Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 36

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»Das kann doch wohl nicht wahr sein.« Dr. Felicitas Norden starrte in die Patientenakte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, die Härchen im Nacken sträubten sich. »Na warte, das wird ein Nachspiel haben.« Mit einem klatschenden Geräusch schlug sie die Mappe zu.

Im nächsten Momente war sie auf dem Weg. Auf der Suche nach ihrem Kollegen Dr. Lammers kam sie am Schwesterntresen vorbei und blieb kurz stehen.

»Guten Morgen, Elena. Alles gut?«

»Bei mir schon. Aber du siehst aus, als hättest du ein Monster gefrühstückt.«

»So ähnlich fühle ich mich auch.« Fee verzog das Gesicht. »Linda Kolben auf der Vier braucht einen neuen Zugang. Ach, und ist der Laborbericht für Kevin Maier schon da? Wenn die Entzündungswerte deutlich zurückgegangen sind, kannst du bitte die Entlassungspapiere vorbereiten. Wenn nicht, sprichst du mich bitte noch einmal an. Ich bin bei Lammers.«

»Das trifft sich gut. Da ist ein Paket für ihn gekommen. Kannst du das mitnehmen?«, rief Elena ihrer Chefin und Freundin nach. »Und friss ihn bitte nicht auf«

»Dafür kann ich nicht garantieren.« Fee kehrte zurück. Beim Anblick des Kartons riss sie die Augen auf. »Kann er das nicht selbst holen?«

»Ich kann ihn nicht erreichen.« Das Telefon am Tresen klingelte. Elena ignorierte es. »Aber es ist halb so schwer, wie es aussieht. Trotzdem stört es. Ich habe kaum noch Platz.« Das zweite Telefon setzte in das Konzert mit ein. »Ich kann hier leider nicht weg. Personalmangel.«

Zähneknirschend hob Fee das Paket hoch. Wenigstens hatte Elena recht. Es fühlte sich an wie ein Schaumstoffwürfel. Mit ihrer Fracht machte sie sich auf den Weg.

Lange musste sie nicht suchen. Volker Lammers stand auf dem Flur und legte Spritze, Röhrchen und Stauschlauch in eine Chromschale. Er sah kaum hoch, als seine Chefin zu ihm trat.

»Müssen Sie mir die Laune schon am frühen Morgen verderben?«

Fee stellte das Paket auf den Boden. Sie ballte die Hände zu Fäusten.

»Ganz meinerseits. Können Sie mir mal erklären, wieso jemand mit so viel Talent seine Anstellung leichtfertig auf’s Spiel setzt?«, fragte sie geradeheraus.

Ohne mit der Wimper zu zucken, stellte Lammers eine Flasche Desinfektionsmittel mit auf das Tablett.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Fees Lachen klang blechern.

»Dachten Sie wirklich, ich bemerke die Korrektur in Bernhard von Diepolds Akte nicht?«

Ein kurzer Blick streifte sie.

»Seit wann sind Sie ein Fan von Verschwörungstheorien?« Lammers machte sich auf den Weg zu seinem Patienten.

Felicitas starrte ihm nach.

»Sie haben etwas vergessen.« Sie deutete auf das Paket zu ihren Füßen.

»Keine Zeit. Ich hole es später.«

Gezwungenermaßen hob sie den Karton wieder hoch und heftete sich an seine Fersen. Ihre Schritte quietschten leise auf dem PVC-Boden.

»Wollten Sie verhindern, dass Bernhard von Diepold vom Elite-Gymnasium fliegt?«, zischte sie. »Vielleicht geht es aber auch um den guten Ruf der Familie. Ich frage mich nur, was Sie davon haben.«

Nun blieb Lammers doch stehen und drehte sich noch einmal um.

»Aber …«

Auch Fee blieb stehen. Sie hatte Mühe, über das Paket zu sehen.

»Sie haben Glück, dass Sie keine medizinischen Fakten verdreht, sondern nur den Unfallort verändert haben.« Ihre Stimme war leise. »Wenn so etwas noch einmal passiert, wird das Konsequenzen haben. Ihr chirurgisches Talent hin oder her.« Irgendwo klingelte ein Telefon. Das Paket auf einer Hand balancierend, fischte sie das Handy aus der Kitteltasche. Ohne Lammers aus den Augen zu lassen, nahm sie das Gespräch an. »Alles klar, Dan, ich bin sofort bei dir. Ich muss nur noch schnell ein Paket ausliefern.« Sie ließ das Handy wieder in der Tasche verschwinden und nickte ihrem Stellvertreter zu, ehe sie sich an ihm vorbei schlängelte. Ohne ein weiteres Wort marschierte sie davon. Auf eine Diskussion mit Lammers konnte sie getrost verzichten. Sollte er doch platzen vor Wut, dann wäre sie ihn endlich los!

Tatsächlich stand der Kinderchirurg da und starrte seiner Chefin nach. Das Spritzbesteck in der Nierenschale klapperte leise.

*

Dr. Daniel Norden streckte den Arm aus und legte den Hörer zurück auf den Apparat. Sein Blick fiel auf das Foto seiner Familie, das auf dem Schreibtisch neben einem Stifteköcher im Stoffmantel – ein Geschenk seiner jüngsten Tochter Dési – stand. Inspiriert von Felix‘ Ex-Freundin April hatte sie eine Zeit lang wie besessen genäht und jedes Familienmitglied mit originellen Geschenken bedacht. Fee in der Mitte des Fotos schien darüber zu lächeln. Daniel erwiderte ihr Lächeln, unendlich dankbar für ihre Unterstützung. Wäre sie nicht gewesen, hätte er die Herausforderung vielleicht nicht angenommen. Dann wäre ein anderer Chef der Behnisch-Klinik geworden. So aber gehörte ihm nun seit einigen Monaten das Büro mit dem Blick auf den Spielplatz im Garten, den er allerdings nur selten zu Gesicht bekam. Genau wie seine Frau. Deshalb arrangierte er so oft wie möglich private Treffen, eine halbe Stunde im ›Allerlei‹, ein Spaziergang im Klinikgarten.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ah, da sind Sie ja, Frau Dr. Norden.« Er sprang vom Stuhl auf und kam seiner Besucherin entgegen. »Wie schön, dass Sie Zeit haben.«

»Was gibt es denn so Dringendes?« Fee musterte ihn von unten herauf. Sie liebte dieses Spiel zwischen ihnen. Doch ihr Lächeln war nicht so strahlend wie sonst.

»Wenn Ihr Mann, dieser Schuft, Sie schon derart vernachlässigt, muss ich mich wenigstens um Sie kümmern.« Daniel legte die Arme um ihre Schultern, zog sie aber nicht an sich. »Was ist? Irgendeine Laus ist dir über die Leber gelaufen.«

Fee zögerte. Einen Moment lang war sie versucht zu leugnen.

»Eher ein Elefant. Obwohl das eine Beleidigung für diese majestätischen Tiere ist.« Sie schnitt eine Grimasse. »Warum fragst du? Du kannst doch eh meine Gedanken lesen.«

»Das hatte ich ganz vergessen.« Daniel erwiderte ihr Lächeln. »Was hat Lammers, dieser Schuft, schon wieder angestellt?«

Fee zuckte mit den Schultern.

»Mir ist mal wieder bewusst geworden, dass der Kollege mich öfter an meine Grenzen bringt, als mir lieb ist.« Ein paar Haare kitzelten sie im Gesicht und sie pustete sie fort. »Und ehrlich gesagt auch darüber hinaus. Wenn er nicht unser bester Kinderchirurg wäre, hätte ich ihn längst an die frische Luft befördert.«

Zwischen Daniels Augen wuchs eine Falte.

»Was hat er getan, um dich zu dieser Erkenntnis zu bringen?«

»Das, mein Lieber, erzähle ich dir bei einer Tasse Kaffee und einer frischen Breze im ›Allerlei‹. Was meinst du? Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal zusammen gefrühstückt haben.«

»Gut zu wissen, dass du auch Gedanken lesen kannst.« Daniel ging zum Schreibtisch, um den Geldbeutel einzustecken und das Telefon umzustellen.

Hand in Hand verließen sie das Büro. Die Assistentin Andrea Sander saß an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer. Sie legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat und hob den Kopf. Als sie die beiden ansah, huschte ein warmes Lächeln über ihr Gesicht.

Daniel erwiderte es.

»Wen Sie nichts dagegen haben, genehmigen wir uns eine kurze Pause.«

»Daraus wird leider nichts«, seufzte Andrea. Sie riss den Zettel vom Block und reichte ihn über den Schreibtisch. »Danny hat gerade angerufen und sich darüber beschwert, dass er Sie nicht erreichen kann.«

»Er scheint eine besondere Gabe zu haben. Ich habe mein Telefon erst vor einer Minute auf Sie umgestellt.«

»Ich werde ihn das nächste Mal danach fragen. Aber jetzt muss ich Sie leider in die Notaufnahme zu Dannys Patientin schicken. Rosa Berger hat sich beim Auswechseln einer Glühbirne den Arm verletzt. Er bittet Sie, einen Blick darauf zu werfen.«

Daniel sah zu seiner Frau hinüber.

»Klingt nach einem kurzen Intermezzo.«

»Ich komme mit. Nicht, dass Frau Berger dich zu einem Komplettcheck mit allem Drum und Dran überredet und du den Rest des Tages mit ihr beschäftigt bist.« Fee zwinkerte ihm zu.

»Das würde ich niemals riskieren.«

»Lieb von dir, dass du mich nicht verhungern lassen würdest.«

»Ehrlich gesagt hatte ich eher an deinen Zorn gedacht.« Hand in Hand spazierte das Paar den Flur entlang. »Wenn du hungrig bist, bist du gefährlicher als Volker Lammers in Bestform.«

Fees Lachen hallte über den Flur. Doch Daniels Gedanken waren schon weitergewandert.

»Und jetzt raus mit der Sprache! Mit welchen Mitteln treibt dich dein geliebter Stellvertreter an den Rand des Wahnsinns? Vielleicht kann ich ja noch etwas von ihm lernen.« Geschickt wich er dem Knuff seiner Frau aus.

»Vorsicht!«, warnte sie. »Danny freut sich bestimmt über die Unterstützung einer kompetenten Kinderärztin«, sagte sie mit hoch erhobenem Zeigefinger. »Aber um deine Frage zu beantworten: Lammers hat eine Patientenakte manipuliert. Es geht nur um einen Ort. Aber immerhin.«

Daniel blieb stehen.

»Bist du sicher?«

Fee war ein paar Schritte weitergegangen. Kurz vor der Notaufnahme drehte sie sich zu ihrem Mann um und taxierte ihn.

»Zweifelst du an mir?«

»Tut mir leid. Wie kommst du darauf?«

»Matthias hat es mir erzählt. Er war in der Notaufnahme, als Mutter und Sohn ankamen. Frau von Diepold hat sich in Widersprüche verstrickt und gestanden, dass der Unfall doch nicht zu Hause passiert ist. Ihr feiner Sohn hat Schule geschwänzt. Nun droht ihm ein Schulverweis. Lammers hat die Weiterbehandlung übernommen. Und siehe da, plötzlich taucht die alte Version in der Akte auf.«

»Warum sollte Lammers dieses Risiko eingehen?« Daniels Frage war berechtigt.

»Wer weiß, was sie ihm dafür versprochen hat«, murmelte Fee.

»Du weißt, dass das ein Grund für eine Disziplinarmaßnahme ist.«

Fee sah zu Daniel hoch.

»Ich habe mich meinem Mann anvertraut, nicht dem Klinikchef.«

»Verstehe.« Daniel seufzte. »Du willst die Angelegenheit selbst regeln.«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.« Felicitas drehte sich um und trat auf die Türen der Notaufnahme zu. Sie öffneten sich und schlossen sich ebenso lautlos wieder hinter ihnen.

*

Dr. Sophie Petzold schmiegte sich an den Körper und seufzte genüsslich. Sie hätte noch viel länger geschlafen, wäre da nicht die kleine, lästige Stimme in ihrem Kopf gewesen. Hatte sie recht, wenn sie ihr einflüsterte, dass das, was sie hier tat, nicht in Ordnung war? Dabei war ihr noch nie etwas richtiger erschienen als ihre Liebe zu dem Pfleger Jakob. Das Schicksal musste seine Hände im Spiel gehabt und ihm den Abszess ins Hirn gepflanzt haben. Sonst wären sie sich nie näher gekommen. Sonst hätte sie niemals heimlich schon so viele Nächte mit ihm im Krankenzimmer verbracht. Bisher war alles gut gegangen. Niemand wusste von dem Abenteuer.

Zumindest bildete sich die Assistenzärztin das ein. Deshalb beschloss sie, sich auch nicht um die Stimme in ihrem Kopf zu kümmern. Eine wütende Stimme zerriss die wohlige Ruhe.

»Petzold, verdammt noch einmal, wo stecken Sie schon wieder?«

Sophie fuhr aus Jakobs Armen hoch und griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. Sie zitterte so sehr, dass es ihr aus der Hand rutschte. Mit einem dumpfen Patschen landete es auf dem PVC-Boden.

»Mist.« Sophie sprang hinterher.

»Was ist los?« Jakob blinzelte ins Tageslicht. »Ist was passiert?«

»Ich habe verschlafen. Weigand sucht mich schon«, flüsterte Sophie. Das Handy war auf das Display gefallen. Die Schutzfolie hatte es vor Schlimmerem bewahrt. »Ich muss weg hier.«

»Schade.« Jakob gähnte und rieb sich die Augen. »Kommst du bald wieder? Als meine behandelnde Ärztin musst du dich unbedingt um mich kümmern.«

In Windeseile schlüpfte Sophie in den Kittel und band die Haare mit einem Gummi zu einem schlichten Pferdeschwanz. Das musste als Styling genügen.

»Wie sehe ich aus?«

Jakob verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Wie eine Frau, die eine heiße Liebesnacht hinter sich hat.«

»Blödmann«, schnaubte Sophie. Ihre Augen weiteten sich, als sich Schritte näherten. Ihr Blick fiel auf das Stethoskop auf dem Stuhl. Mit einem Satz war sie dort und griff danach. Gleichzeitig öffnete sich die Tür, und ihr Vorgesetzter Dr. Weigand steckte den Kopf herein.

»Dachte ich es mir doch«, fauchte er. »Falls Herr Sperling Sie als Privatärztin verpflichtet hat, hoffe ich nur, dass er gut bezahlt.«

Das Blut schoss Sophie in die Wangen.

»Ich kann mich nicht beklagen.«

Zum Glück war Matthias viel zu sehr mit seinem Ärger beschäftigt, als dass er Verdacht geschöpft hätte.

»Die Annahme von Bestechungsgeldern wird mit fristloser Kündigung geahndet. Aber darüber unterhalten wir uns später. Jetzt kommen Sie bitte mit. Der Chef braucht Sie in der Notaufnahme.«

»Natürlich.« Sophie schickte einen Blick in den Himmel und einen hinüber zu Jakob, ehe sie das Zimmer verließ und mit wehendem Kittel hinter Matthias her eilte.

»Rosa Berger ist Anfang sechzig und Patientin in der Praxis Dr. Norden«, erklärte der Chef der Notaufnahme auf dem Weg in die Ambulanz. »Verdacht auf eine Unterarmfraktur.«

»Schafft der Chef das nicht allein?«

Matthias Weigand blieb so abrupt stehen, dass Sophie um ein Haar in ihn hineingelaufen wäre. Einen Moment lang standen sich die beiden gegenüber.

Er sah die dunklen Sprenkel in ihren Augen und die Narbe unterhalb der Braue.

Ein Hauch ihres Parfums stieg Matthias in die Nase. Die Versuchung, sie in seine Arme zu reißen und zu küssen, war überwältigend. Eine Nierenschale klirrte. Er fuhr zu der Schwester herum, die auf dem Boden kniete und die Instrumente wieder einsammelte.

»Tut mir leid.«

»Das nächste Mal tun Sie Ihre Arbeit, statt Leute anzustarren«, herrschte er sie an.

Sie biss sich auf die Lippe und senkte rasch den Blick. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Matthias Weigand weiter. Das war auch für Sophie das Zeichen, sich wieder in Bewegung zu setzen.

»Ihre brandaktuellen Kenntnisse im Bereich der Medizin haben sich ja inzwischen herumgesprochen«, beantwortete er ihre Frage. »Wer weiß, vielleicht gibt es ja eine revolutionäre Technik, die der Chef von Ihnen lernen will.«

Am liebsten hätte Sophie ihm für diese beißende Bemerkung eine Ohrfeige verpasst. Oder wenigstens eine passende Antwort gegeben, die sich gewaschen hatte. Doch Sophie war klug genug, um zu wissen, dass beides sie ihren Job kosten konnte.

Glücklicherweise öffneten sich in diesem Augenblick die Schiebetüren zur Notaufnahme. Matthias Weigand verbeugte sich und machte eine einladende Handbewegung. Mit hoch erhobenem Kopf rauschte Sophie an ihm vorbei.

*

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum meine Oma nie Bescheid sagt, wenn etwas im Haushalt zu tun ist.« Christian Berger stand neben der Liege. Rastlos fuhren seine manikürten Finger am Revers auf und ab. Das weiche Kaschmir beruhigte ihn. Rosa lehnte mit geschlossenen Augen an der schräg gestellten Lehne und hielt sich den verletzten Arm. Ein bunt gemustertes Halstuch diente als provisorische Schlinge.

Dr. Daniel Norden stand auf der anderen Seite an einem Beistelltisch und musterte den Enkel wortlos.

»Ich bin doch immer zur Stelle, wenn sie mich braucht. Wir gehen zusammen einkaufen, ich fahre sie zum Arzt. Alles. Aber nein, bei solchen Sachen ist sie zu stolz. Und das haben wir jetzt davon. Ohnmächtig ist sie geworden und vom Stuhl gefallen. Als könnten wir uns keinen Handwerker leisten. Ich finde es ja schön, dass sie sparsam ist, aber …«

Rosa Berger stöhnte, sagte aber nichts.

»Wir kümmern uns jetzt erst einmal darum, dass wir Ihrer Großmutter die Schmerzen nehmen.« Daniel Norden beugte sich zu ihr hinab. »Ist das in Ihrem Sinne?«

Die Seniorin zwinkerte ihm zu.

»Dr. Norden Junior hat mir schon etwas gegeben.«

»Ich weiß.« Daniel nickte lächelnd und hob den Zettel hoch, den Andrea Sander ihm in die Hand gedrückt hatte. »Hier steht alles drauf. Trotzdem lege ich Ihnen jetzt einen Zugang.«

»Du Arme«, mischte sich Christian wieder ein. »Du wolltest doch einfach nur die Glühbirne austauschen.«

Rosa starrte die Wand gegenüber an.

»Und jetzt haben wir den Salat.« Christian streckte die Hand aus und legte sie auf Rosas Arm.

Sie zuckte zurück und verzog das Gesicht. Und auch Dr. Norden hatte endlich genug von der Fürsorge des Enkels.

»Bitte warten Sie kurz draußen«, bat er den jungen Herrn Berger.

