabrio ausgeliehen. Es hatte noch nicht einmal Gurte, geschweige denn Kopfstützen. Doch das kümmerte uns wenig, als wir an diesem sonnigen Frühlingstag vor sieben Jahren über Land fuhren. Ich erinnere mich wie heute daran. Zum ersten Mal nach dem langen Winter war es warm. Die Vögel zwitscherten. Normalerweise bemerkte Georg die Jahreszeiten kaum. Doch an diesem Tag hatte sogar er etwas übrig für die Schönheit der Natur. Wahrscheinlich machte er deshalb diesen fatalen Fehler.« Es war Alexandra anzusehen, dass das Ereignis auch nach dieser langen Zeit noch schwer auf ihrer Seele lastete. »Wir landeten an einem Baum. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit zertrümmerten Knochen in einer Klinik. Ich weiß nicht mehr, wie viele Operationen ich über mich ergehen lassen musste. Seither ist ein Leben ohne Schmerzmittel für mich undenkbar. Da diese Medikamente aber Magen- und andere Beschwerden verursachen, nehme ich auch dagegen diverse Tabletten. Eine Pille für die Beschwerden und fünf andere gegen die Nebenwirkungen.« Lakonisch zuckte sie mit den Schultern. »Aber in letzter Zeit habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass sie nicht mehr wirken.« Während sie sprach, verzog Alexandra das Gesicht. »Jetzt geht es schon wieder los.«

Daniel legte die Unterlagen zur Seite und stand auf.

»Kommen Sie! Legen Sie sich hin. Ich helfe Ihnen.« Fürsorglich brachte er sie zum Bett und deckte sie zu. »Besser?«

»Manchmal sind die Schmerzen so stark, dass ich kaum mehr atmen kann«, erwiderte sie statt einer Antwort und schloss die Augen.

»Ehrlich gesagt wundert mich das nicht.« Daniel stand neben dem Bett, bis Alexandras regelmäßige Atemzüge verrieten, dass sie eingeschlafen war. Tief in Gedanken versunken verließ er schließlich ihr Zimmer.

*

»Da hat Ihr Kleiner ganze Arbeit geleistet.« Volker Lammers saß auf einem Hocker und hielt den Eltern des verunglückten Jungen ein Tablet unter die Nasen. Severin war inzwischen wieder bei Bewusstsein. Unglücklich lag er im Bett und versuchte, das Gespräch der Erwachsenen zu verstehen. »Wir haben es mit einer komplizierten Wirbelkörperfraktur zu tun.« Lammers deutete auf den kleinen Bildschirm.

Doch weder Thorsten noch Frauke achteten auf die nichtssagenden Schattierungen in verschiedenen Grautönen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Kinderchirurgen.

»Das … Das klingt nicht gut.«

»Stimmt auffallend.« Lammers schnalzte mit der Zunge. »Das ist eine gravierende Geschichte. Kein Spaziergang.«

Thorsten sah den Arzt forschend an.

»Was bedeutet das, Herr Doktor? Bitte sagen Sie uns die Wahrheit.«

»Kommt Sevi wieder in Ordnung?« Frauke schluchzte auf.

Volker war versucht, die Augen zu verdrehen. Allein seine Müdigkeit hinderte ihn daran.

»Einen besseren Kinderchirurgen werden Sie weit und breit nicht finden. Wenn einer das Gör wieder hinbekommt, dann ich.«

Im Normalfall hätte sich Thorsten über die Überheblichkeit des Arztes mokiert. In diesem Moment aber wirkte seine Selbstsicherheit tröstlich.

»Da haben wir ja Glück gehabt, ausgerechnet Sie hier angetroffen zu haben.«

»Das können Sie laut sagen.« Volker stand auf und machte Anstalten zu gehen.

»Wie lange dauert es denn, bis ich wieder gesund bin?« Diese Frage brannte schon die ganze Zeit auf Severins Seele. Er musste sie unbedingt stellen.

Frauke streichelte ihrem Sohn zärtlich durchs Haar. Ihr Blick ruhte auf Dr. Lammers.

Der schnalzte unwillig mit der Zunge und drehte sich zu dem Jungen um.

»Anschlussheilbehandlung, Reha … Du hast einen langen Weg vor dir. Darüber solltest du nachdenken, bevor du das nächste Mal solche Dummheiten machst.«

»Aber ich bin doch nur Fahrrad gefahren.« Hilfesuchend sah sich Severin nach seinen Eltern um.

Frauke streichelte ihm beruhigend über das Haar.

»Keine Angst, der Doktor meint es nicht so.«

»Sie tun ja so, als wäre ich nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Natürlich meine ich es so, wie ich das sage. Wenn du zu dumm zum Fahrradfahren bist, solltest du es bleiben lassen.« Ehe die Eltern Gelegenheit zur Beschwerde hatten, fuhr er fort. »Ich gehe jetzt in den OP. Der Kollege Klaiber wird die OP-Vorbereitung machen. Er wird Sie über die Risiken aufklären, mögliche Nebenwirkungen der Narkose, Wundheilstörungen, Nerven- und Rückenmarkschädigungen bis hin zur Querschnittsymptomatik.«

Frauke schlug die Hand vor den Mund.

»Wie wahrscheinlich ist das denn alles?«, erkundigte sich Thorsten.

»Ich habe so einen Eingriff schon häufig durchgeführt. Vertrauen Sie mir etwa nicht?«

Thorsten drückte die Hand seiner Frau.

»Doch, doch«, versicherte er schnell.

Sein Tonfall war nicht dazu angetan, Dr. Lammers zu überzeugen. Er stutzte und schien kurz zu überlegen, ehe er die Eltern mit ihrem Sohn allein ließ.

*

Leise summend räumte Oskar die Flaschen mit der Bio-Limonade in die Kühlung.

»Kannst du endlich aufhören mit diesen Schmuseliedern. Das ist ja nicht zum Aushalten«, schimpfte Lenni, als sie von draußen hereinkam. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Das Tablett in ihren Händen hinderte sie daran.

»Meine Güte. Ich werde doch wohl ein Mal gute Laune haben dürfen«, bemerkte Oskar.

»Meinetwegen könntest du jeden Tag wie die Sonne persönlich strahlen. Aber nein, da muss erst eine Frau Unternehmerin kommen, um die Lebensfreude in dir zu wecken.«

Die Getränkekiste war leer. Oskar richtete sich auf und gesellte sich zu Lenni an die Theke.

»Sag bloß, du bist eifersüchtig«, fragte er geschmeichelt.

»Ich und eifersüchtig? Träum weiter.« Um ein Haar hätte sie die Gläser vom Tablett gefegt. »Ich bin doch keine fünfzehn mehr.«

»Schade eigentlich.« Oskar maß sie mit einem nachdenklichen Blick, der Lenni durch und durch ging. Entgegen ihrer Art dachte sie schon über eine Entschuldigung nach, als Oskar versonnen sagte: »Diese Frau Endress ist wirklich bewundernswert. So ein schweres Schicksal! Doch sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie die Firma nach dem Unfalltod ihres Mannes zu neuer Blüte geführt.«

»Woher willst du denn das wissen?«, fragte Lenni zornig.

»Ich kannte Georg Endress ­von unserem Unternehmerverband und habe Alexas Werdegang mit Interesse verfolgt. Wenn du hin und wieder den Wirtschaftsteil der Zeitung lesen würdest, wüsstest du Bescheid.« Oskar nahm die schmutzigen Teller und Tassen vom Tablett und brachte sie in die kleine Küche, um sie in die Spülmaschine zu stellen.

»Wozu? Hinter all den Berichten stecken doch eh nur von der Wirtschaft gekaufte Journalisten, die schreiben, was ihre Sponsoren diktieren.« Lenni warf einen Blick auf den Zettel mit den neuen Bestellungen.

»Findest du es richtig, alle in einen Topf zu werfen?«, fragte Oskar und schloss den Geschirrspüler.

»Ja.« Beleidigt klatschte Lenni Apfelstrudel und Streuselkuchen auf die Teller.

Seufzend kehrte Oskar aus der Küche zurück.

»Wenn du nicht so stur wärst, wüsstest du, welch herausragende Persönlichkeit Alexandra Endress ist.«

»Mir genügt es vollkommen zu wissen, dass du alles andere als herausragend bist«, erwiderte Lenni erbarmungslos. »Die Gäste dort hinten warten immer noch auf ihre Bestellung. Bringst du ihnen nun Kaffee und Kuchen, oder muss ich das auch noch selbst machen? Ach, lass nur!«, winkte sie ab. »Träum du in Ruhe von deiner bewundernswerten Unternehmerin.«

Sie wollte das Tablett nehmen. Doch diesmal war Oskar schneller. Froh, der Drachenhöhle fürs Erste zu entkommen, eilte er mit der Bestellung an den Tisch unter Palmen, an dem die beiden Besucher ihm schon erwartungsvoll entgegensahen.

*

»Ich habe davon in der Zeitung gelesen, wie Sie die Brauerei Ihres Mannes übernommen haben.« Der Pfleger Jakob stand an Alexandra Endress’ Bett und rief sich die Berichte ins Gedächtnis, die er immer wieder über die unerschrockene Unternehmerin gelesen hatte.

Alexandra saß aufrecht im Bett, eine Tasse Tee in der Hand. Sie lächelte geschmeichelt.

»Dabei war das alles andere als selbstverständlich«, erwiderte sie versonnen. »Bevor der Unfall mir den Mann wegnahm, habe ich die Brauerei so gut wie nie betreten.«

»Nichts für ungut. Aber Sie sehen auch nicht so kernig aus, wie man sich eine … wie ist die weibliche Bezeichnung für Brauer?«

»Bräuin.«

»Danke.« Jakob nickte lächelnd. »Wie man sich eine Bräuin vorstellt.« Er bat sie, sich kurz aufzusetzen, damit er ihr Kissen aufschütteln konnte.

»Ich nehme das jetzt mal als Kompliment.« Alexandra lachte. »Aber Sie haben recht. Ursprünglich habe ich einen Doktortitel in Agrarwissenschaften erworben und eine eigene Firma gegründet, die sich mit Umweltschutz befasst. Als mein Mann starb, kannte ich noch nicht einmal die Namen der meisten Brauerei-Mitarbeiter.« Ihr Lächeln verlor sein Strahlen, und sie senkte den Blick. »Aber dem Schicksal war das egal.«

»Bestimmt haben Ihre Kinder Sie unterstützt«, bemerkte Jakob unbedarft, während er ihre Bettdecke glatt strich.

Schlagartig verschloss sich Alexandras Gesicht. »Ich habe keine Kinder.« Ihre Antwort fiel schroffer aus als beabsichtigt.

Jakob erschrak. Er verließ kurz das Zimmer, um neue Wasserflaschen und Tee zu holen.

»Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, entschuldigte er sich, als er zurückkam.

»Schon gut. Das konnte Sie ja nicht wissen«, erwiderte Alexandra. Sie sah ihm dabei zu, wie er die Thermoskanne auf den Nachttisch stellte. »Ehrlich gesagt war es die Arbeit, die mir über den größten Schmerz hinweggeholfen hat. Ich saß sogar nachts im Büro, am schweren Holzschreibtisch meines Mannes, und verschaffte mir einen Überblick.«

»Das stelle ich mir wahnsinnig schwer vor.«

»Das war es auch.« Diese Antwort kam aus tiefstem Herzen. »Am Anfang gingen Gerüchte in der Stadt um. Von Schließung war die Rede. Doch ich habe mich durchgesetzt. Ich holte einen Unternehmensberater ins Haus und habe zunächst einmal umstrukturiert.«

»Damit haben Sie sich sicher nicht nur Freunde gemacht«, mutmaßte Jakob. Er hatte seine Arbeit im Zimmer beendet. Im Augenblick gab es hier nichts mehr für ihn zu tun. Trotzdem konnte er sich noch nicht losreißen. Alexandra Endress war eine gute Erzählerin, die ihre Zuhörer zu fesseln vermochte.

»Schon gar nicht als Frau in einer Männerdomäne«, fuhr sie fort. »Aber ich habe es geschafft und die Brauerei zu neuer Blüte geführt.«

»Dieses Gefühl ist bestimmt großartig.« Jakobs Worte kamen von Herzen. Sophie Petzolds Stimme hallte ihm noch in den Ohren, als sie sich lautstark über die überhebliche, anspruchsvolle Patientin beschwert hatte. Diesen Eindruck konnte er ganz und gar nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil war ihm Alexandra Endress ausgesprochen sympathisch. Seiner Meinung nach konnte sie wirklich stolz sein auf ihre Leistung. »Sie sind eine beeindruckende Persönlichkeit, und am liebsten würde ich den Rest des Tages mit Ihnen plaudern. Leider ruft mich die Arbeit.«

Alexandra war ehrlich erschrocken. »Oh, habe ich Sie aufgehalten? Das tut mir leid.«

»Mir nicht.« Jakob zwinkerte ihr zu, ehe er das Zimmer verließ.

Nachdenklich und in sich gekehrt blieb Alexandra Endress zurück. Unwissentlich hatte Jakob mit einer seiner Frage an eine schwelende Wunde gerührt. Sie griff nach ihrer Handtasche und entnahm ihr ein in Leder gebundenes kleines Fotoalbum. Alexa schlug es auf und betrachtete die Bilder eines jungen Mannes. Eine Weile blätterte sie hin und her, bis sie das Album mit einer entschiedenen Bewegung zuklappte und an seinem Platz verstaute.

*

Während seine Eltern aufgeregt vor dem OP-Breich auf und ab gingen, lag der kleine Severin auf dem Bauch auf dem OP-Tisch. Er schlief tief und fest.

»Ich präpariere jetzt den Zugang zum Wirbelkörper«, teilte Volker Lammers seinen Kollegen mit. Sein konzentrierter Blick ruhte auf dem Monitor oberhalb des Operationstisches. »Du bereitest den Bildwandler vor.«

»Durchleuchtung ist bereit«, bestätigte die Kinderärztin Carola May. »Bleiben wir bei einem Zugang?«

»Ja, eine Kanüle reicht.« Lammers griff nach der Sonde, die ihm eine Operationsschwester reichte.

Die Geräte zur Überwachung der Vitalfunktionen piepten regelmäßig. Der Anästhesist war zufrieden.

»Blutdruck 90 zu 60. Herzfrequenz 100.«

»Gut.« Dr. Lammers blinzelte. Mit dem Ärmel fuhr er sich über die Augen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Carola besorgt.

Lammers’ strafender Blick traf sie.

»Dein Anblick treibt mir Tränen in die Augen.«

Die Kollegen glucksten vor unterdrücktem Lachen. Carola dagegen ballte die Fäuste und nahm sich vor, sich nie wieder mit Lammers zu einer Operation einteilen zu lassen. Doch in diesem Augenblick nützte es nichts.

»Ich führe jetzt die Kanüle in den Wirbelkörper ein«, erklärte Lammers. Er blinzelte, als er seine Ankündigung in die Tat umsetzte.

Die konzentrierten Blicke der Kollegen ruhten auf dem Bildschirm. Carola erschrak.

»Aber was machst du denn, Volker?«, rief sie.

Wie aus einer Trance erwacht, zuckte er zusammen. Schnell zog er die Kanüle zurück.

»Was denn? Worüber regst du dich auf? Ich habe selbst gesehen, dass sie nicht richtig sitzt.«

»Nicht richtig ist gut«, wagte Carola eine berechtigte Kritik. »Einen Millimeter weiter und du hättest das Rückenmark irreversibel geschädigt.«

Mitten in der Arbeit hielt Volker Lammers inne. Blanker Hass lag in seinem Blick.

»Wenn du alles besser weißt, kannst du das hier ja übernehmen.« Er drückte ihr die Kanüle in die Hand, wandte sich ab und verließ den Operationssaal. Auf dem Weg nach draußen riss er sich die Maske vom Gesicht.

Ungläubig starrte Carola ihm nach.

»Das kann doch nicht sein Ernst sein«, stammelte sie.

