Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 24
ОглавлениеDr. Daniel Norden war zutiefst erschrocken, als Viktoria Callenberg sein Sprechzimmer betrat, nur noch ein Schatten ihrer selbst, obgleich sie doch gerade erst von einem vierwöchigen Urlaub zurückgekommen sein sollte.
»Was fehlt Ihnen?«, fragte er besorgt. »Waren Sie nicht im Urlaub?«
Sie nickte und er sah, wie sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte, die dann aber doch über ihre blassen Wangen rannen.
»Es war die schrecklichste Zeit meines Lebens«, stammelte sie. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Dr. Norden. Mir kommt es vor, als sei mein Mann nicht mehr normal. Aber er sagt, dass ich einen Tick hätte. Und manchmal denke ich, dass ich tatsächlich durchdrehe.«
»Nun mal langsam. Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Dr. Norden mitfühlend.
Viktoria blickte zu Boden. »Es ist ja nicht erst jetzt so. Er war schon immer eigenartig, aber Genie und Wahnsinn sollen ja dicht beisammenliegen.«
Als Genie wurde der Geigenvirtuose Carlo Callenberg sogar von Dr. Nordens Schwager David Delorme bezeichnet, und der war als Pianist und Dirigent selbst eine Klasse für sich und weltberühmt.
Sechs Jahre war Viktoria mit ihm verheiratet. Neunzehn Jahre alt war die Industriellentochter Viktoria Vandamme gewesen, als sie sich in Carlo verliebte, und ihre Eltern hatten nur zögernd dieser Heirat zugestimmt. Dr. Norden wusste das, denn er kannte die Vandammes.
»Meine Eltern haben ja so recht gehabt«, sagte Viktoria jetzt leise. »Carlo beansprucht alle Rechte für sich, mir billigt er kein einziges zu. Er sieht sich göttergleich, und ich bin in seinen Augen nur ein verwöhntes Balg. Wenn ich aufbegehre, verlangt er von mir, dass ich niederknie und ihn um Verzeihung bitte.«
Sie schluchzte trocken auf.
»Das ist allerdings stark«, sagte Dr. Norden. »Und wie benimmt er sich Bobby gegenüber?«
Bobby, Roberto, war der vierjährige Sohn des Ehepaares, ein bildhübscher kleiner Bursche, schon sehr pfiffig und überaus musikalisch.
»Bobby ist sein Sohn, sein Produkt. Er hat nichts von mir, von meiner Familie, und das redet er ihm auch jeden Tag ein. Von einem gemeinsamen Urlaub kann gar keine Rede sein. Wir sind nach Portugal geflogen, doch am zweiten Tag ist Carlo mit Bobby zu seinen Eltern gefahren. Die hatten schon einen Wagen geschickt. Ich kann Ihnen das nicht schildern, Dr. Norden, es würde zu lange dauern.«
»Ich habe Zeit«, erwiderte er.
»Er hat mir nicht gesagt gehabt, dass er zu seinen Eltern fährt. Er hat nur gesagt, dass er mit dem Jungen die nötigen Besorgungen machen würde. Ich habe auf ihre Rückkehr gewartet und höllische Ängste ausgestanden. Dann kam ein Telegramm. ›Sind zu meinen Eltern, erhol dich gut.‹ Das war alles, was er mir mitteilte. Ich habe eine Woche gewartet, dann bin ich in die Toscana gefahren, wo Carlos Eltern leben, aber das Haus war leer. Ich fuhr zu meinen Eltern und bekam natürlich wieder zu hören, dass sie so was ja vorausgesehen hätten, aber sie waren dennoch sehr hilfsbereit. Ich konnte mit einem Anwalt sprechen, der ein Freund meines Bruders ist.« Sie hielt erschöpft inne. »Aber Marc Rogahn konnte mir auch nur sagen, dass er nicht das Recht hat, mir das Kind ohne weiteres wegzunehmen.«
»Wollte er es wegnehmen?«, fragte Dr. Norden.
Sie zuckte die Schultern. »Mein Bruder flog zur Algarve und fand die Nachricht vor, dass Bobby darauf bestanden hätte, mit seinen Großeltern nach Frankreich zu fahren. Sie waren in Biarritz. Phil reiste nach Biarritz und traf Bobby zufällig allein. Der Junge war völlig verwirrt und sagte, dass er Sehnsucht nach mir hätte. Daraufhin ging Phil der Gaul durch, und er machte Carlos Eltern die Hölle heiß. Carlo war nicht anwesend. Angeblich machte er eine Konzertreise, aber das entspricht nicht der Wahrheit, doch seine Eltern wollten ihn decken. Als Phil dann sagte, dass wir einen Anwalt eingeschaltet hätten und ich die Scheidungsklage einreichen würde, bekamen sie es mit der Angst und gaben Bobby heraus. Zwei Tage später erschien Carlo bei meinen Eltern und erklärte, dass er, falls ich die Scheidung einreichen würde, alles daransetzen würde, den Jungen zu behalten. Ich entschloss mich, in unser Haus zurückzukehren. Es war der größte Fehler. Er hat mich bedroht, sich und den Jungen umzubringen, wenn mir Bobby zugesprochen würde. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Dr. Norden.«
Da war allerdings guter Rat teuer, aber dass Viktoria seelische Hilfe brauchte, war Dr. Norden klar.
»Sie müssen jetzt Ruhe bewahren«, sagte er eindringlich. »Wenn Ihr Mann mit solchen Drohungen kommt, ist das ernst zu nehmen, denke ich, nach allem, was Sie mir sagten.«
»Es geht doch um mein Kind. Ich liebe Bobby. Ich betrachte ihn nicht als mein Produkt. Neun Monate hatte ich ihn für mich, und es war so viel Glück. Und auch die ersten zwei Jahre hat Carlo sich doch kaum um das Kind gekümmert. Mal sehen, wie er sich entwickelt, hat er so oft gesagt, und weil er sich dann so gut entwickelte, weil er intelligent und musikalisch ist, war Bobby dann plötzlich sein Produkt, das mit mir und meiner Familie überhaupt nichts gemein hat.« Sie machte wieder eine Pause. »Mir macht es nichts mehr aus, dass er mich betrügt, glauben Sie mir das bitte, aber der Gedanke, dass Bobby das miterleben müsste, wie viel Rechte sein Vater für sich beansprucht, wie er jetzt schon erlebt, wie gedemütigt ich werde, darüber könnte ich wirklich den Verstand verlieren.«
»Und gerade das dürfen Sie nicht, da es um Ihr Kind geht.«
Er betrachtete sie forschend. »Sehen Sie Gründe, für das merkwürdige Benehmen Ihres Mannes, Frau Callenberg?«, fragte er sie.
Wieder zuckten ihre Schultern. »Er hatte ein paar schlechte Kritiken, er ist nicht mehr so gefragt. Er hat sich einige Male wohl sehr seltsam benommen. Man entschuldigt nicht alles mit Starallüren. Aber vielleicht weiß Herr Delorme mehr. Würden Sie ihn fragen, Dr. Norden?«
»Das werde ich.«
»Ich stehe ja abseits, ich erfahre nichts, was nicht gerade in den Zeitungen steht. Seine Konzerte darf ich sowieso nicht besuchen. Das stört ihn. Ich bleibe auch lieber zu Hause bei Bobby. Da habe ich ihn dann wenigstens ganz für mich. Ja, es ist besonders schlimm geworden, seit Carlo so viel zu Hause ist.«
»Eine Scheidung kostet viel Geld«, sagte Dr. Norden nachdenklich.
»Das hat Marc auch gesagt, und darum will Carlo wohl auch keine Trennung.«
»Sie haben eine beträchtliche Mitgift in die Ehe gebracht, wie ich annehme.«
»Ich habe da nie egoistisch gedacht, aber mein Vater ist ein kühler Geschäftsmann. Er hat Sicherheitsventile eingebaut, wie er es selbst bezeichnet.«
»Dann denken Sie vorerst mal an Bobby«, sagte Dr. Norden.
»Aber ich lebe in ständiger Angst, dass etwas passieren könnte. Ich kann nicht mehr schlafen.«
»Ich gebe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel, aber sprechen Sie alles noch einmal mit dem Anwalt durch. Sie vertrauen ihm?«
»O ja, er wird mir nicht falsch raten.«
»Und Ihre Familie?«
»Auf meinen Bruder kann ich mich auch verlassen. Meine Eltern sind natürlich nicht erbaut, dass es so gekommen ist, wie sie es vermutet haben. Ich bekomme schon immer wieder Vorwürfe zu hören. Ja, ich war jung, dumm und blind verliebt. Ich habe alles eingesehen, aber ich muss es nun auch ausbaden.«
Sie bemühte sich, tapfer zu sein, aber sie war im Innersten verzweifelt, und Dr. Norden wusste jetzt auch nicht, wie man ihr helfen könnte. Es war ein menschliches Schicksal, das ihm zu Herzen ging. Seine Frau Fee bekam es zu spüren, aber sie teilte ja alles mit ihm, und sie rief auch gleich in Zürich an, um David Delorme zu sprechen. Allerdings konnte sie nur seine Frau Katja erreichen, die sich allerdings sehr freute. Nur wenigen war bekannt, dass Katja Delorme nicht Fee Nordens richtige Schwester war. Katjas Mutter Anne hatte Dr. Cornelius, Fees Vater, in zweiter Ehe geheiratet.
Hatte Katja sich auch ganz dem Leben ihres Mannes angepasst und nicht viel Zeit für die übrige Familie, zu Fee hatte sie ein besonders herzliches Verhältnis gefunden.
»Was, den Callenberg habt ihr im Visier?«, fragte sie. »Der ist doch weg vom Fenster. Da geht es nur noch bergab. Was meinst du, was David mit ihm alles erlebt hat. In Paris hat er die Proben total geschmissen. Seine Frau ist doch eigentlich sehr nett, aber diese Affären, nein, die würde ich mir nicht bieten lassen.«
»David hat doch keine«, sagte Fee beruhigend.
»Das würde ihm auch nicht bekommen. Aber ich lasse ihn ja auch nicht aus den Augen. Außerdem ist er nicht so schizophren wie Callenberg. Einen Tick haben sie ja alle, diese Künstler, aber ich weiß zum Glück genau, wie ich meinen Mann behandeln muss.«
»Es kann doch nicht nur an der Frau liegen«, sagte Fee nachdenklich.
»Bei Callenberg bestimmt nicht, bei dem liegt es an zu vielen Frauen. Er sonnt sich darin, dass sie ihm zu Füßen liegen, David sehnt sich mehr nach seinem Bett.«
Katja sah es nach sieben Ehejahren schon gelassen. Früher war sie auch manchmal aus dem Häuschen geraten, wenn er zu sehr umschwärmt wurde, aber Fee gefiel es, wie munter sie plauderte.
Und dann konnte sie ihrem Mann sagen, dass Callenberg anscheinend mehrere Affären hatte.
»Das müsste bei einer Scheidung doch gegen ihn sprechen«, sagte er.
»Es muss bewiesen werden. Er scheint raffiniert zu sein. Jedenfalls wird Katja jetzt Augen und Ohren offen halten.«
»Bei ihnen ist alles okay?«
»Dafür sorgt sie schon. David braucht solche Frau.«
»Er will sie ja auch immer im Visier haben, in allen Konzerten«, lächelte Daniel amüsiert.
»Du lässt mich ja auch nicht allein ausgehen«, lachte Fee.
»Willst du es?«
»Gott bewahre mich. Wie können wir Viktoria Callenberg helfen?«
»Ich weiß es nicht, Fee. Ich denke, dass er sie mit solchen Drohungen nur unter Druck setzt, damit sie die Scheidung nicht einreicht.«
Aber Viktoria war nun bereit dazu, da ihr Mann ihr eine schreckliche Szene gemacht hatte, als sie nach Haus kam.
Er hatte gleich einen furchterregenden Eindruck auf sie gemacht, als er sie barsch fragte, wo sie sich herumgetrieben hätte.
Sie beherrschte sich, da sie Mieke, die Haushälterin, nahe wusste, der sie trauen konnte.
»Ich war bei Dr. Norden«, erwiderte sie mit erzwungener Ruhe.
»Dieser Wald- und Wiesendoktor. Wenn du krank bist, geh in eine Klinik«, fauchte er sie an.
»Ich bin nicht krank«, erwiderte sie.
»Und warum gehst du dann zum Arzt? Ach ja, er ist ja ein charmanter Mann, so ein richtiger Frauenheld.«
»Das ist er gewiss nicht«, widersprach Viktoria gereizt. »Er ist glücklich verheiratet, hat eine bildschöne Frau und fünf Kinder.«
Er kniff die Augen zusammen. »Wie die Proleten, direkt asozial, aber man kann ja eine Menge Kindergeld kassieren.«
»Ich finde solche Bemerkungen ziemlich geschmacklos«, sagte Viktoria eisig. »Geh du doch mal in eine Klinik und lass dich gründlich untersuchen.« Nun war ihr das doch noch herausgerutscht. Sie hatte sich nicht mehr beherrschen können.
Er stürzte auf sie zu, beschimpfte sie mit den übelsten Ausdrücken und schien auf sie einschlagen zu wollen, aber da kam Bobby hereingestürzt. Wie versteinert blieb das Kind stehen und starrte den Vater mit angstvollen Augen an. »Warum beschimpfst du Mami dauernd?«, fragte er bebend.
Carlo nahm sich zusammen. »Ich war ärgerlich, weil sie dich allein gelassen hat, Bobby«, sagte er.
»Ich war nicht allein. Mieke ist doch da, und sie passt auf mich auf. Mami war doch gar nicht lange weg. Und wir wissen immer, wo sie ist. Du sagst das nie, wenn du weggehst.«
»Geh ins Bett, du hast dich gar nicht einzumischen«, stieß Carlo hervor.
Bobby sah seine Mutter fragend an. Sie nickte. »Mieke wird dir zu essen geben, Bobby«, sagte sie leise.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte der Junge trotzig, aber er verschwand.
»Ich habe heute noch eine Verabredung«, sagte Carlo kühl, »meine Anwesenheit bleibt dir erspart.«
»So kann es auch nicht weitergehen«, erklärte Viktoria. »Dieses Leben ist für mich unerträglich geworden.«
»Dann bring dich doch um«, sagte er böse, und darauf verließ auch sie das Zimmer.
Wenig später verließ er das Haus. Schnell ging Viktoria zu Bobby. Er saß auf dem Fensterbrett und starrte in den Garten.
»Ist er weg, Mami?«, fragte er.
»Ja, aber er wird wiederkommen.«
»Ich will aber nicht wieder zu den anderen Großeltern«, sagte der Kleine.
»Hat er das gesagt?«, fragte Viktoria vorsichtig.
»Nicht so, aber er hat gesagt, dass es da doch sehr schön ist. So schön ist es aber nicht. Er will nicht, dass ich dich lieb habe, aber ich habe dich lieb, Mami.«
»Ich habe dich auch sehr lieb, Bobby.« Sie unterdrückte ein Schluchzen.
»Du bist immer so traurig und so blass, Mami.«
Viktoria verlor jetzt doch die Fassung. »Ich habe mich schrecklich aufgeregt, weil er so einfach weggefahren ist mit dir, Bobby«, flüsterte sie. »Und ich hatte Angst.«
»Ich wollte ja mit dir telefonieren, aber sie haben es nicht erlaubt. Ich war so froh, als Phil gekommen ist, sonst hätten sie mich noch nach Amerika mitgenommen.«
Plötzlich war Viktoria ganz da. »Haben sie das gesagt?«, fragte sie.
»Sie haben darüber geredet, Mami. Sie haben gedacht, dass ich schlafe, aber ich habe nicht geschlafen. Warum ist Papi jetzt eigentlich so oft böse? Stimmt es, dass du weg willst, wegen einem anderen Mann?«
»Nein, das stimmt nicht, Bobby. Ich will nur dich nicht verlieren«, flüsterte sie.
»Aber ich will doch gar nicht weg von dir und Mieke. Warum ist Papi jetzt so oft zu Hause?«
Ja, warum, dachte Viktoria, so lange hat er doch nie Urlaub gemacht.
Sie ging dann zu Mieke, die recht trübsinnig in der Küche saß.
»War was los?«, fragte Viktoria ganz beiläufig.
»Ich weiß nicht. Zuerst ist ein Eilbrief gekommen, und dann hat er ein paarmal telefoniert. Um Bobby hat er sich jedenfalls nicht gekümmert, aber gepasst hat ihm auch nichts. Man kriegt ja richtig Angst vor ihm. Wenn Sie nicht wären, würde ich kündigen.«
»Tun Sie mir das nicht auch noch an, Mieke«, sagte Viktoria.