Christians Augen wurden schmal. Er beugte sich über Rosa. Als sie ihn immer noch keines Blickes würdigte, gab er auf.

»Also schön.« Zögernd ging er zur Tür. Immer wieder drehte er sich um und wäre um ein Haar mit der Assistenzärztin zusammengestoßen.

»Hoppla! Entschuldigung.«

»Hallo!« Sophie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Dr. Petzold.« Sie reichte ihm die Hand. »Was ist passiert?«

Sofort gab Christian sein Vorhaben, das Zimmer zu verlassen, auf.

»Meine Großmutter ist von einem Stuhl gestürzt und hat sich am Arm verletzt.« Er sah hinüber zu Dr. Norden. »Ihr Kollege hat gesagt, ich soll draußen warten.«

»Der ›Kollege‹ ist der Klinikchef hier«, korrigierte Sophie den jungen Mann schnell. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald wir Näheres wissen.«

Endlich fügte sich Christian in sein Schicksal.

»Ich bin gleich wieder bei dir, Omalein!« An der Tür blieb er noch einmal stehen und winkte.

Daniel atmete auf, als er endlich verschwunden war. Er sah hinüber zu Sophie.

»Gut. Dann kommen Sie mal her und erklären mir, was Sie in diesem Fall unternehmen würden«, verlangte er. »Vielleicht wissen Sie etwas, wovon ich noch nie zuvor gehört habe.«

*

Volker Lammers wanderte im Büro des Verwaltungsdirektors auf und ab. Immer wieder fiel sein Blick auf die Zeiger der Wanduhr. Sie wanderten unerbittlich vorwärts.

Ein Sonnenstrahl fiel durch das geschlossene Fenster. Es war drückend warm im Zimmer. Staubkörner tanzten im Licht. Unschlüssig blieb er vor dem Sofa in der Besucherecke stehen. Sollte er es sich doch gemütlich machen? Er betrachtete das speckige, dunkelbraune Leder, den notdürftig geflickten Riss in einer Ecke, und entschied sich dagegen. Da wanderte er lieber noch länger über den Teppich, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Endlich beschloss Volker, dass er lange genug gewartet hatte, und ging zur Tür.

»Volker!« Lächelnd trat der Verwaltungsdirektor ein. »Entschuldige meine Verspätung.«

»Sagst du nicht immer, Zeit ist Geld?«, fragte Lammers und nahm nun doch auf der Ledercouch Platz.

»Wo drückt der Schuh?« Dieter Fuchs setzte sich ihm gegenüber. Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, legte die Fingerspitzen aneinander und sah ihn fragend an.

»Es geht um die Akte von Diepold!«

Ein Strahlen erhellte Fuchs’ Gesicht.

»Victoria von Diepold ist überglücklich und sehr dankbar, dass wir die Angelegenheit auf diskrete Art und Weise regeln konnten. Eine sehr großzügige Frau.«

Doch das interessierte Lammers im Augenblick wenig.

»Du hast mir versprochen, dass mir kein Schaden aus der Geschichte entstehen wird.«

»Ich halte meine Versprechen.« Fuchs lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und die Mappe auf, die er mitgebracht hatte.

»Dummerweise hat die Norden …«

Ohne von seinen Unterlagen aufzusehen, hob Dieter Fuchs die Hand.

»Frau Dr. Norden ist nicht die Klinikchefin.«

»Aber ihr Mann.«

»Ich spreche mit ihr und notfalls auch mit Dr. Norden. Er wird verstehen, dass wir dieser Frau unbedingt helfen mussten.« Dieter seufzte und sah nun doch hoch. »Schlimm genug, dass der kleine von Diepold den Segway seines Vaters an den Baum gesetzt hat. Und jetzt droht ihm zu allem Überfluss auch noch der Rauswurf aus der Schule.«

»Ist mir doch egal, was mit dem Dummkopf passiert«, schnaubte Lammers. »Mich interessiert viel mehr, was mit mir ist.«

»Du bekommst deinen Anteil. Zufrieden?«

»Nein, bin ich nicht. Ich dachte, du klärst das im Vorfeld mit den Nordens. Wie stehe ich jetzt da?« Lammers sprang auf. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Arzthose und begann, im Zimmer auf und ab zu marschieren.

Der Verwaltungsdirektor klappte die Mappe zu.

»Seit wann interessiert es dich, was andere über dich denken? Abgesehen davon ist das hier sozusagen auch meine Klinik«, erinnerte er Lammers. »Das bedeutet, dass es hier auch immer um mich geht.«

Volker blieb vor ihm stehen und sah auf die Glatze hinab, über die Dieter ein paar kümmerliche Strähnen gekämmt hatte.

»Dann werde ich mich wohl endgültig nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen müssen.«

Fuchs rollte mit den Augen.

»Meine Güte, jetzt benimm dich doch bitte nicht wie deine kleinen Patienten. Ich bringe das in Ordnung. Versprochen.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als die Bürotür zufiel. Der Schlüssel fiel aus dem Schloss und hüpfte mit leisem Klingeln über den Boden, bis er vom Schreibtischbein aufgehalten wurde.

*

»Ich hatte ganz vergessen, wie schön so ein gemeinsames Frühstück ist.« Fee streckte die Beine von sich. Als sie die Augen schloss und den Kopf zurücklegte, fiel ihr Haar über die Lehne. Ein Sonnenstrahl streichelte ihr Gesicht. Stimmengewirr vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Rauschen der Wellen. Gleichmäßig pflügte der Ozeanriese durch das Wasser. Fehlte nur das Vibrieren der Motoren in ihrem Magen. Irritiert schlug Fee die Augen wieder auf. Fast ein wenig enttäuscht stellte sie fest, dass sie nicht an Deck eines Kreuzfahrtschiffes saß, sondern immer noch in der überdachten Halle der Behnisch-Klinik. Das Rauschen rührte vom Wasserfall, der sich aus dem oberen Stockwerk über künstliche, weiße Steinstufen nach unten ergoss. »Jetzt dachte ich kurz, wir wären wieder auf großer Fahrt. Weißt du noch, dieses schöne Café, wo man draußen unter Palmen sitzen und in die endlose Weite des Meeres sehen konnte?«

Daniel lächelte.

»Wie könnte ich das je vergessen?«

»Aber warum fällt mir das ausgerechnet jetzt ein? Und warum ist die Erinnerung so klar?« Sie wirkte einigermaßen verwirrt.

Das Lächeln auf Daniels Gesicht wurde breiter.

»Könnte es vielleicht am Geruch liegen?«

Fee zog eine Augenbraue hoch. Unwillkürlich hob sie die Nase ein wenig in die Luft. Ihre Augen wurden größer.

»Du hast recht! Der ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Was riechst du?«

»Auf jeden Fall Salzwasser. Ein bisschen modrig, aber angenehm. Einen Hauch von Sonnencreme. Und dann …« Sie zögerte. »Wie riechen eigentlich Palmen?«

»Das, was du riechst, ist der Duft einer Dracaena Fragans. Das ist eine besondere Drachenbaumart«, klärte Daniel seine Frau auf. »Der Duft ihrer Blüten ist süß und schwer, ähnlich dem von echtem Jasmin.«

Felicitas legte den Kopf schief.

»Seit wann bist du unter die Botaniker gegangen?«

Kaum merklich richtete er sich auf und drückte die Schultern durch.

»Das habe ich beim Aromamarketing gelernt. Ich hatte mich schon gefragt, ob dir die Duftmischung überhaupt auffällt.« Seine Augen glänzten. »Aber wenn sie dir sogar unsere Kreuzfahrt wieder ins Gedächtnis ruft, ist sie ein durchschlagender Erfolg.«

Fees Verwirrung wuchs von Minute zu Minute.

»Aromamarketing?«

Zufrieden griff Daniel nach seiner Tasse und lehnte sich zurück.

»Eine Idee unseres Verwaltungsdirektors, die ich ausnahmsweise einmal gar nicht so schlecht finde.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Du bist der lebende Beweis dafür, dass wir mit Gerüchen Erinnerungen und Gefühle verbinden. Ein Raumduft spricht Menschen emotional an und sorgt dafür, dass die Umgebung als angenehmer und ansprechender empfunden wird.«

»Eine interessante Idee. Das kann einem Krankenhaus wirklich nicht schaden.«

»Nicht wahr! Diesen simplen Trick will sich unser Sparfuchs zunutze machen. Er hat eine Firma beauftragt, verschiedene Düfte für die Klinik zu entwickeln. Sie werden über eine besondere Technik in der Lobby oder hier in der Einkaufsmeile versprüht.«

Felicitas lachte.

»So etwas Verrücktes habe ich schon lange nicht mehr gehört.«

»Als Frau vom Fach solltest du doch wissen, welche Wirkung Gerüche auf uns haben«, erwiderte Daniel. Plötzlich klang er verschnupft.

»Natürlich weiß ich das«, lenkte Fee schnell ein. »Mit verrückt meinte ich, dass Dieter Fuchs freiwillig Geld ausgibt. Schon gar für so einen Hokuspokus. So spendabel ist er doch sonst nicht.« Liebend gern hätte sie über die Gründe des Verwaltungsdirektors spekuliert. Allein ihr fehlte die Zeit dazu. Allmählich musste sie in ihre Abteilung zurückkehren. Sie stellte Tasse und Teller ordentlich zusammen und stand auf.

»Darüber habe ich mich ehrlich gesagt auch gewundert. Wer weiß, was dahinter steckt.« Daniel leerte seine Tasse und erhob sich ebenfalls. »Ich werde es herausfinden und dich an meinem Geheimnis teilhaben lassen.«

»Ich kann es kaum erwarten.« Fee hängte sich bei ihrem Mann ein, und unter munterem Plaudern durchquerten sie die Halle. Sie mündete in verschiedene Flure, wo sich ihre Wege vorläufig trennten.

*

Dr. Norden kehrte in dem Moment in das Behandlungszimmer zurück, in dem Dr. Sophie Petzold die Röntgenaufnahmen von Rosa Bergers Arm auf den großen Bildschirm im Behandlungszimmer projizierte.

Die Seniorin lag auf der Liege und lächelte hinüber zur Tür. Ihr Gesicht war bedeutend weniger faltig als noch vor einer Stunde.

»Sie sehen ja schon viel munterer aus.« Erfreut legte Daniel kurz die Hand auf ihre Schulter.

»Bei dieser netten Betreuung muss es einem ja besser gehen.« Sie nickte zu Sophie Petzold hinüber. »Allerdings sollten Sie der jungen Frau ab und zu einmal frei geben. Sie ist ja ganz blass um die Nase.«

»Soweit ich weiß, hat Frau Petzold ihren Dienst erst vor knapp einer Stunde angetreten. An mir liegt es also nicht«, erwiderte Daniel schmunzelnd, ehe er sich an die Assistenzärztin wandte. »Können Sie mir erklären, was sie dort sehen?«

»Natürlich.« Sophie räusperte sich. »Wir haben es hier mit einer distalen Fraktur zu tun. Dabei handelt es sich um einen handgelenksnahen Bruch der Speiche. Diese Art der Verletzung ist der häufigste Bruch des Menschen überhaupt.«

Daniel nickte zustimmend.

»Wie gedenken Sie diese Verletzung zu versorgen?«

»Da es sich um einen glatten Bruch handelt, schlage ich eine konservative Therapie vor.«

Rosa sah von einem zum anderen.

»Und was heißt das jetzt?«

»Dass Sie von uns einen schönen Gipsverband bekommen. Die Farbe können Sie sich sogar aussuchen«, versprach Daniel und wollte Sophie schon ans Werk schicken, als sein Blick abgelenkt wurde.

»Was haben Sie denn da angestellt?« Er deutete auf das lilafarbene Hämatom, das unter Rosa Bergers Kragen hervor blitzte.

»Das da?« Sie winkte ab. »Das ist schon älter. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie das passiert ist.«

Daniel Norden zögerte.

»Nun gut. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, informiere ich jetzt Ihren Enkel über die weiteren Schritte.«

»Gehen Sie nur. Ich bin ja in bester Gesellschaft.« Rosa zwinkerte der Assistenzärztin zu.

In Gedanken versunken machte sich Daniel auf die Suche nach Christian Berger. Er musste nicht weit gehen.

Beim Anblick des Klinikchefs sprang der junge Mann von der Bank auf und lief ihm entgegen.

»Wie geht es meiner Großmutter?«

»Kein Grund zur Sorge. Sie hat eine Unterarmfraktur. Das tut zwar weh, ist aber nicht weiter gefährlich. Die Kollegin legt gerade einen Gipsverband an.«

Christian atmete auf.

»Ein Glück, dass es nichts Schlimmes ist.«

»Wie man es nimmt. Ein Knochenbruch ist niemals ein Spaß.«

»So meinte ich das ja auch nicht. Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Immerhin ist sie vom Stuhl gefallen. Sie hätte sich den Oberschenkelhals brechen können.«

»Das ist richtig«, stimmte Daniel dem Enkel zu. »Um sicher zu gehen, dass wir auch ja nichts übersehen haben, habe ich auch noch eine CT angeordnet.«

Christian legte den Kopf schief.

»Sie denken, Oma ist doch schwerer verletzt?« Christians Atem ging schneller. »Was verschweigen Sie mir?«

Daniel hob die Hände.

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, versicherte er. »Wie Sie selbst vorhin gesagt haben, ist Ihre Großmutter von einem Stuhl gefallen. Da ist es durchaus denkbar, dass sie sich innere Verletzungen zugezogen hat, die von außen nicht erkennbar sind.«

»Wenn Sie nichts finden, kann ich sie aber mit nach Hause nehmen, oder?«, fragte Christian.

Seine Meinung, die wie ein Fähnchen im Wind mal nach rechts, mal nach links flatterte, irritierte Daniel.

»Ehrlich gesagt möchte ich Frau Berger gern über Nacht hierbehalten. Immerhin ist sie ohnmächtig geworden. Das könnte ein Hinweis auf eine Gehirnerschütterung sein.«

»Das glaube ich nicht. So schlimm war der Sturz nun auch wieder nicht«, winkte Christian ab. Er beugte sich ein Stück vor. »Sie wissen doch, wie ältere Herrschaften so sind. Sie stehen ab und zu gern im Mittelpunkt und machen sich ein bisschen wichtig«, raunte er dem Klinikchef zu.

Daniel wich zurück und runzelte die Stirn.

»Diesen Eindruck habe ich bei Frau Berger überhaupt nicht. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.« Er nickte dem jungen Mann zu und ließ ihn auf dem Flur stehen.

*

Auf den Klinikfluren herrschte rege Betriebsamkeit. Licht aus verborgenen Lampen beschien die Gesichter der Besucher, die geschäftig über den Gang eilten. Das Klappern der Sohlen und Schnalzen der Flipflops hallte von den Wänden wider. Genau wie das Raunen und Murmeln der Ärzte, die in einer Ecke zusammenstanden und erregt diskutierten. Zwei Schwestern bogen um die Kurve und positionierten ihren Wäschewagen neben Dr. Lammers’ Büro. Die beiden steckten die Köpfe zusammen.

»Wenn ich es doch sage! Ich habe es genau gesehen!«, raunte Josefa ihrer Kollegin zu. »Heute Nacht war die Petzold schon wieder bei Jakob.« Sie glucksten wie Kinder beim Versteckspiel.

»Ich habe die beiden vorgestern beinahe in flagranti erwischt.« Schwester Astrid wollte ihrer Kollegin in nichts nachstehen. »Obwohl die Petzold Spätschicht hatte, ist sie am frühen Morgen aus seinem Zimmer gekommen. Gerade als ich reingehen wollte.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe im Dienstplan nachgeschaut.« Astrid sah sich um.

Polternde Schritte übertönten die Geräuschkulisse. Sie näherten sich rasch. Dr. Lammers bog um die Ecke.

»Werden Sie für’s Tratschen bezahlt oder für die Arbeit?«, fauchte er, ohne innezuhalten. Im nächsten Augenblick fiel die Bürotür hinter ihm ins Schloss, dass die Wände zitterten.

Josefa verdrehte die Augen gen Himmel.

»Au weia! Welche Laus ist dem denn schon wieder über die Leber gelaufen?«

Astrid nahm zwei Handtücher aus dem Wagen, um sie ins nächste Zimmer zu bringen.

»Vielleicht ist er eifersüchtig auf den hübschen Jakob«, mutmaßte sie, während ihre Hand über den flauschigen Stoff strich.

»Wir werden es leider nie erfahren«, seufzte Astrid und machte sich auf den Weg.

Im nächsten Moment rumpelte es. Ein Aufschrei ertönte, gefolgt von einem dumpfen Knall. Schlagartig verstummte das Summen im Klinikflur. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Auch Fee Norden in ihrem Büro horchte auf. Im nächsten Moment war sie auf den Beinen und lief hinaus.

»War das Lammers?«, fragte sie in die erschrockenen Gesichter.

Astrid und Josefa nickten stumm und sahen der Chefin der Pädiatrie nach, wie sie in das Büro ihres Stellvertreters stürzte.

»Lammers! Was machen Sie denn da?«

Eingekeilt zwischen Paket und Schreibtisch zappelte ihr Stellvertreter wie ein Käfer auf dem Boden. Felicitas musste nur eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, dass er über den Karton gestolpert sein musste. Doch wie das Paket dorthin gekommen war, davon hatte sie keine Vorstellung.

»Das haben Sie mit Absicht gemacht«, knurrte er. Er streckte die Arme nach ihr aus und zog sich Halt suchend an ihr hoch. Unter seinem Gewicht ächzte und schwankte Fee wie eine Tanne im Wind.

»Keine Angst. Ich hätte dafür gesorgt, dass Sie sich gleich den Hals brechen«, presste sie durch die Zähne. »Das Paket schien mir ungeeignet für diese Zwecke. Deshalb habe ich es auf den Schreibtisch gestellt.«

Als es Volker endlich gelungen war, sich aufzurichten, standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Er setzte den Fuß auf den Boden. Ein greller Schmerz durchzuckte ihn, ihm wurde schwarz vor Augen.

Als er sie wieder aufschlug, lag er auf einer Behandlungsliege. Bilder an den Wänden, leere Betten und überraschte Gesichter glitten an ihm vorüber.

»Was? Wo? Wohin … ?«

»Liegen bleiben! Wir sind gleich in der Radiologie.«

Kraftlos fügte sich Lammers in den Willen seiner Chefin. Er sank auf die Liege zurück und spürte dem pochenden Schmerz in seinem Bein nach.

»Das ist bestimmt gebrochen.« Er ballte die Hand zur Faust. »Das werden Sie mir büßen.«

»Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen«, schnaubte Felicitas. Sie verlagerte das Gewicht nach links und lenkte das Bett millimetergenau um die Ecke.

»Ist das Ihre Art von Rache für die korrigierte Patientenakte?«

»Sie sollten nicht von sich auf andere schließen«, gab Fee ihm einen Rat und stemmte die Fersen in den Boden. In Schrittgeschwindigkeit fuhren sie auf die Glastüren zu.