»Ist es aber«, erklärte Dr. Klaiber nüchtern. »Wir müssen weitermachen, bevor mir der Kleine instabil wird.«

Dr. May nickte und schluckte. Sie beugte sich über das Operationsfeld und machte sich an die Arbeit.

*

Schwester Elena, frisch gekürte neue Pflegedienstleitung, saß im Schwesternzimmer über den Dienstplänen. Ihre Kollegin Iris stand auf einem Stuhl und verstaute neues Verbandmaterial, das Jakob ihr hinauf reichte, in den oberen Etagen. Sie unterhielten sich über den neuesten Klinikklatsch, als Oskar Roeckl, bewaffnet mit einem großen Blumenstrauß, hereinkam.

»Einen wunderschönen guten Tag, die Damen, der Herr«, grüßte er charmant wie immer.

»Herr Roeckl! Wie schön, Sie zu sehen.« Elena lehnte sich zurück und lächelte ihn an. »Die sind sicher nicht für mich, oder?«, scherzte sie gut gelaunt.

»Das nächste Mal bekommen Sie welche«, versprach er. »Diese hier sind für Frau Endress. Darf ich sie bei Ihnen abgeben? Frau Endress schläft, und ich will sie nicht stören.«

»Noch mehr Blumen!« Schwester Iris hatte ihre Arbeit in luftiger Höhe beendet. Sie stieg vom Stuhl und machte sich gleich auf die Suche nach einer Vase.

»Allmählich gehen uns die Behältnisse aus.«

Oskars ungläubiger Blick glitt über die Blumenpracht, die im ganzen Schwesternzimmer verteilt war.

»Was denn? Sind die alle für Frau Endress?«

»Dazu Karten und Geschenke!« Iris war fündig geworden und füllte die letzte Vase mit Wasser.

Elena deutete auf den Stapel Post auf dem Tisch.

»Das Telefon hat sie zum Glück gar nicht erst angemeldet.«

Sichtlich enttäuscht sank Oskar auf einen der freien Stühle.

»Aber woher wissen die Leute das?«, fragte er ungläubig.

»Die Meldung war ganz groß in der Zeitung.«

Jakob griff nach der neuesten Ausgabe der Tageszeitung und hielt sie hoch. Alexandras Name prangte in fetten Lettern auf der Titelseite.

Oskar verstand die Welt nicht mehr.

»Aber Frau Endress ist doch erst seit heute Morgen hier in der Klinik.«

Elena lächelte.

»Ich denke, Frau Endress hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass ihre Vertrauten von ihrer Absicht, in die Klinik zu gehen, erfahren. Offenbar ist sie mit allen Wassern gewaschen.«

»Alexandra ist eben eine geschickte Unternehmerin und versteht es, sich ins Gespräch zu bringen«, verteidigte Oskar seinen Schwarm energisch.

»Schon möglich.« Elena lächelte beschwichtigend. »Ich werde Ihre Blumen auf jeden Fall später zu ihr bringen.«

»Das ist sehr nett.« Oskar nestelte einen Umschlag aus der Sakkotasche und reichte ihn Schwester Elena. »Könnten sie ihr auch diese Karte überreichen?« Plötzlich wirkte er fast schüchtern. Hektische rote Flecken traten auf seine Wangen.

»Für Sie tue ich das doch gern.«

»Das ist sehr lieb.« Nach ein paar weiteren Bemerkungen blieb Oskar nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.

Schwester Iris wartete, bis er außer Hörweite war.

»Sieh mal einer an. Und ich dachte die ganze Zeit, Herr ­Roeckl ist mit Frau Lenni liiert.«

»Das ist er ja auch«, gestand Elena und ordnete das Grün in Oskars Strauß. »Aber wie heißt es so schön?«

Sie drehte sich zu ihren Kollegen um. »Alter schützt vor Torheit nicht.«

Iris und Jakob lachten.

»Dann bleibt zu hoffen, dass er nicht zu töricht wird. Frau Lenni macht mir nicht den Eindruck, als würde sie großmütig über so einen Fauxpas hinweg sehen.«

»Dieser Eindruck täuscht ganz und gar nicht«, konnte Elena aus den Erzählungen ihrer Freundin Felicitas bestätigen und stimmte in das Lachen ihrer Kollegen ein.

*

Bevor Volker Lammers aus dem OP-Bereich hinaus auf den Flur trat, sah er nach links und rechts. Er hatte Glück. Die Luft war rein, von den Eltern des kleinen Severin war keine Spur zu sehen. Mit wehendem Kittel eilte er über den Flur in Richtung seines Büros. Er war so müde, dass er seine Umgebung kaum noch wahrnahm.

Auch Felicitas Norden war schnell unterwegs. Die Operation des Verkehrsopfers war gut verlaufen, und sie beeilte sich, um rechtzeitig zur Angehörigen-Sprechstunde zu kommen. Sie bog um die Ecke. Im nächsten Moment spürte sie einen dumpfen Schlag. Benommen stolperte sie rückwärts.

»Menschenskind, Lammers, kön­nen Sie nicht aufpassen?«

»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, erwiderte er und fuhr sich über die Augen.

Fee stutzte.

»Alles in Ordnung?«

»Solange ich keine dummen Fragen beantworten muss, ja.«

Nur mit Mühe konnte sich Felicitas eine scharfe Antwort verkneifen. Das lag nicht zuletzt am erschöpften Aussehen ihres Stellvertreters.

»Wie ist der Eingriff bei Severin Lohns verlaufen?«, erlaubte sie sich eine letzte Frage in der Annahme, dass sie Gnade vor seinen Augen fand.

»Gut, gut, alles bestens.« Plötzlich wirkte Lammers fahrig. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich muss mich ein bisschen hinlegen.« Er hob die Hand zum Gruß und eilte davon.

Verwundert sah Felicitas ihm nach, ehe sie sich selbst wieder auf den Weg machte.

Volker dagegen atmete erleichtert auf, als er wenige Augenblicke später die Bürotür hinter sich schloss. Einen Moment lang lehnte er sich erschöpft dagegen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann gab er sich einen Ruck und ging hinüber zum Sofa, das in einer Ecke auf Besucher wartete. Er legte sich hin und streckte die Beine aus. Ein paar Atemzüge später war er eingeschlafen.

Wenn er geahnt hätte, dass sich seine Chefin in diesem Augenblick mit Carola May unterhielt, hätte er nicht so ruhig geschlafen.

»Kannst du mir etwas mehr zum Eingriff bei Severin Lohns sagen?«, fragte Fee die Kollegin nach einem schnellen Blick auf die Uhr. Bis zur Sprechstunde blieben ihr ein paar Minuten.

»Der ist gut verlaufen. Allerdings habe ich meine Zweifel, was Lammers angeht.«

Carola dachte nicht daran, einen Hehl aus dem Vorfall zu machen.

Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Was ist passiert?«

»Er schien sehr angestrengt und hat die OP an mich übergeben.«

Felicitas wusste um Lammers’ schlechten Stand in der Klinik. Im Gegensatz zu seinen herausragenden Fähigkeiten als Kinderchirurg waren seine sozialen Kompetenzen mehr als spärlich. Trotzdem brauchte sie ihn und wollte auf keinen Fall Öl ins Feuer gießen.

»Er wollte eben kein Risiko eingehen. Seine Grenzen zu kennen und delegieren zu können sind keine Fehler.«

»Trotzdem ist es ungewöhnlich für ihn, dass er so einen prestigeträchtigen Eingriff einfach abgibt. Findest du nicht?«

»Zweifelst du an seinen Kompetenzen?«

»Nein, keineswegs.« So weit wollte Carola dann doch nicht gehen. »Wie auch immer, du solltest ein Auge auf ihn haben. Auch wenn er der beste Kinderchirurg weit und breit ist, ist das kein ehernes Gesetz.«

Fee verstand die versteckte Aufforderung.

»Wenn er sich richtig ausgeschlafen hat, werde ich seine Fähigkeiten auf den Prüfstand stellen«, versprach sie und verabschiedete sich von Carola May.

*

Dr. Daniel Norden saß im Besprechungszimmer vor einem Tablet und studierte Alexandra Endress’ neueste Werte aus dem Labor. Dr. Sophie Petzold war bei ihm. Sie unterhielten sich über die berühmte Patientin.

»Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt eine Familie hat«, erklärte Daniel, ohne den Blick von dem kleinen Bildschirm zu nehmen.

»Natürlich!«, erwiderte sie im Brustton der Überzeugung. »Fabian Endress. Er lebt auch hier in München.«

Die Tür öffnete sich, und der Pfleger Jakob kam herein. Daniel hob kurz den Kopf.

»Lassen Sie sich nicht stören«, bat er und ging zum Schrank, um nach einer Patientenakte zu suchen.

Daniel wandte sich wieder an Sophie Petzold.

»Woher wissen Sie das mit Fabian Endress?«

Sie blieb vor ihm stehen und stemmte die Hände in die Hüften.

»Im Gegensatz zu Ihnen habe ich neben der Klinik auch noch andere Interessen«, erwiderte sie schnippisch. »Dazu gehört auch zeitgenössische Kunst, besonders Malerei. Ich habe letzte Woche eine Vernissage in einer Galerie besucht, in der auch Fabian ausstellt.«

»Und ich dachte, Sie hätten keine Zeit mehr für ein Privatleben«, bemerkte Daniel Norden.

Nur mit Mühe konnte sich Jakob ein Lachen verkneifen. Das lag auch an der überraschenden Neuigkeit, die Sophie gerade von sich gegeben hatte.

»Mir hat Frau Endress vor einer Stunde glaubhaft versichert, sie hätte keine Kinder«, warf er ein.

Sophie drehte sich zu ihm um.

»Bist du sicher?«

»Noch höre ich keine Stimmen. Aber wenn es so weit ist, sage ich Bescheid.« Er zwinkerte ihr zu, ehe er das Zimmer mit der gesuchten Akte verließ.

»Blödmann«, schickte Sophie ihm hinterher. Doch da fiel die Tür schon hinter Jakob ins Schloss.

Ärgerlich ging sie hinüber zum Sideboard.

»Ist noch Kaffee da?« Prüfend schüttelte sie die Thermoskanne.

»Ich fürchte, das sieht schlecht aus.« Fast tat sie Daniel leid. An diesem Tag schien sie kein Glück zu haben. »Aber ich mache Ihnen ein anderes Angebot. Wir gehen gemeinsam zu Frau Endress. Dann können Sie etwas über Schmerztherapie lernen. Das interessiert Sie doch sicher.« Das wohlmeinende Angebot fand keine Gnade.

Sophie rollte mit den Augen.

»Nicht nötig. Modul 23. Interdisziplinäres Basisjahr im Medizinstudium«, erklärte sie herablassend und täuschte ein Gähnen vor. »Unter dem Begriff Schmerztherapie versteht man diejenigen therapeutischen Maßnahmen, die zu einer Reduktion von Schmerz führen. Der Begriff Schmerzmanagement wird für die Behandlung chronischer Schmerzen verwendet. Damit sind alle planenden, überwachenden und steuernden Maßnahmen gemeint, die für eine effektive Schmerztherapie erforderlich sind«, leierte sie die Definition herunter. »Einfach ausgedrückt: Stinklangweilig!«, fügte sie hinzu und musterte ihren Chef herausfordernd.

Daniel dachte nicht daran, sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Sie enttäuschen mich, Frau Petzold.« Er schaltete das Tablet aus und stand auf. »Diese Meinung wurde Ihnen an der Universität eingeimpft. Dabei hatte ich bisher den Eindruck, dass Sie ein selbstständig denkender, kritischer Mensch sind und sich lieber selbst ein Bild machen.« Er nickte ihr zu und verließ das Zimmer.

Vor Zorn war Sophie den Tränen nahe. Letztlich blieb ihr aber nichts anderes übrig, als ihrem Chef zähneknirschend zu folgen.

*

Nachdem Felicitas Norden die Sprechstunde erfolgreich hinter sich gebracht hatte, machte sie sich auf die Suche nach Volker Lammers. Sie fand ihn schlafend auf seiner Couch. Spontan beschloss sie, das Gespräch mit dem Ehepaar Lohns allein zu führen.

Nach dem Eingriff war Severin in den Wachraum gebracht worden. Dort erholte er sich von den überstandenen Strapazen. Frauke und Thorsten waren bei ihm, als Fee eintrat.

»Da ist ja unser kleiner Akrobat«, begrüßte sie den Jungen, der schon wieder lächeln konnte. »Dann kannst du mir ja jetzt erzählen, wie das passiert ist.«

»Der Kilian hat behauptet, dass ich nicht freihändig fahren kann«, krächzte der Kleine.

»Und? Hatte er recht?«

»Nein. Freihändig fahren können doch schon Babys. Es ist nur der dumme Stein auf der Straße schuld, dass ich hingefallen bin.«

»Zum Glück ist Sevi noch einmal glimpflich davongekommen.« Thorstens Stimme war weich vor Dankbarkeit.

»Die Operation ist doch gut verlaufen, oder?«, fragte Frauke vorsichtshalber nach.

Fee nickte.

»Den Kollegen ist es gelungen, den Wirbel zu stabilisieren.«

»Dann kann ich ja jetzt gehen.« Severin machte Anstalten, die Bettdecke zurückzuschlagen.

Lächelnd hielt Fee ihn von diesem Plan ab.

»Nichts da, du kleiner Draufgänger. Nachdem du dich in der Klinik gut erholt hast, geht es zunächst einmal auf Rehabilitation in das Kindersanatorium meines Bruders. Dort bekommst du verschiedene Therapien, damit du bald wieder stehen, gehen und laufen kannst.«

»Und Fahrradfahren«, ergänzte Severin frech.

»Aber bitte nicht freihändig.« In Fraukes Gesicht standen noch die Sorgen der vergangenen Stunden.

»Wenn es unbedingt sein muss«, seufzte Sevi und blinzelte müde ins Licht. Auch wenn er nichts davon mitbekommen hatte, war die Operation für seinen kleinen Organismus anstrengend gewesen. Zudem steckte ihm die Narkose in den Knochen. Fee verabschiedete sich von ihm und bedeutete den Eltern, ihr nach draußen zu folgen.

»Bitte richten Sie dem gesamten Operationsteam unseren Dank aus. Wir sind sehr froh, dass alles geklappt hat«, bedankte sich Thorsten bei der Chefin der Pädiatrie. »Ein Glück, dass es sich dieser Dr. Lammers anders überlegt und den Eingriff seiner Kollegin überlassen hat.« Er bemerkte Fees fragenden Blick. »Die Art, wie er mit Sevi und uns umgegangen ist, wie er mit uns gesprochen hat, war nicht gerade vertrauensfördernd.«

»Dr. Lammers ist der fähigste Kinderchirurg weit und breit«, versicherte Felicitas besorgt. »Unzählige kleine Patienten verdanken ihm ihr Leben.«

»Das hat er uns auch erzählt. Aber wer weiß, vielleicht ist seine beste Zeit ja vorbei«, gab Frauke zu bedenken.

»Ich werde das auf jeden Fall überprüfen«, versprach Fee, ehe sie sich auch von den Eltern verabschiedete.

Die Unterhaltung mit Carola May hatte sie nachdenklich gestimmt. Jetzt war sie regelrecht alarmiert. Bisher war es Dr. Volker Lammers gelungen, seine fehlenden zwischenmenschlichen Qualitäten mit fachlicher Kompetenz auszugleichen. Doch langsam schien sich die Waage zu seinen Ungunsten zu neigen. Der gute Ruf ihrer Abteilung stand auf dem Spiel. Dagegen musste Dr. Felicitas Norden mit aller Macht vorgehen.

*

»Guten Abend, Frau Endress«, begrüßte Daniel seine Patientin freundlich. »Haben Sie sich schon gut eingelebt?«

Als die Unternehmerin ihn erblickte, strahlten ihre Augen auf.

»Herr Dr. Norden! Wie schön, Sie wiederzusehen.«

»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich Sophie Petzold.

Doch Alexandras Blick hing an dem Klinikchef.

»Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Doktor. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Sophie biss die Zähne zusammen.