»Sie halten das doch auch nicht mehr lange durch, so dünn und durchsichtig, wie Sie jetzt schon sind«, sagte Mieke.
»Ich muss durchhalten, Mieke«, sagte Viktoria leise. »Es geht um Bobby. Aber wenn Sie gehen würden …«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich halte schon zu Ihnen, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Mieke rasch.
*
Am nächsten Morgen war Carlo wieder ganz der Alte, jedenfalls schien es so. Er war spät in der Nacht heimgekommen, obgleich sie schon lange getrennte Schlafzimmer hatten, hatte Viktoria ihn kommen hören.
Er müsse drei Tage nach London fliegen, sagte er. Nähere Erklärungen gab er nicht, aber die gab er ja auch schon lange nicht mehr. Von Bobby verabschiedete er sich auch nicht mit so viel Getue wie sonst, und so atmete Viktoria auf, als er in das Taxi stieg, das ihn zum Flughafen bringen sollte.
Mieke schüttelte nur den Kopf, und Bobby freute sich, als Viktoria sagte, dass sie den schönen Tag nützen wollten, um in den Tierpark zu fahren.
Sie fuhren auch bald los, und Viktoria merkte nicht, dass sie verfolgt wurden. Sie wäre auf solchen Gedanken auch niemals gekommen.
Merkwürdig kam es ihr erst vor, als sie auch im Tierpark mehrmals denselben Mann trafen, und der dann sogar versuchte, mit Bobby zu sprechen. Aber Bobby war scheu, und Viktoria legte nicht den geringsten Wert darauf, mit einem wildfremden Mann ins Gespräch zu kommen, auch wenn er es noch so geschickt anfing.
Bobby freute sich an den kleinen Affen und vor allem an den Löwenbabys, die so niedlich miteinander spielten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mal groß und wild werden, Mami«, sagte er nachdenklich. »Sie sind doch so niedlich.«
Viktoria fand es auch immer noch unbegreiflich, wie Menschen sich verändern konnten, vor allem ihr Mann, der doch so liebenswürdig und charmant gewesen war, als sie sich kennenlernten, und in seinen Augen war jetzt auch manchmal so ein tückischer Ausdruck, wie bei jenem ausgewachsenen Tiger, der mit seiner Pranke durch das Gitter schlug und fauchte, sodass Bobby Angst bekam und schnell weitergehen wollte.
Er war dann auch müde geworden, und sie fuhren wieder heim. Doch auf dieser Fahrt fiel es Viktoria auf, dass ihnen ein unauffälliger grauer Wagen folgte und sie erkannte jenen fremden Mann am Steuer, als sie in den Rückspiegel schaute, der Bobby angesprochen hatte.
Bobby hatte ihn auch erkannt. »Der Mann vom Tierpark fährt hinter uns her, Mami«, sagte er.
»Wenn es ihm Spaß macht«, sagte Viktoria rau. »Setz dich, Bobby, schau nicht zurück!«
Bobby setzte sich, doch nun war Viktoria hellwach und beobachtete, wie ihnen dieser Wagen auch bis zur Straße folgte, in der sie wohnten, dann aber in einer Seitenstraße verschwand.
Ich werde doch nicht schon an Verfolgungswahn leiden, ging es ihr durch den Sinn, als sie von Mieke empfangen wurden.
»Herr Callenberg hat angerufen«, sagte Mieke. »Er ist gut in London gelandet, soll ich ausrichten.«
»Wie aufmerksam«, sagte Viktoria spöttisch, »das ist schon lange nicht mehr dagewesen.«
»Ich habe gesagt, dass Sie mit Bobby in den Tierpark gefahren sind«, erklärte Mieke.
»Es war auch ganz toll, nur der Tiger war böse«, sagte Bobby. »Aber jetzt habe ich Hunger.«
Mieke enteilte sofort in die Küche, und bald stand das Essen auf dem Tisch.
»Eigentlich ist es schöner, wenn wir allein sind, Mami«, sagte Bobby gedankenvoll. »Ich mag es nicht, wenn Papi immer schimpft.«
»Ich mag es auch nicht, Bobby«, sagte Viktoria, »aber du bekommst doch alles von ihm, was du haben willst.«
»Na ja, das schon, aber er will dich doch nur ausstechen«, sagte der Kleine.
Kann ein Vierjähriger das schon so nüchtern sehen, dachte Viktoria bestürzt.
»Wie meinst du das, Bobby?«, fragte sie beiläufig.
»Weil du manchmal sagst, dass Kinder nicht alles haben müssen, was sie gerade sehen. Eigentlich ist das ja auch so. Hinterher mag man die Sachen gar nicht mehr, wenn man sie bekommen hat, dann sind sie nämlich gar nicht so schön, wie man denkt.«
»Und das weiß man dann erst, wenn man es hat, und es liegt in der Ecke«, sagte Viktoria. »Mütter wissen das schon, Bobby. Wenn man sein Kind richtig lieb hat, weiß man das.«
»Und warum sagt Papi immer, dass er mich viel lieber hat als dich?«
»Es wird schon stimmen, Bobby«, erwiderte sie leise.
»Hast du mich auch mehr lieb als ihn?«, fragte der Junge.
Ihr war die Kehle eng, aber dann sagte sie: »Ja, ich liebe dich viel mehr, mein Kind.«
»Alles kann ich ja noch nicht verstehen, Mami«, sagte Bobby, »aber ich kann es nicht leiden, wenn er dich beschimpft. Da kann ich richtig traurig sein.«
Viktoria rang mit sich, aber sie brachte es dann doch nicht fertig, Bobby zu fragen, ob er lieber bei dem Papi oder lieber bei ihr bleiben würde.
*
Carlo kam schon am nächsten Tag zurück und er war übelster Laune. Zufällig bemerkte sie, dass er vor dem Abendessen drei Tabletten schluckte und dann ein Glas Whisky darauf trank. Appetit hatte er nicht mehr und zog sich gleich zurück.
Sie hörte, wie er telefonierte, und seine Stimme klang laut und schrill. Zu horchen brauchte sie eigentlich nicht, aber es interessierte sie doch, was er sagte.
»Das kann man nicht mit mir machen, das nicht! Dahinter steckt doch eine Intrige, und ich ahne auch schon, wem ich das zu verdanken habe. Aber sie wird es büßen.«
Nun erschrak Viktoria bis ins Innerste, und graue Nebel wallten vor ihren Augen. Mühsam schleppte sie sich in ihr Zimmer, und es war ihr, als würde sich alles im wilden Wirbel um sie drehen. Bis zu ihrem Bett kam sie noch, aber dann sank sie ohnmächtig zu Boden.
Mieke betrat zehn Minuten später das Zimmer, weil sie Viktoria fragen wollte, ob sie denn nicht wenigstens etwas essen wolle, und Mieke machte kurzen Prozess. Sie rief Dr. Norden an, und da er nicht mehr in der Praxis war, wählte sie auch die Privatnummer.
»Mit wem telefonieren Sie?«, wurde sie von Carlo angeherrscht, als Dr. Norden sich gerade gemeldet hatte.
»Mit Dr. Norden«, erwiderte Mieke. »Frau Callenberg liegt ohnmächtig vor dem Bett.«
Dr. Norden war schnell da, und nun zeigte sich Carlo Callenberg von einer ganz anderen Seite.
Er spielte den überaus besorgten Ehemann und erklärte, dass Viktoria schon seit Wochen krankhafte Veränderungen zeige.
»So kann man das wohl nicht nennen«, erklärte Dr. Norden kühl, da er ja wusste, was Viktoria quälte. Nun aber kam sie wieder zu sich.
»Würden Sie mich bitte allein mit meiner Frau sprechen lassen, Herr Doktor«, sagte Carlo hastig, als Viktoria die Augen aufschlug, doch da hob sie abwehrend die Hände.
»Nein, ich will nicht, ich will nicht mehr«, murmelte sie.
»Du wirst doch jetzt einsehen, dass du in klinische Behandlung gehörst«, sagte Carlo betont.
»Ihre Frau ist organisch völlig gesund«, erklärte Dr. Norden darauf.
»Er soll gehen«, stieß Viktoria hervor.
Ein stechender Blick traf Dr. Norden. »Ich möchte Sie dann sprechen«, sagte er scharf.
Viktoria atmete ruhiger, als er den Raum verlassen hatte, dann erzählte sie stockend, was sie gehört, und worüber sie sich aufgeregt hatte.
»Ich habe Angst vor ihm«, flüsterte sie. »Er will mir Bobby nehmen. Er plant etwas. Da ist wieder etwas schiefgegangen und die Schuld will er mir in die Schuhe schieben.«
»Sie dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren, Frau Callenberg. So kann es freilich nicht weitergehen. Besprechen Sie alles mit Ihrem Anwalt. Ich werde jetzt mit Ihrem Mann sprechen.«
»Er wird sagen, dass ich phantasiere und nicht mehr zurechnungsfähig bin. Darauf geht es doch hinaus, um mir Bobby zu nehmen«, schluchzte sie.
»Nun, ich kann bestätigen, dass Sie voll zurechnungsfähig sind, und auch ein anderer Arzt kann nichts anderes sagen. Es wird allerdings bei der Scheidung zur Sprache kommen, welchen psychischen Druck er auf Sie ausgeübt hat.«
»Er wird alles bestreiten.«
Das bekam Dr. Norden bald bestätigt. Carlo erklärte herablassend, dass er Bobby deshalb zu seinen Eltern gebracht hätte, weil Viktoria schon einen so nervösen und dann wieder apathischen Eindruck auf ihn gemacht hätte, und er hätte Sorge gehabt, sie allein mit dem Jungen zu lassen, da er eine Konzertreise machen musste.
»Dafür werden Sie ja wohl Beweise erbringen können«, sagte Dr. Norden eisig. »Das wird selbstverständlich vor Gericht zur Sprache kommen.«
»Wieso vor Gericht? Ich habe nicht die Absicht, vor Gericht zu gehen. Und meine Frau wird es sich wohl überlegen müssen. Sie ist eifersüchtig, weil der Junge so an mir hängt, sie ist überhaupt krankhaft eifersüchtig. Sie ist in erster Linie immer die Tochter von Dietrich Vandamme geblieben. Dass ein Künstler sich nicht so einengen lassen kann, dass er keine solche Krämerseele besitzt, will sie nicht begreifen.«
Daniel Norden musste sich beherrschen, um ihm nicht eine rigorose Abfuhr zu erteilen, aber das würde für Viktoria alles nur noch schlimmer machen.
»Ich kenne die Vandammes, und ich kenne Ihre Frau auch schon recht lange, um zu sagen, dass Ihre Anschuldigungen nicht zutreffen. Sie sollten mit derlei Behauptungen vorsichtig sein, Herr Callenberg.«
»Und Sie sollten sich nicht einseitig beeinflussen lassen. Meiner Ansicht nach gehört meine Frau in fachärztliche Behandlung.«
»Die Diagnose müssen Sie schon mir überlassen. Ihre Frau braucht das Kind. Es war ein schlimmer Schock für sie, als sie mit dem Kind verschwunden waren. Mir ist diese Geschichte bekannt, Herr Callenberg.«
»So, wie meine Frau sie erzählt hat. Aber ich brauche mich nicht zu rechtfertigen. Schließlich bin ich Bobbys Vater.«
Es war sinnlos, die Diskussion darüber fortzuführen. Aber Dr. Norden verließ dieses Haus mit einem großen Unbehagen und mit bangen Ahnungen.
Dr. Norden hatte Viktoria zwar nur ein leichtes Schlafmittel gegeben, aber sie war so erschöpft, dass dies dennoch lange wirkte, aber auch bewirkte, dass sie sich beim Erwachen wohler fühlte. Es war neun Uhr vorbei, aber es war sehr still im Haus.
Als sie in die Küche kam, gab Mieke ihrer Freude Ausdruck, dass sie so gut geschlafen hätte und viel wohler aussähe.
»Wo ist Bobby?«, fragte Viktoria.
»Herr Callenberg ist mit ihm in die Stadt gefahren, damit Sie nicht gestört werden. Er hat Bobby mit zur Probe genommen.«
Man konnte Mieke nicht vorwerfen, dass sie dabei keine Hintergedanken hatte, aber Viktoria geriet schon wieder in Erregung.
»Was für eine Probe soll das sein und wo?«, fragte sie hastig.
Mieke zuckte die Schultern. »Herr Callenberg sagt mir doch nichts«, erwiderte sie.
»Wann sind sie gefahren?«
»Schon gleich nach acht Uhr.«
Viktorias Gedanken überstürzten sich. Sie griff zum Telefon, aber nach dem dritten Gespräch ergriff sie Panik, denn sie konnte nicht erfahren, dass irgendwo eine Konzertprobe war. Und was sie besonders irritierte, war der reservierte Ton, mit der ihr diese Auskunft erteilt wurde.
In Windeseile kleidete sie sich an. Dann rief sie ihren Bruder an. »Ich muss unbedingt mit Marc sprechen«, sagte sie erregt.
»Dann ruf ihn doch an, Vicky«, erwiderte Philipp, »aber jetzt wird er auf dem Gericht sein.«
»Bitte, vereinbar du einen Termin mit ihm, Phil. Ich komme dann zu dir.«
»Ist wieder etwas passiert?«, fragte er.
»Carlo ist mit Bobby weggefahren, angeblich zu einer Probe, aber nirgendwo findet eine statt.«
»Es gibt doch viele Möglichkeiten«, sagte er beruhigend. »Du musst die Nerven behalten, Vicky.«
Das war leicht gesagt. Gedanken machte er sich auch, aber mehr um seine Schwester.
Viktoria fuhr los. Erst zum Studio der Schallplattenfirma, mit der Carlo arbeitete. Sie hatte alle Hemmungen beiseitegeschoben. Sie war hier nie persönlich in Erscheinung getreten, und nun spürte sie, dass sie fast mitleidig gemustert wurde.
Es fänden keine Proben statt und auch in absehbarer Zeit würden keine mit Carlo stattfinden, bekam sie zu hören.
»Sie müssen doch auch informiert sein, dass er sich in einem Tief befindet, Frau Callenberg. Er braucht eine längere Ruhepause«, erklärte ihr der Produzent. »So bedauerlich das ist, aber wir sind ja nicht die Einzigen, die diesen Standpunkt vertreten.«
Trotz dieses niederschmetternden Bescheides fuhr Viktoria noch zu der Agentur, mit der Carlo im Vertrag war. Da bekam sie aber noch deutlicher zu hören, dass er zu viel trinke, dass er sich das mit seinen Allüren und Affären selbst eingebrockt hätte. Es würde jetzt auch nichts nützen, wenn sie mit Entschuldigungen käme.
»So ist es doch nicht«, erklärte sie tonlos. »Er ist heute morgen mit meinem Sohn angeblich zu einer Probe gefahren. Ich habe Angst um Bobby.«
Sie hatte es gesagt, sie hatte den Schatten übersprungen, alles in sich selbst abzumachen.
Nun war sie quer durch die Stadt gefahren und das hatte viel Zeit gekostet. Es war bereits nach zwölf Uhr, als sie völlig aufgelöst im Büro ihres Bruders ankam. Und dort war auch Dr. Marc Rogahn anwesend.
»Jetzt setz dich erst mal, Vicky«, sagte Philipp. »Ich rufe bei euch an. Vielleicht ist er mit Bobby längst wieder zu Hause.«
Aber so war es nicht, und Mieke war nun auch schon ganz außer sich.
Es dauerte einige Zeit, bis Viktoria erzählen konnte, was sich in den letzten beiden Tagen zugetragen hatte, auch, was Bobbys Kindermund weitergegeben hatte.
Marc Rogahn redete beruhigend auf sie ein. »Jetzt müssen wir den Tatsachen ins Auge blicken, Viktoria«, sagte er. Allein schon seine dunkle Stimme war beeindruckend. Er war in allem das Gegenteil von Carlo. Groß, breitschultrig, sportlich und bedächtig. Ihm kam kein unüberlegtes Wort über die Lippen, und das machte auch seinen beruflichen Erfolg aus. Er mochte es nicht, wenn man ihn als Staranwalt bezeichnete. Ein paar spektakuläre Fälle hatten ihm dieses Image eingebracht, aber ihm lag es mehr, jene zu vertreten, die ihre Rechte gar nicht begriffen und von den Reicheren in die Enge getrieben wurden.