Sie öffneten und schlossen sich gespenstisch leise. In der Radiologie wurden sie von grellem Neonlicht empfangen. Schnuppernd hob Fee die Nase.

»Hier könnten die Aromaspezialisten auch mal ans Werk gehen.«

»Es reicht, wenn die Leute in der Lobby und in der Ladenzeile beduftet werden.«

Fee spitzte die Ohren.

»Ach, Sie wissen davon?«

Am liebsten hätte sich Lammers selbst geohrfeigt. War es möglich, dass die Schmerzen sein Hirn lähmten?

»Ich habe gehört, wie sich Patienten darüber unterhalten haben.«

Seine Stimme verriet, dass er log. Fee öffnete den Mund, um nachzuhaken, als der Radiologe Dr. Witt zu ihnen trat.

»Dann wollen wir mal sehen, wo der Schuh drückt«, scherzte er.

Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle umgefallen. So aber griff er nach der Liege mit dem Kollegen darauf und verschwand hinter dicken Türen, nicht ohne Fee vorher zu versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten.

*

»Haben Sie eine Ahnung, wo Frau Petzold schon wieder steckt?« Die Frage sprang ins Schwesternzimmer, noch ehe Matthias Weigand den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte.

»Haben Sie es schon einmal beim schönen Jakob versucht?«, platzte Schwester Josefa heraus.

»Wollten Sie nicht die Bettschüsseln leeren?«, fragte Elena in ihrer Eigenschaft als Pflegedienstleitung.

Josepha rollte mit den Augen und machte sich auf den Weg. Elena sah hinüber zu Matthias.

»Schön, dich zu sehen, mein Lieber.« Sie lächelte freundlich. »Ich habe sie vorhin bei Frau Berger gesehen. Wohin soll ich sie schicken?«

Matthias Weigand dachte nach. Sophie zusammen mit Jakob? Diesen Anblick konnte er sich wahrlich ersparen.

»Schicke sie bitte in die Notaufnahme. Ich habe einen Job für sie.«

»Wird gemacht«, versprach Elena. Ihr engelsgleiches Lächeln begleitete den Internisten hinaus. Es erstarb in dem Moment, in dem er den Schritt über die Schwelle gesetzt hatte. Elena wartete noch kurz. Dann machte sie sich auf den Weg zu Jakob. Gehwagen und Rollstuhl warteten auf dem Flur vor seinem Zimmer darauf, abgeholt und im Lager verstaut zu werden.

»Was fällt euch eigentlich ein?«, herrschte sie den Pfleger an, kaum dass sie ins Zimmer gestürzt war.

Erschrocken riss er die Hände hoch.

»Gnade! Ich bin unschuldig.«

Trotz ihres Ärgers musste Elena lachen. Ihre Blicke flogen durch den Raum. Bevor sie die Tür schloss, sah sie links und rechts den Flur hinunter. Von den beiden Klatschbasen war nichts zu sehen.

»Du hast Glück, dass Sophie nicht hier ist. Sonst hättest du keinen Grund mehr zum Lachen.« Elena trat ans Bett und überprüfte Inhalt und Fließgeschwindigkeit der Infusion. Nur der Schlauch an Jakobs Hand und die ansehnliche Narbe am Kopf zeugten von der schweren Zeit, die er hinter sich hatte. »Was denkt ihr euch eigentlich dabei?«

»Ich verstehe nicht. Was meinst du?«

»Die ganze Klinik zerreißt sich das Maul über euch. Und du stellst solche Fragen?« Elena steckte die Hände in die Kitteltaschen und musterte den Pfleger eingehend. »Na ja, solange ihr hier die Nächte nicht gemeinsam verbringt, geht es mich nichts an. Ansonsten müsste ich die Sache dem Chef melden. Das wäre mir sehr unangenehm. Gutes Personal ist rar.«

Jakob senkte den Blick und knibbelte an einem Hautfetzen am Nagelbett.

»Botschaft angekommen«, murmelte er.

Elena seufzte.

»Dann kannst du mir jetzt vielleicht verraten, wo Sophie steckt. Matthias Weigand sucht sie.«

»Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Seit heute früh habe ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Er schien die Wahrheit zu sagen, und Schwester Elena blieb nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge ins Schwesternzimmer zurückzukehren. Auf halbem Weg kam sie am Ruheraum der Ärzte vorbei. Einer Eingebung folgend drückte sie die Klinke herunter. Wie Milch ergoss sich das Licht über den schwarzen Zimmerboden. Ein feines Geräusch, als ob an einem Stuhlbein gesägt würde, erfüllte die Luft. Es dauerte einen Moment, bis sich Elenas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Tatsächlich. Zusammengerollt wie ein Eichhörnchen lag die Assistenzärztin unten im Stockbett und schnarchte leise vor sich hin. Elena schloss die Tür und trat ans Bett.

»Frau Dr. Petzold!« Ein Seufzen, dann ging das Schnarchen weiter. Elena beugt sich hinunter. Diesmal verstellte sie die Stimme. »Hallo! Frau Petzold.« Sie klang fast wie Dr. Weigand.

Sophie fuhr hoch und knallte mit dem Kopf an den Lattenrost des oberen Bettes.

»Aua!«, quietschte sie und rieb sich das Horn, das blitzschnell auf ihrer Stirn wuchs.

Elena richtet sich auf.

»Guten Mittag, Frau Dr. Petzold. Wenn ich jetzt der Kollege Weigand wäre, wären Sie einen Kopf kürzer.«

»Und hätte keine Beule.«

Schwester Elena lachte.

»Wenigstens haben Sie Ihren Humor noch nicht verloren.« Sophie rappelte sich hoch. Sie schaltete das Licht ein und trat an den Spiegel, der über dem Waschbecken in der Ecke des ansonsten schmucklosen Raumes hing. Sie klopfte mit den Handflächen auf die blassen Wangen, dass es nur so klatschte. Die Schmerzen hätte sie sich sparen können.

»Gegen die Schlafstörungen rate ich Ihnen, die Nächte in Zukunft wieder im eigenen Bett zu verbringen.«

Im Bruchteil einer Sekunde brannten Sophies Wangen wie Feuer.

»Das liegt nicht daran. Ich bleibe doch nur bei Jakob, weil ich eh nicht schlafen kann.« Sie schickte Elena einen hilflosen Blick. »Dabei bin ich ständig müde.«

»Kommen Sie nachher zu mir, dann messe ich Ihren Blutdruck. Und jetzt sollten Sie schleunigst zu Dr. Weigand gehen. Er hat einen Job für Sie.«

Sophie Petzold schüttelte den Kopf.

»Geht nicht. Bestimmt sind die Bilder von Frau Berger fertig. Die muss ich dem Chef bringen. Er geht vor.« Sie wandte sich ab und tappte durch das Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Und danke, Elena.«

Die stand mit den Händen in den Kitteltaschen da und sah der Assistenzärztin nach. Elena machte sich ihre ganz eigenen Gedanken zu ­Sophies Verfassung. Aber im Gegensatz zu ihren schwatzhaften Kolleginnen dachte sie nicht daran, auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.

*

»Der Mittelfuß ist gebrochen?«

»Genauer gesagt die Knochen eins bis drei«, korrigierte Dr. Witt seine Kollegin Fee Norden am Telefon. »Ich schicke Ihnen die Aufnahmen rüber. Dann können Sie sich selbst ein Bild machen.«

»Danke.« Fee legte auf und ließ das Telefon zurück in die Kitteltasche gleiten. Sie stand in Lammers’ Büro und begutachtete den Unglücksort. »Ich möchte mal wissen, wie er das angestellt hat.«

Daniel stand zwischen Kiste und Schreibtisch.

Genau dort, wo Felicitas ihren Stellvertreter gefunden hatte. In Zeitlupentempo stellte er den Sturz nach. Fee stützte ihn dabei, so gut es ging. Am Ende lagen beide lachend auf dem Boden.

»Ein Glück, dass der gute Volker uns nicht sehen kann«, japste Felicitas. Sie stützte sich auf der Kiste auf und rappelte sich hoch. »Er würde mich bis ans Ende meiner Tage hassen.«

»Keine Sorge, das tut er ohnehin schon.« Daniel klopfte sich den Staub von der Hose. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass er beim Rückwärtsfallen mit dem Fußrücken gegen die Schreibtischkante geknallt sein muss. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«

Fee umrundete das Paket.

»Ich frage mich nur, wie dieses Ding dorthin gekommen ist. Ich habe es auf den Schreibtisch gestellt.«

»Sicher?«

»Ich leide noch nicht unter Alzheimer, falls du das denkst.« Sie musterte ihn aus schmalen Augen.

»Nicht sauer sein, Feelein.« Daniel streichelte ihr über die Wange. »Ich kümmere mich persönlich um unser Sorgenkind.«

»DAS willst du dir antun?«

»Habe ich eine Wahl?« Er küsste seine Frau, ehe sie das Zimmer verließen.

Fee sah ihm nach, wie er den Flur entlang Richtung Radiologie ging. Wie eine Friedensfahne wehte sein Kittel hinter ihm her. Der letzte Zipfel verschwand erst, als er schon um die Ecke gebogen war.

Dr. Norden suchte und fand den Kollegen in einem Behandlungszimmer der Orthopädie. Wie ein Platzregen trommelten Lammers‘ Finger auf der mit Plastik bezogenen Liege. Das Donnerwetter folgte auf den Fuß.

»Was wollen Sie denn hier? Ich warte auf den Kollegen Witt«, schnaubte Volker. Eine dreieckige Falte stand zwischen seinen Augen. Zwei grauschwarze Gewitterwolken hatten sich darüber zusammengebraut.

»Bis er Zeit für Sie hat, kann ich mir die Sache doch schon einmal ansehen.«

»Da gibt es nichts zu sehen.«

»Sie wissen doch selbst, dass Sie operiert werden müssen. Warum machen Sie sich und uns das Leben so schwer?«

Lammers verschränkte die Arme und starrte demonstrativ in die andere Richtung.

Wie seine kleinen Patienten!, ging es Daniel durch den Sinn.

»Was gibt es da zu lachen?«, schnaubte Lammers.

»Ich lache nicht. Ich überlege nur, wie ich Sie davon überzeugen kann, dass ich nur das Beste für Sie will.«

»Sie sind kein Orthopäde. Oder ist mir da etwas entgangen?« Lammers bleckte die Zähne. »Ich sage Ihnen, welches Spiel Sie spielen: Sie stecken mit Ihrer feinen Frau unter einer Decke und wollen sich wegen der Patientenakte an mir rächen.«

Daniel machte große Augen.

»Welche Patientenakte?«

Volker Lammers‘ Adamsapfel tanzte auf und ab. War es möglich, dass Norden wirklich so ahnungslos war, wie er vorgab zu sein?

»Also schön. Aber ich bestehe darauf, dass Kohler bei dem Eingriff dabei ist«, lenkte er schließlich ein. »Er ist einer der fähigsten Orthopäden, die ich kenne.«

»Ein Lob aus Ihrem Munde?«, entfuhr es Daniel Norden.

Lammers verzog das Gesicht.

»Wann können wir anfangen?«

»Morgen früh?«, machte Daniel einen Vorschlag.

»Warum nicht sofort? Ich habe keine Lust, hier länger als nötig im eigenen Saft zu schmoren.«

Daniel Norden griff nach dem Tablet auf dem Tisch. Ein paar Tastenklicks später hatte er Gewissheit. Termin reihte sich an Termin. Es gab nur eine Möglichkeit.

»In der nächsten Stunde steht nur eine Besprechung mit Fuchs auf dem Plan«, dachte er laut nach. »Die kann ich auf später verschieben.«

»Wenn ich gewusst hätte, wie hart die Arbeit als Klinikchef ist, hätte ich mich um den Posten gerissen.« Nur ein Zucken um die Mundwinkel verriet, dass Lammers scherzte. Daniel lachte pflichtschuldig. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass der Kinderchirurg schon an seinem und Fees Stühlen gesägt hatte, bevor die ­Tinte unter seinem Vertrag getrocknet gewesen war.

*

Sophie Petzold hatte sich nicht geirrt. Die Aufnahmen von Frau Berger waren fertig. Sie ging an den Tresen und bat eine Schwester, den Klinikchef zu informieren. Sie selbst machte sich auf den Weg zu der Seniorin. Ein Rettungssanitäter kam ihr entgegen und bog vor ihr in einen der Gänge ab. Zwei Pfleger schoben ein Bett vor sich her. Mit einem Hüftschwung schlängelte sich Sophie an dem Transport vorbei. Der Widerstand, gefolgt von einem leisen Ratschen, bremste sie.

»Heute ist wirklich nicht mein Tag.« Seufzend betrachtet sie den Riss in der Kitteltasche.

»Sie haben sich den Kittel zerrissen, Kollegin Petzold.« Christine Lekutat kam ihr grinsend entgegen. Wie immer musste Sophie beim Anblick der Chirurgin an ein Nilpferd denken.

»Sie irren sich. Das ist die neueste Mode.« Sie warf den Kopf in den Nacken und stürmte auf Rosa Bergers Zimmertür zu. Sie klopfte. Gleichzeitig drückte sie die Klinke herunter. Nur einen Augenblick später griff eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen.

»Frau Berger! Hallo Frau Berger!«

Der Kopf der Patientin lag auf der Seite. Die Augen waren geschlossen, der Mund stand halb offen. Sophie packte Rosas Handgelenk. Sie starrte auf die Armbanduhr. Ihre Lippen bewegten sich lautlos.

»Der Puls rast.« Mit der einen Hand zog sie eines von Rosas Augenlidern hoch, mit der anderen tastete sie nach dem Handy. Obwohl es nur drei Zahlen waren, vertippte sie sich mehrfach, bis sie endlich die richtige Nummer erwischte.

»Petzold hier. Haben Sie den Chef gefunden?«, fragte sie atemlos in den Hörer.

»Tut mir leid. Der ist im OP.«

»Mist!«, fluchte Sophie, drückte das Gespräch weg und wählte eine andere Nummer.

»Petzold, na endlich! Ausgeschlafen?« Matthias Weigands Stimme triefte vor Spott.

»Selten so gelacht, hahaha«, schnaubte sie. »Frau Berger ist ohnmächtig. Kommen Sie oder soll ich einen anderen Witzbold rufen?«

»Warum so aggressiv? Läuft es etwa nicht mit Jakob?«, entfuhr es ihm. Er legte schnell auf, bevor sie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. »Idiot!« Er verpasste sich selbst eine Ohrfeige, ehe er sich im Laufschritt auf den Weg machte, um zu retten, was zu retten war.

*

Die Sohlen von Christian Bergers Schlangenlederschuhen klapperten auf dem PVC-Boden. Verliebt sah er hinunter, bewunderte die Musterung des exquisiten Leders, die spitz zulaufende Form, und wäre um ein Haar mit einer Krankenschwester zusammengestoßen. Rosas Reisetasche rutschte von seiner Schulter und klatschte auf den Boden.

»Können Sie nicht aufpassen?«, herrschte er die junge Schwester an.

»Tut mir leid.« Mit glühenden Wangen bückte sie sich und reichte ihm die Tasche.

»Das will ich auch hoffen.« Christian sah ihr kurz nach, ehe er an den Tresen trat. »Entschuldigung. Ich habe meiner Großmutter ein paar Sachen für die Nacht mitgebracht.«

Schwester Tina lachte auf.

»Oder auch für mehrere.«

»Hoffentlich nicht. Obwohl das hier ein sehr schönes Haus ist. Wie ein Hotel.« Christians Blick wanderte über den lackweißen Tresen mit den Absetzungen in Nussbraun. Aus einer edlen Vase ragte ein einzelner Baumwollblütenzweig. Daneben lagen vom häufigen Auf- und Zuschlagen mitgenommene Akten. »Fast.«

Kaum merklich zog Schwester Tina eine Augenbraue hoch.

»Wie heißt Ihre Großmutter denn?«

»Berger. Rosamunde Berger.«

Die Tastatur klapperte leise. Tinas Gesicht wurde vom Licht des Bildschirms angestrahlt. Sie sah kurz hinauf zu Christian und gleich wieder weg.

Seine Fingerspitzen tanzten auf dem Tresen.

»Stimmt was nicht?«

Tinas Miene entspannte sich.

»Hier habe ich sie ja. Frau Berger ist gerade aus dem CT zurückgekommen. Zimmer 112.« Sie deutete quer über den Flur auf den Menschenstrom, der sich eben auf den Flur ergoss. »Sie können gern den Aufzug nehmen. Erster Stock, links den Gang hinunter.«

»Danke.« Christian schulterte die Tasche und machte sich auf den Weg.

Er bog in dem Moment um die Ecke, als Sophie Petzold mit Hilfe eines Pflegers das Bett aus dem Zimmer schob. Von der anderen Seite des Flurs eilte Dr. Weigand herbei. Bei Rosa angekommen, blieb er stehen und zückte eine Taschenlampe, mit der er ihr in die Augen leuchtete.

»OP drei vorbereiten.« Er sah kurz zu Sophie hinüber. »Sie assistieren.«

Verdutzt zog sie das Handy aus der Tasche. Der Tross setzte sich in Bewegung. In diesem Moment erreichte Christian den Krankentransport. Er heftete sich an Sophies Fersen.

»Oma!«

Sophie Petzold presste das Telefon ans Ohr.

»Wir müssen intubieren«, soufflierte Matthias ihr.

»Sophie Petzold hier. Wir haben einen Patienten mit Verdacht auf innere Blutungen für OP drei. Danke.«

Die Tasche tanzte auf Christians Schulter.

»Was ist los? Was ist mit meiner Großmutter?«

Matthias sah zu Sophie hinüber. Sie verstand die stumme Aufforderung und drehte sich zu Christian um.

»Beruhigen Sie sich.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es gab Komplikationen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir kümmern uns um Ihre Großmutter.« Sie wandte den Kopf und sah und dem Transport nach. Dr. Weigand rangierte das Bett in den Fahrstuhl.

»Soll das ein Witz sein?«, schnaubte Christian.

»Tut mir leid.« Sophie hatte keine Zeit mehr. Sie spurtete los. Mit einem Sprung landete sie im Aufzug. Im nächsten Augenblick schlossen sich die Türen hinter ihr. Ruckelnd setzte sich das chromglänzende Gefährt in Bewegung.

»Alle Achtung. Ich sollte Sie zum deutschen Sportabzeichen anmelden«, scherzte Matthias.

Sophie schnitt eine Grimasse.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Sie hoffte, dass er die Ader an ihrer Stirn nicht bemerkte, die immer dann pulsierte, wenn sie sich über Gebühr anstrengte. Wenigstens dieses eine Mal ging ihr Wunsch in Erfüllung, und Matthias wandte sich wieder seiner Patientin zu, die aussah, als ob sie schliefe.

*

»Mach dir keine Sorgen, Feelein. Das kriegen wir schon wieder hin«, versicherte Dr. Norden auf dem Weg in die Orthopädie. »Sobald die Tat vollbracht ist, gebe ich dir Rückmeldung.« Er nickte und lächelte. »Ich dich auch.« Er steckte das Telefon ein und machte vor dem Fahrstuhl Halt. Schnurrend glitten die Türen auf und gaben den Blick frei auf den Verwaltungsdirektor.