»Nein, vielen Dank, keinen Tee«, lehnte Daniel ab. Er musterte seine Patientin eingehend. »Sie sehen schon viel besser aus als heute Morgen.«

»Das ist ja auch kein Wunder. In dieser Klinik muss man sich ja wohlfühlen. Das Personal ist freundlich und sehr aufmerksam. Wenn ich einen Wunsch habe, muss ich nie lange warten.«

»Es freut mich, das zu hören.« Daniel forderte Sophie auf, ihm die Patientenakte zu geben. »Meine Kollegin Frau Petzold und ich haben die Zeit genutzt, um eine Schmerztherapie für Sie zu erarbeiten. Für diese Therapie ist eine strenge Disziplin nötig.«

»Disziplin ist mein zweiter Vorname.« Alexandra setzte sich auf die Bettkante. »Ohne diese Eigenschaft wäre ich heute nicht Chefin einer Brauerei.«

»Disziplin auch im Umgang mit sich selbst«, mahnte Dr. Norden. »Ich fürchte, Sie neigen dazu, sich zu vernachlässigen.«

Alexandra Endress lächelte schüchtern wie ein kleines Mädchen.

»Sie kennen mich besser als ich mich selbst.«

»In medizinischer Hinsicht ist das durchaus möglich.« Daniel erwiderte ihr Lächeln, ehe er wieder ernst wurde. »Wenn wir uns auf diese Therapie einigen, müssen Sie genaue Zeiten einhalten und dürfen nur die Medikamente einnehmen, die wir Ihnen verordnen.«

»Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, mich unterzuordnen. Aber bei Ihnen werde ich eine Ausnahme machen und mich Ihrem Willen beugen.«

Sophie Petzold stand neben Daniel Norden und hörte schweigend zu. Sie fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen. Alexandra Endress ignorierte sie nach allen Regeln der Kunst. Im Normalfall hätte sich die junge Assistenzärztin mit einem lautstarken Abgang revanchiert. Nur die Anwesenheit des Chefs hinderte sie daran. So blieb ihr nichts anderes übrig, als das Geschehen stumm wie ein Fisch zu verfolgen. In ihre Gedanken hinein lachte Daniel Norden.

»Das ehrt mich sehr. Trotzdem möchte ich Sie bitten, einen Familienangehörigen ins Vertrauen zu ziehen. Frau Petzold hat mir erzählt, dass Sie einen Sohn in München haben. Könnte der nicht …«

»Ich habe keinen Sohn!« Wie ein Peitschenhieb schnitt Alexandras Stimme durchs Zimmer. Sie funkelte Sophie wütend an. »Oder sehen Sie hier irgendwo einen jungen Mann?« Vergeblich versuchte sie, die Tränen zu verbergen, die plötzlich in ihren Augen schimmerten.

Daniel trat zu ihr ans Bett und reichte ihr ein Taschentuch.

»Wollen Sie darüber sprechen?«, fragte er sanft.

Sie riss ihm das Tuch aus der Hand und betupfte die Augen.

»Da gibt es nichts zu sagen«, schniefte sie trotzig. »Für Fabian bin ich schon vor Jahren gestorben. Es kümmert ihn nicht, ob ich tot oder lebendig bin.«

»Ihr Sohn weiß vielleicht gar nicht, dass Sie in der Klinik sind«, wagte Sophie einen vorsichtigen Einwurf.

Alexandra schien sie gar nicht zu hören.

»Warum interessieren Sie sich überhaupt für mein Privatleben? Sie sollen sich um meine Beschwerden kümmern, und damit basta!« Sie ließ sich nach hinten fallen und zog die Bettdecke bis hinauf an die Nasenspitze. »Bitte lassen Sie mich allein. Ich fühle mich nicht gut.«

Daniel Norden schickte Sophie Petzold einen vielsagenden Blick. Die zuckte nur mit den Schultern.

So blieb den beiden Ärzten nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge den Rückzug anzutreten. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass Daniel bereit war, die Segel zu streichen. Ganz im Gegenteil hatte er es eilig, in sein Büro zu kommen. Mit großen Schritten und wehendem Kittel eilte er über den Flur. Sophie Petzold hatte Mühe, ihm zu folgen.

*

»Das war Frau Haimerl.« Frauke Lohns hielt das Mobiltelefon noch in der Hand, als sie ins Krankenzimmer ihres Sohnes zurückkehrte.

Thorsten, der den Schlaf seines Sohnes bewachte, drehte sich zu ihr um.

»Was wollte sie denn?«, erkundigte er sich leise.

»Es geht um einen Mahnbescheid, den ich nach Ablauf einer Frist verschicken sollte. Dummerweise findet sie meinen Schriftverkehr dazu nicht im Computer«, seufzte Frauke und fuhr sich über die Augen. Im Moment hatte sie wahrlich andere Sorgen.

Thorsten dachte kurz nach.

»Was hältst du davon, wenn du kurz in die Firma fährst und das Problem löst? Bei dieser Gelegenheit kannst du deiner Chefin gleich erzählen, was passiert ist, und mit ihr klären, ob du in den kommenden Tagen stundenweise frei bekommen kannst. Dann wechseln wir uns ab mit Sevis Betreuung.«

Über diesen Vorschlag musste Frauke nicht lange nachdenken.

»Gute Idee. Ich frage mich nur, ob sie Verständnis dafür hat. Ihre kleine Tochter ist erst zwei Monate alt, und sie sitzt schon wieder Vollzeit im Büro.« Fraukes Blick huschte hinüber zu Severin. Sein Gesicht war friedlich, und sein Atem ging ruhig.

»Das ist ihre ganz persönliche Entscheidung«, gab Thorsten zu bedenken. »Wir sind eben anderer Ansicht. Das muss sie akzeptieren.« Er las die Sorge in den Augen seiner Frau. »Geh nur. Ich passe auf, dass Sevi nicht aus dem Bett fällt.«

Frauke beugte sich über ihn und küsste ihn.

»Du bist ein Schatz.« Mit dem Versprechen, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein, machte sie sich auf den Weg.

*

Eine halbe Stunde später betrat sie das Büro ihrer Chefin. Lisa Haimerl saß am Schreibtisch und telefonierte. Als sich Frauke diskret zurückziehen wollte, bedeutete sie ihr zu bleiben.

»Frau Keller, meine Tochter heißt Paulina und nicht Paula, vielleicht merken Sie sich das irgendwann einmal«, bellte sie so ungehalten in den Hörer, dass Frauke Angst bekam. Nie und nimmer würde ihre Chefin ihr Anliegen gutheißen. »Was soll das heißen, sie schläft nicht? Ist die Windel voll? Hat sie Hunger? Nein? Dann messen Sie bitte ihre Temperatur. Wer weiß, vielleicht brütet Paulina ja etwas aus. Wenn Sie Fieber haben sollte, melden Sie sich sofort. Ach ja, und räumen Sie diesmal bitte ordentlich auf. Ich habe keine Lust, nach einem anstrengenden Arbeitstag auch noch den Hausputz zu machen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Lisa auf. »Immer Ärger mit dem Personal!«, bemerkte sie kopfschüttelnd, ehe sie sich auf Frauke Lohns konzentrierte. »Bitte setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?«

Frauke setzte sich auf die äußerste Stuhlkante. Sie wagte es kaum, ihrer Chefin ins Gesicht zu sehen.

»Wir haben doch vorhin gesprochen wegen des Mahnbescheids …«

Lisa Haimerl winkte ab.

»Das hat sich erledigt. Der Kollege Fritsch hat die Datei gefunden. Es ist alles in Ordnung.« In der Annahme, das Gespräch wäre damit beendet, wandte sie sich wieder dem Computer zu. Als Frauke keine Anstalten machte zu gehen, blickte sie wieder hoch. »Ist noch etwas?«

»Es geht um unseren Sohn, Severin«, begann Frauke schüchtern. »Er hatte heute früh einen Fahrradunfall und musste in der Behnisch-Klinik an der Wirbelsäule operiert werden.«

Die Reaktion ihrer Chefin überraschte sie.

»Du liebe Zeit! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Lisa Haimerls Mitgefühl war echt. »Wie geht es ihm?«

Frauke entspannte sich ein wenig. »Den Umständen entsprechend ganz gut. Die Operation ist gut verlaufen. Allerdings muss er noch eine Weile in der Klinik bleiben. Deshalb wollte ich fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ich in den kommenden Tagen stundenweise ins Krankenhaus fahre. Mein Mann und ich wechseln uns in der Betreuung ab.«

»Selbstverständlich. Sie wissen ja, dass Sie bei Krankheit ihres Kindes Sonderurlaub beantragen können.«

Erleichtert atmete Frauke Lohns auf. Ihre Sorgen erwiesen sich als unbegründet.

»Das wird nicht nötig sein. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«

Schon konzentrierte sich Lisa Haimerl wieder auf ihren Computer. Frauke war schon an der Tür, als die Chefin doch noch eine Frage hatte.

»Ach, welche Klinik war das, sagten Sie?«

»Severin ist in der Behnisch-Klinik.«

Lisa lehnte sich zurück und sah Frauke über den Rand ihrer Brille nachdenklich an.

»Sind Sie mit der Behandlung zufrieden? Ich frage nur … Früher habe ich mir über solche Sachen keine Gedanken gemacht. Aber mit Kind ist ja alles anders.«

»Frau Dr. Norden und ihr Team sind großartig. Nur um den stellvertretenden Chef der Pädiatrie würde ich einen großen Bogen machen. Angeblich ist Herr Dr. Lammers eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderchirurgie. Aber wir haben ihn nur als arroganten, überheblichen Unsympathen kennengelernt, der seine besten Zeiten offenbar schon hinter sich hat.«

Lisa Haimerl nickte verstehend.

»Solche Fälle kenne ich zu Genüge. Diese Herrschaften sonnen sich in ihrem eigenen Licht und vergessen dabei, dass die Konkurrenz nicht schläft und sie längst überholt hat.« Sie lächelte Frauke zu. »Zum Glück ist bei Severin alles gut gegangen. Richten Sie ihm gute Besserung aus.« Das erneute Klingeln des Telefons beendete das Gespräch endgültig. »Ja, Frau Keller, was gibt es denn schon wieder?«, fragte Lisa ungeduldig in den Hörer.

Frauke dagegen verließ das Büro. Sie hatte es eilig, in die Klinik zurückzukehren und Mann und Sohn die frohe Botschaft zu verkünden.

*

»Ziehen Sie sich um! Wir treffen uns in einer halben Stunde mit Fabian Endress.«

Daniel Norden legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat. Er saß an seinem Schreibtisch, sein Blick ruhte auf der Assistenzärztin.

Die rührte sich nicht vom Fleck.

»Wissen Sie, was ich an Ihnen bewundere?«

Ohne sie aus den Augen zu lassen, lehnte sich Daniel zurück.

»Sie werden es mir gleich verraten.«

»Sie scheinen wirklich Spaß an Ihrer Arbeit zu haben.«

»Ich denke, das ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, ein guter Arzt zu sein«, erwiderte Dr. Norden und stand auf. »Sehen Sie das anders?«

»Zumindest würde es mir nicht einfallen, mich nach Feierabend um die Familienangelegenheiten einsamer Damen zu kümmern.« Sophie zeigte auf die Uhr über der Tür. »Sie wissen doch so gut wie ich, dass sich Frau Endress nur wichtig macht. Sie ist einsam und braucht Aufmerksamkeit. Deshalb ist sie in die Klinik gekommen.«

»Tatsache ist, dass Alexandra Endress aufgrund der alten Verletzungen unter chronischen Schmer­zen leidet. Die vielen Medikamente haben ihre Organe angegriffen.« Daniel ging zur Garderobe, um den Kittel gegen das Sakko zu tauschen.

»Da habe ich aber schon schlimmere Fälle gesehen«, wagte Sophie Petzold einen Einspruch.

»Schmerzen und Schmerzempfinden werden von vielen subjektiven Faktoren beeinflusst.« Dr. Norden kehrte an den Schreibtisch zurück, stellte das Telefon auf seine Assistentin um und steckte das Handy ein. »Das bedeutet, dass Patienten, die unter starken Schmerzen leiden, obwohl die Ursache in den Augen anderer geringfügig ist, nicht simulieren. Sie empfinden die Schmerzen wirklich und leiden entsprechend unter ihnen.« Tadelnd schüttelte er den Kopf. »Sie wissen doch sonst immer alles besser. Muss ich Ihnen das wirklich erklären?« An der Tür drehte er sich noch einmal nach der Assistenzärztin um. »Also, was ist jetzt?«

Sophie Petzold haderte mit sich. Die Warnung in seinen Augen gab schließlich den Ausschlag.

»Schon gut. Ich komme ja schon!«

*

»Es tut mir leid, dass ich nicht in die Klinik kommen konnte«, entschuldigte sich Fabian Endress, nachdem er seinen beiden Gästen einen Platz angeboten hatte.

Neugierig sah sich Sophie Petzold in dem Künstleratelier um. Überall standen Bilder in allen erdenklichen Größen. Manche waren vollendet, auf anderen die Motive nur ansatzweise zu erkennen. Nur eines hatten die Bilder gemein: Im Gegensatz zu seinen Frühwerken waren diese Kunstwerke allesamt in gedeckten, düsteren Farben gehalten, wie Sophie heimlich feststellte.

Daniel Norden dagegen konzentrierte sich ganz auf den Sohn seiner Patientin.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Sie sind also wegen meiner Mutter hier.« Fabian setzte sich auf die andere Seite des kleinen Tisches in einen Sessel. Er verschränkte die farbbespritzten Finger ineinander und musterte die beiden Ärzte mit unverhohlenem Misstrauen. »Ich frage mich, was ich für Sie tun kann.«

»Ihre Mutter hat sich wegen akuter Schmerzzustände selbst in die Klinik eingeliefert.«

»Ich weiß.« Fabian verzog das Gesicht. »Die liebe Alexandra hat ja mal wieder keine Kosten und Mühen gescheut, um die ganze Welt an ihrem grausamen Schicksal teilhaben zu lassen.«

Daniel schickte Sophie einen vielsagenden Blick.

»Ich bin sehr froh darüber, dass Ihre Mutter freiwillig gekommen ist. Sie hat einen Medikamentencocktail eingenommen, der ihr sehr bald zum Verhängnis geworden wäre.«

»Sie sprechen im Konjunktiv. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie die Sache in den Griff bekommen haben.«

Fabian war wirklich eine harte Nuss.

»Im Augenblick schon. Spannend wird es erst, wenn wir Ihre Mutter in den nächsten Tagen entlassen.«

Fabian zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Er wartete darauf, dass Dr. Norden fortfuhr.

»Ich habe eine Schmerztherapie angeordnet, die eine strenge Einhaltung erfordert, wenn sie erfolgreich sein soll.«

Allmählich wurde Fabian Endress ungeduldig.

»Bitte kommen Sie endlich auf den Punkt«, verlangte er. »Was habe ich mit alldem zu tun?«

»Wenn Ihre Mutter entlassen wird, braucht sie Unterstützung.« Es war Sophie, die das Anliegen vorbrachte, das sie ins Atelier des Malers geführt hatte. »Ihr Mutter schafft das nicht mehr allein.«

Fabian lachte ungläubig. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, im Atelier auf und ab zu gehen.

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen!«, behauptete er. »Meine Mutter ist der Inbegriff der Unabhängigkeit. Sie braucht keinen anderen Menschen. Und schon gar keine Hilfe.«

»Wie lange haben Sie Alexandra schon nicht mehr gesehen?«

Über diese Frage musste Fabian nicht lange nachdenken.

»Sechseinhalb Jahre.«

»Und denken Sie nicht, dass sich ein Mensch in so einer langen Zeit verändert?«

Daniels Frage war berechtigt.

Fabian machte vor den beiden Ärzten Halt und blickte ernst auf sie hinab.

»Nicht meine Mutter. Die ändert sich nie.« Es klopfte, und eine Frau steckte den Kopf ins Atelier.