»Welche Tatsachen?«, fragte Viktoria. »Tatsache ist, dass er mir Bobby mit allen Mitteln nehmen will. Und mich will er zu einer Irren stempeln.«
»Tatsache ist, dass er kein Engagement mehr bekommt wegen seiner Unzuverlässigkeit, und das ist noch sehr diskret ausgedrückt. Die schlechten Kritiken hätten noch viel deutlicher ausfallen müssen, wenn er nicht noch einen gewissen Bonus gehabt hätte. Aber damit ist es jetzt auch vorbei. Vorgestern hat er Anthony Spring geohrfeigt.«
»Den Pianisten?«, fragte Viktoria fassungslos. »Warum?«
Marc und Philipp tauschten einen Blick, dann sagte Marc: »Vor gewissen Tatsachen darfst du jetzt nicht mehr die Augen verschließen, Viktoria. Carlo hatte mit Nadja Spring eine heiße Affäre, bevor sie sich für Anthony entschied. Sie erwartet ein Kind. Ich kann kein Urteil über diese Frau abgeben, da ich sie nicht kenne, aber Carlo nannte sie eine trächtige Kuh, und sie ihn einen blasierten Lümmel, und Anthony Spring hat dann auch noch gesagt, dass Carlo schon vergessen sei. Die Weiber und der Suff …, du kennst doch diesen Slogan, Viktoria.«
Viktoria schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Vater hatte ja so recht«, flüsterte sie.
»Denken wir jetzt mal nicht daran«, warf Philipp ein. »Es geht um deine und Bobbys Zukunft. Und sag jetzt bloß nicht, dass du ihn in dieser Situation nicht im Stich lassen kannst.«
»Ich wäre doch schon längst gegangen, wenn er mir Bobby gelassen hätte«, sagte Viktoria tonlos, »aber an dem Kind hängt er mit fanatischer Liebe.«
»Er ist sein Faustpfand, Viktoria«, sagte Marc. »So musst du es sehen. Die fanatische Liebe lassen wir jetzt auch beiseite. Carlo hat mehr Schulden als Haare auf dem Kopf, aber du bist eine Vandamme.«
»Seine Eltern sind doch auch vermögend«, flüsterte Viktoria.
»Und wahnsinnig stolz auf ihren prominenten Sohn, aber so langsam werden sie es auch spitzkriegen, dass er auf dem absteigenden Ast ist. Um es kurz zu sagen: Ich habe schon einige Einzelheiten zusammengetragen, die bei dem Scheidungsurteil zu deinen Gunsten stehen. Du bekommst Bobby auf jeden Fall zugesprochen«, erklärte Marc.
»Du glaubst doch nicht, dass er mich dann in Ruhe lässt, Marc«, sagte Viktoria bebend.
»Wir werden dich und Bobby freikaufen«, sagte Philipp, »und in seiner Situation wird Carlo damit einverstanden sein müssen. Wir haben das alles schon durchgesprochen, und unsere Eltern lassen dich nicht im Stich, Vicky.«
»Er hat gesagt, dass er sich und Bobby umbringen würde.« Viktoria schluchzte es heraus.
»Ach was, denk das noch nicht, nimm es nicht als bare Münze«, sagte Philipp. »Dazu ist er viel zu feige.«
»Und außerdem hat Carlo für den Notfall noch die millionenschwere Mrs Atkinson im Rücken. Sie ist zwar fünfzig, aber sie ist sein Notanker.«
Viktoria starrte ihn an. »Wie hast du das alles herausgebracht, Marc?«, fragte sie.
»Es gibt Privatdetektive, Viktoria«, erwiderte er.
»Hat der mich etwa auch beobachtet?«, fragte sie nach langem Überlegen aufblickend.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Marc wachsam.
»Weil wir auch von einem Mann verfolgt wurden, als ich mit Bobby im Tierpark war. An einen Detektiv habe ich da allerdings nicht gedacht.«
Marcs Augenbrauen schoben sich zusammen. »Wurdest du heute auch verfolgt?«, fragte er.
»Darauf habe ich nicht geachtet.«
»Dich habe ich nicht beobachten lassen«, erklärte er.
»Dann vielleicht er«, sagte Viktoria. »Ich will Bobby behalten, sonst nichts. Reich die Scheidung ein, Marc.«
*
Bobby hatte nichts dagegen gehabt, mit seinem Vater zu einer Probe zu fahren. Carlo hatte ihn schon früher manchmal mitgenommen, um sich auch als glücklicher Vater eines musikalischen Sohnes zu produzieren, und zu aller Erstaunen hatte sich Bobby dann immer sehr ruhig und aufmerksam verhalten.
Diesmal wurde er aber merklich unruhig, da die Fahrt ihm zu lange dauerte.
»Wo ist denn die Probe, Papi?«, erkundigte er sich, »das ist doch schon gar nicht mehr München.«
»Die Probe ist diesmal woanders, Bobby«, erwiderte Carlo. »Es wird dir gefallen.«
»Aber mittags sind wir doch wieder zu Hause? Da hat Mami bestimmt ausgeschlafen.«
»Deine Mami ist sehr krank, Bobby. Sie muss in die Klinik, aber wenn es ihr besser geht, kannst du sie besuchen«, sagte Carlo.
»Ich will sie aber lieber bald besuchen«, sagte der Kleine zitternd. »Sie wird mich doch vermissen.«
»Sie vermisst dich nicht. Sie will dich überhaupt nicht sehen«, sagte Carlo gereizt.
Angstvoll schwieg Bobby. Jetzt klang die Stimme seines Vaters wieder so, dass es ihn bange machte. Er wusste auch nicht, was er denken sollte. Schließlich war er erst vier Jahre und hatte in der letzten Zeit so manches erlebt, was ihm gar nicht gefallen konnte.
»Aber zu den Großeltern will ich nicht wieder, nicht so weit weg«, sagte er nach einer Zeit trotzig.
Carlo hatte sich einen schlauen Plan zurechtgelegt.
»Wir fahren jetzt dorthin, wo Mami sich erholen soll«, erklärte er. »Sie wird bald nachkommen.«
»Nicht zu einer Probe?«, fragte Bobby.
»Ich probe etwas mit dir. Du kannst doch so hübsch singen, und Mami wird sich freuen, wenn wir ihr das Tonband schicken.«
So ganz wollte Bobby das nicht glauben, aber was sollte er jetzt sagen? Er wusste auch nicht, wie lange sie nun schon fuhren. Ihm kam es unendlich lang vor. Und weil die Sonne vom Himmel herabbrannte, wurde er auch müde.
Viktoria war zu dieser Zeit schon wieder daheim und lief ruhelos hin und her. Mieke führte Selbstgespräche und bedachte den Hausherrn dabei mit äußerst unfreundlichen Worten. Aber als die Zeiger der Uhren immer weiter vorrückten und Carlo noch immer nicht mit dem Kind zurückkam, war es mit Viktorias erzwungener Fassung restlos vorbei.
Sie rief ihren Bruder an, aber schon während des Gesprächs bekam sie einen Weinkrampf. Mieke wusste nun auch nicht mehr, wie sie Viktoria beruhigen könnte und in ihrer Angst rief sie wieder Dr. Norden herbei.
Auch diesmal kam er schnell und voll banger Ahnung, dass Viktorias Befürchtungen nun doch Wirklichkeit werden könnten.
Philipp Vandamme hatte Marc zu Hilfe gerufen. Gemeinsam waren sie jetzt auf dem Weg zu Viktoria. Philipp hatte das Radio eingeschaltet.
Verkehrsbehinderungen wegen eines schweren Unfalls auf der B 12 wurden durchgesagt.
»Gut, dass wir da noch ausweichen können«, sagte er. »Ich glaube, Vicky ist tatsächlich klinikreif.«
»Er ist schuld«, stieß Marc hervor. »Man muss eine Rossnatur haben, um das zu ertragen, und wenn er wieder auf und davon ist mit dem Jungen …« Er versank in Schweigen.
»Du denkst doch nicht, dass er seine Drohungen wahrmacht?«, fragte Philipp erregt.
»Ich will es nicht denken, Phil, aber ein Mann in seiner Situation, wozu mag er fähig sein? Er hat gedacht, dass er sich alles erlauben kann. Bei ihr drehte sich eben alles um Bobby. Innerlich war sie schon lange weit von Carlo entfernt. Ihre Illusionen waren schnell dahin. Ich möchte sagen, dass sie doch zu sehr eine Vandamme war, und da eure Eltern Carlo nicht akzeptierten …«
»Sie haben ihm das Talent nicht abgesprochen«, fiel ihm Philipp ins Wort. »Menschlich passte er nicht zu uns in seiner maßlosen Überheblichkeit. Wir können nicht heucheln.«
»Ich weiß es, Phil. Viktoria musste sich seiner menschlichen Schwächen erst bewusst werden, und nun haben wir den Beweis, dass er sich selbst überschätzt hat. Wenn die Hände zittern, kann man nicht mehr Geige spielen, und wenn einem gar der Bogen aus der Hand fällt …, aber das wissen wir ja nun schon. Und dann liegen so einem die Frauen auch nicht mehr zu Füßen. Die Anbetung hat ihm Viktoria versagt. Dazu hat sie zu viel Stolz.«
»Sie hat lange geschwiegen«, sagte Philipp. »Sie hätte doch wissen müssen, dass wir zu ihr stehen.«
»Sie hat sich geschämt, so sehr wurde sie gedemütigt. Doch, ich verstehe das. Es zerbrechen viele Frauen an Selbstvorwürfen, wenn sie, sehr jung noch, eine Ehe ertrotzt haben.«
»Sie ist sechsundzwanzig, soll da alles schon vorbei sein?«, sagte Philipp tonlos.
»Hoffen wir, dass es nicht so schlimm ist, wie es jetzt scheint«, erwiderte Marc düster.
*
Als sie am Ziel waren, war Dr. Norden im Gehen begriffen.
Er sah Philipp ernst an. »Im Augenblick ist nicht viel zu helfen«, sagte er. »Ich komme nach der Sprechstunde nochmals. Aber es wäre gut, wenn sie jetzt nicht allein wäre, Herr Vandamme.«
»Wir bleiben bei ihr. Das ist Dr. Rogahn, mein Freund, der Viktoria anwaltschaftlich vertritt, Dr. Norden.«
In diesem Augenblick hielt ein Funkstreifenwagen vor dem Haus. Ein junger Beamter sprang heraus, der Dr. Norden anscheinend kannte.
»Weiß Frau Callenberg etwa schon Bescheid?«, fragte er rau.
»Was sollte sie wissen?«, fragte Dr. Norden, von banger Ahnung erfüllt.
»Der Unfall auf der B 12. Herr Callenberg ist schwer verunglückt. Er ist in die Behnisch-Klinik gebracht worden.«
Philipp und Marc standen wie versteinert.
»Was ist mit Bobby?«, fragte Dr. Norden.
»Bobby?«, fragte der junge Beamte konsterniert.
»Herr Callenberg hatte doch seinen Sohn bei sich«, stieß Dr. Norden erregt hervor.
»Ein Kind war nicht im Wagen«, kam die rasche Erwiderung.
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Marc nun zögernd.
»Ganz sicher«, erwiderte der Beamte.
Dr. Norden überlegte kurz. »Ich werde mich noch erkundigen. Sagen Sie Ihrer Schwester noch nichts, Herr Vandamme. Ich komme zurück, sobald ich kann. Ich erkundige mich auch in der Behnisch-Klinik.«
Viktoria saß völlig apathisch in einem Sessel, als Philipp und Marc den Wohnraum betraten. Blicklos sah sie die beiden Männer an.
»Er hat es wahrgemacht, er hat mir Bobby weggenommen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich hätte es tun müssen. Ich hätte mich mit Bobby verstecken müssen. Du hast es mir ausgeredet, Marc«, sagte sie nun vorwurfsvoll.
»Du hättest damit alles schlimmer gemacht, Viktoria«, erwiderte er. »Jetzt bist du im Vorteil.«
Ihm rieselte ein Frösteln über den Rücken, als er das gesagt hatte, da er nun denken musste, was mit dem Kind geschehen sei.
»Du wirst Bobby zurückbekommen, Vicky«, sagte Philipp heiser.
»Ich glaube es erst, wenn er wieder bei mir ist.« Sie sprang plötzlich auf. »Ich werde die Polizei einschalten. Ich warte nicht mehr länger.«
Philipp hielt sie fest, als sie zum Telefon gehen wollte. »Das brauchst du nicht, Vicky. Die Polizei ist bereits informiert. Carlo hatte einen Unfall, aber Bobby war nicht im Wagen.«
Sie sah ihn ungläubig an. »Bobby war nicht im Wagen«, wiederholte sie schleppend. »Was verheimlicht ihr mir? Wo ist er verunglückt?«
»Auf der B 12.«
»Und wo ist Bobby?«
»Das wissen wir noch nicht. Jedenfalls war er nicht im Wagen.«
In das Schweigen hinein läutete das Telefon. Marc nahm den Hörer auf. Dr. Norden konnte ihm schon eine Auskunft geben, aber die versetzte Marc in große Unruhe.
»Ja, dann müssen wir abwarten«, sagte er, und das war alles, was Viktoria verstand.
Sie war plötzlich merkwürdig ruhig. »Du kannst mir alles sagen, nur nicht, dass Bobby nicht mehr lebt«, flüsterte sie.
»Dr. Norden hat mit Dr. Behnisch gesprochen. Carlo war bei Bewusstsein. Er sagt, dass Bobby entführt worden sei und er bei der Verfolgung des grauen Wagens ins Schleudern gekommen wäre.«
»Bei der Verfolgung des grauen Wagens«, wiederholte Viktoria bebend. »Ich glaube das alles nicht. Ich will jetzt alles ganz genau wissen.«
Und schon läutete das Telefon wieder. Diesmal meldete sich Philipp. »Ja, Papa, was ist?«, fragte er.
Marc drückte indessen Viktoria mit sanfter Gewalt wieder in einen Sessel.
»Dann stimmt es also«, sagte Philipp. »Ich berichte euch nachher, was wir wissen. Jetzt ist nur wichtig, dass Bobby lebt.«
»Er lebt?«, schrie Viktoria auf. »Wieso weiß es Papa?«
»Eine Frau hat angerufen. Sie verlangen zwei Millionen. Aber du kannst sicher sein, dass Bobby lebt, Vicky. Papa hat mit ihm gesprochen. Und er ist auch bereit, das Lösegeld zu zahlen.«
Aus leeren Augen blickte sie ihn an. »Warum wird Papa angerufen, nicht ich?«, fragte sie.
Marc registrierte diese Bemerkung nur im Unterbewusstsein, und sie sollte ihm erst später wieder einfallen.
»Wahrscheinlich deshalb, weil sie wissen, dass bei uns das Geld zu holen ist«, erwiderte Philipp.
»Leute, die wissen, dass Carlo am Ende ist?«, sagte Viktoria bebend. »Ich will zu ihm. Ich will mit ihm sprechen. Ich denke, dass es sein Plan ist. Bobby und zwei Millionen dazu, und er weiß, dass es mein Leben kostet.«
Da umklammerte Marc ihre Schultern und schüttelte sie.
»Dein Leben? Wenn du so denkst, musst du doch erst recht leben wollen, Viktoria. Du darfst doch nicht resignieren.«
Sie lehnte ihre Stirn an seine Schulter. »Ja, du hast recht, Marc. Ich muss daran glauben, dass ich Bobby wiederbekomme.«
Sie waren zur Behnisch-Klinik gefahren. Dr. Jenny Behnisch sagte ihnen, dass Carlo nur kurz bei Bewusstsein gewesen sei.
»Die inneren Verletzungen sind schwer«, erklärte die Ärztin. »Die Konstitution des Patienten ist nicht die beste.«
»Würden Sie uns das näher bezeichnen können?«, fragte Marc.
»Die nächsten Verwandten dürfen wir in diesem Fall informieren«, erwiderte Dr. Jenny Behnisch.
»Meine Schwester ist die Ehefrau, und ich bin der Schwager«, sagte Philipp. »Und Dr. Rogahn ist unser Anwalt. Es geht auch darum, dass Herr Callenberg Bobby mitgenommen hat und der Junge verschwunden ist.«
»Herr Callenberg sagte, dass das Kind entführt wurde«, erklärte Jenny Behnisch stockend. »Aber er war nur kurz bei Bewusstsein und konnte sich dazu nicht eingehender äußern.«
Obgleich sie von Daniel Norden bereits informiert war, hielt sich Jenny sehr zurück, um nicht preiszugeben, in welch engem Kontakt sie und ihr Mann auch privat zu den Nordens standen.
So groß ihr Mitgefühl auch mit Viktoria war, hier betreuten sie jetzt einen Patienten, von dem sie bisher nicht viel mehr wussten, als dass er eben Carlo Callenberg war, und in Bezug auf ihn hatten sie auch die sensationshungrige Presse zu fürchten. Und das mochten die Behnischs nun gar nicht.