»Ah, Herr Dr. Norden! Das ist doch nicht nötig, dass Sie mich zu unserer kleinen Besprechung abholen.« Er schien ein paar Zentimeter zu wachsen und trat aus dem Aufzug.

Die Besprechung! Daniel stöhnte auf.

»Tut mir leid. Ich habe völlig vergessen, Sie zu informieren. Mir ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Ich bin sehr in Eile.«

»Kein Problem, mein Lieber, kein Problem.« Dieter hob die Hände. »Wir müssen nur eine Winzigkeit besprechen. Es dauert auch nicht lange.«

Seine Freundlichkeit hätten im Normalfall längst sämtliche Alarmglocken ausgelöst. Nicht so in diesem Moment. Daniel Norden trat von einem Fuß auf den anderen.

»Hat das nicht Zeit bis später?«

Dieter Fuchs zog die Mundwinkel herab.

»Habe ich nicht neulich erst den Investitionsantrag für ein hochmodernes Ultraschallgerät unterschrieben?«

Daniel verdrehte die Augen. Er brauchte eine neue Strategie.

»Hören Sie. Vielleicht interessiert es Sie zu hören, dass unser geschätzter Kollege Lammers unglücklich in seinem Büro gestürzt ist.«

Seine Worte hatten die erhoffte Wirkung.

»Du liebe Zeit! Ausgerechnet Lammers. Wie ist das passiert?«

»Er ist über ein Paket mit unbekanntem Inhalt gestolpert und so unglücklich gestürzt, dass ein chirurgischer Eingriff unerlässlich ist. Ich bin gerade auf dem Weg in den OP. Wollen Sie mitkommen und ­zusehen?« Er deutete auf die Aufzugtüren, die sich erneut öffneten.

Fuchs verzog das Gesicht.

»Gott bewahre! Das erledigen Sie mal schön selbst.« Er wischte sich die Hände am braunen Cordsakko ab. »Nicht umsonst habe ich Gesundheitswesen und nicht Medizin studiert.« Den Falten auf seiner Stirn war anzusehen, dass ihm ein anderer Gedanke in den Sinn kam. »Aber warum erfahre ich erst jetzt von dem Unfall? Sie müssen dringend an Ihrer Kommunikation arbeiten«, erklärte er mit hoch erhobenem Zeigefinger.

Daniels Fußspitze zuckte auf und ab. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr.

»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Die Kollegen warten auf mich.«

»Also gut. Dann verschieben wir meine Angelegenheit auf später.« Zögernd gab Fuchs den Weg frei.

»Danke. Ich weiß Ihren Großmut zu schätzen.«

Täuschte sich Dieter oder lag ein Anflug von Spott in Daniel Nordens Miene? Ehe er sich aber darüber klar werden konnte, schoben sich die Aufzugtüren zwischen sie.

*

Bei jedem Herzschlag gab das EKG einen pulsierenden Ton von sich. Das Beatmungsgerät, das mit dem Tubus verbunden war, rauschte leise vor sich hin. Die Luft schmeckte nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Daniel sah zu seinem Kollegen Bernhard Kohler hinüber und nickte ihm zu. Die Schleife der Maske kratzte ihn im Nacken. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.

»Dann wollen wir mal.« Er sah hinüber zum Bildschirm, auf dem ihnen Volker Lammers‘ Mittelfuß entgegen strahlte. »Was schlagen Sie vor?«

Dr. Kohler betrachtete das Bild eingehend.

»Wir müssen die verschobenen Frakturfragmente repositionieren und fixieren. Am besten mit Kirschnerdrähten. Anschließende Stabilisierung mit Minischrauben.«

»Wie schade, dass der Kollege Lammers Sie nicht hören kann. Er wäre zufrieden mit Ihnen.«

»Ein Glück, dass er schläft.« Die Haut um Bernhards Augen kräuselte sich. Er machte eine leichte Verbeugung. »Bitte, Chef, setzen Sie den Schnitt.«

»Da hat der Kollege Klaiber auch noch ein Wörtchen mitzureden.« Daniel sah hinüber zum Anästhesisten.

»Blutdruck 110 zu 85. Herzfrequenz 100.«

»Also schön.« Dr. Norden räusperte sich. Er streckte die Hand aus. Die Operationsschwester legte das Skalpell hinein. Er schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Vergeblich wartete er auf die Woge der Ruhe, die ihn normalerweise unmittelbar vor Operationen durchflutete. Warum wunderte ihn das? Hatte er nicht vorher schon gewusst, dass dieser Eingriff anders sein würde als alle anderen? Daniel ahnte mehr, dass das Skalpell zitterte, als dass er es sah. Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass die Augen der Kollegen auf dem Bildschirm über dem Operationstisch ruhten. »Lassen wir die Spiele beginnen.« Er beugte sich über den schlafenden Lammers. Im taghellen Licht der OP-Lampe glänzte Daniels Stirn. Beherzt setzte er den Schnitt.

Dr. Kohler stand ihm gegenüber und wartete auf seinen Einsatz.

»Wie sage ich immer? Ein Chirurg ist wie ein Zimmermann. Er braucht nur ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl.«

»Eine schöne Metapher.« Die Falte zwischen Daniels Augen glättete sich ein wenig. Er nahm sich vor, dem Orthopäden nach diesem Eingriff ein Bier auszugeben. »Jetzt sind Sie dran.«

Er nickte Kohler zu und trat einen Schritt zurück. Die Schwester trat zu ihm und tupfte die Schweißperlen weg.

Er nickte ihr zu, ehe er sich wieder auf den Eingriff konzentrierte und darauf, den Kollegen bestmöglich zu unterstützen.

*

Schwester Elena stand mit zwei Kollegen am Tresen zusammen und blätterte durch einen Ordner.

»Wie wäre es mit dem da?« Pfleger Valentin tippte mit dem Zeigefinger auf eine der Seiten.

»Nein.« Elena schüttelte den Kopf.

»Und das hier? Das sieht extravagant aus«, fragte Schwester Ilona.

»Auch nicht. Zu extravagant für meinen Geschmack.«

Valentin schnaubte.

»Dann bin ich raus. Das andere gefällt mir nicht«, beschloss er.

»Typisch Mann. Wenn er nicht seinen Willen bekommt, spielt er die beleidigte Leberwurst.« Ilona schoss wütende Blicke wie Blitze auf ihn. »Wegen dir habe ich schon auf meine fliederfarbenen Handschuhe verzichtet.«

»Ruhig, Kinder, es geht hier lediglich um ein Mittagessen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte Elena ein bekanntes Profil.

Die Hände in den Kitteltaschen, schlenderte Felicitas mit gesenktem Kopf über den Flur.

Ohne aufzusehen, ging sie am Tresen vorbei.

»Mahlzeit, Frau Dr. Norden«, rief Elena ihr nach.

Fee blieb stehen und sah sich um. Es dauerte einen Moment, ehe sich ihre Lippen zu einem Lächeln durchringen konnte.

»Entschuldige, ich habe dich nicht bemerkt.«

»Ach, wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.« Elena zwinkerte ihrer Freundin zu und winkte sie zu sich. »Du bist unsere Losfee und entscheidest, bei wem wir heute unser Mittagessen bestellen.«

Verwundert sah Fee von einem zum anderen.

»Warum geht ihr nicht zu Tatjana ins ›Allerlei‹?« Noch immer wirkte sie wie eben aus tiefem Schlaf erwacht.

»Immer nur Kuchen und Gebäck ist auf Dauer auch langweilig«, murrte Valentin. »Ein richtiger Mann braucht hin und wieder ein ordentliches Stück Fleisch.«

Ilona verzog den Mund.

»Als ob ein Burger auch nur ­annähernd etwas mit Fleisch zu tun­ hätte.« Sie sah in die Runde. »Wer ist noch für Sushi? Finger hoch.«

»Lest ihr keine Zeitung?«, schnaubte Elena. »Neulich hat sich die halbe Belegschaft einer Firma eine Fischvergiftung eingefangen. Wenn uns so etwas passierte, könnten wir dicht machen.« Sie wandte sich wieder an Fee. »Auf was hast du Lust? Burger? Chinese? Italiener?«

»Seid mir nicht böse, Kinder. Aber ich bringe keinen Bissen herunter.«

»Sie sind doch nicht etwa schwanger?«, platzte Valentin heraus.

Nun musste Fee doch lachen.

»Vielen Dank für das Kompliment. Aber aus diesem Alter bin ich hoffentlich heraus.«

»Ich meinte ja nur … weil Sie so blass sind, keinen Appetit haben …«

Mit einer Geste stoppte Fee seine Mutmaßungen.

»Wenn alle appetitlosen, blassen Frauen an dieser Klinik schwanger wären, hätten wir ein echtes Personalproblem.«

Sie sah Schwester Josefa nach, die mit gesenktem Kopf am Tresen vorbei eilte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.

»Keine Sorge, die ist nur wütend auf mich«, erklärte Elena. »Und was das Essen angeht: Wir werfen eine Münze.«

Mit dieser salomonischen Entscheidung waren alle zufrieden.

»Zahl ist Burger, Wappen ist Chinese.« Valentin zauberte ein Euro-Stück aus der Tasche.

»Bestellt irgendwas für mich mit. Ich bin so hungrig, ich esse sogar eine Pappschachtel«, bat Elena. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihre Freundin. Sie winkte Fee mit sich ins Schwesternzimmer und schloss die Tür. »Raus mit der Sprache! Was ist los mit dir? Leugnen zwecklos. Wenn du das Essen verweigerst, stimmt etwas nicht.«

Diese Ansage genügte, um jeden Widerstand in Fee zu brechen. Seufzend sank sie auf die Lehne eines Stuhls und verschränkte die Arme.

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, murmelte sie.

»Wie bitte?«

»Ich«, Fee deutete auf sich. »Vorwürfe!«

»Schon gut, ich habe dich schon verstanden. Rein akustisch. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass du heute auf dem OP-Plan gestanden hättest. Für das Ableben eines Patienten kannst du also kaum verantwortlich sein.« Elenas kleiner Scherz verfehlte sein Ziel.

Felicitas fuhr sich über die Augen.

»Es ist wegen Lammers. Diese Kiste, über die er gestolpert ist. Was, wenn ich sie versehentlich doch auf den Boden gestellt habe?« Ihre Verzweiflung war echt.

Elena sah es an ihrem Gesicht, hörte es an ihrem Tonfall.

»Du tust ja gerade so, als ob er tot wäre.« Sie packte Felicitas an den Schultern und schüttelte sie. Das Kettchen um ihren Hals hüpfte im Takt dazu. »Hallo! Er hat sich nur den Fuß gebrochen. Sei doch froh. Dann hast du wenigstens ein paar Wochen Ruhe vor ihm.«

»Aber es sieht so aus, als ob ich das mit Absicht getan hätte. Dabei stimmt das gar nicht.« Fee klang wie ein kleines Kind, das seine Puppe verloren hatte. Tatsächlich schimmerte es verdächtig in ihren Augen. »Dan ist gerade im OP. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was ist, wenn irgendwas schief geht. Dann sind wir beide unseren Job los. Und ich bin schuld«, schluchzte sie auf.

Als zweifache Mutter musste Elena nicht lange darüber nachdenken, was zu tun war. Traurige, verzweifelte Menschen brauchten immer dasselbe. Egal, ob groß oder klein. Sie legte die Arme um ihre Freundin, zog sie an sich und wartete geduldig darauf, dass das Beben der Schultern weniger wurde und schließlich ganz aufhörte.

*

»Blutdruck 118 zu 99. Die Herzfrequenz hat sich normalisiert.«

Dr. Weigand atmete auf.

»Das sieht doch schon mal besser aus.«

Das gleißende Licht der Operationslampe war auf das Operationsfeld gerichtet, das wie eine Insel in einem Meer aus blauen Tüchern lag.

»Frau Petzold, Sie müssen lernen, in kritischen Situationen ruhiger zu werden.« Das Operationsbesteck in seinen Händen klapperte leise.

Sophie nickte, ohne aufzusehen. Sie blinzelte ein paar Mal hintereinander.

»Das muss ich noch üben.«

Matthias zog eine Augenbraue hoch.

»Das kommt mit der Übung«, versprach er ungewöhnlich freundlich. »Bis dahin sollten Sie versuchen, sich die Ruhe einzureden. Autosuggestion nennt man das.« Er warf einen schnellen Blick hinüber zur Operationsschwester. »Mehr saugen! Weiter rechts. Danke.« Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. »Frau Petzold, lösen Sie die Haken. Jetzt sollte nichts mehr passieren.«

Schweigend führte Sophie den Befehl aus. Alles blieb ruhig. Danach drehte sie den Kopf von rechts nach links, hob und senkte die Schultern.

Um sie nicht anzustarren, sah Matthias hinüber zum EKG. In schönster Regelmäßigkeit fuhr ein Punkt die bunten Linien hinauf und herab. Wie eine Achterbahn!, ging es ihm durch den Sinn. Matthias nickte zufrieden.

»Das war knapp. Frau Berger hat viel Glück gehabt.«

Die Klemmen klirrten leise, als Sophie sie in die Nierenschale legte, die die Operationsschwester ihr hinhielt.

»Wenn Sie bitte zumachen würden.« Er nickte ihr zu.

Sophies Augen wurden rund. Sie sah ihm zu, wie er den Operationstisch umrundete.

»Kein Problem.« Wie von Zauberhand wurden ihr Nadel mit Faden und Nadelhalter gereicht. Sie beugte sich über die offene Wunde. Gleichzeitig spürte sie Matthias‘ Wärme in ihrem Rücken. Irritiert drehte sie sich noch einmal um. Er stand nur wenige Zentimeter hinter ihr. Fast meinte sie, seinen Herzschlag spüren zu können.

»Vielen Dank, Sophie.« Seine Stimme war heiser. »Ohne Ihr schnelles Handeln wäre Frau Berger verloren gewesen.«

Ein Lob aus Matthias Weigands Mund? Sophie traute ihren Ohren kaum. Der Boden unter ihren Füßen schwankte.

»Gern geschehen«, murmelte sie und lehnte sich nach vorn.

Der Operationstisch fing sie mit seiner starken, kühlen Umrandung auf und stützte sie. Ein leises Schnurren verriet, dass Dr. Weigand den OP verlassen hatte.

*

»Es ist alles gut gegangen. Wenn du willst, können wir ihn besuchen«, verkündete Daniel Norden mit lachender Stimme am Telefon. Im nächsten Augenblick wäre ihm um ein Haar das Handy aus der Hand gefallen. Er befürchtete, einen Hörsturz erlitten zu haben. Sein Ohr war taub und klingelte.

»O Dan, du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin.«

»Doch, das kann ich«, versicherte er und rieb sich das schmerzende Ohr. »Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einem guten HNO.«

»Stell dich nicht so an!« Noch immer überschlug sich Fees Stimme vor Erleichterung. »Das wird schon wieder. Ich bin in drei Minuten bei euch.« Sie drückte das Gespräch weg und machte sich auf den Weg.

Atemlos erreichte sie ihr Ziel. Sie beugte sich nach vorn, eine Hand in die Seite gepresst.

Daniel lehnte vor dem Wachraum an der Wand.

»Drei Minuten achtundvierzig. Gar nicht schlecht für eine alte Frau.« Mit einem Hüftschwung wich er ihrem Boxhieb aus. Langsam kam Fee wieder zu Atem. Sie richtete sich auf und funkelte ihn an.

»Alte Frau! Dir werde ich helfen.«

»Das war nur die Retourkutsche für mein Ohrleiden.« Ein Heiligenschein schwebte über seinem Kopf. »Aber darüber können wir uns später noch streiten. Lammers erwartet uns schon sehnsüchtig.«

An seiner Stimme erkannte Fee, dass auch ihr Mann unendlich erleichtert war über den guten Ausgang der Operation. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Daniel zwinkerte ihr zu, bevor sie Seite an Seite den Raum betraten.

Mit geschlossenen Augen lag Volker Lammers im Bett, den Kopf zur Seite gewandt. In diesem Zustand wirkte er harmlos, fast sympathisch. Fee hielt die Luft an, als sie neben ihrem Mann ans Bett trat. Sie verschränkte die Hände und knetete die Finger.

Volker blinzelte ins Tageslicht, das durch die Lamellenjalousien gedämpft wurde.

»Sie? Sind Sie sadistisch veranlagt, oder warum können Sie mich einfach nicht in Ruhe lassen?«, krächzte er und wandte den Kopf wieder ab.

»Na schön. Dann erzähle ich Ihnen eben nicht, dass die Operation gut verlaufen ist.« Daniel nickte Fee zu und wollte zur Tür gehen.

»Wenn Sie schon mal hier sind, können Sie auch bleiben.« Volker winkte die beiden zurück ans Bett. »Also, was ist mit meinem Fuß?«

»Der Kollege Kohler hat ein paar hübsche Drähte und Minischrauben verbaut und die Bruchstücke damit anatomisch korrekt ausgerichtet. Wenn im weiteren Verlauf keine Komplikationen auftreten, sind Sie in ungefähr acht Wochen wieder voll einsatzbereit.«

»Acht Wochen?« Drohend schüttelte Lammers die Faust in Fees Richtung. »Ich bleibe dabei, das haben Sie absichtlich gemacht. Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich Ihnen das bewiesen habe. Dann können Sie einpacken. Ein für alle Mal!«

Obwohl Fee ihren Stellvertreter inzwischen kannte, erschrak sie jedes Mal wieder angesichts des Hasses, der sich über sie ergoss wie ein Eimer mit schwarzem, klebrigen Pech. »Haben Sie nicht selbst gesagt, dass Sie mir einen gebrochenen Hals wünschen? Glauben Sie ja nicht, dass ich das vergessen hätte.«

Fee ballte die Hände zu Fäusten. Sie öffnete den Mund. Doch alles, was sie sagen konnte, hätte die Sache nur schlimmer gemacht. So schloss die die Lippen wieder, machte auf dem Absatz kehrt und hastete aus dem Zimmer. Klackend fiel die Tür ins Schloss und verschluckte das Quietschen ihrer Gummisohlen.

»Na bravo, das haben Sie ja mal wieder großartig hinbekommen.« Daniel applaudierte.

»Ich bin eben nicht nur ein begnadeter Kinderchirurg, sondern verfüge darüber hinaus über weitere herausragende Fähigkeiten«, erwiderte Lammers todernst.

»Macht es eigentlich Spaß, sich wie ein Scheusal zu benehmen?«

»Ich? Ein Scheusal? Nur, weil ich die Wahrheit beim Namen nenne, statt vor dem Königspaar zu kuschen wie jeder andere hier?« Er schnalzte mit der Zunge. »Sie haben wirklich ein verschobenes Weltbild. Und jetzt schicken Sie mir die Schwester. Ich habe Hunger.«

Daniel überlegte nicht lange. Er beugte sich vor, nahm das Bedienelement aus der Halterung und drückte es Volker Lammers in die Hand.