»Fabi, die Leute von der Zeitschrift ›Arte-Sana‹ sind da.«

»Ich komme gleich.« Er nickte ihr zu und wandte sich wieder an seine Gäste. »Sie haben es gehört. Ich muss mich leider verabschieden.« Er begleitete Daniel und Sophie zur Tür. »Es tut mir leid, dass Sie sich ganz umsonst die Mühe gemacht haben.«

Doch so leicht wollte sich Sophie nicht geschlagen geben. Sie wollte unbedingt ein Erfolgserlebnis verbuchen.

»Sind Sie sicher, dass die Differenzen zwischen Ihnen und Ihrer Mutter unüberbrückbar sind?«

Fabian schenkte ihr ein bedauerndes Lächeln.

»Es fällt mir nicht leicht, eine schöne Frau wie Sie zu enttäuschen. Aber ja. Ich bin mehr als sicher. Auf Wiedersehen.« Deutlicher konnte eine Ablehnung nicht ausfallen.

Daniel und Sophie blieb nichts anderes übrig, als das Atelier zu verlassen.

Fabian machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihnen nachzusehen.

*

Als Dr. Daniel Norden eine gute Stunde später ins Büro seiner Frau kam, saß Fee noch am Schreibtisch.

»Du gehst schon nach Hause?« Sie schickte ihm einen flüchtigen Blick, ehe sie sich wieder über die Operationsberichte beugte. »Lammers arbeitet zu viel. Er verbringt fast jede freie Minute in der Klinik und einen Großteil davon im OP. Kein Wunder, dass er heute einen Eingriff wegen Übermüdung abbrechen musste«, murmelte sie versonnen vor sich hin.

»Davon habe ich auch schon gehört. Du solltest ihm Urlaub verordnen.«

»Ich habe ihn heute Nachmittag nach Hause geschickt, damit er sich gründlich ausschlafen kann«, versicherte Fee und lehnte sich zurück.

»Aber das ist es nicht allein, stimmt’s?«, sagte Daniel ihr auf den Kopf zu. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass noch eine andere Sorge auf ihrem Herzen lastete.

»Du kennst mich zu gut. Ich muss aufpassen, dass ich interessant bleibe für dich.« Sie lächelte ihn versonnen an. »Forschungen haben ergeben, dass zu viel Nähe und Offenheit die Partnerschaft bedrohen können.«

Daniel lachte.

»Dann besteht für uns keine Gefahr. Unsere Arbeit ist der Garant dafür, dass wir uns niemals zu nahe kommen werden.«

Sein Ton ließ sie aufhorchen.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Nichts, was nicht bis später warten könnte. Brauchst du noch lange?«

Fees Blick glitt über die Unterlagen auf dem Tisch.

»Fahr schon mal vor. Ich bin in einer halben Stunde da«, versprach sie und hauchte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. Im nächsten Moment vertiefte sie sich wieder in die Berichte.

Daniel dagegen machte sich auf den Nachhauseweg. Er konnte seiner Frau nicht böse sein. Genau wie er war Fee Ärztin mit Leib und Seele. Aber es gab noch weitere Familienmitglieder, und beileibe nicht alle konnten den Arbeitseifer nachvollziehen.

*

»Halt, Fremder, keinen Schritt weiter!« Als Janni Norden, jüngster Spross der Familie, Schritte hörte, fuhr er herum. Zu seiner Verteidigung hielt er den Kochlöffel wie ein Schwert vor sich.

Lachend hob Daniel die Hände.

»Gnade! Ich bin es. Dein Vater!«

Jan ließ den Kochlöffel sinken und legte den Zeigefinger an die Wange.

»Vater? Mein Vater?« Er gab vor, angestrengt nachzudenken. »Wer mag das sein? Ich erinnere mich nicht.«

Als Daniel an ihm vorbei zum Herd ging, wuschelte er seinem Sohn durch das Haar.

»Du übertreibst.« Er hob den Topfdeckel. Ein wunderbarer Duft nach Knoblauch und Kräutern stieg ihm in die Nase. Er holte einen kleinen Löffel aus der Schublade und wollte ihn in die Tomatensauce tauchen.

»Moment!« Entschieden ging Janni dazwischen. »In grauer Vorzeit habe ich einmal gelernt, dass erst gegessen wird, wenn alle da sind.«

»Ich koste doch nur.« Daniel schob den Löffel in den Mund und schloss genüsslich die Augen. »Einen Vorteil hat es, dass deine Eltern beide berufstätig sind: Du hast kochen gelernt.«

»Und während ich meine einsamen Mahlzeiten einnehme, träume ich von den goldenen Zeiten, als wir noch als Familie am Tisch saßen und uns während des Essens von den Erlebnissen des Tages berichteten.«

Das Nudelwasser kochte. Janni riss die Packung Spaghetti auf und versenkte sie im Salzwasser.

»Das waren in der Tat schöne Zeiten«, gab Daniel unumwunden zu. »Aber du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Sie kommen bestimmt wieder.«

»Wenn ich alt und grau bin.«

Daniel lachte.

»Bis dahin haben wir zum Glück noch ein, zwei Jahre Zeit.« Er holte sich eine Flasche alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank. Nach all dem Wasser und Kaffee brauchte er Abwechslung. »Wo steckt eigentlich deine Schwester? Die könnte dir doch ab und zu Gesellschaft leisten.«

»Die liebe Désirée zieht es vor, sich mit ihrem neuen Liebhaber zu vergnüngen.«

»Nur kein Neid«, lächelte Daniel. Er trank einen Schluck Bier und legte den Arm um Jannis Schultern. »Wir sollten die Sache positiv sehen. So ein Männerabend hat doch auch seine guten Seiten.«

In diesem Moment drehte sich der Schlüssel im Schloss.

»Hallo? Dan? Bist du schon zu Hause?« Fees fröhliche Stimme hallte durch das Haus. »Ich habe jemanden mitgebracht.«

»Überraschung!«, riefen ein paar Stimmen durcheinander.

Janni schnitt eine Grimasse.

»Das war’s dann wohl mit dem Männerabend.«

Daniel war schon auf dem Sprung, um Danny und Tatjana zu begrüßen. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Janni um.

»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.« Er zwinkerte seinem jüngsten Sohn zu. »Deckst du schon einmal den Tisch?«

*

»So, jetzt muss ich nur noch auf das Ergebnis warten.« Mit rot geränderten Augen saß Sophie Petzold am Tisch in dem Labor, in dem die Ärzte einfache Analysen selbst durchführten. Die Chirurgin Christine Lekutat saß an einem der anderen Schreibtische und nippte an ihrem Kaffee.

»Was für eine Nacht«, seufzte sie. »Erst das Polytrauma, dann das geplatzte Aneurysma. So ein Programm brauche ich wirklich nicht jede Nacht.«

Sophie nahm ein Röhrchen Blut aus dem Ständer, der vor ihr stand, und entzifferte die Beschriftung. Vor Müdigkeit verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen.

»Bald ist es vorbei. Und dann sinke ich in mein warmes, weiches Bett und träume von Palmen, Sandstrand und Meeresrauschen.«

»Sie Glückliche. Wenn ich heimkomme, darf ich mich erst einmal um meine alte Mutter kümmern. Das ist ganz schön anstrengend. Davon haben Sie Jungspund keine Ahnung.«

Im Normalfall hätte diese Bemerkung für einen handfesten Krach gereicht. Doch an diesem frühen Morgen war Sophie zahm wie ein Kätzchen.

»Dafür sind Sie nicht allein.« Sie lehnte sich zurück und ließ die Gedanken schweifen. »In meiner Wohnung ist niemand, der auf mich wartet. Allmählich habe ich das Gefühl, nur noch für die Klinik zu leben.«

Christine musterte sie über den Rand ihrer Tasse hinweg.

»Mich wundert ja nicht, dass Ihnen die Freunde weglaufen«, stellte sie arglos fest. »Aber Ihre Familie werden Sie doch nicht auch vergrault haben.«

Nun schnappte Sophie doch nach Luft.

»Das sagt die Richtige. Ihre Mutter ist wahrscheinlich nur deshalb bei Ihnen, weil sie auf Ihre Hilfe angewiesen ist.«

Schon auf dem Flur hörte Schwester Elena die keifenden Stimmen. Sie verfiel in Laufschritt.

»Bevor Sie sich hier die Köpfe einschlagen: In der Notaufnahme wartet ein Blinddarmdurchbruch. Außerdem müsste jemand nach Frau Endress sehen. Sie klagt über starke Schmerzen.«

Als Christine Lekutat den Namen Endress hörte, fällte sie eine Entscheidung.

»Ich nehme die Appendix-Ruptur. Frau Endress hat mich heute Nacht schon oft genug schikaniert.«

»Gut.« Elena wandte sich freundlich lächelnd an Sophie. »Wenn ich bitten darf, Frau Dr. Petzold.« Sie machte eine einladende Handbewegung.

Sophie erhob sich vom Tisch und sah der Chirurgin nach, wie sie mit Trippelschritten aus dem Zimmer eilte.

»Sie klingt wie eine Dampflok. Als Ärztin müsste sie doch wissen, dass Übergewicht gefährlich ist.«

Schwester Elena stand mit verschränkten Armen in der Tür und tippte mit dem Fuß auf den Boden.

»Frau Petzold!«

»Ja ja, ich komme ja schon.« Seufzend machte sich Sophie auf den Weg.

Als sie Alexandra Endress’ Zimmer betrat, brannte das Nachtlicht. »Sie haben mich gerufen?«

»Sie?« Alexandra zog eine Augenbraue hoch. Sie machte gar nicht erst den Versuch, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Nein. Ich wollte Dr. Norden sehen.«

»Tut mir leid, der Chef ist noch nicht im Haus. Sie müssen wohl oder übel mit mir vorlieb nehmen. Bitte machen Sie den Bauch frei.«

Sophie Petzold wartete, bis Alexandra das Nachthemd hochgeschoben hatte.

»Die Medikamente haben überhaupt nicht geholfen.« Alexandra stöhnte gequält auf. »Die Schmerzen sind kaum auszuhalten.«

Sophie tastete den Leib ihrer Patientin ab.

»Mehr darf ich Ihnen nicht geben.«

»Ich halte das aber nicht länger aus.«

Die Assistenzärztin richtete sich auf und blickte streng auf Alexandra hinunter.

»Haben Sie uns nicht gestern erst davon erzählt, wie ungemein diszipliniert Sie sind? Dann tun Sie uns doch bitte den Gefallen und behalten diese Eigenschaft auch in der Klinik bei. Schließlich gibt es hier einige Patienten, die wesentlich schlechter dran sind als Sie, aber nicht halb so viel Theater machen.«

Alexandra traute ihren Ohren kaum.

»Ihr Benehmen erinnerte mich eher an ein freches Kindergartengör denn an eine seriöse Ärztin.«

»Und Sie erinnern mich an einen Hypochonder«, platzte Sophie heraus und setzte das Stethoskop auf die Ohren.

»Finger weg!« Alexandra Endress setzte sich kerzengerade im Bett auf. Sie stieß Sophies Hände weg, zog die Beine an und die Bettdecke hoch. »Ich werde mich bei Dr. Norden über Sie beschweren.«

Sophie lächelte herablassend.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Eine Diva wie Sie nimmt ohnehin kein Mensch ernst. Ich kann Ihren Sohn wirklich gut verstehen …«

»Jetzt reicht es!«, unterbrach Alexandra sie scharf. Sie schlug die Decke zurück und stand auf. »So etwas muss ich mir nicht gefallen lassen.«

Immer noch lächelnd sah Sophie ihr zu, wie sie in Mantel und Straßenschuhe schlüpfte und das Zimmer verließ. Erst jetzt erkannte sie, dass die Unternehmerin nicht bluffte. Es war ihr ernst mit der Flucht.

»Halt, Frau Endress! Wo wollen Sie denn hin?«, rief sie ihr nach.

Der Hall ihrer Stimme rief Schwester Elena auf den Plan.

»Was ist passiert?«

»Hier bleibe ich keinen Augenblick länger.« Hoch erhobenen Hauptes stolzierte Alexandra an der Pflegedienstleitung vorbei Richtung Ausgang.

Elenas Kopf flog von links nach rechts. »Was auch immer Sie gesagt haben, Sie entschuldigen sich gefälligst!«, herrschte sie die verdutzte Sophie an.

»Es tut mir leid, Frau Endress. Bitte kommen Sie zurück.«

Doch Alexandra dachte nicht daran. Am Ende des Gangs blieb sie noch einmal stehen.

»Ich freue mich schon jetzt auf die Schlagzeile in der Zeitung.« Sie warf den Kopf in den Nacken und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Elena schickte Sophie Petzold einen vernichtenden Blick.

»Das wird Ihnen noch leid tun«, drohte sie, ehe sie der Unternehmerin nachlief.

*

»Madame, darf ich hereinkommen und das Frühstück servieren?«

Fee hatte das Klopfen nicht gehört. Erst die Stimme ihres Mannes riss sie aus verwirrenden Träumen.

»Wie spät ist es?«, murmelte sie und setzte sich im Bett auf. Mit der einen Hand fuhr sie durch das wirre Haar, mit der anderen griff sie nach dem Wecker.

»Eine Stunde vor dem Aufstehen«, verkündete Daniel gut gelaunt. Es war ihm gelungen, die Klinke mit dem Ellbogen herunterzudrücken. Vorsichtig trug er das Tablett durch das sonnendurchflutete Zimmer und stellte es auf seiner Bettseite ab. »Wir haben genug Zeit für ein ausgiebiges Frühstück.«

Inzwischen war es auch Fee gelungen, die Schatten der Nacht zu vertreiben.

»Soso!« Sie blinzelte ihn verführerisch an. »Sind Sie neu in diesem Hotel? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.« Sie brach ein Stück Croissant ab und knabberte daran.

»Im Normalfall bin ich hinter den Kulissen für Ihr Wohlergehen verantwortlich. Aber da heute unser Page Janni und das Zimmermädchen Dési kurzfristig ausgefallen sind, wurde ich mit dem Zimmerservice beauftragt«, spielte Daniel ihr Spiel mit, während er Kaffee einschenkte. »Mit Milch und zwei Löffeln Zucker. Bitte sehr, Madame.« Er reichte Fee die Tasse.

»Danke. Sie können sich jetzt zurückziehen.«

»Tut mir leid. Genau das habe ich nicht vor.« Mit auf dem Rücken verschränkten Armen stand Daniel vor dem Bett und kämpfte gegen das Lachen.

Felicitas legte einen Zeigefinger an die Wange und gab vor, angestrengt nachzudenken.

»Natürlich! Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe.« Ihre Miene strahlte auf. »Das Trinkgeld. Leider habe ich im Augenblick keine kleinen Scheine da.«

»Das macht gar nichts. Ich bevorzuge ohnehin Naturalien«, erwiderte Daniel und wollte schon unter die Decke schlüpfen, als sein Handy klingelte.

Fee seufzte.

»O nein, Dan, bitte nicht. Geh nicht ran.«

Er warf einen Blick auf das Gerät auf dem Nachttisch.

»Ich muss. Das ist die Klinik.«

Eine böse Vorahnung sagte Fee, dass es besser war, schnell zu frühstücken. Sie sollte sich nicht irren. Daniel beendete das Telefonat und sah sie bedauernd an.

»Tut mir leid, mein Schatz«, seufzte er. »Frau Endress ist aus der Klinik geflüchtet und unauffindbar.«

Fee steckte den Rest Croissant in den Mund und trank den letzten Schluck Kaffee. Auf dem Weg ins Bad umarmte und küsste sie ihren Mann.

»Wir sollten es positiv sehen. Wie ich gestern schon erwähnt habe, schadet zu viel Nähe einer Beziehung.«

Daniel verzog das Gesicht.

»Und wie lösen wir das Problem mit dem Trinkgeld?«

»Ach, so ist das!« Lachend wackelte Fee mit dem Zeigefinger vor seiner Nase hin und her. »Als treuer Kundin ist es mir doch sicherlich gestattet anzuschreiben.«

»Ausnahmsweise. Aber mit Zinsen.«

»Meinetwegen auch mit Zinseszins«, versprach Fee und verabschiedete sich mit einem Klaps auf seinen Allerwertesten ins Bad.