Viktoria zeigte jetzt Haltung. »Ich möchte mit Frau Dr. Behnisch allein sprechen«, erklärte sie.
Jenny konnte das nur recht sein. Sie ahnte, was Viktoria am meisten bewegte, nachdem Daniel Norden ihr schon mitgeteilt hatte, welche Probleme es in dieser Ehe gab.
»Würden Sie mir sagen, was mein Mann genau gesagt hat?«, fragte Viktoria dann auch ganz direkt. »Ich weiß doch, dass Sie mit Dr. Norden befreundet sind, und er weiß genau, wie es um meine Ehe steht. Das Leben meines Kindes allein ist mir wichtig.«
»Und wenn Herr Callenberg erklärt, dass Sie das Kind entführt haben?«, fragte Jenny.
»Das ist absurd. Wie denn? Ich habe für jede Stunde dieses Tages ein Alibi«, erwiderte Viktoria. »Ich würde doch keine Entführung inszenieren und meinen eigenen Vater erpressen wollen.«
»Ist das so?«, fragte Jenny entsetzt.
»Ja, man fordert zwei Millionen, aber für das Leben von Bobby zahlt es mein Vater.«
»Ich kann mir das nicht mehr zusammenreimen«, sagte Jenny. »Ein Patient, der unter einem Schock steht, sagt manches, was nicht beweisbar ist. Wir sind da auch sehr vorsichtig, Frau Callenberg.«
»Bitte, sagen Sie mir, wenigstens mir alles, was Carlo gesagt hat«, bat Viktoria.
»Er sagte: Bobby kannte den Mann. Tierpark, hat er gesagt. Es waren zusammenhanglose Worte, aber Sie müssen den Zustand des Verletzten in Betracht ziehen, obgleich ich verwundert war, dass er in dieser Verfassung überhaupt noch etwas sagen konnte. Er hätte den grauen Wagen verfolgt, in den Bobby eingestiegen sei, und dann geriet er ins Schleudern.«
Viktorias Gedanken wanderten. »Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll. Wo genau soll das geschehen sein? Haben Sie das erfahren? Ich weiß bisher nichts Genaues.«
»In der Nähe von Landsberg, sagte Herr Callenberg.«
»Sagte Herr Callenberg«, wiederholte Viktoria nachdenklich. »Er verließ kurz nach acht Uhr unser Haus mit meinem Sohn, um angeblich zu einer Probe zu fahren. Landsberg liegt eine Stunde von München entfernt. Vielleicht eine halbe Stunde mehr. Ich bin die Strecke noch nicht gefahren. Und wann trug sich der Unfall zu auf der B 12? Ist das genau bekannt?«
»Kurz nach sechzehn Uhr«, erwiderte Jenny.
»Ich bin zwar sehr verwirrt, aber da wird wohl noch manches zu klären sein«, sagte Viktoria. »Ich kann nur hoffen, dass Carlo noch in der Lage sein wird, präzise Auskünfte zu geben. Aber ich will jetzt nur meinen Sohn lebend wiederhaben.«
»Wir können noch nicht sagen, ob Herr Callenberg am Leben bleiben wird«, sagte Jenny Behnisch stockend.
»Wenn er diesen Unfall selbst verschuldet hat –« Viktoria unterbrach sich. »Ich muss jetzt nach Hause, falls sich die Entführer auch bei mir melden.«
»Wir werden Sie benachrichtigen, wenn Herr Callenberg bei Bewusstsein ist«, sagte Jenny leise.
»Bitte, merken Sie sich nur genau, was er sagt. Ich glaube nicht, dass er mich sehen will«, erwiderte Viktoria. Sie war wie in Trance, aber Jenny Behnisch staunte dennoch, wie klar sie denken konnte, wenn es um ihr Kind ging.
*
Sie saßen am Abend beisammen, auch Dietrich und Juliane Vandamme waren gekommen. In den Stunden der Angst, die keiner leugnen wollte, hatten sie wieder ganz zueinandergefunden. Die Worte: »Hättest du auf uns gehört, Vicky«, wurden diesmal nicht gesagt.
Drei logisch denkende Männer versuchten die Ungereimtheiten mit den bereits bekannt gewordenen Tatsachen in Einklang zu bringen.
Zu einer Probe war Carlo nachweislich nicht gefahren.
Zwischen acht Uhr morgens, als er mit Bobby das Haus verlassen hatte, und sechzehn Uhr nachmittags, als der Unfall geschah, lagen acht Stunden.
Viktoria konnte sich nicht vorstellen, dass er diese Zeit in Landsberg verbracht hatte.
»Nehmen wir einmal an, er hat Bobby weggebracht«, sagte Marc nachdenklich.
»Und die Entführung erfunden?«, warf Philipp ein.
»Lügen, in diesem Zustand?«, gab Juliane Vandamme zu bedenken.
»Ich traue ihm alles zu, sagte Viktoria bitter.
»Wir können bisher nur vermuten, dass er Bobby versteckt«, ergriff Marc wieder das Wort. »Also, nehmen wir mal an, er ist vier Stunden in Richtung Westen gefahren und vier Stunden wieder zurück …«
»Oder nur zwei Stunden und hat sich dann bis zum Nachmittag an einem unbekannten Ort aufgehalten«, sagte Dietrich Vandamme. »Damit können wir nichts anfangen. Fest steht, dass eine Frau bei mir anrief und dass ich mit Bobby gesprochen habe. Es war einwandfrei Bobby. Ich habe ihn gefragt, wie er mich nennt, und er sagte sofort ›Mopi‹. Er sagte: ›Wann kommt Mami? Papi hat gesagt …‹, aber da wurde das Gespräch unterbrochen.«
»Das hat er gesagt?«, fragte Viktoria atemlos.
»Genau so.«
»Dann muss Carlo ihm gesagt haben, dass ich nachkomme.«
»Und wir liegen nicht falsch, wenn wir annehmen, dass Carlo den Mann mit dem grauen Wagen erfunden hat.«
»Aber es gibt einen Mann mit grauem Wagen«, erklärte Viktoria und schilderte genau, wie ihnen dieser auf den Fersen blieb, als sie mit Bobby im Tierpark war.
»Er war mittelgroß, schlank und dunkelhaarig. Eigentlich nicht unsympathisch«, erklärte sie.
»Und Carlo scheint einen solchen Mann mit grauem Wagen zu kennen«, warf Philipp ein. »Wenn er dich beobachten ließ, könnte es auch ein Privatdetektiv gewesen sein.«
»Da könnten wir einhaken«, sagte Dietrich Vandamme. »Ich werde Erkundigungen einziehen lassen. Und die Frau, die bei mir anrief, könnte mit Carlo unter einer Decke stecken.«
»Wer immer da drinsteckt, er wird erfahren, dass Carlo Callenberg verunglückt ist«, sagte Philipp, »und das Lösegeld abschreiben.«
»Oder im Alleingang eintreiben«, überlegte Marc.
»Wenn sie Bobby bloß nichts antun«, flüsterte Viktoria.
»Wenn Carlo der Initiator ist, werden sie das nicht wagen, Vicky«, sagte Dietrich Vandamme.
»Aber wenn er doch nichts damit zu tun hat?«, fragte sie verzweifelt.
Noch ahnten sie nicht, was Carlo Callenberg im Schilde geführt hatte.
Seine Eltern waren benachrichtigt worden und trafen am Nachmittag des nächsten Tages in der Behnisch-Klinik ein.
Während Arno Callenberg konsterniert und zugleich nervös wirkte, gebärdete sich seine Frau hysterisch. Die Öffentlichkeit hatte zwar von dem Unfall erfahren, aber nicht von der Entführung. Carlos Eltern konnte man diese nicht verschweigen, da sie verlangten, den Jungen zu sehen, nur den Jungen, nicht aber Viktoria, gegen die Elena Callenberg schlimme Vorwürfe hervorbrachte. Und dann sagte sie auch sogleich, dass es wahrscheinlich Viktoria gewesen sei, die den Jungen selbst entführt hätte. Da jedoch mischte sich zum ersten Mal ihr Mann ein. Sie solle vorsichtig mit solchen Behauptungen sein, sagte er warnend.
Aber als Carlo wieder kurz bei Bewusstsein war, vernahm auch Dr. Behnisch aus seinem Mund solche Anschuldigungen, und auch noch andere. Er wüsste jetzt, dass Viktoria ein Verhältnis mit Marc Rogahn hätte.
»Bobby kennt den Mann mit dem grauen Wagen«, sagte er.
»Wo waren Sie mit Ihrem Sohn so lange, Herr Callenberg?«, fragte Dr. Behnisch.
»Ich weiß es nicht mehr. Wir sind herumgefahren. Ich kann mich nicht so genau erinnern.«
Dann sagte er nichts mehr.
*
»Merkwürdig«, sagte Dr. Behnisch zu seiner Frau Jenny, »an den Mann mit dem grauen Wagen kann er sich erinnern, aber sonst an nichts. Frau Callenberg wird noch einiges auszustehen haben. Ihre Schwiegermutter hat Haare auf den Zähnen.«
»Die Hauptsache ist, dass Bobby heil zurückkommt«, meinte Jenny Behnisch.
Das hofften Daniel und Fee Norden auch. Die beiden hegten nicht den geringsten Zweifel, dass Carlo Callenberg Bobby weggebracht hatte. Aber wohin?
Ein Anruf wegen des Lösegelds war bisher nicht mehr gekommen. Aber nun wurde Viktoria von Kommissar Steiger verhört. Er war väterlich freundlich, aber er hatte ihr sagen müssen, dass sie von ihrem Mann beschuldigt würde, die Entführung inszeniert zu haben.
»Das darf doch alles nicht wahr sein!«, entfuhr es ihr. »Ich war mit meinem Bruder und Dr. Rogahn zusammen.«
»Herr Callenberg hat auch gesagt, dass Sie mit Dr. Rogahn ein Verhältnis haben, Frau Callenberg«, erwiderte Kommissar Steiger.
»Das ist infam«, flüsterte Viktoria. »Jetzt fehlt nur noch, dass ich den Mann mit dem grauen Wagen für die Entführung engagiert habe.«
»Ja, so denkt Herr Callenberg.«
Viktoria starrte ihn an. Plötzlich war sie ganz ruhig. »Und die Tatsache, dass er mit Bobby wegfuhr und sagte, er würde den Jungen mit zu einer Probe nehmen, wird ignoriert. Als ich es von unserer Haushälterin erfuhr, bin ich überall herumgefahren und habe Bobby gesucht. Man wird das bestätigen. Anschließend traf ich mich mit meinem Bruder und Dr. Rogahn. Mein Bruder ist mit ihm befreundet, und Dr. Rogahn hat meinen Scheidungsantrag eingereicht.«
»Es wird alles nachgeprüft werden, Frau Callenberg.«
»Und Sie trauen mir zu, dass ich dann meinen eigenen Vater um zwei Millionen erpressen wollte?«
»Nein, das steht auf einem anderen Blatt. Wir werden jetzt nach dem Mann mit dem grauen Wagen suchen.«
»Suchen Sie lieber meinen Sohn. Finden Sie ihn«, sagte Viktoria tonlos. »Mein Vater ist auch bereit, das Lösegeld zu zahlen. Finden Sie es nicht merkwürdig, dass die Entführer sich nicht zuerst an Bobbys Vater wandten? Das wäre doch naheliegend gewesen. Da stimmt doch überhaupt nichts. Ich hätte nicht zu einem so üblen Trick greifen müssen. Ich hätte genügend Gelegenheit gehabt, mit meinem Sohn zu verschwinden.«
»Und warum haben Sie es nicht getan?«
»Weil ich diese Ehe nicht so beenden wollte. Ich wollte eine faire Scheidung. Es dürfte Ihnen wohl inzwischen bekannt sein, dass mein Mann Bobby ohne mein Wissen zu seinen Eltern brachte. Er wollte mich zermürben, aber die Scheidung wollte er nicht. Ich war seine Lebensversicherung, als er beruflich keine Erfolge mehr hatte.«
»Hätte Ihr Vater denn Ihr Leben finanziert?«, fragte Kommissar Steiger. »Hätte er die Schulden Ihres Mannes bezahlt?«
»Ich weiß nichts von Schulden«, sagte Viktoria. »Ich habe mein eigenes Konto.«
»Und von wem stammt das Geld auf diesem Konto?«
»Von meinem Vater«, erwiderte sie leise. »Aber was spielt das für eine Rolle?«
Er sah sie sehr nachdenklich an. »Sie werden angegriffen, Frau Callenberg, Sie müssen sich zur Wehr setzen.«
»Ich will nichts als mein Kind«, erwiderte sie. »Etwas anderes interessiert mich nicht.«
*
Bobby hätte bereits allerhand erzählen können, aber er wusste nicht, mit wem er hätte reden sollen. Seit Stunden war er bereits allein in einem kleinen, einfachen Haus. Er wartete auf seine Mami. Die junge Frau, die anwesend gewesen war, als er erwacht war – wann das war, hätte er jetzt gar nicht mehr sagen können, denn er hatte schon ein paarmal stundenlang geschlafen – hatte ihm gesagt, dass seine Mami sicher bald kommen würde. Sie war nicht unfreundlich gewesen, nur mächtig nervös.
»Wo ist denn der Papi?«, hatte er sie gefragt.
»Wahrscheinlich bei der Probe«, hatte sie erwidert.
»Er wollte mich doch mitnehmen.«
»Du bist eingeschlafen.«
»Wo sind wir denn jetzt?«, hatte Bobby gefragt.
Darauf hatte er keine Antwort bekommen, und dann war sie gegangen.
Bobby hatte Hunger. Er suchte die Küche und fand sie auch, aber dort nur ein paar trockene Semmeln. So langsam kam ihm das alles sehr merkwürdig vor, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mami sich in diesem Haus wohlfühlen würde. Nirgendwo fand er ein Telefon. Die Haustür war verschlossen, und nicht mal ein Radio gab es. Die Fenster waren alle geschlossen, aber eines brachte Bobby dann doch mühsam auf, obgleich das viel Kraft erforderte. Bobby hatte nicht die Absicht gehabt, dieses Haus zu verlassen. Er hatte ziemliche Angst, weil ihm alles so fremd war, und er war auch felsenfest überzeugt, dass seine Mami kommen würde. Wie sollte er denn auch glauben, dass es nicht so sein sollte, wie sein Vater gesagt hatte.
Er hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt und schaute hinaus. Da vernahm er das Lachen von Kindern und das Bellen von Hunden. Er kletterte nun zum Fenster hinaus, um sich mal ein bisschen umzuschauen.
Er bahnte sich einen Weg durch den verwilderten Garten und merkte erst dann das Brennen auf seiner Haut, ohne zu begreifen, dass er mit Brennnesseln in Berührung gekommen war. Aber nun begann es zu brennen und zu schmerzen, und es war niemand da, der ihm helfen konnte.
Tränen liefen über sein kleines schmutziges Gesicht, als er weiterlief, aber er lief lange, bis dann ein großer Junge vor ihm stand. Der aber starrte ihn entsetzt an, drehte sich um und lief davon. Das hatte Bobby nun wahrhaftig noch nicht erlebt, dass ein Kind vor ihm davongelaufen war, aber er wusste ja auch nicht, wie er ausschaute. Er spürte nur das höllische, schmerzhafte Brennen, und er hatte plötzlich große Angst.
»Was schreist so, Sepp?«, rief da eine Frauenstimme.
»Da ist ein Bub, Mam, der hat bestimmt Scharlach. Er läuft die Straße entlang. Genauso hat der Fredi ausgeschaut, als er Scharlach hatte.«
»Da kann man ein Kind doch nicht auf die Straß’ lassen«, sagte Burgl Rägelin. Schon war sie draußen und lief dem weinenden Bobby nach. Und der landete wenig später beim Dr. Brunner, denn die resolute Burgl dachte auch an das Wohl der Kinder in diesem Tiroler Dorf, obgleich ihr der so schmerzlich weinende Bobby von Herzen leidtat. Sie war ja auch Mutter von fünf Kindern.
»Er hat keinen Scharlach, Burgl«, sagte Dr. Brunner, der mit seinen Patienten auf du und du stand. »Der Bub ist in die Nesseln gefallen. Und wie heißt du, kleiner Mann?«
»Bobby«, schluchzte der Kleine heraus.
»Und wohin gehörst du?«, fragte Dr. Brunner.
»Zu Mami.«
»Und wo ist die Mami?«
»Weiß doch nicht, wo sie jetzt ist. Sie wollte kommen.«
Bobby war verwirrt, und die Schmerzen plagten ihn, aber dann ging Burgl, und er war mit Dr. Brunner allein, der tröstend auf ihn einsprach und die brennenden Stellen behandelte.