»Diese Aufgabe ist eines Königs nicht würdig«, klärte er den Kinderchirurgen auf. »Genial, wie Sie sind, finden Sie bestimmt den richtigen Knopf, um selbst nach der Schwester zu klingeln.«

Dr. Norden nickte Lammers zu und folgte seiner Frau nach draußen.

*

Elena öffnete die viereckige Schachtel. Eine Wolke Dampf entfloh nach oben und schwängerte die Luft mit einem Hauch Kokos und Erdnuss. Elena wedelte sich den Duft ins Gesicht. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

»Chinesische Nudeln mit Gemüse. Lecker!«

»Ein Burger wäre mir lieber gewesen.« Missmutig starrte Valentin in seine Box.

»Du solltest dem Schicksal dankbar sein dafür, dass es dir eine gesunde Mahlzeit beschert und dich vor Herzinfarkt und Schlaganfall bewahrt«, dozierte Elena mit hoch erhobener Gabel, als ein schrilles Kreischen das Ende von Valentins Mittagspause einläutete.

»Ich spende mein gesundes Mittagessen an eine bedürftige Seele.« Er sprang auf die Beine und machte sich auf den Weg in die Notaufnahme.

Schulterzuckend machte sich Elena über ihre Portion her.

»Mahlzeit.«

Sophie Petzold war ins Zimmer gekommen. Sie schlurfte hinüber zur Küchenzeile, füllte ein Glas mit Wasser und ließ sich auf den Stuhl neben Elena fallen.

»Danke!«, nuschelte Elena mit Hamsterbacken. »Willst du auch was? Valentin hat seine Portion gezwungenermaßen zur Verfügung gestellt.«

Sophie warf einen Blick in Elenas Box und schlug die Hand vor den Mund.

»Lieber nicht.«

»Gehörst du etwa auch zu den Fleischliebhabern?«

»Nein. Mir ist nur nicht so gut gerade«, gestand Sophie und wandte sich rasch ab.

Eine Weile waren nur Kratz- und Kaugeräusche zu hören.

»Du kommst gerade aus dem OP, oder?«, fragte Elena endlich.

Sophie nickte. Den Blick starr geradeaus gerichtet, hob sie das Glas an die Lippen und nippte daran.

»Schlecht gelaufen?«

»Alles gut. Dr. Weigand ist es gelungen, die innere Blutung zu stoppen.« Sie trank einen weiteren, kleinen Schluck. »Blöd nur, dass wir nicht wissen, woher das so plötzlich kam. Hätten wir Frau Berger nach Hause geschickt, wäre sie verblutet.«

Schwester Elena legte die Gabel neben die Schachtel. Sie wischte sich den Mund an der Serviette ab und sah Sophie aus schmalen Augen an.

»Gab es vorher keine Anzeichen?«

»Es ist wie aus heiterem Himmel passiert. Das ist ja das Blöde. Solange wir den Auslöser nicht kennen, kann es jederzeit wieder passieren.«

»Habt ihr einen Verdacht?«

»Nichts. Leider.« Sophie Petzold leerte das Glas und stand auf. Ihre Pause war vorbei. »Ich mach dann mal weiter.« Sie stellte das Glas in die Spülemaschine, winkte Elena und tappte aus dem Zimmer. Sie wirkte so dynamisch wie ein Faultier.

Auch für die Pflegedienstleitung wurde es allmählich Zeit, wieder an die Arbeit zurückzukehren. Trotzdem blieb sie noch einen Augenblick sitzen und dachte über Sophie Petzold nach. Was stimmte nicht mit der jungen Assistenzärztin?

*

Dr. Matthias Weigand saß am Schreibtisch. Sein Laptop verschwand fast unter der Papierflut. Das war – zumindest im Augenblick – nicht weiter schlimm, denn der Internist und Notarzt diktierte Befunde. Die Tür stand halb offen. Ein feiner Duft wehte herein. Matthias drückte die Stopptaste des kleinen Aufnahmegeräts. Wie ein Wolf hob er witternd die Nase. Diesen Duft hatte er heute schon einmal gerochen. Er hätte ihn unter Hunderten wiedererkannt. Dieser Geruch war der Inbegriff von Reichtum. Ein Mann, der sich so verschwenderisch mit »Millenio« einnebeln konnte, stand auf der sonnigen Seite des Lebens. Es überraschte Matthias Weigand nicht, dass Christian Berger an die Tür klopfte.

»Kommen Sie nur. Ich habe auf Sie gewartet.«

»Hallo, Herr Doktor.« Der Berger-Enkel kam näher. Er nahm Matthias‘ Angebot an und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Sie wollten mich sprechen?«

»Ganz recht. Es geht um Ihre Großmutter.« Matthias suchte zwischen den Akten. »Wo steckt denn nur …« Er schob die Unterlagen hin und her, zog eine heraus, studierte den Namen auf dem Schildchen, um sie wieder wegzulegen und nach der nächsten zu greifen. »Ah, hier ist sie ja …« Er schlug die Mappe auf und lehnte sich zurück.

»Wie geht es Oma?« Christian saß auf der äußersten Stuhlkante.

Matthias sah ihm in die Augen. Seine Pupillen waren klein.

»Das Problem war schnell gefunden. Die Überraschung folgte danach. Plötzlich ist Blut aus der Milz geschossen wie im Frühling das Wasser aus einer Felswand.« Die Erinnerung daran trieb ihm noch immer den Schweiß auf die Stirn. »Aus irgendeinem Grund funktioniert die Blutgerinnung nicht so, wie sie soll. Wir haben gerade noch einmal die Kurve gekriegt. Jetzt geht es ihr den Umständen entsprechend gut.«

Christian biss sich auf die Unterlippe.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich vorhin erschrocken bin. Als Sie sie aus dem Zimmer herausgefahren haben … Oma sah aus wie tot.«

»Das tut mir leid. Aber das Wohl unserer Patienten steht an erster Stelle. Es musste alles sehr schnell gehen. Deshalb blieb keine Zeit für lange Erklärungen.«

»Warum mussten Sie überhaupt operieren?«

»Durch den Sturz vom Stuhl hat sich Frau Berger einen feinen Riss in der Milz zugezogen.«

Christian runzelte die Stirn.

»Wieso haben Sie das nicht gleich erkannt?«

Dr. Weigands Nackenhärchen sträubten sich.

»Wenn es sich nur um einen kleinen Riss handelt, kann es vorkommen, dass sich die Blutung erst schleichend bemerkbar macht.«

In diesem Moment war es mit Christians Selbstbeherrschung vorbei. Er sprang vom Stuhl auf und begann, wie ein Tiger im Käfig vor dem Schreibtisch auf und ab zu laufen.

»Sie haben keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe. Ich musste mit ansehen, wie meine Großmutter weggebracht wurde. Wusste nicht, ob ich sie lebend wiedersehe. Und kein Mensch sagt mir Bescheid.«

Matthias atmete tief durch.

»Ich sagte doch schon: Unsere Patienten stehen an erster Stelle. Hätten wir anders gehandelt, hätte Ihre Großmutter verbluten können. Es war ein dummer Zufall, dass Sie diese kritische Szene überhaupt mitbekommen haben.«

Berger war vor dem Schreibtisch stehen geblieben.

Matthias fühlte sich wie im Visier eines Jägers.

»Also schön«, seufzte Christian schließlich und setzte sich wieder. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Ihre Großmutter bleibt heute Nacht noch auf der Intensivstation. Morgen früh werden wir ein neues CT veranlassen.« Auf der sachlichen Ebene fühlte sich Matthias Weigand wesentlich sicherer als auf dem emotionalen Parkett. »Ist das Ergebnis entsprechend, wird Ihre Großmutter auf die normale Station verlegt.«

»Wann kann ich Oma nach Hause holen?«, kam die nächste Frage wie aus der Pistole geschossen.

Diesmal war es Matthias, der die Stirn runzelte.

»Ich glaube kaum, dass dies der richtige Augenblick ist, um über solche Fragen zu spekulieren.« Seine Stimme war schroffer als beabsichtigt. »Noch wissen wir nicht, woher die Blutgerinnungsstörung stammt. Vielleicht können Sie mir etwas dazu sagen?«

Christian verschränkte die Arme vor dem Körper.

»Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Diese ganze Geschichte kam ziemlich überraschend. Bisher waren immer nur die anderen krank. Aber plötzlich ist das Unglück ganz nah.« Er stand auf, wischte sich die Hände an der Kammgarnhose ab und reichte Matthias die Rechte. »Ich statte Oma jetzt einen Besuch ab. Vielen Dank für alles.«

Dr. Weigand schüttelte die Hand.

»Nichts zu danken. Ich tue nur meine Pflicht.« Diesen Satz hatte er einmal in einem Film gehört und ihn behalten. Irgendwie schien er der Situation angemessen. Er brachte Christian zur Tür.

»Ach, Herr Berger. Sie sagten, Ihre Großmutter sei vom Stuhl gestürzt.«

Christian fuhr herum. Sie waren etwa gleich groß und starrten sich in die Augen. Täuschte Matthias sich oder hatten sich Christians Pupillen plötzlich geweitet? Vor Schreck? Aus Angst?

»Ja. Sie wollte eine Glühbirne wechseln.«

»Wenn das wirklich so wäre, müsste sie wenigstens eine Beule am Kopf haben. Aber da ist nichts.«

Christian Berger legte den Kopf schief.

»Ich verstehe nicht. Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Nichts. Ich wundere mich nur. Wenn ein Mensch ohnmächtig wird und aus großer Höhe herab stürzt, wird in der Regel der Kopf in Mitleidenschaft gezogen.«

Berger zuckte mit den Schultern. Er zog die Mundwinkel kurz nach unten. Gleich darauf lächelte er und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.

*

Wie ein gejagtes Tier sah sich Sophie Petzold um. Nachdem sie sich versichert hatte, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, schlüpfte sie katzengleich durch die Tür. Sie machte Licht, lehnte sich gegen das Türblatt und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Durch Zufall war sie einmal in dieses Büro in dem Seitenflur geraten. Das Durcheinander, das dort herrschte, ließ darauf schließen, dass es nur noch als Abstellkammer genutzt wurde. Gerade richtig für ihr Vorhaben. Sie zerrte das Blutdruckmessgerät aus der Kitteltasche. In diesem Moment klingelte ihr Handy.

Jakobs Konterfei leuchtete im Takt der Melodie auf. Sophie hielt das Gerät in der Hand. Ihr Daumen schwebte über dem grünen Symbol mit dem Telefonhörer. Kopf und Bauch stritten so lange miteinander, bis der Klingelton verstummte. Jakob hatte aufgelegt. Sophie wusste, dass sie mit ihm sprechen musste. Aber nicht jetzt. Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Vorhaben und krempelte den Ärmel hoch, um die Blutdruckmanschette überzuziehen. Feine Schweißperlen traten ihr auf die Stirn.

»So schwer kann das doch nicht sein!«, schimpfte sie vor sich hin.

»Frau Petzold?«

Sophie fuhr herum. Die Maus erstarrte im Angesicht der Schlange.

»Was machen Sie in meinem Büro?«, fuhr Matthias Weigand fort.

»Ihr Büro? Ich dachte, das wäre eine Abstellkammer.«

Matthias schloss die Tür hinter sich und kam näher.

»Noch so eine Unverschämtheit und Sie übernehmen heute den Nachtdienst.« Sein Blick fiel auf die Manschette. »Was haben Sie vor?«

»Ich bin im Begriff, Selbstmord zu begehen. Was dachten Sie denn?«, fauchte sie wie eine wütende Katze.

Matthias lachte.

»Eins zu null für Sie. Und warum wollen Sie Ihren Blutdruck messen?« Er zog sich einen Hocker heran. Als er die Manschette ordentlich an ihrem Arm befestigen wollte, zuckte Sophie zusammen. Seine Hände waren eiskalt. Er griff nach dem Stethoskop, das um seinem Hals hing, und steckte die Oliven in die Ohren.

Sophie wagte kaum, ihm in die Augen sehen. Da konzentrierte sie sich lieber auf die Manschette an ihrem Arm. Wie jedes Mal erinnerte sie das Geräusch der Pumpe an ferne Urlaubstage, die sie mit ihren Eltern beim Campingurlaub am Strand verbracht hatte. Das Aufpumpen der Luftmatratze war stets das erste und wichtigste Ritual gewesen, bedeutete es doch, dass der Urlaub tatsächlich begonnen hatte. Leider kam das Ende viel zu schnell.

Pfeifend entwich die Luft wieder aus den Kammern, genauso wie aus der Manschette. Matthias zog das Stethoskop von den Ohren.

»150 zu 100. Alle Achtung. Das kann sich sehen lassen.« Mit einem Ratsch öffnete er den Klettverschluss und nahm das Gerät ab. »Sagen Sie bloß, ich bin schuld an Ihrem Stress.«

»Träumen Sie weiter!«, platzte Sophie heraus und bereute es im nächsten Moment.

Matthias sah aus, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Schon gut.« Er straffte die Schultern. Sein Gesicht ließ Sophie an einen Schwerverbrecher denken. »Lassen Sie das untersuchen. Und spielen Sie nicht selbst das Versuchskaninchen. Solche Sachen gehen schnell mal ins Auge.«

»Verstanden.«

»Das hoffe ich.« Matthias zögerte einen winzigen Moment. Wie ein Kind an Weihnachten hoffte er auf ein Wunder. Doch es blieb aus. Kein Wort der Entschuldigung kam über Sophies Lippen.

»Ausgeträumt!«, murmelte er auf dem Rückweg in die Ambulanz. Wie hatte er nur so blauäugig sein können?

*

Der Sommer hatte bald seinen Höhepunkt erreicht. Fee bemerkte es an den sattgrünen Blättern der Bäume. Die Sonne dachte auch an diesem Abend noch lange nicht daran, sich schlafen zu legen. Stattdessen hatte sie tief in den Farbkasten gegriffen und ein Aquarell in allen erdenklichen Rot- und Orangetönen an den hellblauen Himmel gepinselt.

Zu einer Zeit, in der im Winter schon seit Stunden Grabesstille herrschte, vermischte sich Kinderlachen und –kreischen mit dem Gurgeln des Flusses. Auch das Wasser schien sich an die Sommerhitze gewöhnt zu haben. Gemächlich floss es dahin und trieb Blätter und Holstückchen vor sich her. Fee lehnte sich an ihren Mann, der neben ihr am steinigen Strand saß. Sie ließ den Blick schweifen. Frisch verliebte Pärchen gingen Hand in Hand am Ufer spazieren. Ein Jong­leur präsentierte einem begeisterten Publikum seine Künste. In die Ahs und Ohs mischten sich Gitarrenklänge.

Der schiefe Gesang glich mit Leidenschaft aus, was ihm an Wohlklang fehlte. Nicht weit entfernt knisterte und knackte ein Feuer. Der Wind trug den Geruch von verbranntem Holz, Grillwürstchen und Stockbrot herüber. Fees Magen grollte beleidigt.

»Ich glaube, da hat jemand Hunger!«

»Kein Wunder. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«

Daniel beugte sich über seine Frau und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Gleichzeitig griff er über sie hinweg nach dem Picknickkorb. Das Ablenkungsmanöver misslang. Einem hungrigen Raubtier gleich verfolgte Fee jede seiner Bewegungen.

Daniel klappte den Deckel zurück und zauberte seine Schätze hervor.

»Lenni hat sich nicht lumpen lassen. Wir könnten den halben Isarstrand zum Picknick einladen.«

»Das lässt du mal schön bleiben. Zuerst bin ich dran«, beharrte Fee und nahm ihrem Mann eine Plastikdose aus der Hand. »Hmmm, eingelegtes Gemüse.« Sie fischte einen Champignon heraus und steckte ihn in den Mund.

Daniel küsste ihr den Knoblauchessig von den Fingerspitzen.

»Ich bin sehr froh, dass du deine gute Laune wiedergefunden hast.« Eine Köstlichkeit nach der anderen wanderte auf das Tischtuch zwischen ihnen. »Wenn es dir nicht gut geht, leide ich mit dir.«

»Trotzdem habe ich immer noch ein schlechtes Gewissen«, gestand Fee und schob mit den nackten Füßen einen der großen, glatten Kieselsteine hin und her. Sein leises Klackern war wie Musik in ihren Ohren. »Wenn ich nur wüsste, ob ich das Paket wirklich auf den Boden gestellt habe.«

»Wir könnten einen Hypnotiseur beauftragen.«

Fee verschluckte sich an einer Cocktailtomate. Sie hustete, bis ihr die Tränen kamen.

»Das traue ich mich nicht«, krächzte sie und griff nach dem Wasserglas mit Weißwein, das ihr Mann ihr reichte. Sie nahm einen großen Schluck. »Am Ende behalte ich einen psychischen Schaden zurück. Nein!«

Belustigt zuckte Daniel mit den Schultern.

»Tja, dann werden wir wohl nie erfahren, was an jenem Morgen geschah!«

Fee lachte. »Du klingst schon wie Désis Freund Joshua.«

»Wer weiß, vielleicht versuche ich es ja mit der Schauspielerei, wenn es mit dem Chefarzt nicht mehr klappt.«

Fee brach ein Stück vom duftenden Weißbrot – sie hatten es unterwegs in Tatjanas Bäckerei gekauft – und tauchte es in die Frischkäsecreme.

»Nachdem die OP bei Lammers so gut gelaufen ist, stehen deine Karten für eine Bühnenkarriere schlecht.«

Daniel lehnte sich an den sonnenverwöhnten Baumstamm, der schon ein halbes Leben durch die Isar getrieben sein mochte, ehe die Reise am Kiesstrand ein vorläufiges Ende gefunden hatte.

»In schwachen Momenten würde es mich wirklich interessieren, welches Ereignis in Lammers‘ Leben ihn zu so einem Widerling gemacht hat.«

Fee blähte die Backen. Wie um Anlauf zu nehmen, lehnte sie sich zurück und wieder vor und stieß die Luft durch die gespitzten Lippen. Erwartungsvoll sah sie dem Kern nach. Er fiel ihr vor die Füße, hüpfte über ein paar Kiesel und verschwand in einer dunklen Spalte. Daniel bog sich vor Lachen. Fee dagegen zuckte mit den Schultern. Die Steine unter ihrem Hinterteil drückten auf ihren Ischias und sie rutschte herum, um eine bequemere Position zu finden.

»Was denn? Olivenkerne sind eben nicht zum Fliegen geboren. Und manche Menschen nicht zum Nettsein. So einfach ist das.«

Daniel wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er legte den Arm um ihre Schulter und blickte hinaus auf den trägen Fluss. Die Dunkelheit hatte sich ans Werk gemacht, die lodernde Glut der Sonne zu löschen. Eltern trugen erschöpfte Kinder mit roten Bäckchen nach Hause. Eine Möwe flatterte schimpfend auf und löste sich in der aufsteigenden Dunkelheit auf. Nur das Feuer nebenan loderte hell in den Abendhimmel. Funken stieben auf und verglühten wie Sternschnuppen. Daniels Blick wanderte weiter hinauf in den Himmel, an dem die ersten Sterne funkelten.