*

Schwester Elenas Anruf stellte sich auch für Fee als Glücksfall heraus. Sie hatte sich in der Klinik kaum von ihrem Mann verabschiedet und war auf dem Weg in ihr Büro, als sie ein Notruf erreichte. Gleichzeitig mit ihrem Stellvertreter Volker Lammers traf sie in der Ambulanz ein.

»Säugling, weiblich, zwei Monate alt. Hohes Fieber«, teilte der Rettungsfahrer Erwin Huber den beiden mit.

»Das hat meine Kinderfrau zu verantworten. Sie war zu lange draußen mit der Kleinen«, schimpfte Lisa Haimerl, die ihre kleine Tochter begleitete. Sie war außer sich vor Sorge.

»Das klären wir später«, sagte Fee Norden und wandte sich wieder an den Rettungsarzt, um weitere Details zu erfahren. »Weitere Symptome?«

»Paulina hat seit gestern Abend Fieber, das einfach nicht sinken will«, beantwortete Lisa diese Frage. »Die halbe Nacht hat sie wie am Spieß geschrien und sich übergeben.«

»Gut, Kollege Lammers, sie untersuchen die Kleine und leiten alle notwendigen Schritte ein. Dann sehen wir weiter.«

Volker nickte und machte sich auf den Weg. Lisa Haimerl sah dem Tross nach. Es dauerte einen Moment, bis sie erfasst hatte, was vor sich ging.

»Lammers? Sagten Sie gerade Lammers?«, fragte sie und machte Anstalten, dem Arzt nachzulaufen.

Fee hielt sie am Ärmel fest.

»Ihre Tochter ist bei dem Kollegen in den besten Händen. Sie müssen bitte hierbleiben und mir ein paar Fragen beantworten.«

»Aber … aber …« Mit Tränen in den Augen stand Lisa da und deutete mit dem Zeigefinger den Gang hinunter. »Dr. Lammers … Ich wurde gewarnt, dass er nicht vertrauenswürdig sei.«

Felicitas fühlte sich, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen.

»Wer behauptet denn so etwas?«

»Meine Mitarbeiterin. Frauke Lohns. Ihr Sohn wurde gestern hier eingeliefert. Sie hat mich gewarnt.«

Vor Aufregung schlug Fees Herz hart in ihrer Brust. Ihre Befürchtungen wurden schneller wahr als gedacht.

»Es muss sich um ein Missverständnis handeln.« Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten, um die aufgebrachte Mutter zu beschwichtigen. »Dr. Lammers ist der beste Kinderchirurg weit und breit. Im Umgang mit anderen Menschen mag er nicht immer diplomatisch sein. Aber seine fachliche Kompetenz ist über jeden Zweifel erhaben. Kommen Sie.« Sie führte Lisa Haimerl über den Flur in ein freies Büro. »Solange er die Untersuchungen durchführt, beantworten Sie mir bitte ein paar Fragen.«

Lisa leistete keinen Widerstand, als Felicitas Norden sie auf einen Stuhl drückte.

»Also gut«, seufzte sie endlich und putzte sich die Nase. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie Paulina operieren, falls es nötig sein sollte.«

Felicitas zögerte.

»Also gut, ich verspreche es. Und jetzt erzählen Sie mir bitte, wie das alles angefangen hat. Bitte denken Sie gut nach. Bei so einem kleinen Kind kann jedes noch so winzige Detail wichtig sein.«

Lisa Haimerl nickte und überlegte kurz. Dann begann sie zu erzählen.

*

Mit gesenktem Kopf stand Sophie Petzold im Büro des Klinikchefs. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, wanderte Daniel Norden im Zimmer auf und ab.

»Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wo Frau Endress stecken könnte. Vergeblich. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden und geht auch nicht ans Telefon. Herrgott noch einmal!« Erbost blieb er vor der Assistenzärztin stehen und starrte sie an. »Die Patientin war mitten in einer Schmerztherapie. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

Sophie schluckte.

»Ich weiß, dass es falsch war, so mit Frau Endress zu sprechen. Aber ich habe es Ihnen gestern schon einmal gesagt: Ich bin hoffnungslos überarbeitet. Nach der Nachtschicht war Frau Endress mit ihrer eingebildeten Krankheit einfach zu viel für mich.«

»Noch einmal zur Erinnerung: Diese Ausrede lasse ich nicht gelten. Wenn Sie mit dem Arbeitspensum nicht klarkommen, sind Sie an einer Klinik falsch, verdammt noch mal!« Daniel staunte über sich selbst. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr beim Fluchen erwischt.

Händeringend suchte Sophie nach einer Ausrede.

»Aber sie ist einfach ein Hypochon …«

»Bei allem Verständnis für Ihre Überforderung: Ein guter Arzt darf niemals den Respekt vor seinen Patienten verlieren. Die Menschen kommen zu uns, weil sie uns vertrauen und unsere Hilfe suchen. Dieses Vertrauen haben sie mutwillig aufs Spiel gesetzt.«

»Ja, ja, ist ja schon gut. Ich habe verstanden«, erwiderte Sophie trotzig.

Einen Moment lang war Daniel versucht, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln, bis sie wieder zur Vernunft kam.

»Jeder andere Kollege bekäme eine Abmahnung«, fuhr er etwas ruhiger fort. »In Anbetracht Ihres Alters und Ihrer mangelnden Erfahrung verzichte ich dieses Mal auf so eine Maßnahme. Wenn Sie mir versprechen, dass so etwas nie mehr wieder vorkommt.« Er sah sie fragend an.

Einen Moment lang erwiderte Sophie Petzold seinen Blick. Dann drehte sie sich um und machte Anstalten, das Büro zu verlassen.

Ungläubig sah Daniel Norden ihr nach.

»Augenblick! So leicht kommen Sie nun auch wieder nicht davon«, rief er ihr nach.

Sophie blieb stehen. Sie zögerte, ehe sie sich umdrehte.

»Da habe ich ja richtig Glück gehabt, so einen Übermenschen zum Chef bekommen zu haben. Einen Mann ohne Fehl und Tadel. Nicht nur ein halber, sondern sogar ein ganzer Gott in Weiß.«

In diesem Augenblick hatte sich Daniel Norden nicht mehr unter Kontrolle. Er packte Sophie an den Schultern. Schwer atmend standen sie einander gegenüber. Er spürte die Hitze ihrer Wut. Ein aufregend herber Duft nach Zitrone, Zedernholz und Patchouli stieg ihm in die Nase. Schließlich ergab sich Sophie und senkte den Blick. Daniel nahm die Hände von ihren Schultern. Zutiefst verwirrt stand er da. Er sah ihr nicht nach, als sie das Zimmer verließ.

*

»Wir haben eine Rötung des Abdomens supraumbilical, also oberhalb des Nabels, und im Bereich der Flanken«, erklärte Dr. Lammers den beiden Frauen die Bilder auf seinem Tablet. Er klickte weiter. »Im Ultraschall sind weite Darmschlingen mit verdickter Darmwand zu sehen. Und das«, er rief ein weiteres Bild auf, »sind die Röntgenaufnahmen. Hier sehen wir eine Spiegelbildung im rechten Mittel- und Unterbauch.«

Lisa Haimerl und Felicitas Norden hatten aufmerksam zugehört.

»Das klingt nach einer Appendizitis«, stellte Fee überrascht fest.

»Wie bitte?« Lisa schickte ihr einen irritierten Blick. »Eine Blinddarmentzündung in diesem Alter?«

»Ihre Tochter ist eine kleine Wichtigtuerin«, spottete Lammers, und Fee hielt die Luft an. »Eine Appendizitis in diesem Alter ist ein sehr seltenes Krankheitsbild. In der Literatur sind unter zweihundert Fälle beschrieben«, fuhr er fort, glücklicherweise ohne weitere Beleidigungen. »Nachdem sich der Zustand der kleinen Rotznase verschlechtert, rate ich zu einer Operation.«

Fee wollte gerade ihre Meinung dazu kundtun, als es klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, kam Schwester Elena herein.

»Tut mir leid, dass ich stören muss.«

Ihr Atem ging schnell. »Fee, du musst unbedingt kommen. Es gibt Komplikationen beim kleinen Lohns.«

»Aber das ist Lammers’ Patient«, widersprach Felicitas, als sie den Ausdruck in Elenas Gesicht bemerkte. »Was ist mit der Kollegin May?«

»Die ist im OP. Unabkömmlich.«

Wohl oder übel musste Fee einsehen, dass sie keine Wahl hatte.

»Also gut, ich komme.«

»Aber was ist mit Paulina?«, fragte Lisa Haimerl wie aus der Pistole geschossen.

»Der Kollege Lammers wird sich mit der gebotenen Sorgfalt um Ihre Tochter kümmern«, versprach sie.

Lisa war den Tränen nahe.

»Sie haben es doch selbst gehört: Bei Severin gibt es Komplikationen. Das ist bestimmt Dr. Lammers’ Schuld«, schluchzte sie mit erstickter Stimme.

Es kostete Fee alle Mühe, ruhig zu bleiben.

»Das wissen wir noch gar nicht. Ich weiß nur, dass ich hier die Verantwortung trage. Ich habe ein ebenso großes Interesse daran wie Sie, dass alles gut geht.« Sie wandte sie an Volker Lammers, der lammfromm und ohne die Miene zu verziehen am Tisch stand und auf eine Entscheidung wartete.

»Bitte fangen Sie an, Kollege Lammers. Jede Sekunde ist kostbar.« Fee nickte Lisa Haimerl zu, ehe sie ohne weitere Diskussion das Büro verließ, um Elena im Laufschritt zu folgen.

*

Daniel Norden saß am Schreibtisch und legte den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Bisher war seine Suche nach Alexandra Endress erfolglos verlaufen. In seine Gedanken hinein öffnete sich die Tür, und Oskar Roeckl steckte den Kopf ins Zimmer.

»Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte er fast schüchtern.

»Natürlich. Herein mit dir!« Daniel machte eine einladende Handbewegung.

Überraschend schüchtern kam Oskar näher.

»Ich … ich wollte … also …«

Daniel Norden lehnte sich zurück und musterte ihn verwundert. So zurückhaltend kannte er den Charmeur alter Schule gar nicht.

»Immer raus mit der Sprache. Wo drückt der Schuh? Oder ist dir Lenni wieder einmal auf die Füße gestiegen?«

Verlegen trat Oskar von einem Bein auf das andere.

»Ich brauche eine Auskunft von dir«, gestand er endlich so leise, als hätten die Wände Ohren.

»Jetzt mach es doch nicht so spannend!« Daniel beugte sich vor. »Um was geht es denn?«

»Um Alexandra Endress. Ich wollte sie besuchen, aber die Schwester hat mir gesagt, dass sie nicht mehr in der Klinik ist.«

Seufzend lehnte sich Daniel zurück.

»Das stimmt leider. Frau Endress hat heute am frühen Morgen beschlossen, dass keine weitere Behandlung mehr nötig ist.«

»Hat die Therapie so schnell angeschlagen?«

Daniel Norden verzog das Gesicht. Unwillkürlich musste er wieder an Sophie Petzold denken.

»So könnte man es auch nennen.« Hoffnung keimte in ihm auf. »Sag bloß, du hast engeren Kontakt mit ihr gehabt?«

»Schön wär’s. Ich hatte nur ein Mal kurz die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Frau Endress hat versprochen, dass sie mich im Kiosk besucht. Dummerweise ist Lenni in diesem Moment aufgetaucht und hätte ihr um ein Haar die Augen ausgekratzt. Und mir dazu.«

Trotz seiner Sorgen musste Daniel lachen.

»Dann hätten wir ja einen möglichen Grund, warum Frau Endress es vorgezogen hat, die Klinik so schnell wie möglich zu verlassen.«

»Du meinst, sie hatte Angst vor Lenni? Eine Frau wie Alexandra?« Oskars Augen wurden groß und rund vor Staunen.

Daniel beugte sich vor und winkte ihn zu sich.

»Frauen sind unberechenbar, wenn sie wütend sind«, raunte er ihm zu.

Oskar Roeckl nickte vehement.

»Da hast du allerdings recht.« Er seufzte tief. »Vielleicht ist es ganz gut, dass sie meine Einladung nicht angenommen hat. Obwohl … Schade ist es schon.« Oskar hob die Hand zum Gruß. »Entschuldige die Störung. Schönen Tag noch.«

»Dir auch, Oskar. Und lass dir nur nichts von Lenni gefallen«, rief Daniel ihm nach.

Leise fiel die Tür hinter Oskar ins Schloss. Ein Lächeln spielte um Dr. Nordens Lippen, als er sich wieder über seine Akten beugte. Oskars Besuch hatte ihn wenigstens kurz auf andere Gedanken gebracht, und voll neuer Energie machte er sich wieder an die Arbeit.

*

Dr. Felicitas Norden ließ die Spitze einer Nadel über Severins Unterschenkel gleiten.

»Und?« Ihr erwartungsvoller Blick ruhte auf dem Jungen. Die Eltern standen daneben und hielten die Luft an. »Spürst du etwas?«

Sevi schüttelte den Kopf.

»Nein.«

Fee unterdrückte ein Seufzen.

»Versuch bitte, die Zehen zu bewegen.«

In diesem Moment verlor Frauke die Fassung.

»Warum wollen Sie nicht einsehen, dass da nichts ist?«, rief sie aufgebracht. »Mein Sohn hat kein Gefühl in den Beinen. Das hat die Schwester vorhin doch auch schon festgestellt. Was hat dieser Dr. Lammers mit Sevi gemacht?«

Beschwörend legte Thorsten den Arm um seine Frau.

»Ganz ruhig. Davon wird es auch nicht besser«, redete er auf sie ein. Und zu Fee gewandt, fragte er: »Warum spürt Severin seine Beine nicht?«

»Postoperativ können neurologische Ausfälle vorkommen. Das muss noch gar nichts heißen«, versicherte sie und wollte selbst so gern daran glauben. »Ich muss Sie bitten, jetzt Ruhe zu bewahren. Schon wegen Severin.« Sie lächelte den Jungen an. »Mach dir nicht zu viele Sorgen, ja?«

»Ich versuche es«, murmelte der Kleine. Sein besorgter Blick wanderte hinüber zu seinen Eltern.

Fee wandte sich an Schwester Elena, die das Geschehen stumm verfolgt hatte.

»Wir brauchen ein Kontroll-CT. Kannst du dich darum kümmern?«

Elena nickte und verließ das Zimmer.

»Bald wissen wir mehr.« Fee lächelte Eltern und Sohn tapfer zu. Mehr gab es im Augenblick nicht zu sagen. Ihr Herz war tonnenschwer, als sie das Zimmer verließ. Was, wenn Lammers tatsächlich einen folgenschweren Fehler gemacht hatte?

*

Lisa Haimerl hatte ihre kleine Tochter bis in den Vorraum des OPs begleitet. Dr. Lammers empfing sie dort.

»Ich muss Sie jetzt bitten, den Raum zu verlassen.«

Lisa zögerte.

»Hier hat nur Klinikpersonal Zutritt. Sie können von Glück sagen, dass ich heute meinen großzügigen Tag habe. Sonst wäre vor der Tür Endstation gewesen.« Das Misstrauen, das ihm entgegenschlug, stimmte ihn nicht gerade freundlich. Und auch Lisa Haimerl fuhr die Krallen aus.

»Ich warne Sie! Wenn meinem Kind etwas passiert …« Sie beendete den Satz nicht.

Eine Schwester fasste sie sanft am Arm und brachte sie nach draußen.

Das war das Signal für den Kinderchirurgen, mit seiner Arbeit zu beginnen. Er folgte der Liege in den Operationssaal und wartete auf das Signal der Anästhesistin Ramona Räther. Sie setzte dem Baby eine Maske auf.

»Toll machst du das«, murmelte sie beschwichtigend.

Lammers lachte abfällig.