»Bist auch ein guter Doktor, wie unser Dr. Norden«, sagte Bobby, und da horchte der Arzt auf.
»Jetzt sag nur, dass du von München kommst, Bobby.«
»Ja, da wohnen wir, aber Mami ist in der Klinik, und Papi hat mich hergebracht, und die Frau ist schon so lange weg.«
Dr. Brunner konnte gut mit Kindern umgehen und auch aus verwirrten Worten etwas zusammenreimen.
»Tut es immer noch so weh, Bobby?«, fragte er.
»Nicht mehr so.«
»Es wird bald noch besser sein. Sagst du mir jetzt, wie du noch heißt?«
»Bobby Callenberg.«
»Und ihr wohnt in München und kennt Dr. Norden.«
»Ja, der ist auch sehr lieb«, erwiderte Bobby.
»Und wie bist du hergekommen?«
»Mit Papi.«
»Wo ist dein Papi?«
»Zur Probe.«
»Zu was für einer Probe?«
»Für’s Konzert. Aber wir sind weit gefahren.«
Dr. Brunner betrachtete den Kleinen nachdenklich. Callenberg, der Name sagte ihm schon etwas, denn er interessierte sich für klassische Musik. Aber der Name Norden bedeutete ihm noch mehr. Dr. Friedrich Norden war sein großes Vorbild gewesen, und er war der Vater von Daniel Norden, leider viel zu früh gestorben.
»Jetzt schließ die Äuglein, Bobby«, sagte er, »ich komme gleich wieder zu dir.«
»Wenn Mami nun kommt und mich sucht?«, fragte Bobby.
»Wo soll sie dich denn suchen?«
»In dem kleinen Haus, aber da ist nicht mal ein Telefon.«
»Und du warst dort ganz allein?«
»Ja, die Frau ist fortgegangen.«
»Wie heißt sie denn?«, fragte Dr. Brunner.
»Weiß ich nicht. Hat sie nicht gesagt. Aber es war auch nichts zu essen da, nur trockene Semmeln.«
Dr. Brunner fand es an der Zeit, Dr. Norden anzurufen, denn ihm kamen da ganz seltsame Gedanken.
*
Loni, Dr. Nordens treue Hilfe, störte ihren Doktor nur ungern, wenn er mal mit einem schwierigen Patienten beschäftigt war, aber an diesem Vormittag tat sie es.
»Ein Dr. Brunner möchte Sie dringend sprechen wegen Bobby«, sagte sie atemlos. »Ja, wegen Bobby, hat er gesagt.«
Dr. Norden riss den Hörer ans Ohr. »Anderl, das kann doch nicht wahr sein«, sagte er, »bist du es wirklich?«
»Genau der, Daniel, ich habe einen Buben hier, Bobby Callenberg heißt er. Er kennt dich, deswegen rufe ich an. Ich werd’ nicht ganz schlau aus dem Kleinen.«
»Halt ihn fest, Anderl. Der Bub ist entführt worden. Lass keinen an ihn heran. Ich benachrichtigte gleich seine Mutter.«
»Sie soll in einer Klinik sein, hat er gesagt. Und der Papi ist auf einer Probe.«
»Callenberg hatte einen schweren Unfall. Er liegt in der Behnisch-Klinik. Ich rufe dich wieder an. Ich muss Bobbys Mutter verständigen. Aber nochmals, lass keinen an den Buben heran.«
»Kannst dich drauf verlassen. Er ist in Brennnesseln gefallen und arg zugerichtet. Schaut aus, als hätte er Scharlach.«
»Ein guter Grund, jeden von ihm fernzuhalten«, sagte Daniel Norden. »Du hörst bald von mir, Anderl. Einstweilen tausend Dank. Man wird es dir vergelten.«
Er legte den Hörer auf und wandte sich seiner Patientin zu. »Sie haben nichts gehört, Frau Richter«, sagte er. »Sie bekommen jetzt Ihre Diathermiebestrahlung.«
»Welcher Bub ist entführt worden?«, fragte die alte Frau.
»Ich habe doch gesagt, dass Sie nichts gehört haben«, erwiderte er. »Sie sind doch so eine nette Frau. Sie verstehen schon, dass ein Arzt etwas für sich behalten muss.«
»Ich helfe auch gern, wenn es um ein Kind geht, Herr Doktor«, sagte sie. »Wenn es um Geld geht, ich hab’ was auf dem Konto. Und ich hab’ doch sonst niemanden.«
»Es geht nicht um Geld, Frau Richter, aber es ist lieb gemeint«, sagte Dr. Norden. »Ich möchte nur nicht, dass Sie etwas zu anderen von dem Telefongespräch sagen.«
»Zu wem denn schon? Ich hab’ doch niemanden. Ich bin keine Klatschbase, Herr Doktor. Ich hab’ Sie noch nie so aufgeregt erlebt. Da macht man sich doch Gedanken.«
»Sie brauchen sich keine zu machen. Loni kümmert sich jetzt um Sie.«
Und er rief Viktoria an. Sie konnte nicht gleich begreifen, was er ihr sagte.
»Sie dürfen es mir glauben, Frau Callenberg. Dr. Brunner ist ein guter alter Bekannter von mir. Ja, es ist ein Zufall, ein gottgewollter, wenn man es so nennen darf, aber es handelt sich bestimmt um Bobby.«
»Aber wenn es stimmt, darf Carlo es nicht erfahren«, sagte sie bebend.
»Sie können sich darauf verlassen.« Er sagte ihr die genaue Anschrift durch. Mit zitternden Fingern notierte Viktoria diese.
»Ich fahre sofort«, sagte sie.
»Aber bitte nicht allein«, sagte er eindringlich.
Kaum hatte Viktoria das Telefon aufgelegt, läutete es wieder. Diesmal vernahm sie die Stimme ihres Vaters.
»Ich habe gerade den Anruf bekommen, dass das Lösegeld heute Abend übergeben werden soll, Vicky«, sagte er. »Es war wieder die Frauenstimme.«
»Und wo?«, fragte Viktoria bebend.
»Das ist doch nicht wichtig, Vicky. Du hältst dich da raus. Ich bringe dir Bobby zurück.«
»Ich hole ihn mir selbst, Papa. Du brauchst nicht zu zahlen. Benachrichtige Kommissar Steiger. Er soll sich die Frau schnappen. Hoffentlich gelingt es ihm, dann werden wir Ruhe haben.«
Dann legte sie schnell auf, und Mieke geriet wieder mal in Aufregung, als Viktoria in Windeseile das Haus verließ.
Gleich danach rief Dr. Rogahn an. »Ich weiß nicht, was los ist«, sagte Mieke. »Erst hat Dr. Norden angerufen und dann Herr Vandamme, und nun ist sie weggefahren. Ich weiß nicht, wohin, sie hat nichts gesagt.«
Eine Viertelstunde später saß auch Marc Rogahn in seinem Wagen. Er hatte zuerst mit Dietrich Vandamme telefoniert, dann mit Dr. Norden. Aber als er dem gesagt hatte, dass Viktoria weggefahren sei, ohne zu sagen wohin, hatte er eine Auskunft bekommen, die ihn veranlasste, alle Termine für diesen und auch den nächsten Tag abzusagen.
*
Das Leben von Dr. Andreas Brunner war bisher recht eintönig verlaufen, aber er war zufrieden mit diesem Leben. Er hatte viel zu tun. Er war hier der einzige Arzt weit und breit. Mit seiner Frau Bruni lebte er in einer glücklichen Ehe. Die Kinder, Frieder und Rosmarie, studierten schon in Wien und hatten dort eine gemütliche Zweizimmerwohnung.
Bruni, einst auf den heldischen Namen Brunhilde getauft, der ihr aber gar nicht gefallen hatte, brauchte ihrem Mann nur selten in der Praxis zu helfen.
Als ihr Anderl sie an diesem Tag gebeten hatte, sich um den kleinen Bobby zu kümmern, war Bruni sofort, ohne viel zu fragen, bereit dazu. Sie liebte ihren Mann wie am ersten Tag. Sie hatte sich nie zu beklagen gehabt. Und der kleine, noch so verstörte Bub wurde von ihr mütterlich umsorgt.
Da Anderl ihr gesagt hatte, dass sie später alles erfahren würde, stellte sie ihm auch keine Fragen, aber mit Bobby wollte sie sich doch unterhalten.
»In welchem Haus warst du denn, Bobby?«, fragte sie.
»Ich weiß hier doch nicht Bescheid«, erwiderte er. »Ich habe die Kinder lachen gehört, und Hunde haben gebellt, und da wollte ich mal raus. Ich hatte auch Hunger, und ich weiß doch nicht, wann Mami kommt. Aber wenn sie nun schon gekommen ist und mich sucht?«
»Sie wird dich schon finden, Bobby«, sagte Bruni. Aber sie überlegte, was das denn für ein Haus gewesen sein könnte. Sie kannte doch hier alle Leute und wusste auch, wo sie wohnten.
»War es etwa die Hütte, die die Filmgesellschaft gekauft hat?«, fragte Bruni.
»Weiß ich nicht«, erwiderte Bobby. »Ein schönes Haus war es nicht. Wir haben ein schönes Haus in München. Und wir haben auch Mieke, die tät es ganz schön grausen, wenn sie die Spinnweben sehen tät. Das Fenster habe ich auch kaum aufgebracht.«
»Und was war das für eine Frau, die dann nicht mehr gekommen ist?«, fragte Bruni.
»So eine mit hellem Haar. Sie hat nur gesagt, dass Mami mich bald holen wird. Sie war nicht nett und nicht fleißig wie Mieke, mehr so eine Biene.«
Bruni staunte. Sie kannte diesen Ausdruck wohl, denn ihr Sohn gebrauchte den auch, aber Bobby war ein kleiner Bub.
»Beim Film sagen sie so«, erklärte er ganz nebenbei.
»Ist deine Mami beim Film?«, fragte Bruni.
»I wo, Mami doch nicht, aber Papi spielt manchmal und hat mich schon mal mitgenommen. Ich soll auch in einem Film mitspielen, aber Mami hat das nicht erlaubt.«
Er war jetzt aufgetaut, und Bruni gefiel ihm. Da wurde er ganz zutraulich. Und er bekam auch etwas Gutes zu essen.
Bruni begriff, dass der Junge in einer gefährlichen Situation gewesen war, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Die Frau ist dann am Abend mit mir zu einer Telefonzelle gegangen, und dann haben wir mit meinem Mopi telefoniert. Aber sie hat mich nicht viel reden lassen. Es ist wahr«, fügte er eifrig hinzu. »Du glaubst mir doch?«
»Natürlich glaube ich dir.«
»Ich wollte auch nicht so weglaufen. Ich wollte bloß nicht mehr allein sein in dem Haus.«
»Es ist auch besser, wenn du bei uns bist, Bobby«, sagte Bruni.
»Aber krank bin ich doch nicht? Ich möchte schon bald wieder bei Mami sein. Wird sie kommen?«
»Ja, sie wird kommen«, ertönte Dr. Brunners Stimme.
»Aber wenn ich so schlimm aussehe, wird sie sich sehr erschrecken«, meinte Bobby bekümmert.
»Jetzt siehst du schon nicht mehr so schlimm aus. Du nimmst ein Bad, und dann schläfst du eine Runde. Einverstanden?«
»Aber wird Mami mich hier finden?«
»Ja, sie weiß, wo sie dich finden wird.«
»Dann ist es gut. Bei euch ist es sehr schön und sehr sauber. Da hätte auch Mieke nichts auszusetzen. Wieso Papi so ein dreckiges Haus mieten konnte, weiß ich auch nicht. Da bleibt Mami bestimmt nicht.«
Es war gut, dass er nicht begriff, was da vor sich gegangen war, dass er auch keine Ahnung hatte, wie böse es für ihn hätte kommen können, wenn er das Fenster nicht aufbekommen hätte, denn diejenige, die ihn bewachen sollte, hatte ihre eigenen Pläne, seit sie erfahren hatte, dass Carlo Callenberg einen schweren Unfall gehabt hatte.
An der Grenze hatte Marc indessen Viktoria eingeholt, da sie aufgehalten worden war. In der Eile hatte sie nämlich ihren Pass vergessen. Den Führerschein und die Autopapiere konnte sie zwar vorweisen, aber in ihrer Verfassung erregte sie das Misstrauen der Beamten.
Doch nun kam Marc, und er konnte so ausreichende Erklärungen geben, dass Viktoria ein Passierschein ausgestellt wurde.
Sie fuhren in Marcs Wagen weiter.
»Wieso bist du hier?«, fragte sie, nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte.
»Ich habe mit deinem Vater und mit Dr. Norden telefoniert. Hatte er dir nicht gesagt, dass du nicht allein fahren sollst, Vicky?«
»Ich wollte so schnell wie möglich zu Bobby«, flüsterte sie. »Ich wusste ja nicht, dass du dir die Zeit nehmen würdest. Danke, Marc.«
»Nun wird alles bald wieder in Ordnung kommen, Vicky.«
»Alles?«, fragte sie.
»Du wirst Bobby behalten, da kannst du ganz sicher sein.«
»Und wie soll ich ihm erklären, dass er Carlo nicht mehr sehen wird?«
»Wir werden sehen, was er jetzt denkt. Mach dir doch nicht solche Gedanken.«
»Ich muss sie mir machen. Bobby hängt an Carlo. Ich weiß nicht, für wen er sich entscheiden würde, wenn er gefragt wird.«
»Er wird nicht gefragt werden, Vicky.«
»Aber Carlo wird darauf bestehen, ihn regelmäßig zu sehen und immer wieder versuchen …«
»Halt ein«, fiel Marc ihr ins Wort. »Nach dieser Geschichte, wird ihm das Recht abgesprochen werden, Bobby zu sehen.«
»Und wenn er dann seine Drohung wahrmacht? Wir werden ständig in Angst leben, Marc.«
»Er wird Monate in Kliniken verbringen müssen, Vicky. Wir werden viel Zeit haben, alles zu überlegen. Und wenn er am Leben bleibt, wird er ein Pflegefall sein.«
»Bedeutet das nicht, dass die Scheidung dann nicht ausgesprochen wird?«, fragte sie bebend.
Dass sie so gut informiert sein könnte, hatte er nicht bedacht. Aber schnell gewann er die Fassung zurück.
»Diese Entführung ist eine Straftat«, sagte er rau. »Da gelten andere Paragraphen.«
»Er wird bestreiten, dass er Bobby entführt hat.«
»Mach es dir doch nicht so schwer. Überlass die rechtlichen Dinge mir«, sagte er.
Nun waren sie dem Ziel auch schon ganz nahe. Fast hätte Marc den Wegweiser übersehen, und zehn Minuten später hielten sie vor Dr. Brunners Haus.
Bruni kam herbeigeeilt. »Es ist alles gut«, sagte sie, »Bobby schläft.«
Die schreckliche Spannung war vorbei. Tränen der Erleichterung rannen über Viktorias Wangen.
»Das ist Dr. Rogahn, mein Anwalt, und ein guter Freund unserer Familie«, stellte sie Marc vor.
*
Dietrich Vandamme hatte sich nach langem Überlegen entschlossen, Kommissar Steiger zu informieren. Wenn Bobby in Sicherheit war, brauchte man nichts mehr zu befürchten, aber es konnte doch wichtig sein, jene Frau zu finden, in welcher Verbindung sie zu Carlo stand.
Allerdings befanden sich nicht die zwei Millionen in dem Koffer, mit dem Dietrich Vandamme nun zum Flughafen fuhr.
Wenn er zwei Millionen mit sich getragen hätte, wäre er nicht so zielstrebig auf das Schließfach zugesteuert, das ihm bezeichnet worden war. Wie töricht diese Forderung war, war ihm längst bewusst.
Er stellte den Koffer in das Schließfach, schloss es zu und steckte den Schlüssel in ein bereits beschriftetes Couvert. Schnell ging er zum Informationsschalter.
»Madame Evian hat eine Nachricht für mich hinterlassen«, sagte er. »Mein Name ist Vandamme?«
Das junge Mädchen blinzelte. »Können Sie sich ausweisen, Herr Vandamme?«, fragte es aufgeregt.
»Ja, gewiss.« Er legte seinen Pass vor sie hin. Sie klappte ihn auf. Sie las den Zettel, der zwischen den Blättern lag.
Hat sich Kommissar Steiger schon gemeldet?, stand darauf.
Sie nickte kurz. »Hier ist die Nachricht für Sie«, sagte sie, und gab ihm einen Umschlag.