»Früher glaubten die Menschen, Gott habe Löcher in den Himmel gemacht, damit die Menschen ein wenig vom Glanz des göttlichen Reichs sehen könnten«, raunte er seiner Frau zu. »Wusstest du das?«

»Nein. Aber es ist ein schöner Gedanke.« Auch Fee sah hinauf. In diesem Moment raste ein heller Streifen über das Firmament. »Und jetzt hat ein Engel nicht aufgepasst und den kostbaren Himmelsstoff zerrissen.«

»Das war bestimmt der Engel, der Lammers auf die Welt geschickt hat«, erwiderte Daniel, ehe er in das Lachen seiner Frau einstimmte.

*

Langsam erwachte die Behnisch-Klinik am nächsten Morgen aus ihrem Schlaf. Friedlich und menschenleer lagen die Flure da. Keine Patientenakten störten das geschmackvolle Ambiente der verwaisten Tresen. Hier und da schwebte eine Schwester vorbei. Wie von Zauberhand wechselte das Nachtlicht zur Tagesbeleuchtung. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Die Räder eines Essenswagens quietschten. Im Bauch der Klinik begann es zu rumoren. Ein Motor nach dem anderen sprang an.

»Verdammt. Heute ist einfach nicht mein Tag.« Sophie Petzold stürzte in den Aufenthaltsraum der Ärzte. Beim Laufen zerrte sie am Ärmel ihrer Jacke.

»Das verraten Sie mal lieber nicht Ihren Patienten«, bemerkte Christine Lekutat. Sie saß auf der Bank vor ihrem Spind und ächzte bei dem Versuch, die Schuhbänder ihrer Turnschuhe zu binden.

»Ist Dr. Weigand schon da?« Sophie fummelte an der Tür ihres Spinds. Klirrend fiel der Schlüssel zu Boden.

Die Anästhesistin Ramona Rä­ther bückte sich, steckte ihn ins Schloss und sperrte sie auf.

»Für Sie ist er immer da«, erwidert sie zwinkernd.

Sophie überlegte kurz, ob sie nachfragen sollte, was das bedeutete, wollte aber kein Risiko eingehen. Manchmal war es besser, nicht zu viele Fragen zu stellen.

»Ich muss heute unbedingt bei der Visite von Frau Berger dabei sein.« Jetzt war es der Knopf ihrer Jeans, der sich ihren Bemühungen widersetzte. Zur Belustigung ihrer Kollegen stampfte sie auf wie ein trotziges Kind und sank auf die Bank. Ihre Augen glänzten verdächtig.

»Alles gut mit Ihnen?«, erkundigte sich Dr. Lekutat. »Oder sind Sie traurig, dass Sie heute Nacht nicht bei Ihrem Liebsten sein konnten?«

Sophie schnappte nach Luft.

»Wie bitte?« Das Blut sackte ihr in die Beine, ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Ein Glück, dass sie saß.

»Kommen Sie schon. Die halbe Klinik redet darüber. Nicht wahr?« Christine sah sich in der Runde der Kollegen um. Plötzlich waren alle mit sich selbst beschäftigt oder unterhielten sich leise mit ihrem Nachbarn.

Sophie atmete durch und stand wieder auf.

Endlich gab auch der Knopf seinen Widerstand auf. Sie schlüpfte aus der Hose und tauschte sie gegen die kleidsame Kliniktracht. Es war so still im Zimmer, dass die Schritte draußen auf dem Flur umso lauter hallten.

»Einen wunderschönen guten Morgen, die Herrschaften.« Daniel Norden klang wie der junge, sonnige Morgen persönlich. Er hielt einen Stapel Akten in der Hand. »Ich hoffe, Sie sind alle ausgeschlafen und bereit für neue Taten.«

»Wir schon. Aber fragen Sie mal Frau Petzold.«

»Sie scheinen heute ja einen Narren an mir gefressen zu haben«, schimpfte Sophie in Richtung der Chirurgin.

Dr. Norden hob eine Augenbraue.

»Es gibt viel zu tun. Deshalb machen wir die Besprechung heute im Eiltempo.« Er sah auf das Namensschild der oberen Akte. »Frau Lekutat, Sie übernehmen bitte meinen Fall, den Kollegen Lammers. Ich muss heute früh in die Arzneimittelkommission.«

Sie verdrehte die Augen gen Himmel. »Dieser Stinkstiefel? Muss das sein?«

»Ich finde, Sie geben ein wunderbares Paar ab.« Sophies Stimme stach wie ein frisch gespitzter Bleistift.«

»Haha!« Christine schnitt eine Grimasse in ihre Richtung.

»Warum nur habe ich manchmal das Gefühl, ich bin der Leiter eines Kindergartens?«, bemerkte Dr. Norden und wandte sich an Ramona Räther. »Sie sind heute auf Intensiv.«

Die Anästhesistin nickte, wünschte den Kollegen einen schönen Tag und verließ den Aufenthaltsraum. »Und Sie, Frau Petzold, nehmen Frau Berger im Anschluss an unsere Besprechung bitte mit ins CT. Der Kollege Weigand sieht sich die Aufnahmen im Anschluss an und entscheidet, wie weiter zu verfahren ist.« Auch Sophie erhielt eine Akte. Daniels Augen schweiften über die Kolleginnen und Kollegen. »Sonst noch Fragen? Gut, dann wünsche ich einen erfolgreichen Tag.«

*

Ramona Räther sollte recht behalten. Die Gedanken an Sophie hatten Matthias Weigand den Schlaf geraubt. Ein paar blasse Sterne hatten noch am Himmel gefunkelt, als er in die Klinik gekommen war. Er hatte die Ruhe dazu genutzt, um Befunde zu diktieren und sich mit schwierigen Diagnosen auseinanderzusetzen. Während der Klinikchef die Anweisungen verteilte, stand er an Rosa Bergers Bett und begutachtete die Operationswunde. Schwester Elena war bei ihm. Das EKG piepte regelmäßig im Hintergrund.

»Leukozyten und Thrombozyten sind stark erhöht, die Harnsäure …«

»Danke, ich sehe mir die Werte gleich selbst an«, unterbrach Matthias seine Kollegin. Er strich die Ränder des Pflasters glatt und zog Rosas Nachthemd herunter. »Das sieht alles ganz gut aus«, wandte er sich an seine Patientin. »Demnächst wird Frau Petzold kommen und Sie noch einmal zur Kontrolle ins CT bringen. Wir wollen sehen, ob die Naht hält und auch sonst alles in Ordnung ist.«

»War mein Enkel schon da?« Wegen der Nasensonde klang Rosas Stimme verschnupft.

Matthias drehte sich kurz zu Elena um. Die schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn heute auch noch nicht gesehen. Aber wenn Sie wollen, kann Schwester Elena ihn anrufen«, bot Matthias an.

»Ich will ihn nicht sehen.« Wie ein Blitz aus heiterem Himmel zuckte ihre Antwort durch das Zimmer.

Matthias Weigand legte den Kopf schief.

»Wenn Sie nicht wollen, müssen Sie natürlich nicht. Ich werde es an die Kollegen weitergeben.«

Rosas Gesicht glättete sich.

»Danke.« Sie drehte den Kopf weg und schloss die Augen.

Dr. Weigand stand noch einen Moment am Bett. Elena beobachtete ihn. Seine Brauen schoben sich zusammen und wieder auseinander. Endlich schienen sie zusammen mit ihrem Besitzer zu einem Ergebnis gekommen zu sein.

»Gehen wir«, sagte er zu Elena. »Und geben Sie Frau Bergers Wunsch bitte weiter.«

»Natürlich.« Sie verließen das Zimmer. Matthias wandte sich nach rechts, während Elena den linken Flur wählte. Unterwegs grüßte sie hierhin und lächelte dorthin, blieb kurz stehen, um ein paar Worte mit Kollegen zu wechseln, und wich einer Schwester mit Essenwagen aus. Auf halbem Weg kam ihr Sophie Petzold entgegen. Sie teilte ihr Rosa Bergers Wunsch mit.

»Seltsam«, murmelte die Assistenzärztin.

»Das finde ich auch. Aber Frau Berger wird Ihre Gründe haben, und wir müssen Ihre Entscheidung respektieren.«

»Natürlich.« Sophie Petzold war viel zu sehr mit ihrem flauen Magen beschäftigt, um an Widerspruch zu denken. Sie wollte sich wieder auf den Weg machen, als Elena noch etwas einfiel.

»Übrigens hat sich Jakob heute schon nach Ihnen erkundigt. Er macht sich offenbar Sorgen. Das ist nicht gut in seinem Zustand.«

Sophie biss sich auf die Unterlippe.

»Bitte sagen Sie ihm, dass ich im Augenblick sehr beschäftigt bin. Ich melde mich später bei ihm.«

Schwester Elena schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid. Das müssen Sie ihm schon selbst sagen.« Sie nickte der Assistenzärztin zu und setzte ihren Weg fort. Tief in Gedanken versunken kehrte Elena an den Tresen zurück. Sie legte die Akten zur Seite und beschloss, sich einen Kaffee aus dem Automaten gegenüber zu holen. Nachdem sie eine Münze eingeworfen hatte, drückte sie den Knopf, auf dem ›Latte Macchiato‹ stand. Im Bauch der Maschine rumpelte und rumorte es, ein Plastikbecher fiel aus dem Schlund. In das Zischen und Brodeln mischte sich ein anderes Geräusch, aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten vorbeihuschen. Elena überlegte nicht lange. Mit wenigen Schritten holte sie Christian Berger ein.

»Einen Augenblick, bitte, Herr Berger.«

Tatsächlich blieb er stehen und wartete auf sie.

»Ja, was ist denn? Ich will vor der Arbeit noch schnell meine Großmutter besuchen.«

»Tut mir leid, aber das geht gerade nicht. Frau Berger ist auf dem Weg ins CT.«

Christian schob den Ärmel zurück. Ein Sonnenstrahl fiel auf sein Handgelenk. Geblendet schloss Elena kurz die Augen.

»Es ist kurz vor acht Uhr. Wie lange dauert so etwas?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Kommt ganz auf den Andrang in der Radiologie an.« Elenas Hoffnung erfüllte sich nicht.

»Gut, dann gehe ich eben dorthin. Wo finde ich die Radiologie?«

Elena räusperte sich.

»Auch auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen: Aber Ihre Großmutter möchte keinen Besuch.«

Christian Berger stemmte die Hände in die Hüften.

»Jetzt hören Sie mir mal zu, gute Frau! Das mag für andere Leute gelten, aber nicht für mich. Schließlich bin ich ihr Enkel. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich habe nicht ewig Zeit.« Er wollte weiterhasten.

Doch Elena hielt ihn am Ärmel fest.

»Ich denke, in so einem Fall hat der Wunsch des Patienten Vorrang.« Sie sah ihm in die Augen.

Christian Berger nahm die Herausforderung an. Sie fochten einen stummen Kampf. Schließlich senkte er den Blick.

»Das wird ein Nachspiel haben, Schwester …«

»Elena. Ich bin die Pflegedienstleitung hier.« Sie deutete auf das Namensschild auf ihrer Brust. »Falls Sie sich beschweren wollen: Der Klinikchef heißt Dr. Daniel Norden.« Sie lächelte so freundlich, dass Christian nach Luft schnappte.

»Gut. Ja. Na dann …« Im nächsten Augenblick drehte er sich um und stürmte Richtung Ausgang.

*

»Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte Christine Lekutat ihren Kollegen Volker Lammers.

Sie kam ihm gerade recht.

»Seit wann verstehen Enten etwas vom Wetter?«

Mit großen Augen sah sich Christine um.

»Was reden Sie denn da? Hier ist weit und breit kein Federvieh zu sehen.«

Volker schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

»Es ist mir ein Rätsel, wie Sie das Studium geschafft haben.«

»Was hat denn das damit zu tun?«

»Vergessen Sie es.« Christine Lekutat war die einzige Person in der Klinik, an der seine Seitenhiebe wie Wasser an einem Lotusblatt abperlten. Noch war er nicht dahinter gekommen, ob sie eine Strategie verfolgte oder wirklich begriffsstutzig war. Er tippte auf Letzteres.

»Warum kommen Sie erst jetzt? Ich warte schon eine halbe Ewigkeit darauf, dass mir endlich jemand hilft.«

»Wo drückte denn der Schuh?« Die Chirurgin deutete auf seinen eingebundenen Fuß und kicherte.

»Sehr witzig. Sind Sie zum Arbeiten hier oder um sich über mich lustig zu machen?« Volker rutschte im Bett hin und her. »Helfen Sie mir gefälligst! Die Schmerzen werden immer schlimmer. Ich wusste doch, dass es ein Fehler ist, diesen Kurpfuscher von Norden in den OP zu lassen. Aaaah!«

Christine war seiner Aufforderung nachgekommen und hatte den Verband vom Fuß entfernt. Sie hob ihn hoch. Er fühlte sich wie gefroren an.

»Wie reden Sie denn von unserem Chef?«

»Was machen Sie denn da?« Volker schrie vor Schmerzen.

»Das erkläre ich, wenn Sie sich entschuldigen.« Die Chirurgin lächelte kalt und drehte den Fuß in die andere Richtung.

»Ich denke ja nicht im Traum … auaaaa, Entschuldigung. Ich habe es nicht so gemeint. Und jetzt lassen Sie sofort los!«

Geschäftig beugte sich Dr. Lekutat über den geschwollenen Fuß, der so weiß war wie das Laken. Dass er kalt war, hatte sie vorhin schon festgestellt.

»Das sieht nicht gut aus.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie müssen sich demnächst an eine Prothese gewöhnen.«

Um ein Haar wäre Lammers aus dem Bett gefallen. Sein Gesicht wurde ebenso blass wie sein Fuß.

»Wie bitte?«

»Kleiner Scherz am Rande. Können Sie das gute Stück bewegen?«

Er versuchte es. Seine Wangen röteten sich.

»Besser als nichts.« Christine Lekutat hatte genug gesehen. »Dr. Norden ist nicht verantwortlich für Ihre Schmerzen. Als Chirurg sollten Sie wissen, dass Schmerzen bei passiver Drehung, eine blasse, kühle Haut, die Schwellung und starke Schmerzen typische Symptome eines Kompartmentsyndroms sind.«

»Kompartmentsyndrom?« Wie ein Toter lag Volker im Bett und streckte alle Viere von sich. Nur sein Blinzeln verriet, dass er sich noch im Hier und Jetzt befand.

»Wenn Sie diese Vorlesung nicht geschwänzt hätten, wüssten Sie, dass ein Kompartmentsyndrom entsteht, wenn Gewebe nach einer Verletzung anschwillt, sich aber nicht ausdehnen kann«, dozierte sie mit hoch erhobenem Zeigefinger. »Wird es nicht behandelt, kann es schwere Folgen haben. Durch die Druckerhöhung kann das Gewebe nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. Schlimmstenfalls zerfällt Muskelgewebe und vergiftet lebenswichtige Organe. Dann sind Sie nicht nur Ihren Fuß, sondern auch Ihr Leben los.«

Volker Lammers drehte den Kopf weg. Auf keinen Fall sollte Christine Lekutat sehen, dass er am liebsten geweint hätte.

»Bitte helfen Sie mir!«, flüsterte er. Zu mehr reichte die Kraft nicht mehr.

Dr. Lekutat nickte lächelnd.

»Das klingt doch schon viel besser.« Sie zückte das Handy. Wie immer traf sie zwei Tasten auf einmal und musste die Eingabe mehrmals wiederholen. Endlich hatte sie die OP-Schwester am Apparat. »Lekutat hier. Wir haben ein akutes Kompartmentsyndrom. Ist ein OP frei? Ja, danke. Ich bin in fünf Minuten da.«

*

Nach der Sitzung des Arzneimittelausschusses kam Dr. Daniel Norden der Bitte seines Freundes und Kollegen nach. Zu dritt standen Sie vor dem großen Bildschirm an der Wand und betrachteten die Schwarzweißbilder, die ein Laie für Kraterlandschaften auf dem Mond gehalten hätte.

»Sieht gut aus«, stellte er fest.

»Danke für das Lob.« Matthias zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Das gilt auch für Sie, Frau Petzold.« Er nickte der Assistenzärztin zu, ehe er sich wieder auf den Bildschirm konzentrierte. »Die Milz müssen wir weiter beobachten. Und natürlich auch noch den Grund für die Blutung herausfinden.« Er drückte auf eine Taste des Laptops. »Hier haben wir die Aufnahmen des Brustkorbs.«

Sophie stutzte. Sie rieb sich die Augen, blinzelte und sah noch einmal hin.

»Da, bei den Rippen, das sieht auch nach Einblutungen aus.«

»Der Kandidat hat so viele Waschmaschinen gewonnen, wie er tragen kann«, entfuhr es Dr. Weigand.

Er hatte kaum ausgesprochen, als ihn der tadelnde Blick seines Chefs traf.

Matthias räusperte sich.

»Tut mir leid. Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen.«

»Nur heute Nacht?«, platzte Sophie heraus.

Daniel Norden schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Bild.

»Einblutung und Armfraktur sind nicht auf derselben Seite. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Verletzungen allesamt bei dem Sturz entstanden sind …«

»Tun wir das? Ich habe da eher eine andere Theorie.«

»Und die lautet?«

Matthias Weigand zögerte.

»Warum will Rosa Berger ihren Enkel nicht sehen?« Er sah Daniel fragend an.

»Du denkst, dieser Christian hat etwas damit zu tun?« Dr. Norden fuhr sich mehrmals über das glatt rasierte Kinn. »Welchen Grund sollte er haben?«

»Herr Berger pflegt einen aufwändigen Lebensstil. Möglicherweise hat er Probleme, ihn zu halten. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, ob Frau Berger eine Lebensversicherung auf seinen Namen abgeschlossen hat. Als ich ihn gestern nach dem Sturz gefragt habe, wurden seine Pupillen groß. Seitdem frage ich mich, warum er erschrocken ist.«

»Das ist ein schwerer Verdacht.«

»Ich weiß.« Matthias Weigand seufzte. »Und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was wir damit anfangen sollen.«

»Das Gesetz hat eine klare Antwort auf diese Frage«, bemerkte Sophie aus dem Hintergrund.

Matthias verdrehte die Augen.

»Ein Glück, dass wir Sie haben, verehrte Frau Petzold«, knurrte er. Er nickte den beiden zu und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.

»Was hat er denn?«, wunderte sich Dr. Norden.

»Wie meinen Sie das? Ich kenne ihn gar nicht anders.«

»Sie dürfen sich den Umgangston nicht so sehr zu Herzen nehmen. An einer Klinik herrscht nun einmal ein raueres Klima als in einer gemütlichen Landarztpraxis.«

Sophies Unterlippe begann zu zittern.

»Darum geht es ja gar nicht.« Bevor das Wasser über die Ufer treten konnte, drehte sie sich um und verließ fluchtartig das Büro.

Daniel stand neben dem Schreibtisch. Mechanisch klappte er den Laptop zu und schaltete den großen Monitor an der Wand aus. Dann verließ auch er das Zimmer. Er musste dringend ungestört nachdenken. Das ging am besten in seinem Büro, an seinem Schreibtisch mit Blick auf den Klinikgarten. Sein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.