»Warum versuchst du es nicht mal mit chinesisch? Vielleicht spricht es schon ein paar Fremdsprachen«, spottete er. Zum Glück kannten ihn die Kollegen und wunderten sich nicht. Sie tauschten amüsierte Blicke.

Dr. Räther spritzte inzwischen ein zuvor genau dosiertes Medikament. Die Augen aller Anwesenden ruhten auf den Geräten, die die Vitalfunktionen des Säuglings überwachten. Die Anspannung war mit Händen greifbar. Endlich gab Dr. Räther grünes Licht.

»Sie schläft.« Sie nickte ihrem Kollegen zu.

»Dann lassen wir die Party mal beginnen«, verkündete Lammers und streckte die Hand aus. »Skalpell.«

Er wollte eben zum Schnitt ansetzen, als ein heller Ton erklang.

»Blutdruck 65 zu 40, fallend. Steigende Herzfrequenz«, verkündete Ramona mit ruhiger Stimme. Nur in ihren Augen stand die Sorge geschrieben. »Ich habe keinen Puls. Die Kleine ist kaltschweißig.«

Lammers hielt das Skalpell in der Hand. Er zögerte.

»Volker!«, mahnte Ramona. »Die Kleine verträgt das Narkosemittel nicht. Wir müssen abbrechen. Ich gebe ihr jetzt Adrenalin.«

Noch immer stand Volker Lammers reglos am Operationstisch. Endlich wandte er sich ab.

»Das macht das Gör doch mit Absicht!«, schimpfte er, als er den OP unverrichteter Dinge verließ. »Wetten, dass die Mutter mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben wird?«

»Sie kann froh sein, dass wir rechtzeitig abgebrochen haben.« Ramona Räther war eine der wenigen Kollegen, die Volker seine Art nicht übelnahmen. Anders als Felicitas, an deren Stuhl er beharrlich sägte, neidete er ihr den Erfolg nicht. So arbeiteten sie friedlich zusammen und akzeptierten einander mit all ihren Stärken und Schwächen.

Als Lisa Haimerl die Ärzte aus dem Operationsbereich kommen sah, sprang sie von der Bank auf und lief zu ihnen. »Ist der Eingriff schon vorbei?«, fragte sie atemlos.

»Er hat gar nicht angefangen, allergische Reaktion auf das Narkosemittel. Wir versuchen es später noch einmal. Inzwischen testen die Kollegen aus, auf welchen Stoff sie reagiert hat«, erklärte Volker, während er mit weit ausgreifenden Schritten über den Flur ging.

Lisa versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Wieder erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mitarbeiterin Frauke Lohns.

»Das ist allein Ihre Schuld!«, beschuldigte sie ihn atemlos. »Bei Frau Dr. Norden wäre das sicher nicht passiert.«

Volker blieb so abrupt stehen, dass sie um ein Haar mit ihm zusammengestoßen wäre.

»Seltsam nur, dass ich nicht für die Narkose verantwortlich bin. Finden Sie nicht?«, fragte er herablassend. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.« Er wandte sich ab und setzte seinen Weg fort.

Gefangen in einem wahren Gefühlschaos blieb Lisa Haimerl stehen und sah ihm nach.

»Wo wollen Sie hin?«, rief sie ihm nach.

»Ins ›Allerlei‹. Dort soll es heute ganz fantastischen Flammkuchen geben. Den sollten Sie versuchen«, erwiderte er, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Lisa so hilflos gefühlt. Sie schleuderte ihre Handtasche auf den Boden und stampfte auf wie ein kleines Kind. Doch Volker Lammers war längst um die Ecke verschwunden.

*

Andrea Sander saß an ihrem Platz und beantwortete die Anfrage eines Pharmaunternehmens, als Dr. Norden aus seinem Büro zu ihr kam und die Unterschriftenmappe auf den Tisch legte.

»Was für ein Tag!«, seufzte er. »Ich wünschte, ich hätte Fees Rat angenommen und wäre heute früh nicht ans Telefon gegangen.«

Andrea hob den Kopf.

»Sind Sie sicher?« Ihre Stimme klang vielsagend.

Sichtlich irritiert legte Daniel den Kopf schief.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Na jaaaaa«, erwiderte sie gedehnt. »Nicht, dass ich gelauscht hätte. Ihre Stimmen waren ja laut genug. Und außerdem stand die Tür einen Spalt offen.«

»Tatsächlich?« Das hatte Daniel im Eifer des Gefechts nicht bemerkt.

»Tatsächlich«, wiederholte seine Assistentin. »Möglich, dass ich Sie noch nicht gut genug kenne. Aber so habe ich Sie bisher noch nicht erlebt.«

»Sie sprechen in Rätseln.«

Andrea senkte den Blick. Ihr Lächeln war verlegen. Um ihren Händen etwas zu tun zu geben, schob sie ein paar Akten auf ihrem Tisch ordentlich zusammen.

»Nichts für ungut, Chef. Aber als Außenstehender könnte man den Eindruck bekommen, dass da etwas läuft zwischen Ihnen und Frau Dr. Petzold.«

Wie es der Zufall wollte, gingen in diesem Moment zwei Schwestern draußen vorbei. Gedämpft drang Andrea Sanders’ Stimme auf den Flur hinaus.

Schwester Astrid zupfte ihre Kollegin am Ärmel und blieb stehen.

»Hast du das gehört?«, flüsterte sie ihr zu.

»Der Norden hat was mit der Petzold. Das müssen wir sofort den anderen erzählen.« Voller Vorfreude zog Iris ihre Kollegin mit sich.

Daniel dagegen war wie vom Donner gerührt.

»Wo denken Sie hin? Ich bin ein glücklich verheirateter Mann. Mal abgesehen davon, dass Frau Petzold eine junge, unerfahrene und sehr überhebliche Person ist, ich habe nichts anderes getan, als ihr die Leviten zu lesen.«

Andrea lächelte undurchdringlich.

»Im Gegensatz dazu bin ich alt, erfahren und sehr bodenständig. Deshalb erlaube ich mir, Ihnen einen weiblichen Rat zu geben: Manche Frauen sind mit allen Wassern gewaschen und scheuen vor nichts zurück. Besonders, wenn es um ihre Karriere geht.«

Daniel wollte eben etwas erwidern, als das Telefon auf Andreas Schreibtisch klingelte.

Sie lächelte ihn an und nahm ab. Einen Augenblick später hielt sie sichtlich alarmiert den Hörer zu.

»Der Kollege Weigand von der Notaufnahme ist dran. Frau Endress wurde gerade eingeliefert.«

Schlagartig waren alle anderen Sorgen vergessen.

»Richten Sie ihm bitte aus, dass ich unterwegs bin!«, bat der Klinikchef und machte sich mit wehendem Kittel auf den Weg.

*

Dr. Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch, den Blick auf den Computer geheftet. Sie war so konzentriert, dass sie alles um sich herum vergessen hatte. Als es klopfte, zuckte sie zusammen.

»Ja, bitte?«

Volker Lammers kam herein.

»Sie wollten mich sehen?«, fragte er und schloss die Tür hinter sich. »Nicht, dass Sie sich vergebliche Hoffnungen machen: Ich habe kein Interesse an einer privaten Bekanntschaft mit Ihnen.«

Im Normalfall hätte Fee laut aufgelacht. Doch an diesem Tag stand ihr der Sinn nicht nach Scherzen.

»Es ist anders, als Sie denken.« Sie lehnte sich zurück und bot ihm mit einer Geste einen Platz an. Lammers nahm das Angebot an und streckte die Beine von sich. »Ich habe gehört, dass der Eingriff bei Paulina Haimerl abgebrochen werden musste.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Volker die Hände hochriss.

»Nicht meine Schuld!«

Diesmal konnte sich Felicitas ein Lächeln doch nicht verkneifen.

»In meinen Augen sind Sie zu fast allem fähig. Aber einen Einfluss auf allergische Reaktionen? Nein, den traue ich Ihnen dann doch nicht zu.«

»Sie sollten sich mit Frau Haimerl unterhalten. Die kann Sie eines Besseren belehren.«

Unvermittelt wurde Felicitas wieder ernst.

»Scherz beiseite, Lammers, wann können Sie einen zweiten Versuch wagen?«

Volker zog eine Augenbraue hoch.

»Wieso ich? Sie haben doch jetzt Zeit.«

»Sie haben den Fall übernommen, Sie werden ihn abschließen.«

»Bei Severin Lohns waren Sie anderer Meinung«, erwiderte er in aller Seelenruhe.

»Das war nicht meine, sondern die Entscheidung der Eltern. Und die haben Sie, mit Verlaub, sich selbst zuzuschreiben.« Zu diesem Thema hätte es noch viel zu sagen gegeben. Doch die Zeit drängte. »Ich habe Sie allerdings nicht herbestellt, um mit Ihnen zu diskutieren.« Fee drehte den Laptop so, dass Volker Lammers einen Blick darauf werfen konnte. »Was halten Sie hiervon?«

»Das CT von Severin Zirkuskind?«

»Ganz recht. Das ist das CT von Severin Lohns«, korrigierte Felicitas ihn schroff. »Was sagen Sie dazu?«

Noch immer lehnte Lammers entspannt im Stuhl. Er musterte die Aufnahme eine Weile schweigend.

»Blutung mit Ödem. Mögliche postoperative Komplikation. Das wussten die Eltern vorher. Ich habe ihnen alles gesagt.«

Fee nickte und drehte den Computer wieder zu sich.

»Gut. Ich kümmere mich darum.« Sie klappte das Gerät zu und stand auf. »Sie halten mich bitte wegen Paulina Haimerl auf dem Laufenden.«

Ehe Volker Lammers Gelegenheit zu einer Antwort hatte, war sie schon auf dem Weg zur Tür.

*

Während sich seine Frau auf den heiklen Eingriff vorbereitete, erreichte Dr. Norden die Notaufnahme. Die Liege mit Alexandra Endress wurde gerade hereingerollt. Eine junge Frau war bei ihr.

»Bitte machen Sie Platz!«, forderte er sie auf und wollte sich an ihr vorbei drängen.

»Ich habe Frau Endress auf ihrer Terrasse gefunden.«

Die Stimme ließ ihn aufblicken.

»Frau Petzold?« Er sah sie fragend an. »Wo ist Ihr Kittel?«

»Ich habe Frau Endress gesucht und in ihrem Garten zu Hause gefunden.« Sophies Stimme bebte. »Sie lag in der Hollywoodschaukel.«

»Kreislauf und Atmung sind stabil«, erklärte der Notarzt Dr. Huber. »Offenbar hat sie eine Überdosis Schmerz- und Schlafmittel zu sich genommen.«

»Wachen Sie auf, Frau Endress!« Während Dr. Norden im Laufschritt neben der Liege herlief, klopfte er auf ihre Wange.

Doch Alexandra war und blieb ohne Bewusstsein. Daniel Norden veranlasste, dass sämtliche lebensrettenden Maßnahmen eingeleitet wurden, und begleitete die Durchführung.

»Sie ist stabil«, verkündete er, als er auf der Intensivstation an ihrem Bett stand. »Mehr aber auch nicht.«

Auch Sophie Petzold hatte gekämpft wie eine Löwin. Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr trauriger Blick ruhte auf der Patientin, die tief und fest zu schlafen schien. Eine Weile hing jeder der beiden seinen Gedanken nach.

»Sie denken auch, dass ich schuld bin, nicht wahr?«, fragte sie schließlich ungewohnt schüchtern.

Daniel sah zu ihr hinüber. Er zögerte.

»Es war nicht abzusehen, dass Frau Endress diesen Weg wählen würde«, erwiderte er endlich. »Eine starke Persönlichkeit, wie sie es ist.« Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Hinter der harten Schale steckt offenbar ein viel weicherer Kern, als wir alle dachten«, bemerkte Sophie.

Daniel nickte langsam. Sein fragender Blick ruhte auf der Assistenzärztin.

»Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, zu ihr zu fahren?«

Sophie zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht.« Mit dem Zeigefinger der rechten Hand strich sie versonnen über Alexandras Arm. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es mir leidtut. Ich konnte doch nicht einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen.«

»Ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen. Auch wenn er sich möglicherweise nicht auszahlt.« Daniels Blick kehrte zu Alexandra zurück. Es stand in den Sternen, ob sie jemals wieder aus dem Koma erwachen würde. »Trotzdem müssen Sie lernen, mit schwierigen Patienten umzugehen.«

Sophie Petzold nickte. Auf einmal standen Tränen in ihren Augen.

»Aber es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann«, sagte sie verzweifelt.

»Jetzt hilft nur noch ein Wunder.« Daniel Norden seufzte schwer. »Etwas anderes fällt mir im Augenblick nicht ein.« Er nickte Sophie zu, schickte Alexandra Endress einen letzten Blick, und verließ dann das Zimmer.

Ungeachtet seines eigenen Befindens musste er als Klinikchef zahlreiche Aufgaben wahrnehmen. In zehn Minuten wurde er bei dem Treffen einer Experten-Kommission erwartet. Auch wenn er sich in diesem Moment am liebsten in sein Büro eingeschlossen hätte.

*

Wie so oft um diese Uhrzeit herrschte auch an diesem Nachmittag reger Betrieb im KlinikKiosk ›Allerlei‹. Neben warmen und kalten Getränken und Backwaren aus Tatjana Bohdes Backstube gab es dort alles zu kaufen, was Patienten und Personal den Aufenthalt in der Klinik versüßte.

»Und bitte noch eine Tüte von den Pfefferminzkugeln«, bat ein älterer Herr und deutete mit leuchtenden Augen auf eine der Glasdosen, die bis an den Rand mit den nostalgischen Süßigkeiten gefüllt war. »Oder doch lieber die Riesenhimbeeren? Oder die Kuhbonbons … Ach, ich kann mich einfach nicht entscheiden«, seufzte er so unglücklich, dass Lenni hinter der Theke lachte.

»Warum machen Sie es nicht wie früher und nehmen einfach zwei oder drei Stück von jedem?«, machte sie einen Vorschlag.

»Ja, geht das denn?«

»Natürlich. Das Unmögliche gibt es hier sofort. Wunder dauern etwas länger.« Wieder lachte sie betont fröhlich, wie Oskar verwundert feststellte. Sie packte die Süßwaren in Papiertüten und reichte sie über die Theke. Der Herr bezahlte, bedankte sich überschwänglich und verließ überglücklich den Kiosk.

Lenni wollte sich der nächsten Kundschaft zuwenden, als ihr das Gespräch zweier Schwestern zu Ohren kam. Die beiden standen nicht weit entfernt neben dem Zeitschriftenständer und unterhielten sich.

»Der Norden und die Petzold, das ist der Witz des Jahres«, sagte Iris, während sie eine Zeitschrift durchblätterte. »Das war es dann wohl mit dem wohlerzogenen Dr. Norden, wie wir ihn kennen. Er ist ein Weiberheld wie alle anderen auch.«

»Das hätte ich wirklich nicht von ihm gedacht«, erwiderte Astrid. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin wollte sie nicht glauben, was sie gehört hatten. »Vielleicht haben wir uns verhört.«

»Ach was! Das war doch eindeutig. Mir war schon lange klar, dass an Nordens Saubermann-Image nicht viel dran ist.«

In diesem Augenblick konnte Lenni nicht länger an sich halten. Sie verließ ihren Platz hinter der Theke und schlenderte hinüber zu den beiden jungen Frauen.

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe gehört, was Sie gerade über Dr. Norden gesagt haben«, flötete sie.

Oskar stand in der Küchentür und hörte mit offenem Mund zu. Obwohl er sie schon eine ganze Weile kannte, gelang es ihr immer noch, ihn zu überraschen. Gespannt darauf, wie es weitergehen würde, reckte er den Hals.

Schwester Iris sah die ehemalige Haushälterin der Familie Norden herausfordernd an. Ganz offensichtlich wusste sie nicht, mit wem sie es zu tun hatte.