Er riss ihn auf. Er las, wo Bobby zu finden war. Es stimmte mit dem überein, was er bereits wusste.
»Madame Evian wird dann diese Nachricht abholen. Ich kann leider nicht warten«, sagte er.
Wie dilettantisch, dachte er. Was muss diese Frau blöd sein. Aber eine kluge Frau hätte dieses Spiel ja nicht mitgemacht.
»Es wird alles erledigt, Herr Vandamme«, sagte das Mädchen. »Sie können sich darauf verlassen.«
Sie lächelte jetzt. Sie sah reizend aus. »Sie werden eine Einladung bekommen«, murmelte er. »Danke, für Ihre Hilfe.«
Dann ging er hinaus. Er wusste, dass er beobachtet wurde. Er ging an Kommissar Steiger, der in einem grauen Anzug wie ein seriöser Geschäftsmann aussah, vorbei, und nun hoffte er nur, dass Steiger nicht mehr zu lange warten musste. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr heimwärts.
Kommissar Steiger musste nicht lange warten. Eine schlanke Blondine ging bald lässig auf den Informationsschalter zu und bekam auch gleich den Umschlag ausgehändigt, ohne dass nach ihrem Pass gefragt wurde.
Ein paar Beamte in Zivil waren schon bei den Schließfächern postiert. Sie sahen auch aus wie Reisende, und als die Blondine den Koffer aus dem Schließfach nahm, waren sie genauso schnell zur Stelle wie Kommissar Steiger.
»Dilettantisch«, sagte auch Kommissar Steiger später zu Dietrich Vandamme, »aber zwei Millionen können den Verstand umnebeln, und viel Verstand hat diese Person sowieso nicht. Aber sie hat auch gleich ausgepackt. Sie sollte den Koffer für Herrn Callenberg abholen, hat sie gesagt. Sie wüsste überhaupt nicht, was es damit auf sich hat.«
»Wie heißt sie?«, fragte Dietrich Vandamme.
»Daisy Plessa, Tippfräulein in einem Detektivbüro. Wir haben auch den Mann mit dem grauen Wagen. Das ist ihr Chef, aber er hat mit der Entführung nichts zu tun. Aus allen Wolken ist er gefallen. Eine hübsche Blondine, Herr Vandamme. Gelegenheit macht nicht nur Liebe, sondern auch Diebe, so kann man diese Tragikomödie nennen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Callenberg die so inszeniert hat«, sagte Dietrich Vandamme.
»Mal sehen, was er dazu sagen wird. Wir müssen abwarten, bis er vernehmungsfähig ist.«
*
Für Bobby waren inzwischen alle Schrecken schon vergessen. Er wurde von seiner Mami in den Armen gehalten. Ganz glücklich konnte Viktoria allerdings nicht sein, denn bald fragte Bobby, wie lange sein Papi denn eigentlich noch Proben hätte.
»Er hat keine Proben, Bobby, er hatte einen Unfall«, erklärte sie ihm stockend.
»Wo ist er denn jetzt?«, fragte er.
»In der Klinik.«
»In derselben, wo du warst, Mami?«, fragte der Junge.
»Ich war nicht in einer Klinik, Bobby«, erwiderte sie.
»Aber Papi hat es gesagt. Warum hat er das gesagt, und warum hat er das schmutzige Haus gemietet?«
»Ich weiß nicht, warum er dir das erzählt hat«, sagte Viktoria.
»Er war ziemlich komisch«, sagte Bobby. »Wir sind auch so lange gefahren, und ich bin eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, war nur die Blonde da.«
»Eine fremde Frau?«, fragte Viktoria stockend.
»Ich habe sie vorher nicht gesehen und weiß auch nicht, wie sie heißt. Aber sie hat gesagt, dass du bald kommen wirst. Und jetzt bist du ja da.«
»Du hast mit Mopi telefoniert«, sagte Viktoria.
»Ja, von einer Telefonzelle. Im Haus war kein Telefon, sonst hätte ich dich angerufen, als ich allein war, Mami. Sie hat gesagt, dass ich mit Mopi telefonieren soll, damit er weiß, wo ich bin, weil du doch in der Klinik warst. Aber ich konnte nicht sagen, wo ich bin. Plötzlich war Mopi weg. Es ist alles ziemlich komisch, Mami.«
»Überhaupt nicht komisch, aber du bist ein ganz gescheiter Junge, Bobby«, sagte Viktoria.
»Ich komme auch bald in die Schule. Aber in dem Film will ich auch nicht mitspielen, nicht in dem dreckigen Haus. Mieke tät es grausen.«
»Mit der Schule hat es noch Zeit, Bobby, und in dem Film brauchst du auch nicht zu spielen«, sagte Viktoria.
»Aber Papi hat gesagt, dass ich da massig Geld verdienen kann. Sind wir denn arm, Mami?«
»Nein, wir sind nicht arm, Bobby.«
»Du brauchst aber viel Geld für deine teuren Kleider, sagt Papi.«
Viktoria wurde es eiskalt. »Und was hat er sonst noch gesagt?«, stieß sie hervor.
Bobby klammerte sich an sie. »Ich habe dich doch lieb, Mami. Ich will nicht, dass du krank bist und dass er dich schimpft. Ich verstehe das nicht. Er fährt einfach los mit mir und sagt nicht wohin. Und du regst dich auf und wirst immer dünner. Gell, jetzt wirst du nicht mehr dünner, Mammilein.« Und seine weichen, feuchten Lippen streichelten ihr blasses, so schmal gewordenes Gesicht.
»Ich gebe dich nicht her, Bobby«, flüsterte sie, »um nichts in der Welt.«
»Ich will doch bei dir sein, bei dir und Mieke, und Mopi mag ich doch auch lieber als den anderen Großpapa, und ich war doch froh, als Phil mich geholt hat. Fahren wir nach Hause, Mami?«
»Bald«, erwiderte Viktoria zögernd, denn hier musste ja auch noch einiges geklärt werden.
*
Marc war währenddessen nicht untätig gewesen. Er war mit Bruni durch das Dorf gefahren, und dann waren sie zu dem kleinen, verwitterten Haus gekommen.
»Ich kenne sonst keins, wo so viele Brennnesseln wuchern«, sagte Bruni Brunner. »Schon ewig war keiner mehr hier. Der alte Plessa ist vor drei Jahren gestorben. War ein rechter Einsiedler. Sein Sohn hat sich um ihn nicht gekümmert. Vor ein paar Wochen ging das Gerücht, dass hier ein Film gedreht werden soll. So ein Heimatfilm. Das scheint wieder gefragt zu sein. Wir haben was anderes zu tun, als uns um das Gerede zu kümmern, und Konkretes ist da nicht herausgekommen. Die Daisy, meine Güte, ich habe sie zuletzt gesehen, als sie fünfzehn war.«
»Von wem sprechen Sie, Frau Brunner?«, fragte Marc.
»Von Plessas Enkeltochter. Sie soll das Häusle verkauft haben. Viel hat sie dafür gewiss nicht bekommen. Und das hat ja wohl der Notar in der Stadt abgewickelt.« Plötzlich hielt sie erschrocken inne. »Die Daisy kann doch wohl da nicht mitgemischt haben.«
Marc ging schon um das Haus, hindurch durch die Brennnesseln, aber ihm konnten sie nichts anhaben. Er sah das offene Fenster.
Nur mit einem kraftvollen Klimmzug konnte er sich da hineinhieven.
»Bleiben sie fern, Frau Brunner«, rief er, »sonst bekommen Sie die Brennnesseln auch noch zu spüren.«
Doch im Haus fand er nichts, außer Staub und Spinnweben.
Auch ihn grauste es. Doch in einem Bett fand er dann doch noch ein paar zusammengeknüllte, noch feuchte Papiertaschentücher. Er konnte sich denken, wie Bobby geweint hatte, so allein und verlassen, und er war von grimmigem Zorn erfüllt.
Von den Brunners aus konnte er dann Dietrich Vandamme anrufen, und er erfuhr, was sich in München getan hatte. Mehr brauchte er vorerst nicht zu wissen.
Bobby sah ihn etwas verwundert an, als er plötzlich im Zimmer erschien.
»Hallo, Bobby«, sagte Marc, »du kennst mich doch.«
»Klar, du bist doch Phils Freund«, sagte der Junge unbefangen. »Mami hat mir schon gesagt, dass du sie hergefahren hast. Fahren wir jetzt heim?«
»Morgen«, erwiderte Marc. »Ich muss hier noch was erledigen.«
»Aber wir gehen nicht in das schmutzige Haus«, sagte Bobby.
»Nein, wir schlafen in einem Gasthof«, erwiderte Marc.
»Wozu denn das«, sagte Bruni, »bei uns ist genug Platz, und wir freuen uns, wenn wir mal liebe Gäste haben.«
»Hier gefällt es mir schon«, erklärte Bobby.
Ein Widerspruch wurde auch von Marc nicht angenommen. Hier kehrte schneller Ruhe ein als bei den Vandammes. Da war nämlich ganz überraschend auch noch Sally Reynold aufgekreuzt, Viktorias Freundin, die von Carlos Unfall erfahren hatte und gleich von Amsterdam auf dem Luftweg gekommen war. Wie ein Wirbelwind brach sie herein, ein Temperamentbündel wie eh und je, und sie hatte dem ruhigen Philipp vor ein paar Jahren schon mal schwer zu schaffen gemacht. Aber Sally war nicht für eine feste Bindung, sie fühlte sich ganz als emanzipierte Frau, und man musste es ihr auch lassen, dass sie dies beruflich bereits bewiesen hatte.
Auch erst sechsundzwanzig Jahre jung, leitete sie bereits seit zwei Jahren die Firma ihres frühverstorbenen Vaters.
Obgleich sie immer behauptet hatte, von Ehe und Kindern nichts wissen zu wollen, galt ihre Sorge jetzt doch ihrem Patenkind Bobby.
»Ich habe so düstere Ahnungen«, platzte sie auch gleich heraus. »Was ist mit Bobby? Wo steckt Vicky? Mieke hat mir keine Auskunft gegeben.«
»Du hast schon mit ihr gesprochen?«, fragte Philipp.
»Natürlich war ich zuerst dort. Dann bin ich in die Behnisch-Klinik gefahren, aber ich war erleichtert, dass Vicky nicht an seinem Krankenbett sitzt und Händchen hält, das hätte mir den Rest gegeben. Einmal müssen ihr doch die Augen aufgehen. Ich wäre schon längst auf und davon, mitsamt dem Kind. Aber jetzt will ich wissen, was los ist, wie ich helfen kann.«
Sie war groß, schlank und sportlich. Weizenblondes kurzes Haar ließ ihr herbes Gesicht streng erscheinen. Dabei war es ein schönes, klares Gesicht, und die stahlblauen Augen blickten durchaus nicht hart. Sie war so jung und doch so imponierend, dass sie augenblicklich die Szene beherrschte.
»Du hättest mich sofort benachrichtigen müssen, Phil«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Daran dachte ich wirklich nicht, Sally«, erwiderte er kleinlaut. »Du bist doch immer so beschäftigt.«
»Für Vicky und Bobby habe ich immer Zeit«, erwiderte sie. »Das solltest du wissen.«
»Hack nicht immer gleich auf mich los«, wehrte er sich. »Vicky hätte dich ja auch anrufen können.«
»Sie weiß, dass ich Carlo hasse, und recht geschieht es ihm, wenn er leiden muss. Wenn er gelähmt bleibt, hat er wenigstens eine gerechte Strafe bekommen. Ich sage, was ich denke, auch wenn es böse klingt, das solltet ihr wissen.«
»Wird er gelähmt bleiben?«, fragte Juliane Vandamme tonlos, »hat man dir das gesagt?«
»Angedeutet, nachdem seine Mutter ihr Gift auf Vicky versprüht hatte. Ich habe ihr aber Bescheid gegeben, dass ihr die Spucke weggeblieben ist.«
Sally kannte da nichts, und sie verkündete auch sogleich, was sie zu Elena Callenberg gesagt hatte, nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte.
»Mir sind ja seine Affären bekannt«, sagte sie, »Vicky hat leider Augen und Ohren davor verschlossen. Und ich nahm mir die Freiheit, das auch seiner Mutter zu sagen und noch einiges dazu. Aber lassen wir das. Jetzt möchte ich es doch genau wissen, was er gegen Vicky ausgeheckt hat.«
Sie erfuhr es, und da musste sie ein paarmal nach Luft schnappen.
»Das ist unglaublich«, sagte sie empört. »Es wird höchste Zeit, dass da ein Schlussstrich gezogen wird. Sollen doch seine reizenden Eltern sehen, wie sie ihren kriminellen Sohn durchbringen.« Ihr ging der Gaul durch, aber sie bewies damit auch, wie freundschaftlich sie Viktoria verbunden war.
*
Daisy Plessa sollte es inzwischen schon sehr bereuen, sich mit Carlo eingelassen zu haben. Sie beteuerte vergeblich, dass sie nicht geahnt hätte, was Carlo vorhatte. Letztlich hatte sie sich in ihrer eigenen, so töricht gelegten Falle gefangen. Nun aber war der Traum von den Millionen zerronnen, und sie konnte über ihre eigene Dummheit nachdenken.
Aber auch für Arnold und Elena Callenberg kamen schlimme Zeiten und Erkenntnisse, mit denen sie niemals gerechnet hatten. Ihr Sohn, den sie mit einem Glorienschein umgeben hatten, war von seinem Podest gestürzt worden. Mit einem letzten, verzweifelten Versuch bemühte sich Elena Callenberg die Entschuldigung für ihn zu finden, dass er seinen Sohn so sehr liebe und Angst gehabt hätte, ihn hergeben zu müssen.
Kommissar Steiger teilte diese Meinung nicht, auch dann nicht, als Elena Callenberg sagte, dass der Erpressungsversuch von dieser Frau ausgegangen sei. Schließlich hätte Carlo es nicht nötig gehabt, zu solchen Mitteln zu greifen.
Der nächste Tiefschlag kam für sie, als sie erfuhr, wie hochverschuldet Carlo bereits war.
»Aber er hat doch wahnsinnig viel Geld verdient«, stöhnte sie, »wo ist das geblieben?«
»Fragen Sie ihn«, sagte Kommissar Steiger. »Sagen Sie ihm, dass Daisy Plessa seinen so heißgeliebten Sohn in einem verkommenen Haus allein zurückgelassen hat, um hier die Millionen zu kassieren.«
»Sie wissen doch, wie schwerverletzt mein Sohn ist«, begehrte sie auf. »Er kann sich jetzt gar nicht zur Wehr setzen.«
»Immerhin hat er erklären können, dass Bobbys Mutter die Entführung inszeniert hat, aber der Mann mit dem grauen Auto, der Privatdetektiv Walter Kleemann, hatte nur den Auftrag, Viktoria Callenberg zu beschatten, um ihr nachweisen zu können, dass sie ehebrecherische Beziehungen zu Herrn Dr. Rogahn hätte. Aber davon kann nicht die Rede sein.«
»Aber warum wollte sie denn die Scheidung? Sie wollte sie doch, nicht Carlo. Sie hat ihm doch das Leben zur Hölle gemacht.«
»Er ihr«, sagte der Kommissar sarkastisch. »Sie sollten das einmal einsehen. Seine Allüren, seine Affären, das kann doch keine Frau ertragen.«
»Er ist ein großer Künstler«, schluchtzte sie. »Man muss da andere Maßstäbe anlegen, und Bobby ist sein Ein und Alles. Wir lieben ihn doch auch. Schuld sind die Vandammes, die von Anfang an gegen diese Heirat waren. Sie hätten sich für ihre Tochter wohl einen Prinzen gewünscht.«
»Nein, das bestimmt nicht, Frau Callenberg«, sagte der Kommissar kühl, »aber einen Mann, der ihr aufrichtige Liebe entgegenbringt.«
Nun ging er, aber sie rief schrill hinter ihm her: »Er ist von den Vandammes wie ein Schuhputzer behandelt worden!«
Aber da stand Arnold Callenberg hinter seiner Frau und legte seine Hand auf ihren Mund. »Mach nicht alles noch schlimmer, als es schon ist«, sagte er heiser. »Es wird Zeit, dass wir den Tatsachen ins Auge blicken, Lena. Wir stehen vor dem Nichts!«
»Wieso wir?«, fragte sie.