*

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe.

»So ein Mist!« Nur ein paar Minuten, nachdem er sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, warf Daniel den Hörer auf die Gabel. Er sprang auf.

Der Schreibtischstuhl rollte rückwärts und landete mit einem Krachen an der Wand. Daniel achtete nicht darauf. Er stürmte genau in dem Moment aus seinem Büro, in dem Dieter Fuchs die Hand auf die Türklinke legte.

Daniel taumelte rückwärts. Gleichzeitig fragte er sich, ob er noch mit seiner Frau in den nächtlichen Sternenhimmel blickte. Erst dann folgte der Schmerz.

»Ich wusste ja, dass Sie einen Holzkopf haben. Aber der Betonschädel war mir neu!«, jammerte der Verwaltungsdirektor.

Daniel blinzelte.

»Sie machen jedem Nashorn Konkurrenz.«

»Lachen Sie nur. Sie haben ja keine Ahnung.«

Andrea Sander sprang vom Stuhl auf und eilte zum Kühlschrank. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie für einen Vorrat an Coldpacks gesorgt hatte.

»Frau Kampe kann noch etwas lernen von Ihnen.« Fuchs drückte das blaue Kissen an die Stirn. »Ich werde Sie bei Bedarf bei Ihnen vorbeischicken.«

»Tun Sie das. Ich weiß, wo man die besten Coldpacks im ganzen Land bekommt. Haben Sie denn einen Kühlschrank in Ihrem Büro?«

»Soweit kommt es noch.« Dieter Fuchs starrte sie an, als hätte sie ihm ein unzüchtiges Angebot gemacht. »Es genügt ja wohl vollkommen, dass Sie einen haben und über ausreichend Kühlkissen verfügen.«

Andrea wollte zu einer passenden Antwort ansetzen, als Daniel ihr ein Zeichen gab.

»Bevor der Boxkampf in die zweite Runde geht, verabschiede ich mich.«

»Moment! Vorher muss ich unbedingt mit Ihnen sprechen.« Fuchs streckte die Hand nach Dr. Norden aus.

Doch Daniel war schneller.

»Tut mir leid. Ich muss los. Ein Notfall.« Er hob die Hand zum Gruß. »Lassen Sie sich von Frau Sander einen Termin geben.« Im Laufschritt machte er sich auf den Weg.

Bei jeder Erschütterung pulsierte die Beule auf seinem Kopf. Dessen ungeachtet umrundete er Grüppchen und Gruppen von Menschen, schob sich an Klinikbetten vorbei, wich Medikamentenwagen aus, wartete mit zuckender Schuhspitze vor dem Aufzug und betrat endlich atemlos den Operationssaal, in dem Volker Lammers operiert wurde.

Christine Lekutat wandte nur kurz den Kopf. Ihre Miene sprach Bände.

»Sie sind zu spät!«

»Was soll das heißen?« Der Klinikchef suchte Halt an der Wand, den starren Blick auf die Kollegin gerichtet.

Sie stand im Vorraum des OPs und zerrte die Handschuhe von den Fingern. Mit einem Schmatzen landeten sie im Abfalleimer.

»Ich bin fertig mit ihm.«

Sie stellte sich ans Waschbecken und drehte an den Hähnen. Nach den Stunden, in denen ihre Hände im eigenen Saft geschmort hatten, waren das warme Wasser, die flaumig-weiche Seife eine wahre Wohltat. »Ah, das tut gut.«

Daniel Norden beobachtete sie. Sie machte nicht den Eindruck eines Arztes, dem gerade ein Mensch auf dem Tisch geblieben war. Er atmete auf.

»Wenn unser geschätzter Verwaltungsdirektor mitbekommt, dass Sie hier Schaumbäder für Großfamilien veranstalten, waren Sie längste Zeit Chirurgin an dieser Klinik.«

Christine dachte nicht daran, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stellte sie das Wasser ab. Sie nahm ein Handtuch vom Stapel und drehte sich zu ihrem Chef um.

»Sie vergessen, dass ich Lammers unter dem Messer hatte. Danach muss die Reinigung besonders gründlich sein.«

»War es wirklich ein Kompartmentsyndrom?«

Christine nickte.

»Es spricht nicht gerade für ihn, dass er nicht früher Bescheid gesagt hat. Typisch Mann. Muss immer den Helden spielen.«

Daniels Augen weiteten sich.

»Sie mussten amputieren?«

»Leider nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er hatte Glück, dass Sie mich eingeteilt haben. Ein anderer hätte das nicht mehr hinbekommen.«

Daniel wunderte sich, dass das Rumpeln nicht zu hören war, als ihm ein wahres Gebirge vom Herzen fiel. Einen kurzen Moment lang war er versucht, Dr. Lekutat zu umarmen. Zum Glück ging die Schwäche schnell vorbei.

Christine musterte ihren Chef mit schief gelegtem Kopf.

»Und nein, es ist nicht Ihre Schuld. Sie haben ordentliche Arbeit geleistet.« Sie warf das Handtuch in den Wäscheeimer und durchquerte den Raum.

Daniel folgte ihr.

»Sie sind ein Schatz.«

»Ich weiß. Vielen Dank übrigens für den Tag Sonderurlaub. Den kann ich gut brauchen.« An der Tür blieb sie noch einmal stehen, drehte sich zu ihm um und zwinkerte ihm zu. »Hoffentlich war das kein Mensch, mit dem Sie da zusammengestoßen sind.«

Sie deutete auf seine Stirn. »Der Einzige, der das verdient hätte, liegt da drüben.« Ihr Lachen hallte noch über den Gang, als sie schon längst aus Daniels Blickfeld verschwunden war.

*

Obwohl allein die Vorstellung von Nahrungsaufnahme schrecklich war, wusste Sophie, dass sie etwas essen musste, wenn sie den Tag überstehen wollte. In ihrer Pause besuchte sie den Klinikkiosk. Wie jedes Mal, wenn sie den kleinen Laden betrat, fühlte sie sich in eine andere Zeit versetzt. Während sie durch die Regale schlenderte, ließ sie ihre Hand über die dunkle Patina des Holzes gleiten. Sie spürte die Kratzer und Rillen, die Einkaufskörbe, Kinderfingernägel und Taschen in vielen Jahren hinterlassen hatten. Ihr Blick wanderte über Metalldosen, Schublädchen mit Porzellanknöpfen und bauchige Bonbongläser. Sie atmete den Duft nach Vanille, Gewürzen und Zucker ein, der die Sinne benebelte und sogar ihren rebellischen Magen beschwichtigte. Und wie jedes Mal wunderte sie sich, wie so viele verschiedene Dinge auf so kleinem Raum Platz finden konnten. Von sauren Apfelringen bis Zahnseide war alles da, was das Herz begehrte und ein Patient sich wünschen konnte. Das machte ihr die Wahl nicht gerade leicht. Mit einer Packung Butterkeksen trat Sophie schließlich an die Kasse.

»Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?«, erkundigte sich Tatjana, die ausnahmsweise selbst hinter dem Tresen stand statt in der Backstube ihrer Bäckerei.

»Alles bestens, vielen Dank«, murmelte Sophie. Sie legte zwei Münzen in die Messingschale.

Tatjana drehte an der Kurbel, die Kasse ratterte, und die Schublade sprang mit einem Klingeln auf. Das Geld wanderte zu den anderen Münzen in die Holzfächer, Sophie steckte das Wechselgeld ein und verabschiedete sich.

»Ihre Butterkekse«, rief Tatjana ihr nach. Da hatte Sophie den Kiosk schon fast wieder verlassen. Seufzend kehrte sie noch einmal um.

»Heute ist einfach nicht mein Tag. Das fing schon am Morgen an.«

»Wenn es solche Tage nicht gäbe, wüsste man die guten nicht zu schätzen.« Tatjanas Stimme wärmte ihr Herz.

Dankend verließ Sophie den Laden zum zweiten Mal. Sie suchte sich einen Platz unter Palmen und riss das Kekspapier auf.

»Störe ich?«

Sophies Blick fiel auf die Schlangenschuhe neben ihrem Stuhl.

»Oh! Ja, natürlich.« Der Keks fiel ihr aus der Hand. Christian Berger bückte sich danach und legte ihn auf den Tisch. »Ich hatte heute noch keine Zeit, etwas zu essen.« Sophie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis es ihr gelang, einen zweiten Keks aus der Packung zu nesteln.

»Ich will Sie wirklich nicht stören. Es ist nur … meine Großmutter …« Christian verstummte.

Dr. Petzold deutete auf den zweiten Stuhl am Tisch. Sie sah ihm zu, wie er sich setzte. Ihr Herz trommelte wie ein Schlagzeug in ihrer Brust.

»Können Sie sich vorstellen, warum Ihre Großmutter Sie nicht sehen will?«

Christian sah hinüber zu der kleinen Familie, die es sich am Nachbartisch bequem gemacht hatte. Vater, Mutter, Kind. Eine glückliche, kleine Familie. Ihre strahlenden Augen verrieten es.

»Ich kann es mir nicht nur vorstellen.« Christian drehte den Kopf zu Sophie. »Ich weiß es.« Er starrte auf seine manikürten Fingernägel. Stockend begann er zu erzählen, was geschehen war.

Wieder fiel Sophie der Keks aus der Hand. Doch diesmal bückte sich niemand danach.

*

Der Anruf erreichte Dr. Felicitas Norden auf dem Weg in die Notaufnahme, in die ein Kind mit akuter Atemnot eingeliefert worden war.

»Lammers? Schon wieder? Sicher?«, keuchte sie in den Apparat, ohne das Tempo zu drosseln. »Ich komme, so schnell ich kann.« Beim Betreten der Ambulanz wusste sie, dass das nicht so schnell der Fall sein würde.

Fee zählte im Geiste bis drei, wie sie es sich angewöhnt hatte, um sich in so einer Situation zu beruhigen. Sie hatte sofort Mitleid mit dem kleinen Patienten und den Angehörigen. In diesem Fall mit der Mutter, die bleich wie die Wand hinter ihr neben ihrem Sohn stand und die Hände rang. Selbst Mutter von fünf Kindern – allesamt keine Engel – wusste sie, wie sich Frau Herbst fühlte. Doch wie immer hatte ihre Strategie Erfolg. Sie holte tief Luft, nickte der Frau aufmunternd zu und machte sich routiniert an die Arbeit.

»Das Gerät schnauft wie ein alter Esel«, bemerkte Lore Herbst nach einer gefühlten Ewigkeit. Die ganze Zeit hatte sie neben der Tür gestanden und die Bemühungen der Ärztin verfolgt.

Fee las aus diesem Kommentar, dass sie zugesehen und mitbekommen hatte, dass es ihrem Sohn endlich besser ging.

»Dafür steckt die neueste Technik in dem alten Esel«, erwiderte sie lächelnd.

Viel war nicht vom Gesicht des kleinen Patienten zu sehen. Gerade genug, damit Felicitas erkennen konnte, dass sich seine Gesichtsfarbe normalisierte.

»Ich nehme an, das war ein Allergie-Schock. Hatte Tim das schon öfter?«

»Heuschnupfen hat er schon seit ein paar Jahren.«

Fees Blick ruhte auf dem achtjährigen Kind.

»War heute irgendetwas anders? Hat Tim etwas gegessen, was diese schwere Allergie ausgelöst haben könnte? Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern. Jede Kleinigkeit ist wichtig.«

»Ehrlich gesagt habe ich ihn seit heute Morgen nicht wiedergesehen. Nach der Schule ist er gleich zu einem Freund gegangen. Irgendwann rief mich Tina an. Sie wohnen am Stadtrand von München.« Lores Blick, mit dem sie Fee ansah, war abwesend. »Sie hat mir erzählt, dass die Kinder sich in einem Getreidefeld ein Lager gebaut haben. Plötzlich kam ihr Sohn angerannt und hat Alarm geschlagen. Keine Ahnung, was …«

»Getreide?«

»Haben Sie das nie gemacht?« Lores Augen füllten sich mit glücklichen Erinnerungen. »Gänge und Höhlen im duftenden Stroh gebaut.«

Felicitas hörte nur mit einem Ohr zu.

»Doch, doch, natürlich«, erwiderte sie und ging an den Computer am Schreibtisch. Die Tastatur klapperte leise unter ihren flinken Fingern. »Ich habe den Verdacht, dass wir es mit einer Alternaria-Allergie zu tun haben.«

Lores Gesicht war ein einziges Fragenzeichen.

»Eine bitte was?«

»Bei Alternaria handelt es sich um eine weit verbreitete Gattung von Schimmelpilzen.« Während sie sprach, flogen Fees Augen über den Text am Bildschirm. »Bevorzugt wächst er auf trockenen Pflanzen. Und eben Getreidekörnern.«

»Das Feld!«

»Ganz genau.« Fee richtete sich auf. Wenn der Feind erst einen Namen hatte, war ein gutes Stück der Gefahr gebannt. Sie erinnerte sich an den Fall eines kleinen Jungen mit schwerer Nussallergie. Ihn hatte Daniel erfolgreich mit Homöopathie behandelt. Wieder klapperte die Tastatur. »Wenn sich Tim erholt hat, können Sie ihn wieder mit nach Hause nehmen. Hier ist die Adresse eines Kollegen. Er ist Schulmediziner, Allergologe, mit einer Zusatzausbildung in Homöopathie. Er wird sich optimal um Tim kümmern.« Fee reichte Lore Herbst einen Zettel mit Adresse und Telefonnummer des Kollegen.

Das Lächeln der Mutter wärmte Fees Herz noch, als sie endlich auf dem Weg zu Volker Lammers war. Am liebsten hätte sie dieses Gefühl mit beiden Händen festgehalten. Sie ahnte, was sie bei ihrem ungeliebten Stellvertreter erwartete. Schwester Elena hatte ihr von den Komplikationen berichtet. Mit gesenktem Kopf eilte sie den Flur entlang. Um diese Uhrzeit war es ruhig. Ein Besucher saß auf einer Bank, die Zeitschrift raschelte beim Umblättern. Durch die geschlossene Tür eines Krankenzimmers wehten Stimmen herüber. Ein Patient schlurfte mit einem Infusionsständer vor ihr her um die Ecke. Felicitas überholte ihn, als sich der Boden unter ihren Füßen wie von Geisterhand in eine Rutschbahn verwandelte. Auf der Suche nach einem Haltegriff ruderte sie mit den Armen durch die Luft. Vergeblich. Mit dumpfen Knall landete sie auf dem Boden. Der Schmerz schnappte zu wie ein bissiger Hund. Ihr Hosenboden wurde kühl.

»Um Gottes willen, Frau Doktor!« Ehe Fee wusste, wie ihr geschah, fühlte sie, wie an ihrem Arm gezogen und gezerrt wurde. »Ist Ihnen etwas passiert? Sie haben sich doch hoffentlich nichts gebrochen! Geht es wieder? Können Sie aufstehen?«

Am liebsten wäre Felicitas einfach sitzen geblieben. Doch Frau Görner von der Reinigungsfirma ließ ihr keine Wahl. So musste sich eine alte Frau fühlen, die den Kampf gegen die Schwerkraft verloren hatte. Mühsam rappelte sie sich hoch. Ihre Hose klebte an ihrem Hinterteil. Wie unangenehm!

»Schon gut. Es geht schon wieder.« Fee zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

Rita Görner atmete auf.

»Ein Glück. Zwei Unfälle in einer Woche, das hätte ich mir nie verziehen. Haben Sie denn das Schild nicht gesehen? Ich habe es extra aufgestellt. Nach dem Unfall von Herrn Dr. Lammers gehe ich kein Risiko mehr ein, habe ich mir geschworen. Sonst kann ich bald einpa …«

»Was haben Sie da gesagt?«, fiel Fee ihr ins Wort.

Rita Görner schluckte das Ende des Satzes hinunter. Ohne Luft zu holen, begann sie den nächsten.

»Was meinen Sie? Das mit dem Schild?« Sie deutete auf das rechteckige Warnschild, das einem Leuchtturm gleich ein paar Meter entfernt in die Höhe ragte.

Doch Felicitas‘ Augen folgte ihrem Fingerzeig nicht.

»Ich meinte das mit Lammers.«

Rita seufzte. Sie zog ein Taschentuch aus der Kitteltasche und putzte sich die Nase.

»So was kann doch mal passieren. Ich meine, dass man nach dem Putzen vergisst, eine Schachtel zurück auf den Schreibtisch zu stellen. Dabei hätte ich es eigentlich wissen müssen. Ihr Ärzte habt es ja immer eilig und überseht … Aber was machen Sie denn?« Fee hatte Frau Görner kurzerhand den Wischmopp aus der Hand genommen. Sie legte den Arm um ihre Schultern und ging los. Rita stolperte neben ihr her. »Was haben Sie vor?«

»Liebe Frau Görner, Sie wissen gar nicht, was für einen Gefallen Sie mir gerade getan haben.« Fees Gesicht strahlte wie die Sonne persönlich. Vergessen waren Schmerz und nasse Hose. »Hätten Sie die Güte, das noch einmal vor Herrn Lammers zu wiederholen?«

»Aber … aber … wenn ich das tue, bin ich meinen Job …«

»Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass Sie nichts zu befürchten habe. Weder von meinem Kollegen noch von Ihrer Firma. Darum werde ich mich persönlich kümmern.«

Ritas Stirn glättete sich. Ihr Schritt wurde sicherer.

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich gleich was gesagt.«

»Schon gut. Es reicht, dass ich es jetzt erfahren habe.« Am liebsten wäre Fee über den Flur getanzt. Nur ihr gefühlt hundertjähriges Steißbein hinderte sie daran.

*

Erst nach der Besprechung fand Matthias Weigand Zeit, sich die Blutwerte von Frau Berger vorzunehmen. Eine ganze Weile saß er vor dem Tablett und wischte von Tabelle zu Tabelle. Plötzlich stutzte er, wischte zurück und wieder vor.

»Was hat denn das zu bedeuten?« Um ganz sicher zu gehen, dass nicht die Gedanken an Sophie für eine Wahrnehmungsstörung verantwortlich waren, überprüfte er die Informationen ein zweites und auch noch ein drittes Mal. Doch hier stand es schwarz auf weiß! Matthias erhob sich, holte tief Luft und machte sich auf den Weg.

Ein regelmäßiges Piepen war das einzige Geräusch im Krankenzimmer, das das Keuchen übertönte. Rosa Berger lag im Bett. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Doch Dr. Weigand ließ sich nicht täuschen. Er hielt sein Tablet in der Hand.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er mit einem Blick auf den Geräteturm neben dem Bett.

Von Rosas unverletztem Arm, ihrem Finger und Handgelenk führten mehrere Schläuche und Kabel weg.

Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur und andere Vitalwerte blinkten auf den Displays der übereinandergestapelten Messgeräte.

»Wie ein junges Reh«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.

Ein unsichtbarer Felsbrocken auf ihrer Brust machte ihr das Atmen schwer.