»Ist das nicht ein Jammer?« Die Schadenfreude blitzte aus ihren Augen. »Die arme Frau Dr. Norden. Wie kann er ihr das nur antun?«

In diesem Moment zeigte Lenni ihr wahres Gesicht. Sie schob die Blusenärmel hoch und ballte die Hände zu Fäusten. Oskar hielt die Luft an. Sie hatte doch nicht etwa vor, sich zu schlagen?

»Sie erzählen diese Geschichte doch nur, weil Sie eifersüchtig sind«, behauptete Lenni kühl.

Schwester Astrid unterdrückte ein Lachen. Iris dagegen wurde blass.

»Wie bitte?«

»Das ist doch ganz einfach. Sie sind selbst in Dr. Norden verliebt und ertragen es nicht, dass er sie nicht beachtet«, bemerkte Lenni kühl lächelnd.

Spätestens jetzt horchte auch der letzte Kunde im Laden auf.

»Was? Ich?« Iris lachte und sah sich unsicher um. »Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.« Die neugierigen Mienen machten sie nervös.

Genau das war Lennis Absicht gewesen.

»Ich weiß.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber was glauben Sie, wie lange es dauert, bis sich dieses Gerücht in der Klinik verbreitet hat?«

Iris’ Augen wurden schmal.

»Wollen Sie mir drohen?«

»Nein, ganz und gar nicht.« Energisch schüttelte Lenni den Kopf. »Wenn Sie es weniger bedrohlich finden, kann ich auch behaupten, Sie hätten ein Verhältnis mit … «, sie sah sich um und ihr Blick fiel auf Oskar, »mit Herrn Roeckl.«

Iris folgte ihrem Blick.

»Mit dem alten Knacker?«, platzte sie heraus. »Der will doch was von der Endress.«

Diese Frechheit wollte Oskar auf keinen Fall auf sich sitzen lassen.

»Da bist du ja, Iris, mein Schätzchen«, rief er laut und vernehmlich durch den Kiosk. »Schön, dass du dich dazu entschlossen hast, endlich zu mir zu stehen. Das soll dein finanzieller Schaden nicht sein.«

Iris wurde blass vor Wut und Entsetzen. Hektisch steckte sie die Zeitschrift zurück in den Ständer.

»Los, wir gehen. Die beiden Alten sind völlig durchgeknallt«, raunte sie ihrer Kollegin zu. Unter dem Gelächter der anderen Kunden liefen beide aus dem Kiosk.

Zufrieden wie lange nicht, legte Lenni die Arme um Oskars Hals.

»Sind wir nicht ein gutes Team?«, fragte sie fast zärtlich.

»Das beste Team, das man sich vorstellen kann«, erwiderte Oskar aus tiefstem Herzen und drückte ihr vor allen Leuten einen Kuss auf die Wange.

Lenni drückte beide Augen zu und wehrte sich ausnahmsweise einmal nicht. Das lag auch an der Frage, die sie auf dem Herzen hatte.

»Und was läuft da mit der Unternehmerin, dieser Alexandra Endress?«, fragte sie misstrauisch.

»Nichts!«, erwiderte Oskar mit reinem Gewissen. »Sie ist eine einsame Frau, der ich ein paar Blumen gebracht habe. Nicht mehr und nicht weniger.« Das war die Wahrheit. Denn auch wenn Lennis Art manchmal an seinen Nerven zehrte und sogar an seinem Selbstbewusstsein kratzte, hatte ihm ihre unerschütterliche Loyalität wieder einmal gezeigt, dass sie die Frau seines Lebens war und dass er keine andere wollte als sie. Denn eines war so sicher wie das Amen in der Kirche: Langweilig würde ihm mit Lenni so schnell nicht werden.

*

Zum zweiten Mal an diesem Arbeitstag verließ Sophie Petzold die Klinik. Diesmal führte sie ihr Weg ins Atelier von Fabian Endress. Der hatte Besuch von einem Galeristen, Sophie musste warten. Unruhig wanderte sie den Flur auf und ab. Endlich öffnete sich die Tür.

»Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit«, verabschiedete sich Pascal Lüders von dem Maler. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

Als Fabian Sophie Petzold erblickte, verfinsterte sich seine Miene.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier?«

»Oh, mit so einem freundlichen Empfang hatte ich gar nicht gerechnet.«

»Ich habe Sie nicht eingeladen«, konterte Fabian.

Sophie wusste, dass sie ihre Strategie ändern musste. Sie lächelte versöhnlich.

»Darf ich trotzdem reinkommen?«

Wie ein Fels blieb Fabian in der Tür stehen.

»Ich wüsste nicht, was wir beide noch zu besprechen hätten.«

Am liebsten hätte Sophie ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Warum war Fabian so stur?

»Ihre Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie liegt im Koma auf der Intensivstation. Ihre Chancen, wieder aufzuwachen, schwinden von Stunde zu Stunde«, versuchte sie, ihn mit Worten wachzurütteln. »Es gibt nur noch einen Versuch: Ihr Besuch könnte einen Schlüsselreiz bei ihr auslösen. Vielleicht erwacht sie dann wieder aus dem Koma.« Sie hielt inne und schöpfte Atem. »Es liegt allein in Ihrer Hand.«

Fabian gab seinen Widerstand auf. Mit hängenden Schultern kehrte er in sein Atelier zurück. Bevor die Tür ins Schloss fiel, folgte Sophie Petzold ihm. Eine Weile sah sie ihm dabei zu, wie er zwischen seinen Bildern auf und ab ging. Endlich blieb er stehen und sah sie herausfordernd an.

»Wenn Sie glauben, dass Alexandra wegen mir aus dem Koma aufwacht, haben Sie eine falsche Vorstellung von unserem Verhältnis.«

»Herrgott noch einmal. Es geht um Ihre Mutter!« Allmählich verlor Sophie die Geduld.

Fabian lächelte spöttisch.

»Ach, ich habe eine Mutter? Das ist mir in all den Jahren entfallen.«

Dieser Satz war einer zu viel. Empört stemmte Sophie die Hände in die Hüften.

»Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Sie Schnösel. Ich habe Ihre Mutter genauso überheblich behandelt wie Sie. Deshalb liegt sie jetzt im Koma. Es ist allein meine Schuld. Und ich kann nur an Ihren Verstand appellieren: Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich. Gehen Sie zu Alexandra. Bitte.« Am Ende ihrer leidenschaftlichen Rede glänzten Tränen in ihren Augen. Doch diesen Triumph wollte sie Fabian nicht auch noch gönnen.

Auf dem Weg durch das Atelier zerrte sie ein Taschentuch aus der Jacke. Gleich darauf fiel die schwere Tür krachend hinter ihr ins Schloss.

*

Die medizinischen Geräte schnauften und piepten leise und gleichmäßig vor sich hin. Hochkonzentriert stand Dr. Felicitas Norden am Operationstisch. Dr. Klaiber kümmerte sich um die Anästhesie, die Assistenzärztin Stefanie Brugger und eine Operationsschwester standen ihr zur Seite.

»Ich entlaste jetzt die Blutung«, teilte sie den Kollegen mit.

»Kleine Kompresse«, verlangte die Assistenzärztin. Die OP-Schwester reichte ihr das Gewünschte.

»Ich entferne jetzt Blutkoagel und lege den frakturierten Wirbel frei.« Vor Anspannung stand Fee der Schweiß auf der Stirn. Sie atmete tief durch. »Bitte tupfen.«

Die Schwester erfüllte ihren Wunsch sofort. Stefanie Brugger beugte sich über das Operationsfeld.

»Der Kleine hat Glück. Es ist kein Infektionsherd zu sehen«, stellte sie fest.

»Dann hat Lammers doch gute Arbeit geleistet.« Felicitas fiel ein Stein vom Herzen. Mit einem Mal ging ihr die Arbeit leicht von der Hand. »Wir spülen den Operationsherd vorsichtshalber trotzdem und legen eine Drainage. Subku­tannaht.« Sie schickte Stefanie Brugger einen auffordernden Blick.

Die verstand und nahm den Platz der Chefin ein.

»Ich denke, Sie kommen jetzt ohne mich zurecht.« Fee nickte ihrem Team zu und bedankte sich. »Ich gehe jetzt zu den Eltern und überbringe die frohe Botschaft.« Sie verließ den Operationssaal. In Gedanken versunken wusch sie sich die Hände, ehe sie sich auf den Weg machte.

Kurz darauf öffnete sie die Tür des Aufenthaltsraums, der für die Angehörigen der Patienten eingerichtet worden war. Hier konnten sie – ungestört von neugierigen Blicken – ihren Ängsten, Nöten und Hoffnungen freien Lauf lassen. Thorsten und Frauke saßen nebeneinander und hielten sich stumm an den Händen. Als Fee eintrat, sprangen sie wie auf Kommando auf.

»Wie geht es unserem Sohn?«, fragte Thorsten, ohne die Hand seiner Frau loszulassen.

Fees Lächeln nahm die Antwort vorweg.

»Es ist uns gelungen, das Hämatom zu entfernen. Entgegen unseren Befürchtungen hat sich darunter keine Infektion gebildet. Das bedeutet, dass Dr. Lammers keinen Fehler gemacht hat.«

Die nächste, bange Frage ließ nicht auf sich warten.

»Wird Severin wieder gesund werden?« Fraukes Stimme bebte vor Angst. »Wieder laufen, springen und hüpfen können, wie er es immer so gern getan hat?«

Selten war Felicitas Norden dankbarer gewesen, eine Frage positiv beantworten zu können.

»Wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert und sich Severin in der Reha Mühe gibt, wird er bald wieder der Alte sein.«

Diese Worte waren wie eine Erlösung für die Eltern. Frauke fiel ihrem Mann in die Arme und weinte heiße Tränen der Erleichterung. Dieser Anblick war weitaus mehr Lohn für Dr. Felicitas Norden als alles Geld der Welt. Erfüllt mit einer tiefen Dankbarkeit, trat sie schließlich den Rückzug an. Auch auf sie warteten an diesem Tag noch zahlreiche Aufgaben, die sie nicht vernachlässigen durfte.

*

Schwester Elena war sichtlich überrascht, als sich der junge Mann vorstellte und darum bat, seine Mutter Alexandra Endress besuchen zu dürfen.

»Ich muss Sie bitten, diese kleidsame Tracht anzulegen.« Sie half ihm in einen sterilen Kittel.

»Ich kenne eine herausragende Mode-Designerin, die auf der Suche nach einem Thema für ihre Abschlussarbeit ist«, scherzte er, während er die Haube auf den Kopf setzte. »Da könnte sie sich mal so richtig austoben.«

»Vielleicht komme ich bei Gelegenheit auf das Angebot zurück.« Elena war sensibel genug, um die Nervosität des jungen Mannes zu spüren. Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Aber jetzt wünsche ich Ihnen beiden erst einmal viel Glück.«

»Vielen Dank. Davon kann man nie genug haben.« Einen Moment blieb Fabian noch vor der Tür des Intensivzimmers stehen. Er holte tief Luft, ehe er ans Bett seiner Mutter trat. Elena begleitete ihn für den Fall, dass er ihre Hilfe benötigte. Sie kontrollierte den Inhalt des Infusionsbeutels und trug die Daten der Überwachungsgeräte in das Patientenblatt ein, das am Fußende auf einem Wagen lag.

»Sie sieht aus, als ob sie schliefe«, murmelte Fabian versonnen. Er hatte seine Mutter seit Jahren nicht gesehen, und ein schmerzhafter Stich fuhr in sein Herz. Noch immer war Alexandra eine attraktive Frau. Älter zwar, mit Falten um Augen und Mund, die von ihrem anstrengenden Leben zeugten. Aber das konnte ihrer natürlichen Schönheit nichts anhaben. »Bekommt sie etwas mit?«, fragte er heiser.

Schwester Elena trat an die andere Seite des Bettes.

»In der Komaforschung ist man sich bis heute nicht im Klaren darüber, was ins Bewusstsein dringt. Was das überhaupt ist. Wo das, was wir Bewusstsein nennen, anfängt und aufhört. Einig sind sich die Forscher darin, dass die Patienten die Nähe anderer spüren. Deshalb soll man mit ihnen sprechen, auch wenn sie nicht reagieren. Man soll ihnen vorsingen, vorlesen, sie berühren. Denn niemand weiß mit Sicherheit zu sagen, was wirklich zu ihnen vordringt.« Elena legte die Hand auf Fabians Schulter. »Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich nebenan.« Sie nickte ihm zu und verließ lautlos das Zimmer.

Den starren Blick auf seine Mutter gerichtet, blieb Fabian am Bett zurück. Mechanisch zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er hatte nicht länger die Kraft, sich gegen die Bilder aus der Vergangenheit zu wehren. Sie stürmten auf ihn ein, wie eine mächtige Welle einen Strand überspült. Der Tag, an dem er vom Tod seines Vaters erfahren hatte. Alexandras Verzweiflung. Ihr Kampf zurück ins Leben. Seine, Fabians, Einsamkeit, während sie sich um die Rettung der Brauerei kümmerte. Seine Weigerung, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und das Geschäft zu übernehmen. Und schließlich der Bruch, als er verkündete, die Kunstakademie zu besuchen und Maler zu werden. Alexandras fassungslose Miene, als sie ihm nachsah, wie er sein Elternhaus ein für alle Mal verließ, würde er nie vergessen.

»Mama!« Erst jetzt bemerkte Fabian, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin es, dein Sohn. Ich bin wieder da!« Er hob die Hand, zögerte, ob er seinem Verlangen nachgeben sollte, und legte sie schließlich auf Alexandras Wange. Er beugte sich über sie und weinte, bis keine Träne mehr übrig war.

*

Lisa Haimerl hatte es nicht über sich gebracht, ganz allein im Aufenthaltsraum zu warten, bis die Operation vorbei war. Rastlos ging sie auf dem Flur auf und ab. Als Volker Lammers nach einer gefühlten Ewigkeit endlich durch die Türen trat, lief sie auf ihn zu.

»Wie geht es meinem Kind?«

»Ich werde nie verstehen, wie man so ein Theater um einen kleinen Schreihals machen kann.« Kopfschüttelnd nahm er die Maske ab und fuhr sich durch das verschwitzte Haar. »Wenn Paulina das nächste Mal Bauchweh hat, können Sie sicher sein, dass es zumindest nicht der Blinddarm ist. Vielleicht ein Darmverschluss. Oder eine richtig fiese Infektion. Aber zumindest nicht der Blinddarm.«

Lisa schnappte nach Luft. Glücklicherweise hatte Ramona Räther die Worte ihres Kollegen mitbekommen.

»Diesmal gab es keine Probleme mit der Narkose. Es ist alles gut gegangen. Wenn alles wie geplant verläuft, haben wir keine Komplikationen zu befürchten«, versprach sie.

Lammers schickte ihr einen überraschten Blick.

»Genau das habe ich doch gerade gesagt«, bemerkte er beleidigt.

Ramona lachte.

»Ich weiß. Ich habe deine Worte nur für Frau Haimerl übersetzt.« Sie zwinkerte Volker zu, wünschte der Mutter alles Gute, und machte sich auf den Weg zum nächsten Eingriff.

Volker und Lisa blieben allein zurück. Er wollte sich schon verabschieden, als sie ihn zurückhielt.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Dr. Lammers.« Sie sah ihm tapfer in die Augen. »Statt mir eine eigene Meinung zu bilden, habe ich mich von anderen beeinflussen lassen.«

Lammers schnitt eine Grimasse.

»Deshalb habe ich kurz überlegt, ob ich dem Schreihals nicht noch ein Stück mehr abschneide. Aber dann dachte ich, dass ich mehr davon habe, wenn Sie mir als Ausdruck Ihrer unendlichen Dankbarkeit eine Flasche guten Roten zukommen lassen«, erwiderte er.

Lisa beschloss, Ramonas Beispiel zu folgen und seine Worte nicht ernst zu nehmen.

»Einverstanden. Aber zuerst würde ich gern meine Tochter sehen.«

»Sie sollten froh sein, dass Sie mal ihre Ruhe haben.«

Lisa betrachtete den Arzt mit schief gelegtem Kopf.