»Weil ich von Carlo jetzt das Geld nicht mehr zurückbekommen werde, das ich ihm geliehen habe.«
»Du hast ihm Geld geliehen? Wie viel und warum?«
»Warum? Weil ich genauso blind war wie du. Wie viel? Etwas mehr als eine halbe Million. Aber er hat in dieser Höhe eine Lebensversicherung zu unseren Gunsten abgeschlossen.«
Ihre Augen verengten sich. »Zu unseren Gunsten, bist du sicher?«, fragte sie. »Aber du willst doch nicht, dass er stirbt, Arnold.«
Er wandte sich ab. »Ich weiß nicht, was besser sein sollte für alle Beteiligten«, sagte er tonlos. »Wenn er gesund wird, wird er vor Gericht gestellt werden. Lies doch mal die Zeitungen, Lena. Sie lassen doch jetzt schon kein gutes Haar mehr an ihm. ›Das verpfuschte Leben eines großen Talents‹, heißt eine Schlagzeile. Wir hätten nicht alles glauben sollen, was er uns eingeflüstert hat, und wir hätten uns Viktoria gegenüber anders benehmen sollen.«
»Sie ist immer eine Vandamme geblieben«, stieß Elena Callenberg hervor.
»Vielleicht war das die einzige Möglichkeit für sie, zu überleben«, sagte Arnold Callenberg düster. »Es fällt mir schwer, jetzt noch eine Entschuldigung für Carlos Entgleisungen zu finden. Und ich möchte dir eindringlich sagen, dass es auch für uns nicht gut aussieht.«
»Aber es kann doch nicht alles vorbei sein, auch nicht für Carlo«, stöhnte sie.
»Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte«, murmelte er. »Ich begreife es auch nicht.«
Niemand konnte es begreifen, auch die Vandammes nicht, denn an Carlos künstlerischen Qualitäten hatten sie nicht gezweifelt, als sich Viktoria damals in ihn verliebte. Ihnen war er nur zu arrogant gewesen, zu egoistisch, zu selbstherrlich. Sie hatten geahnt, dass Viktoria viel würde einstecken müssen, aber dass er so abgleiten würde ins Nichts, daran hatten sie nicht gedacht.
Nun lag er in seinem Krankenbett, von Schmerzen geplagt, zwischen Nacht und Tag, zwischen Aufbegehren und alles von sich weisend, was er nicht wahrhaben wollte.
Sein Vater war es, der ihm klarmachen wollte, dass Bobby wieder bei Viktoria war.
Arnold Callenberg bekam es mit der Angst, als Carlo wieder sagte: »Sie hat ihn doch entführt.«
»Es stimmt nicht, es kann nicht stimmen, Carlo«, sagte er. »Diese Daisy Plessa hat alles gestanden.«
»Ich kenne keine Daisy Plessa«, sagte Carlo.
Was in ihm vor sich ging, konnte niemand ergründen, auch die Ärzte nicht. Er war ihnen ein Rätsel.
Aber es konnte nicht anders gewesen sein, als auch Bobby erzählt hatte, nachdem er aus langem tiefem Schlaf erwacht war, wieder ein munterer Junge und überglücklich, dass seine Mami bei ihm war.
Er erzählte alles unbekümmert dem Kommissar Steiger, zu dem er schnell Vertrauen gefasst hatte.
»Papi hat gesagt, wir fahren zur Probe, aber dann sind wir immer weitergefahren, und das hat mich gewundert. Und dann habe ich Papi gefragt, wo die Probe sein soll. Ich weiß nicht mehr genau, was er gesagt hat, aber als wir dann noch weiter gefahren sind, bin ich eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, war ich in dem schmutzigen Haus, und die Blonde hat gesagt, dass meine Mami bald kommen wird, weil Papi zu tun hat. Dann ist sie mit mir zu einer Telefonzelle gefahren und ich sollte Mopi sagen, dass es mir gutgeht. Aber lange konnte ich nicht mit ihm reden.«
»Hat sie nicht auch von Geld geredet, Bobby?«, fragte der Kommissar behutsam, »von viel Geld?«
»Ich weiß nicht, was viel Geld ist. Ja von Geld hat sie geredet. Sie hat Mopi gesagt, dass sie wieder anrufen wird. Aber ich weiß nicht, worum das ging. Papi hat auch oft von Geld geredet, und dass ich mit dem Film allerhand verdienen kann und dann mit noch mehr Filmen, aber das kann ich doch gar nicht, und ich will es auch nicht. Und Mami will es auch nicht. Aber grauslich war es mir dann schon, als ich allein in dem schmutzigen Haus war. Ein Telefon war auch nicht da, und das Fenster ging so schwer auf. Das war so ein komischer Griff, wie ich noch keinen gesehen habe. Den musste man erst herumdrehen und dann hochziehen. Aber genau weiß ich das auch nicht mehr. Dann war das Fenster auf, und ich bin rausgeklettert, und da war alles so stachlig. Ich habe aber Kinder lachen und reden hören, aber als der große Junge kam, hat er mich bloß so blöd angestarrt und nach seiner Mutter geschrien, und dann bin ich zu Dr. Brunner gekommen, und da waren sie lieb, besonders die Bruni. Und jetzt bin ich wieder bei Mami und Mieke, und Marc ist auch mächtig nett, und wenn Papi noch ewig wegbleibt, ist es mir auch egal. Ich bin sauer, weil er mich allein gelassen hat. Richtig sauer.«
Für einen Vierjährigen war er wirklich schon sehr gescheit. Sein Wortschatz war beträchtlich, und Gedanken machte er sich auch schon. Als er aber von Sally in die Arme genommen wurde, war er gleich abgelenkt.
»Dass du uns mal wieder besuchst«, freute er sich. »Warst lange nicht da, Sally.«
»Und weil ihr so lange nicht mit mir telefoniert habt, musste ich doch mal sehen, was hier los ist«, sagte sie.
»Hier war gar nichts los«, erklärte Bobby, »aber woanders. Ich mag es nicht noch mal erzählen.«
»Brauchst du auch nicht, Bobby«, meinte Sally.
Nun waren sie wieder beisammen. Bobby war quietschvergnügt, doch Viktoria sah man noch an, wie mitgenommen sie von den Aufregungen war.
Seltsamerweise fragte Bobby gar nicht nach Carlo, und Sally verstand es meisterhaft, auch Viktoria aufzumuntern. Sie hatten gerade beschlossen, allesamt im Jagdschlössel zu essen, damit Mieke nicht für die große Gesellschaft zu kochen brauchte und waren gerade im Aufbruch begriffen, als plötzlich Elena Callenberg vor ihnen stand.
In ihren Augen war ein böses Funkeln, als sie sagte: »Die Tür stand offen.«
»Wir wollten gerade zum Essen fahren«, sagte Dietrich Vandamme kühl. »Sie hätten vorher anrufen sollen.«
Bobby drängte sich zwischen Sally und Philipp, da schien es ihm augenblicklich am sichersten zu sein. Instinktiv hatte er wohl erfasst, dass die beiden am ruhigsten blieben.
»Carlo möchte seinen Sohn sehen«, sagte Elena. »Das wird man ihm doch wohl nicht versagen können.«
»Ich will nicht«, stieß Bobby hervor. »Sie wollen mich wieder in das schmutzige Haus bringen.«
Elena sah sich einer feindseligen Front gegenüber, aber ihr Blick war jetzt nur auf Marc Rogahn gerichtet.
»Es ist alles ganz anders, als du denkst, Bobby«, sagte sie erregt. »Dein Papi ist sehr traurig, aber er hatte doch den Unfall, und deshalb konnte er nicht zu dir kommen. Du darfst nicht alles glauben, was man dir erzählt.«
»Jetzt ist es aber genug, Frau Callenberg«, schnitt ihr Dietrich Vandamme das Wort ab. »Ich verstehe, dass die Tatsachen auch für Sie nicht angenehm sind, aber die sind nun eben nicht mehr wegzuleugnen.«
»Wir haben genauso viele Rechte an Bobby wie Sie«, sagte Elena schrill.
»Ich habe wohl in erster Linie das Recht auf meiner Seite«, sagte Viktoria nun so ruhig und bestimmt, dass alle anderen staunten. »Wir wollen Einzelheiten jetzt nicht erörtern. Ich bin zu keinen Zugeständnissen mehr bereit.«
»Wir fahren schon mal voraus«, sagte Sally geistesgegenwärtig. »Komm, Bobby.« Sie maß Elena mit einem langen Blick. »Als Patin habe ich nämlich auch Rechte und Pflichten, und meine Ansichten habe ich Ihnen ja bereits gesagt.«
Bobby zögerte nicht, mit ihr und Philipp zu gehen, und Juliane Vandamme schloss sich an.
»Und wir können uns morgen in Dr. Rogahns Kanzlei unterhalten«, sagte Dietrich Vandamme.
»Kann denn niemand verstehen, dass Carlo seinen Sohn sehen will?«, fragte Elena schrill. »Er ist schwerkrank und wehrlos.«
»Und wer ist schuld daran?«, fragte Viktoria. »Dass du deinen Sohn verteidigen willst, verstehe ich, aber ich muss jetzt meinen Sohn schützen. Noch einmal lasse ich ihn mir nicht wegnehmen.«
Nun ging Elena doch.
»Konnte sie nie ausstehen«, sagte Dietrich Vandamme.
»Wie dem auch sei«, sagte Viktoria, »sie ist seine Mutter, und die Suppe, die ich mir selbst eingebrockt habe, muss ich nun auch selbst auslöffeln, Papa. Ich gebe zu, dass ihr weitsichtiger wart als ich.«
Marc legte seine Hand auf ihre Schulter. »Darüber wird auch Gras wachsen, Vicky«, sagte er leise. »Ganz allein musst du die Suppe nicht auslöffeln.«
Und nun wollten sie sich den Appetit auch nicht verderben lassen, da ihnen ein leckeres Essen vorgesetzt wurde.
Sally gelang es wieder, die gedrückte Stimmung aufzulockern und dann auch zu vertreiben, obwohl sie sich wunderten, dass Bobby keine Fragen stellte.
Und er war ganz begeistert, als Sally sagte, dass er doch eigentlich mit Vicky einige Wochen zu ihr kommen könne.
»Gleich?«, fragte er.
»Meinetwegen auch gleich«, erwiderte Sally.
»Ich dachte, du würdest wenigstens ein paar Tage bleiben, Sally«, sagte Philipp enttäuscht.
»Ich kann jetzt doch nicht weg«, murmelte Viktoria.
»Ich möchte gern weg sein, wenn sie noch mal kommt«, sagte Bobby trotzig. »Ich mag sie wirklich nicht leiden, diese Großmama. Auch nicht, wenn der Papi sagt, dass sie mich lieber hat als die Mommi.«
»Psychoterror«, sagte Sally grimmig.
Das war ein Wort, das Bobby nicht verstand, und er reagierte gar nicht. Er lehnte sich an Julianes Schulter. »Aber ich habe die Mommi sehr lieb«, sagte er.
»Und ich dich auch, Bobby«, erwiderte sie, »du darfst nie daran zweifeln.«
»Was ist zweifeln eigentlich?«, fragte der Kleine.
Wie sollte man ihm das erklären? Es war nicht einfach, aber Marc war jetzt derjenige, der die richtigen Worte fand.
»Schau, Bobby, alle haben dich lieb«, sagte er, »alle, die hier am Tisch sitzen. Und wenn jemand sagt, dass das nicht stimmt, und du glaubst den anderen, dann nennt man es zweifeln.«
»Ich weiß doch, dass mich alle lieb haben«, sagte Bobby, »aber das mag die Großmama nicht hören.« Er sah Juliane an. »Du bist nämlich viel hübscher, Mommi.«
»Hast du ihr das etwa gesagt?«, entfuhr es Sally.
»Klar, warum denn nicht?«, fragte er.
Die Problematik des Geschehens begriff er nicht, und so gut das auch sein mochte, musste man sich darüber Gedanken machen.
Bobby hatte jetzt ganz andere Gedanken. Er sah Sally an. »Willst du eigentlich keine Kinder haben, Sally?«, fragte er unbekümmert. »Und auch keinen Mann?«
»Ich lasse mir Zeit, Bobby«, erwiderte sie gelassen.
»Ich würde dich viel lieber besuchen, wenn ich jemanden zum Spielen hätte. Warum heiratest du eigentlich Phil nicht?«
»Fragen stellst du«, erwiderte Sally irritiert.
»Ja, warum eigentlich nicht«, sagte Phil. »Wiederum eine gescheite Frage.«
»Das wäre prima«, sagte Bobby freudig.
»Jetzt wird er auch noch zum Brautwerber«, sagte Dietrich Vandamme trocken.
»Was ist das, ein Brautwerber?«, fragte Bobby.
»Das darfst du ihm erklären, Papa«, sagte Philipp anzüglich. »Vertreten wir uns ein bisschen die Füße, Sally. Ich habe sowieso noch etwas mit dir zu besprechen.«
Lächelnd blickte sein Vater hinter den beiden her. »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, sagte er tiefsinnig.
»Er hat schon mal einen Korb bekommen«, raunte ihm Juliane zu.
»Vor fünf Jahren, meine Liebe …«
»Und Sally hat mehr Verstand als ich«, warf Viktoria ironisch ein.
»Wovon redet ihr jetzt, Mami?«, fragte Bobby neugierig.
»Das kann dir der Mopi erklären«, bekam er zur Antwort.
»Überfordert mich bitte nicht zu sehr«, meinte Dietrich Vandamme schmunzelnd, »aber wie wäre es denn, wenn wir mal zum Ententeich gehen würden, Bobby?«
»O ja«, stimmte Bobby freudig zu.
*
»Jetzt mach mir bloß keinen Heiratsantrag«, sagte Sally zu Philipp, als sie sich ein Stück vom Haus entfernt hatten.
»Wenn du mir gleich so kommst, lasse ich es lieber. Einen zweiten Korb will ich mir nicht einhandeln.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu.
»Damals warst du auch noch nicht reif für die Ehe, und ich auch nicht«, sagte sie stockend. »Du erlebst ja, wie es bei Vicky gelaufen ist.«
»Carlo war nie für eine Ehe geschaffen. Es musste schiefgehen. Ich hatte keine Zeit für Weibergeschichten.«
»Sag nur nicht, dass du ganz abstinent geblieben bist«, spottete Sally.
»Oh, einen guten Wein habe ich immer geschätzt«, erwiderte er hintergründig.
»Du weißt genau, was ich meine«, konterte sie.
»Und du weißt genau, was ich dir sagen will, Sally. Ja, es mag gut sein, dass du mir damals einen Korb gegeben hast, aber immerhin sind wir beide älter und reifer geworden, und ich für meine Person bin noch keiner Frau begegnet, die dir das Wasser reichen könnte.«
Jetzt wurde sie verlegen. »Übertreib nicht so, Phil, ich bin weder schön noch charmant, und für Schmuserei habe ich auch nichts übrig.«
»Ich auch nicht, und deswegen mag ich dich ja so sehr. Oder willst du unbedingt hören, dass ich dich liebe?«
Sie wandte sich ab. »Sagen hättest du es nicht unbedingt müssen, aber ein bisschen mehr zeigen könntest du es schon. Bei dir weiß man doch nie, woran man ist.«
»Bei dir eben leider auch nicht, aber jetzt sind wir uns vielleicht doch schon einen Schritt nähergekommen, was meinst du?«
Nun sah sie ihn mit flammenden Augen an, aber da war auch ein Ausdruck dabei, der seinen Atem stocken ließ.
»Eins sage ich dir, Phil Vandamme, wenn du mich je so behandelst, wie Viktoria von Carlo behandelt worden ist, wirst du dein blaues Wunder erleben.«
»Das Wunder, dass du ja sagst, möchte ich schon erleben«, sagte er leise, und dann nahm er sie in die Arme.
Sie nickte, und dann hätte sie sowieso nichts mehr sagen können, weil er sie stürmisch küsste.
Und so endete dieser aufregende Tag doch noch schön und sogar fröhlich. Auch Viktorias Augen begannen zu leuchten, und für die Vandammes war ein langgehegter Wunsch in Erfüllung gegangen.
»Ist aber lieb, dass du auf mich gehört hast, Sally«, sagte Bobby, völlig sicher, dass dies sein Verdienst sei. Niemand dachte daran, ihm den zu beschneiden, hegten doch alle die Hoffnung, dass ihn auch alles das, was jetzt noch durchgestanden werden musste, nicht zu sehr beschweren würde.
*
Trotz sorgfältiger Behandlung war in Carlos Befinden keine Besserung eingetreten. Es mochte wohl auch daran liegen, dass er sich seiner Schuld durchaus bewusst war, diese jedoch immer noch leugnen wollte. Nach wie vor beharrte er darauf, dass Viktoria ihm das eingebrockt hätte, und seine Mutter wollte das gar zu gern glauben, auch wenn es sonst niemand glaubte.
Er beschwerte sich bei Dr. Behnisch, dass Bobby von ihm ferngehalten würde.