»Sie sind eine schlechte Lügnerin.« Er zog einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Wie wäre es, wenn Sie mir zur Abwechslung einmal die Wahrheit sagen?«

Sie hob den Kopf, schielte hinab auf die beiden Schläuche in ihren Nasenlöchern, sah zu Matthias hinüber und legte den Kopf zurück auf das Kopfkissen.

»Christian und ich hatten Streit!« Sie lachte, ohne die Lippen zu verziehen. »Das hat er Ihnen nicht gesagt, oder?«

Matthias öffnete den Mund. Rosa kam ihm zuvor und hob die Hand mit Pulsmesser und Infusionsnadel. Der Anblick lenkte sie von dem ab, was sie eigentlich sagen wollte.

»Ich sehe aus wie ein Roboter.«

»Warum haben Sie gestritten?« Die Falte zwischen seinen Augen spitzte sich zu. »Ging es um Geld?«

Das Adrenalin in ihren Adern erweckte Rosa zu neuem Leben. Die Werte auf den Displays fuhren Achterbahn. Einen Moment lang sah sie aus wie die junge Frau, die sie einmal gewesen war.

»Wo denken Sie hin? Ich habe nie einen Cent von Christian genommen.«

Das Blut schoss Matthias in die Wangen.

»Das habe ich auch gar nicht vermutet.«

So schnell die Luft aus einem Luftballon wich, verpuffte Rosas Empörung. Die junge Frau verwandelte sich wieder in eine müde Seniorin.

»Christian wollte mir meine Tabletten wegnehmen«, seufzte sie.

Christian Berger ein guter Mensch? Schnell konzentrierte sich Matthias auf die Laborwerte auf seinem Tablet.

»Tabletten? Davon haben Sie kein Wort gesagt.« Er konnte den Heiligenschein fühlen, der über seinem Kopf schwebte.

Rosa kippte den Kopf auf die andere Seite und starrte den Heizkörper an.

»Ich verstehe die Aufregung um so ein paar Pillen nicht. Mein alter Hausarzt weiß schon, was er tut.« Sie blies die Backen auf wie ein trotziges Kind. »Man hat ja gesehen, was passiert, wenn ich sie nicht nehme. Dann falle ich ohnmächtig vom Stuhl und breche mir sämtliche Knochen im Leib.«

»Ich dachte, Sie sind bei Dr. Norden junior in Behandlung«, wunderte sich Matthias.

Die Haut über Rosas Oberlippe runzelte sich.

»Setzen Sie beim Wettrennen auch immer nur auf ein Pferd?«

»Ich meide jede Art von Glücksspiel.«

»Das ist ein Fehler, junger Mann. Ein bisschen Aufregung im Leben schadet nicht …«

»Frau Berger, Ihnen ist offensichtlich nicht klar, welche Folgen die unkontrollierte Einnahme eines Herzmedikaments haben kann.« Fehlte nur der Rohrstock, mit dem der Lehrer Weigand seiner Schülerin auf die Finger klopfen konnte.

Seine Gardinenpredigt blieb nicht ohne Wirkung.

»Woher wissen Sie das?«, keuchte Rosa wie eine Dampflok. »Ich dachte, Christian hat nicht gepetzt. Er hat mir sein Wort gegeben.«

»Hat er auch nicht. Ich habe in meine Glaskugel geschaut.« Dr. Weigand deutete auf das Tablet in seinem Schoß.

Rosa Berger hörte ihm nicht zu.

»Und wieso überhaupt unkontrolliert? Jeden Tag zwei Pillen. Eine morgens nach dem Frühstück und eine abends vor dem Schlafengehen.« Ihre Stimme wurde leiser. Von ihren Augen waren nur noch schmale Schlitze übrig. »Wissen Sie, wie schrecklich das ist, wenn das Herz aus dem Takt kommt?«

Und ob!, wollte er rufen, Sophies Bild vor Augen. Doch gegen diese Krankheit half kein Medikament der Welt.

»Ihre Tabletten helfen vielleicht gegen die Rhythmusstörungen, hat aber – in den Mengen, in denen Sie es einnehmen – eine ungünstige Wirkung auf die Blutgerinnung. Das erklärt die Einblutungen im Rippenbereich, das Hämatom am Hals, die schwere Blutung während der OP. Sie haben sich in Lebensgefahr und uns in große Schwierigkeiten gebracht.« Seine Worte schwangen im Raum nach, bis sie langsam verhallten.

Rosa war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Sie dachte nur noch an Flucht.

»Es … es tut mir leid«, murmelte sie noch, ehe sie sich ins Reich der Träume rettete.

Eine Weile saß Matthias Weigand am Bett und beobachtete, wie sich ihre Brust hob und senkte. Schließlich stand er auf und rollte den Hocker an seinen Platz zurück. Bevor er ging, blieb er noch einmal kurz am Bett stehen und blickte auf das Häuflein Mensch hinab. Kopfschüttelnd verließ er das Intensivzimmer.

*

Wie er entspannt im Stuhl lehnte und sogar über einen von Sophies Scherzen lachte, wirkte Christian Berger wie ein anderer Mensch. Aus der Ferne hätte Matthias Weigand ihn nicht erkannt. Es waren die Schlangenlederschuhe, die ihn verrieten.

Langsam versickerte Christians Lachen, wurde zu einem Lächeln, ehe es ganz verschwand. Er beugte sich vor und betrachtete eine Weile seine Schuhspitzen. Sophie saß vor einem Berg aus Butterkekskrümeln und einer leeren Tasse und wartete.

»Ich hatte Oma versprochen, sie nicht zu verraten«, fuhr er endlich fort. »Aber ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich dieses Paket nicht mehr allein mit mir herumtragen muss. Es war ganz schön schwer.« Er sah die Assistenzärztin von unten herauf an.

Sophie erwiderte seinen Blick. Sollte sie ihm von Matthias‘ Verdacht erzählen?

»Das war ein lebensgefährliches Versprechen.«

»Es war ein Geschäft. Ich verrate sie nicht, dafür gibt sie mir die Tabletten und geht zu Dr. Norden, um sich untersuchen zu lassen.« Er fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Oma hat ihr Wort gebrochen.«

»Was macht Sie so sicher?«

Christian lehnte sich wieder zurück.

»Ich habe mit Danny Norden gesprochen. Sie hat kein Wort über die Tabletten, geschweige denn ihre Herzprobleme verloren.«

Es war alles gesagt. Sophie Petzold wusste es. Sie wischte die Krümel in ihre leere Teetasse, steckte die restliche Packung Butterkekse in die Kitteltasche und stand auf. Christian Berger hob den Kopf. Seine Augen fielen über ihre Schulter auf den Mann, der mit wehendem Kittel auf ihren Tisch zukam. Sophie stand mit dem Rücken zu ihm.

»Wenn es Ihnen recht ist, gehe ich jetzt zu Dr. Weigand und erzähle ihm von unserem Gespräch. Oder wollen Sie selbst …«

»Die Frage hat sich gerade erübrigt.« Christian lächelte Sophies Schulter an. »Hallo, Herr Dr. Weigand.«

Die Assistenzärztin fuhr herum.

»Müssen Sie sich immer anschleichen wie eine Katze? Nur gefährliche Menschen tun so etwas. Oder solche, die etwas zu verbergen haben.«

»Vielleicht trifft beides auf mich zu«, sagte Matthias mit Eiswürfellächeln.

Christian Berger sah von einem zum anderen.

»Ich habe Ihrer reizenden Assistenzärztin gerade die Wahrheit gesagt.«

»Und ich komme gerade von Ihrer Großmutter«, sagte Matthias zu dem Mann mit dem ausgefallenen Geschmack und dem erlesenen Parfum. Vielleicht sollte er sich auch einmal etwas gönnen und sich eine kleine Flasche ›Millenio‹ zulegen. »Sie hat mir alles gestanden.«

Die Haut um Christians Augen kräuselte sich.

»Dann muss ich wenigstens kein schlechtes Gewissen mehr haben, mein Wort gebrochen zu haben.«

Matthias Weigand schüttelte den Kopf. Er steckte die Hände in die Kitteltaschen und zog sie gleich wieder heraus, um im nächsten Augenblick die Finger ineinander zu verschränken.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«

Christian Berger legte den Kopf schief.

»Wie kommen Sie denn auf so einen Unsinn? Sie haben meiner Oma das Leben gerettet. Sie ist meine Familie, mein Ein und Alles. Wenn ich sie verloren hätte …« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde Ihnen auf ewig dankbar sein.«

Matthias Weigand bemerkte Sophies Blick und sah schnell wieder weg. Er kratzte sich an der Wange. Jetzt oder nie!

»Ich hatte den Verdacht, Sie könnten etwas mit den Verletzungen Ihrer Großmutter oder den Medikamentengaben oder beidem zu tun haben. Dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen.«

Christian zog den Kopf ein und die Augenbrauen hoch.

»Warum sollte ich so etwas tun?«

Matthias hielt nach einem Loch im Boden Ausschau, in das er verschwinden konnte. Warum hatte er nicht den Mund gehalten?

»Aus … aus Geldgründen vielleicht«, murmelte er.

Sophie sah, wie Christian die Fäuste ballte. Ihr Körper wurde zum Sportbogen. Jede Faser war gespannt, bereit, sich zwischen die beiden Männer zu werfen, wenn es zum Äußersten kommen sollte. Doch dann geschah etwas Unerwartetes.

Christian Berger warf den Kopf in den Nacken und lachte los. Sophie und Matthias tauschten überraschte Blicke. Patienten und Besucher sahen sich nach dem Grund des Heiterkeitsausbruchs um. Einige ließen sich anstecken. Andere gingen kopfschüttelnd weiter.

»Tut mir leid«, ächzte Christian, als er endlich wieder Luft bekam. »Sie können es nicht wissen, aber das ist der Witz des Jahrhunderts. Was glauben Sie, woher diese Schuhe stammen?« Er streckte einen Fuß vor. »Fressen Sie mich nicht gleich auf«, bat er Sophie. »Das ist kein echtes Schlangenleder, nur eine gut gemachte Imitation. Italien, teuer.« Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Sofort beschloss Sophie, sie nie wieder dort wegzunehmen. »Kaschmir. Mongolei. Sehr, sehr teuer.« Christian zog den Ärmel zurück. Die goldene Uhr glänzte im Sonnenlicht. »Frankreich. Unbezahlbar.« Er ließ den Stoff wieder über das Handgelenk fallen und machte eine Verbeugung. »Dr. Christian Berger, Inhaber einer gut gehenden Personalberatung. Deutschland. Unverkäuflich.«

»Schade. Ich wollte mich gerade nach dem Preis erkundigen«, platzte Sophie Petzold heraus.

Christian blinzelte ihr zu, sagte aber nichts.

»Wie geht es jetzt weiter mit meiner Großmutter?«, wandte er sich an Dr. Weigand.

Matthias zwickte sich in den Arm. Chronischer Schmerz lähmte. Ein kurzer Schock aber wirkte belebend. Er wurde nicht enttäuscht.

»Wir werden einen schonenden Medikamentenentzug durchführen, nach der Ursache für die Herzprobleme forschen und sie entsprechend behandeln. Danach bekommen Sie Ihre Frau Großmutter zurück.«

»Das klingt nach einem Plan.« Christian nickte zufrieden. »Darf ich jetzt zu ihr?«

»Natürlich.« Matthias machte einen Schritt zur Seite und verbeugte sich leicht.

Christian Berger dankte ihm mit einem Lächeln, verabschiedete sich mit einem Handkuss von Sophie und ging beschwingt davon.

»Netter Mann«, bemerkte sie. »Und so aufmerksam.«

Wie feine Nadelstiche stachen die Worte in Matthias‘ Herz.

»Was macht denn eigentlich Ihr Blutdruck? Vielleicht sollten Sie ein paar Tage freinehmen und sich erholen. Sie sind ein bisschen blass um die Nase.« Er nickte ihr zu und machte, dass er davonkam.

Sophie Petzold stand da und starrte ihm nach. Dieser Mann war ein einziges Rätsel. Würde es ihr jemals gelingen, es zu lösen?

*

Es war Abend geworden. Daniel Norden sah sich auf seinem Schreibtisch um. Er rückte das Bild von Fee und den Kindern gerade, schob die Papiere in den Ablagekästen links daneben ordentlich zusammen. Sein blauer Lieblingskugelschreiber wanderte in Désis Stifteköcher und die Computermaus – eine Empfehlung seines jüngsten Sohnes Jan – auf das dazugehörige Mauspad. Endlich hatte alles wieder seine Ordnung. Er löschte die Schreibtischlampe und verließ das Büro. Im Gegensatz zu seinem Arbeitsplatz sah Andrea Sanders aus, als hätte sie nur kurz das Büro verlassen. Lächelnd durchquerte Daniel den Raum. Die Wagenschlüssel klapperten in seiner Sakkotasche und erinnerten ihn an die fällige Inspektion.

»Darum muss ich mich morgen unbedingt kümmern«, murmelte er und trat auf den verwaisten Gang hinaus.

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«

Daniel griff sich ans Herz und fuhr herum.

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Heute ist niemand mehr hier, der mich wiederbeleben kann.«

Dieter Fuchs tätschelte seine Schulter.

»Tut mir leid. Aber ich dachte, Sie sprechen von mir.«

»Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht unentwegt an Sie denke.« Sein Herzschlag hatte sich wieder beruhigt. Dr. Norden machte sich auf den Weg Richtung Ausgang. Der Verwaltungsdirektor heftete sich an seine Fersen.

»Es gibt da noch etwas, was ich mit Ihnen klären muss.«

»Und was keinen Aufschub duldet. Ich habe verstanden.« Sie näherten sich einer Glastür. Daniel drückte auf den automatischen Türöffner. Es summte, die Dichtungen lösten sich schmatzend voneinander, und die Tür öffnete sich.

»Es wird Sie vielleicht interessieren.« Dieter Fuchs hatte Mühe, mit dem Klinikchef Schritt zu halten. »Aber die Sache mit der Patientenakte …«

Diese Bemerkung wirkte wie eine Bremse. Abrupt blieb Dr. Norden stehen.

»Sie meine die Akte von Diepold?«

Der Verwaltungsdirektor räusperte sich und sah zur Seite.

»Es … es war nicht Lammers, der den Unfallort korrigiert hat.«

Klirrend fielen die Autoschlüssel zu Boden.

Daniel bückte sich. Er ließ sich Zeit, sie aufzuheben und sich wieder aufzurichten.

»Jetzt verstehe ich. Die Aromaspender …«

Fuchs trat von einem Bein auf das andere.

»Sie haben ja keine Vorstellung davon, wie viel Geld der Unterhalt so einer Klinik kostet. Als Frau von Diepold mit dieser kleinen Bitte auf mich zugekam, konnte ich einfach nicht Nein sagen.«

»Wie viel hat Sie Ihnen bezahlt?« Wäre Daniels Stimme ein Schwert gewesen, hätte sie mit Leichtigkeit ein Telefonbuch zerteilt.

Dieter Fuchs holte tief Luft. Er war der Verwaltungsdirektor. Hatte er es nötig, sich zu rechtfertigen?

»Noch gar nichts«, erklärte er brüsk. »Abgesehen davon glaube ich nicht, dass ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen. Lammers hat nichts mit der Sache zu tun. Niemand ist zu Schaden gekommen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Guten Abend, Kollege Norden.«

Einigermaßen fassungslos sah Daniel ihm nach. Er hatte schon viel erlebt. Doch Dieter Fuchs‘ Dreistigkeit raubte ihm immer wieder den Atem. Noch schlimmer fand er allerdings, dass der Verwaltungsdirektor stets ungeschoren davonkam. Wie viele Halunken, die es mit dem Recht nicht ganz so eng sahen, schützte ihn offenbar ein Tarnumhang vor dem langen Arm der Justiz. Eine andere Erklärung gab es nicht.

»Wenn Sie noch länger Verwaltungsdirektor an dieser Klinik bleiben wollen, empfehle ich Ihnen, Frau von Diepolds Gefälligkeit abzulehnen«, rief Daniel ihm wider besseres Wissen nach.

Ein Schnauben hallte von den Wänden wider. Dann war alles still.

Langsam ging Dr. Norden weiter. Erst, als er vor dem Nebeneingang stand, wurde ihm bewusst, dass er die Lobby durchquert hatte. Doch er trat nicht etwa nach draußen in die Sommerluft, die nach Sonne und dem grünen Duft der Pflanzen roch, die nach der Hitze des Tages aufatmeten. Stattdessen machte er kehrt und klopfte wenig später an die Zimmertür von Volker Lammers.

»Hat man hier denn nicht mal abends seine Ruhe?« Es klang, als hätte Rotkäppchens böser Wolf den Platz im Bett eingenommen. »Norden. Hätte ich es mir doch denken können. Der König kommt zum Schluss.«

»Wie geht es Ihnen?« Daniel trat zu Volker ans Bett. Seltsam, was so ein Krankenhausbett aus einem stattlichen Mann machte.

»Kommen Sie schon! Das interessiert Sie doch nicht wirklich. Wir sind unter uns. Sie dürfen mich gern rauswerfen.«

»Warum sollte ich das tun?« Daniel legte den Kopf schief. »Eigentlich bin ich gekommen, um mich zu entschuldigen. Meine Frau und ich waren im Unrecht. Fuchs hat mir gerade gestanden, dass er die Akte manipuliert hat und nicht Sie. Es tut mir leid.«

Volker stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Er räusperte sich.

»Was wollen Sie jetzt von mir hören?«

»Es war mir einfach wichtig, dass Sie das wissen.« Daniel strich über das kühle Chrom am Fußende des Bettes. »Ja, dann … schönen Abend noch.« Er wandte sich ab.

»Norden!«

Daniel ballte die Hand zur Faust, drehte sich wieder um, sagte aber nichts.

»Wenn wir schon dabei sind: Ich habe vorhin erfahren, dass Ihre Frau die Kiste nicht auf den Boden gestellt hat. Das war diese dusslige Reinigungsfrau.«

»Wie bitte?«

Volker rollte mit den Augen.

»Die Reinigungsfrau, Sie Gutmensch. Wenn ich wieder auf den Beinen bin, werde ich dafür sorgen, dass sie ihren Job verliert. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Für das da«, er hob den eingebundenen Fuß, »haben Sie etwas gut bei mir.«

»Dann wünsche ich mir, dass Sie die arme Reinigungsfrau in Ruhe lassen.«

»Verdammt, ich hätte es wissen müssen.« Volker Lammers’ Faust rauschte auf die Bettdecke herab.

Lächelnd wandte sich Daniel Norden endgültig ab. Es wurde Zeit, nach Hause zu seiner Familie zu gehen. Er war schon halb zur Tür heraus, als ihm doch noch etwas einfiel.

»Was ist eigentlich in dem Paket?«

Lammers knirschte mit den Zähnen.

»Ein Atomizer. Das ist so ein Ding, das Aromastoffe im Raum verteilt. Hat Fuchs für mich bestellt.«

In Daniels Mundwinkeln zuckte es verdächtig.

»Welche Duftnote?«

Jetzt musste auch Volker Lammers schmunzeln.

»Harmonie!«

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman

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