»Sie können Kinder nicht besonders gut leiden, was?«

»Merkt man das?«, fragte Volker Lammers zurück.

»Warum sind Sie dann ausgerechnet Kinderchirurg geworden?«

»Wegen der Dankbarkeit und Anerkennung der Eltern«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Kein anderer Arzt bekommt so viele Geschenke wie ein Kinderchirurg.« Er nickte ihr zu. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich habe mich lange genug mit Ihnen beschäftigt. Zeit für einen Kaffee.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und marschierte davon.

Lisa Haimerl sah ihm kopfschüttelnd nach. Was für ein wunderlicher Mann!, ging es ihr durch den Sinn. Doch Hauptsache, er hatte das Leben ihrer Tochter gerettet. Etwas anderes zählte nicht.

*

Müde fuhr sich Dr. Daniel Norden über die Augen. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Schon nach sieben. Doch der Papierberg auf seinem Schreibtisch ließ keinen Gedanken an Feierabend zu.

»Wenigstens eine Pause«, murmelte, hob den Telefonhörer und wählte die Nummer seiner Frau. »Bist du schon auf dem Sprung?«, fragte er, als sie sich meldete.

In Fees Lachen war keine Freude.

»Heute ist so ein Tag, an dem ich das Gefühl habe, der Papierberg auf meinem Schreibtisch wird immer höher. Dabei wollte ich eigentlich mit dir feiern gehen.«

»Wir haben etwas zu feiern?«, erkundigte sich Daniel überrascht.

»Allerdings.« Fee lehnte sich zurück und zwirbelte die Telefonschnur um den Zeigefinger. »Zwei kritische Operationen, die beide gut ausgegangen sind. Wenn das keine Gründe sind …«

»Ich gratuliere, Frau Oberärztin. Was hat übrigens der Kollege Lammers damit zu tun? Mir ist zu Ohren gekommen, dass es Probleme gab.«

Fee lachte leise.

»Sieh mal einer an. Die Klinikpost funktioniert wieder einmal ganz hervorragend. Ich hatte kurz befürchtet, dass Lammers einen fatalen Fehler gemacht hat. Zum Glück war meine Angst unbegründet. Der Ruf meiner Abteilung ist gerettet. « Sie machte eine kunstvolle Pause. »Das erinnert mich übrigens an etwas, das mir zugetragen wurde.«

»Ach ja? Und was?«, fragte Daniel arglos, als es klopfte und Sophie Petzold den Kopf zur Tür hereinsteckte. Als sie sah, dass er telefonierte, wollte sie wieder gehen. Doch Daniel bedeutete ihr zu bleiben. »Sei nicht böse, Fee, ich bekomme gerade Besuch von der Kollegin Petzold. Kann ich dich gleich zurückrufen?«, fragte er.

»Oh, die hübsche Sophie«, entfuhr es ihr gallig. »Keine Eile, mein Lieber. Bestimmt ist es was Wichtiges. Um diese Uhrzeit.«

Daniel verstand die Anspielung nicht.

»Schon möglich. Ich melde mich wieder.« Er legte auf und bot Sophie mit einer Geste den Platz vor seinem Schreibtisch an.

Sie schüttelte den Kopf. Statt sich zu setzen, reichte sie ihm ein Blatt Papier.

»Was ist das?«, fragte Daniel Norden.

Sophie wich seinem Blick aus. Wie eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, stand sie vor dem Schreibtisch.

»Ich habe mich auf eine Stelle bei einer Pharmafirma beworben und eine Zusage bekommen.« Sie räuspert sich. »Nächsten Monat kann ich anfangen.«

»Wie bitte?« Daniel verstand nicht. »Zusätzlich? Wann wollen Sie denn das noch machen? Haben Sie mir nicht die ganze Zeit erzählt, wie maßlos überfordert Sie sind?«

Sophie Petzold seufzte. Sie hatte gehofft, dieses Gespräch kurz und schmerzlos hinter sich zu bringen. Jetzt musste sie feststellen, dass das reines Wunschdenken gewesen war.

»Ich kündige, Herr Chefarzt.«

Mit einem Schlag war Daniel hellwach.

»Um in einer Pharmafirma anzufangen?« Er konnte es nicht glauben. »Welches Aufgabengebiet?«

Um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, verschränkte Sophie die Hände auf dem Rücken und reckte die Brust heraus.

»Meine Zuständigkeit umfasst die Beantwortung von medizinisch-wissenschaftlichen oder pharmazeutischen Anfragen von Ärzten oder Apothekern bezüglich unserer Arzneimittel.« In weiser Voraussicht hatte sie die Aufgabenbeschreibung auswendig gelernt. »Außerdem werde ich medizinisch-wissenschaftliche Dokumente und Publikationen zur Wirksamkeit der Präparate erstellen.«

»Da langweile ich mich ja schon beim Zuhören.« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Wie kommen Sie nur auf so eine Idee?«

Mit jedem seiner Worte wurde Sophie nervöser. Sie wollte sich nicht rechtfertigen, brachte es aber auch nicht fertig, ihren Chef mit einer fadenscheinigen Begründung abzuspeisen.

»Die Belastung, die Arbeit mit den Patienten … das ist nichts für mich.«

»Das ist doch nicht richtig«, widersprach Daniel spontan. »Ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Sie werden eine hervorragende Fachärztin werden.«

Krampfhaft sah Sophie an ihm vorbei.

»Es tut mir leid. Mein Entschluss steht fest.«

Daniel Norden dachte nach.

»Ich weiß, dass es in letzter Zeit ein paar Meinungsverschiedenheiten gab. Dass Sie hier und da bei den Kollegen angeeckt sind.«

»Nicht nur bei den Kollegen«, fiel sie ihm ins Wort.

»Stimmt, auch bei den Patienten. Aber Sie haben Charakter bewiesen und versucht, Ihren Fehler wiedergutzumachen. Dieses Verhalten verdient allerhöchste Anerkennung.«

»Dummerweise nützt das Frau Endress nichts.« Sophie biss sich auf die Unterlippe.

»Und deshalb wollen Sie sich den Rest Ihres Berufslebens hinter einem Schreibtisch verstecken?« Daniel hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er stand auf und kam um den Tisch herum.

»Ich habe den Mut verloren«, gestand Sophie Petzold leise. »Ich traue mir die Arbeit am Patienten, diese immense Verantwortung, nicht mehr zu.«

Daniel Norden blieb vor dem Regal stehen und betrachtete das gerahmte Bild seines Vaters, das dort stand. Friedrich Norden war sein Vorbild. Ihm und seinem unerschütterlichen Glauben hatte er alles zu verdanken. Daniel lächelte dem Foto zu, ehe er sich wieder zu der jungen Kollegin umdrehte.

»Ich denke, diese Krisen gehören zum Beruf des Mediziners dazu. Jeder verantwortungsvolle Arzt kennt das Gefühl, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die meisten von uns haben das schon ein oder mehrere Male durchgemacht.« Sophie Petzold fuhr sich über die Augen.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, wie Sie sich um mich bemühen. Aber mein Entschluss steht fest. Ich kann nicht mehr hierbleiben.«

Mit einem tiefen Seufzen wandte sich Dr. Norden ab und kehrte an den Schreibtisch zurück.

»Was soll ich tun? Sie hier festbinden?« Er schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht.« Er musterte sie eine Weile wortlos. »Dann kann ich Ihnen nur alles Gute wünschen.« Ohne ein weiteres Wort beugte er sich wieder über seine Unterlagen.

Sophie Petzold blieb nichts anderes übrig, als das Zimmer zu verlassen. An der Tür blieb sie noch einmal stehen.

»Übrigens ist Fabian Endress bei seiner Mutter. Ich konnte ihn überreden zu kommen.«

Überrascht sah Daniel Norden hoch. Doch da war sie schon aus dem Zimmer verschwunden.

Während Sophie den Flur hinunterging, spürte sie in sich hinein. Vor dem Gespräch hatte sie gedacht, dass sie sich danach besser fühlen würde. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Alles war trostlos und düster.

*

So empfand auch Fabian Endress. Seit Stunden saß er am Bett seiner Mutter. Er hatte mit Alexandra gesprochen, ihre Hand gehalten, ihr die Lieder seiner Kindheit vorgesungen. Aber was er auch versucht hatte, nicht die kleinste Regung war über ihr Gesicht gehuscht. Als Daniel Norden nach dem Gespräch mit Sophie zu ihm trat, war er der Verzweiflung nahe.

»Herr Dr. Norden …« Er wusste nicht, was er sagen sollte, und verstummte.

»Das mit Ihrer Mutter tut mir so leid. Aber ich finde es großartig, dass Sie gekommen sind.«

»Ehrlich gesagt bin ich mir da gar nicht so sicher.« Fabian machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. »Ihre Kollegin sagte etwas von Schlüsselreiz. Das hat wohl nicht geklappt.«

Daniel Norden trat ans Bett. Er kontrollierte die Überwachungsgeräte und legte schließlich die Hand auf Alexandras Stirn. Sie war glatt und kühl. Fabian hielt es nicht mehr auf dem Stuhl aus. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, vor dem Bett auf und ab zu laufen.

»Ich dachte, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn Alexandra etwas passierte. Aber seit ich hier bin, kommt alles wieder hoch. Der Streit, die unsäglichen Szenen, die sich damals zwischen meiner Mutter und mir abgespielt haben.« Er sah zu Daniel hinüber. Die Bilder der Vergangenheit vermischten sich mit der Wirklichkeit. »Früher dachte ich, dass sich meine Mutter nur für das Geschäft interessiert, dass sie mich dabei völlig vergessen hat. Aber heute, hier, an ihrem Krankenbett, kam mir ein völlig neuer Gedanke.« Das Staunen stand Fabian ins Gesicht geschrieben. »Alexandra hat all das auch für mich getan. Sie wollte, dass ich eine Zukunft habe, wenn ihr auch etwas zustoßen sollte. Warum nur konnte ich das früher nicht erkennen?«, fragte er kopfschüttelnd.

»Damals waren Sie noch ein Kind. Kinder, noch dazu in der Pubertät, haben so einen Weitblick noch nicht«, erwiderte Dr. Norden sanft.

Fabian schüttelte unwillig den Kopf.

»Nachdem mein Entschluss feststand, Maler zu werden, habe ich den Kontakt zu Alexandra abgebrochen. Ich bin nicht ans Telefon gegangen, habe ihre Briefe nicht beantwortet und mich an der Tür verleugnen lassen.« Er presste die Lippen aufeinander. »Es tut mir so unendlich leid«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. »Und jetzt ist es zu spät.«

Daniel Norden suchte noch nach tröstenden Worten, als ein durchdringendes Piepen des Überwachungsgeräts eine Veränderung signalisierte. Schnell trat er ans Bett und beugte sich über Alexandra. Tatsächlich: Ihre Augenlider flatterten. Das Wunder, an das niemand mehr geglaubt hatte, war geschehen.

»Frau Endress, da sind Sie ja wieder«, begrüßte er sie freudig. »Ich habe eine Überraschung für Sie.

Der Ausdruck in Alexas Augen verriet, dass sie Daniels Worte verstand.

»Ihr Sohn ist hier.« Dr. Norden machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Fabian frei.

»Mama!« Der junge Mann fiel vor dem Bett auf die Knie, griff nach ihren Händen und bedeckte sie mit Küssen. »Ich bin hier. Jetzt wird alles gut. Das verspreche ich dir.«

Ein Lächeln huschte über Alexandras Gesicht.

»Fabi?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern. Trotzdem klang sie wie Musik in seinen Ohren.

»Ja, Mama, ich bin es. Fabian, dein Sohn.«

»Ja … Fabi …«

»Pssst, nicht sprechen.« Tränen rannen ihm über das Gesicht. Gleichzeitig strahlte er von einem Ohr zum anderen. »Du musst dich ausruhen. Mach die Augen zu und schlaf dich gesund. Ich bleibe bei dir und passe auf dich auf.«

»Hmmm.« Alexa blinzelte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Sie schenkte ihrem Sohn ein vages Lächeln, ehe sie die Augen schloss und in einen tiefen Genesungsschlaf fiel. Einen Moment lang ließ Dr. Daniel Norden diese Szene noch auf sich wirken. Solche Bilder waren der Lohn für all die Mühen. Endlich verließ er das Zimmer. Im Hinausgehen zückte er das Telefon und piepte Sophie Petzold an. Sie sollte als Erste erfahren, dass sich ihr Einsatz gelohnt hatte.

*

Daniel Norden stand im Flur am Fenster und blickte hinaus auf die Dächer der Stadt, die die untergehende Sonne in ein unwirkliches Licht tauchte. Auf einem der Giebel saß eine Amsel. Während er ihrem melancholischen Lied lauschte, dachte er daran, was für ein glücklicher Mann er doch war. Die beste Frau von allen hatte ihm fünf wunderbare Kinder geschenkt. Er hatte einen Beruf, der ihn erfüllte, und die Aufgabe als Chef der Behnisch-Klinik war die Krönung seiner beruflichen Karriere. Einzig die Tatsache, dass es ihm nicht gelungen war, Sophie Petzold von ihrem unbestreitbaren Talent zu überzeugen, nagte an seinem Ego. Aber wer wusste es schon? Vielleicht gelang es ihm ja doch noch, sie zu überreden. Als er Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um.

»Hier steckst du also.« Fees Stimme war alles andere als freundlich. »Ich habe dich überall gesucht und wähnte dich schon mit Frau Petzold in der Besenkammer.«

Daniel erschrak.

»Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?«

»Stimmt es etwa nicht?«, fragte Felicitas statt einer Antwort. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte ihn wütend an. »Die halbe Klinik zerreißt sich schon das Maul über euch beide. Ich hätte nie gedacht, dass du mir so etwas antun würdest. Noch dazu hier, wo mich alle kennen.« Sie ahnte nicht, wie verführerisch sie in ihrer Wut wirkte.

Eine Weile hörte Daniel ihrer Schimpftirade zu. Schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen. Er zog sie an sich und erstickte ihre Worte mit einem leidenschaftlichen Kuss.

»Du nimmst mich nicht ernst«, beschwerte sich Fee, als sie wieder Luft bekam. »Dafür hättest du eine Ohrfeige verdient.«

»Könntest du damit bitte noch warten, bis wir das Gespräch mit Sophie hinter uns haben?« Über Fees Schulter hinweg war Daniels Blick auf die Assistenzärztin gefallen, die seinem Ruf endlich gefolgt war und auf sie zukam. Daniel empfing sie, ohne Fees Hand loszulassen.

»Gut, dass Sie hier sind. Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Er winkte Sophie mit sich und zog Fee hinter sich her zur Tür des Intensivzimmers. Hinter seinem Rücken tauschten die beiden Frauen misstrauische Blicke, bis Sophie das Bild erfasste, das er ihnen zeigte.

Fabian Endress saß am Bett seiner Mutter. Inzwischen war Alexandra wieder erwacht und wirkte wesentlich munterer. Als sie die drei Ärzte erblickte, lächelte sie.

Sophie konnte ihr Glück kaum fassen.

»Das ist ja großartig!«, entfuhr es ihr.

Daniel strahlte sie an.

»Sie müssen lernen, an sich zu glauben, Kollegin Petzold. An sich und an Ihre Entscheidungen. Das hier sind die schönen Seiten unseres Berufs. Die sollten Sie noch einmal in aller Ausführlichkeit genießen, ehe Sie sich hinter einem langweiligen Berg Papierkram verstecken.«

Sophie Petzolds Wangen wurden krebsrot vor Scham.

»Können wir das Gespräch von vorhin einfach vergessen?«, fragte sie.

Daniel legte den Arm um die Schultern seiner Frau.

»Welches Gespräch meinen Sie? Ich kann mich nicht erinnern.«

Während Sophie noch erleichtert lachte, zog er seine Frau wieder an sich und küsste sie, diesmal vor aller Augen.

Mit diesem Liebesbeweis schien auch Fee voll und ganz zufrieden zu sein, denn sie strahlte wie die Sonne persönlich, als sie endlich Hand in Hand nach Hause gingen.

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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