»Sie sollten das verstehen, Herr Callenberg«, erklärte Dr. Behnisch. »Der Junge hat schlimme Tage durchlebt.«
Er hätte gern noch mehr gesagt, aber in seiner derzeitigen Verfassung konnte das für Carlo den völligen Zusammenbruch nach sich ziehen, und Dr. Behnisch wusste schon genau, dass Elena Callenberg dann ihm Schwierigkeiten bereiten würde.
Seit sie in der Zeitung gelesen hatte, dass Philipp Vandamme und Sally Reynold sich verlobt hatten und die Hochzeit in Kürze stattfinden sollte, war sie noch reizbarer geworden, und darunter hatte nun ihr Mann zusätzlich zu leiden, da er schon völlig resigniert hatte.
»Geld zu Geld, das passt den Vandammes«, fauchte sie. »So sind sie, so werden sie immer bleiben.«
»Willst du nicht auch mal Schuld bei Carlo suchen?«, fragte er tonlos.
»Sie haben ihn zermürbt. Ein sensibler Künstler kann in einer solchen Atmosphäre nicht leben, und wenn er auf dumme Gedanken gekommen ist, dann nur dadurch.«
»Und seine Weibergeschichten, seine Ausfälle, sein schockierendes Benehmen bei Konzertproben, das willst du nicht wahrhaben.«
»Das ist doch alles maßlos übertrieben. Du weißt doch, wie diese Schmierfinken alles aufspielen, wenn sie ein Opfer gefunden haben. Und diese Sally ist genauso kaltschnäuzig wie die Vandammes.«
»Und Daisy Plessa?«, fragte er.
»Die lügt doch das Blaue vom Himmel herunter. Sie hat sich doch die zwei Millionen unter den Nagel reißen wollen, das steht ja wohl fest.«
Arnold Callenberg seufzte schwer. Es war vergeblich, Elena zur Vernunft zu bringen. Er sah nur noch das Nichts vor sich.
Als Elena jedoch von ihm verlangte, Dr. Rogahn aufzusuchen, blieb er hart.
»Das badest du selbst aus«, sagte er. »Neulich warst du ja zu feige, den Termin einzuhalten. Was sollte ich denn sagen? Ich kann mir nicht selbst etwas in die Tasche lügen. Es war doch schon die größte Dummheit von Carlo, den Jungen nach Biarritz zu bringen. Er hätte sich doch denken können, dass Viktoria das nicht hinnimmt. Oder dachte er gar, dass sie sich vor lauter Kummer ins Meer stürzen würde?«
»Er hatte doch Angst, dass sie mit dem Jungen verschwinden würde.«
»Dazu hätte sie bestimmt nicht erst nach Portugal fliegen müssen. Ja, ich glaube jetzt, dass Viktoria doch noch versuchen wollte, die Ehe zu retten, um Bobbys willen. Und die Konzertreise, die Carlo dann vorschützte, war doch auch eine Lüge. Ja, Elena, auch uns hat er belogen. So schrecklich es für mich ist, ich verschließe die Augen nicht mehr davor.«
»Unser Sohn, unser einziger Sohn«, jammerte sie, »wie verzweifelt muss er gewesen sein, dass er in solche Verwirrung geriet. Wir dürfen doch nichts unversucht lassen, ihm zu helfen.«
»Womit denn? Mich hat er doch auch aufs Kreuz gelegt. Es ist doch blanker Wahnsinn, wie er auch mein Geld verschleudert hat.«
Darauf konnte sie eine ganze Weile nichts mehr sagen, aber sie hatte überlegt.
»Es könnte doch sein, dass er tatsächlich nicht mehr Herr seiner Sinne war«, sagte sie dann stockend. »Ja, das wäre eine Erklärung, und damit könnten wir doch das Schlimmste abwenden.«
»Davon bekomme ich mein Geld auch nicht zurück«, sagte er bitter. »Ich war verrückt, ihm so bedenkenlos zu vertrauen. Unser genialer Sohn! Vielleicht sind wir alle verrückt. Wozu dieser ganze Krampf.«
»Es geht schließlich auch um unsere Existenz«, sagte sie herrisch. »Ich werde mit Dr. Rogahn sprechen.«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Vielleicht landen wir doch noch im Irrenhaus, dann sind wir wenigstens versorgt.«
»Du warst schon immer ein Feigling«, warf sie ihm vor. »Wenn du mehr riskiert hättest, wärest du genauso groß wie Vandamme.«
Noch einmal begehrte er auf. »Ist es uns nicht gutgegangen, konnten wir unseren Sohn nicht studieren lassen und ihm alles gestatten, was er schon immer rigoros beanspruchte? Und wohin das Risiko, das man eingeht, führen kann, hat er ja bewiesen. Und nun sage ich nichts mehr. Mach was du willst, Elena.«
Elena Callenberg meldete sich nicht bei Dr. Rogahn an. Sie fuhr auf gut Glück zu ihm, und da schien ihr der Teufel persönlich zur Seite zu stehen, denn eben begleitete er Viktoria zu ihrem Wagen. Er hielt ihre Hand, er streichelte leicht ihre Wange, und das konnte Elena sehen, obgleich sie sich geistesgegenwärtig weit genug entfernt gehalten hatte.
Für sie war das der Beweis, dass zwischen den beiden ein intimes Verhältnis bestand, so, wie Carlo es gesagt hatte. Sie konnte sich wieder an etwas klammern.
Nachdem Viktoria weggefahren war, wartete sie noch in ihrem Wagen. Sie wusste nun, dass Dr. Rogahn anwesend war, und sie meinte, nun auch einen guten Trumpf in der Hand zu haben. Sie hatte sich nun eine Taktik zurechtgelegt, von der sie sich Erfolg versprach.
Marc Rogahn war überrascht, als ihm seine Sekretärin den Besuch von Frau Callenberg meldete, da er mit seinen Gedanken noch bei Viktoria war.
»Die Schwiegermutter«, sagte Annemie Klinger verschmitzt.
Seine Gedanken überstürzten sich. »Sie sind doch glücklich verheiratet, Annemie«, sagte er.
»Ja, freilich«, erwidert sie überrascht.
»Würden Sie mir dennoch einen Gefallen tun?«
»Soll ich etwa mit Ihnen schmusen?«, fragte sie neckend, »damit die grimmige Schwiegermutter nicht auf den Gedanken kommt, dass Sie was für die junge Frau Callenberg übrig haben? Nichts für ungut, Chef, aber das kann mir ja nicht entgehen.«
Sie konnte sich erlauben, das zu sagen. Sie war schon fünf Jahre bei ihm und bereits drei Jahre davon wirklich glücklich verheiratet und Mutter eines einjährigen Söhnchens. Sie konnte ihren Beruf noch nicht aufgeben, da sie sich ein Häuschen gebaut hatten, aber Dr. Rogahn war ein großzügiger und verständnisvoller Chef.
»Sie brauchen nicht mit mir zu schmusen, im Gegenteil. Ich will die Dame ein bisschen warten lassen, und sie wird versuchen, sie auszuhorchen. Ich nehme das an, und Sie sollen sich auch aushorchen lassen. Sie sollen beiläufig bemerken, dass ich kalt wie Eis bin, und wenn überhaupt, nur etwas für Frauen wie Sally Reynold übrig habe.«
»Liebe Güte, ob ich das glaubhaft hinkriege, aber ich werde es versuchen«, sagte Annemie.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Es könnte nämlich sein, dass sie gesehen hat, wie ich Viktoria verabschiedet habe.«
Annemie blinzelte. »Hoffentlich kommt das bald in Ordnung«, sagte sie.
Aber dann bewies sie, dass sie nicht nur eine perfekte Sekretärin war, sondern auch diplomatisches Geschick besaß zu einer recht geistesgegenwärtigen Reaktionsfähigkeit.
»Sie müssen sich leider noch etwas gedulden, gnädige Frau«, sagte sie höflich. »Ich musste noch ein kurzes Protokoll aufnehmen. Herr Dr. Rogahn hat noch ein paar Minuten mit einem Klienten zu sprechen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Gleich hier?«, fragte Elena Callenberg.
»Ja, im Wartezimmer sitzt noch jemand, und Dr. Rogahn möchte Sie dann gleich hereinnehmen.«
»Ich hätte mich wohl anmelden müssen, aber es ist sehr dringend«, sagte Elena.
»Es wird höchstens noch zehn Minuten dauern.«
»Sie sind schon länger in der Kanzlei?«, fragte Elena.
»Fünf Jahre.«
»Zufrieden?« Elena dachte auch, es schlau anzufangen, da sich ihr solche Gelegenheit bot.
»Ja, sehr zufrieden. Er ist zwar so ein richtiger nüchterner Jurist, der nur seinen Beruf kennt, aber da ich verheiratet bin, kann mir das nur angenehm sein.«
»Ich will ja nicht neugierig erscheinen, aber er ist doch ein gut aussehender Mann. Hat er für Frauen gar nichts übrig?«
»Liebe Güte, er ist ein eingefleischter Junggeselle«, sagte Annemie. »Ich will ja nicht klatschhaft erscheinen, aber ihm imponieren nur Karrierefrauen, wie zum Beispiel Sally Reynold. Aber die hat ja Phil Vandamme den Vorzug gegeben.« Geschickt spielte Annemie nun die Kleinlaute. »Ich wollte das nicht sagen. Ich habe wirklich ganz vergessen, dass die junge Frau Callenberg eine geborene Vandamme ist.«
»Sie kennen meine Schwiegertochter? Kommt sie oft her?«
»I wo, heute war sie mal für zwei Minuten da, aber der Chef hatte keine Zeit.«
Annemie atmete auf, als der Chef nun höchstpersönlich erschien.
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Callenberg, dass Sie warten mussten«, sagte er, »aber mein Terminkalender ist voll. Aber eine Viertelstunde nehme ich mir Zeit für Sie.«
Solche Zugeständnisse hatte Elena nicht erwartet, und durch das, was Annemie so gleichmütig und deshalb glaubhaft erzählt hatte, war sie ein wenig irritiert.
»Es ist sehr freundlich, dass Sie mich empfangen«, sagte sie, und Marc nickte Annemie anerkennend zu, bevor er die Tür schloss.
»Ich bin gekommen, um etwas klarzustellen, Herr Dr. Rogahn«, begann Elena zögernd. »Ich habe mich neulich falsch benommen und möchte mich dafür entschuldigen. Als Carlos Mutter, er ist ja mein einziger Sohn, sehe ich alles wohl ein wenig verzerrt.«
Worauf will sie hinaus, überlegte er wachsam. »Das ist verständlich«, erwiderte er ruhig. »Es ist auch besser, wenn wir uns einvernehmlich auseinandersetzen. Eine gewisse Einsicht Ihrerseits ist dafür allerdings erforderlich.«
»Ich möchte Ihnen erklären, dass sich mein Sohn in letzter Zeit anscheinend in einer Neurose befand, hervorgerufen durch innere Konflikte. Viktoria hat wohl zu wenig Verständnis aufgebracht. Nun, ich will dies jetzt gewiss nicht emporspielen, es gibt ja solche Ehekrisen, aber es ist doch unbestreitbar, dass Carlo seinen Sohn abgöttisch liebt. Und der Junge hängt auch an ihm. Wir, die Großeltern, lieben Bobby auch.«
»Aber dabei dürfen Sie nicht vergessen, dass Bobby auch eine Mutter und andere Großeltern hat, die ihn lieben. Man kann einem Kind nicht einreden, dass er von den einen mehr geliebt wird als von den anderen. Sie wollen hoffentlich nicht, dass Bobby durch solche Konflikte in eine Frustration getrieben wird. Man sollte bei Scheidungen Rücksicht auf die kindliche Seele nehmen, Frau Callenberg.«
»Sie sind natürlich ganz auf Viktorias Seite«, brauste sie auf.
»Das ist selbstverständlich. Ich bin Viktorias Anwalt.«
»Und Freund«, zischte sie.
»Freund der Familie. Man wählt immer einen Anwalt des Vertrauens.«
»Wir werden uns auch einen Anwalt unseres Vertrauens nehmen, Herr Dr. Rogahn«, sagte sie, nun schon wieder die Beherrschung verlierend.
»Das steht Ihnen selbstverständlich frei, Frau Callenberg, aber ich empfehle Ihnen doch, sich alle Argumente, die gegen Ihren Sohn sprechen, eindringlich vor Augen zu führen.«
»Mein Sohn ist krank, die Lebensgefahr ist noch immer nicht gebannt.«
»Und man kann das, was er jetzt äußert, nicht gegen ihn verwenden, wollen Sie das sagen? Da gebe ich Ihnen recht, aber was vor dem Unfall geschah, spricht gegen ihn, und um Bobby vor weiteren Gefahren zu schützen, hat das Gericht heute vorsorglich einen Amtsvormund bestimmt.«
»Einen Amtsvormund?«, fragte sie tonlos. »Was bedeutet das?«
»Dass kein Elternteil bis zur Scheidung darüber bestimmen kann, wo der Junge sich aufhält, abgesehen von einem Ort, an dem er sicher untergebracht ist.«
»Wo?«
»Das müssen Sie den Amtsvormund fragen.«
»Und wer ist das?«
»Das müssen Sie beim Vormundschaftsgericht erfragen, falls man Ihnen Auskunft gibt.«
»Ich verstehe das alles nicht.«
»Ich verstehe auch nicht, wie ein Vater so handeln kann. Jedenfalls werden Sie sich damit abzufinden haben, dass gegen Ihren Sohn, wenn er gesund ist, Anklage wegen Kindesentführung mit dem Ziel eine Erpressung zu erreichen, erhoben werden wird.«
»Und Sie vertreten die Mutter, die Sie vor einer halben Stunde zärtlichst verabschiedet haben«, stieß Elena wütend hervor. »Das wird auch zur Sprache kommen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Frau Callenberg. Dafür müssen Sie Beweise erbringen«, sagte er eiskalt.
»Ich leide nicht an Halluzinationen«, sagte sie schrill. »Ich nicht.«
»Und ich sehe nur einen nüchternen Tatbestand. Ich habe die Scheidungsklage meiner Mandantin eingereicht, bevor Ihr Sohn den Unfall hatte, bevor wir von Bobbys Entführung erfuhren, bevor das Lösegeld gefordert wurde, und meine Mandantin hat für diesen Tag ein hieb- und stichfestes Alibi. Der Mann mit dem grauen Wagen, der Privatdetektiv Walter Kleemann, übrigens auch. Für die Mittäterschaft seiner Angestellten kann er nicht verantwortlich gemacht werden. Ich hoffe, ich habe Ihnen deutlich genug klargemacht, dass Sie gegen Hirngespinste ankämpfen, denen Sie sich selbst hingeben.«
»Sie haben überhaupt kein Mitgefühl mit einem todkranken Mann«, sagte sie.
»Wie viel Mitgefühl hatte denn Ihr Sohn mit seiner Frau? Fragen Sie sich das doch auch.«
Und so musste sie gehen, aber hernach bekam Annemie ein Lob, wie gut sie ihre Sache gemacht hatte.
»Hat es wenigstens was genützt, Chef?«, fragte sie. »Sie werden noch ganz schön lange warten müssen, bis Sie mal unter die Haube kommen.«
»Besser lang als gar nicht, Annemie«, erwiderte er, »aber diesbezüglich bitte ich um äußerste Diskretion.«
»Ich brauche meinen Job noch zwei Jahre«, sagte sie. »Dann sind wir aus dem Gröbsten raus, und das zweite Kind ist eingeplant.«
»Gut, dass ich es weiß und beizeiten eine Nachfolgerin suche.«
»Bis dahin werden Sie ja wohl auch aus dem Gröbsten raus sein«, sagte sie. »Mit Verlaub gesagt.«
»Das will ich hoffen«, seufzte Marc. »Wie wäre es denn mit einer Gehaltserhöhung, Annemie?«
»Bloß nicht, dann müssen wir letztlich mehr Steuern zahlen als jetzt.«
Aber als sie nachmittags das Büro verließ, drückte er ihr einen Umschlag in die Hand und legte dabei den Zeigefinger auf ihre Lippen.
Als sie draußen den Umschlag öffnete, waren fünf Hunderteuroscheine darin.
Ein steuerfreies Treuegeschenk stand auf einem Kärtchen ohne Unterschrift.
Sie schickte eine Kusshand ins Ungewisse. Und so was soll ein nüchterner Jurist sein, dachte sie, und wenn jemand Marc Rogahn in diesem Augenblick alles Glück der Welt wünschte, war es Annemie.
Elena Callenberg wünschte ihn zur Hölle. Aber noch wusste sie nicht, was sich indessen in der Behnisch-Klinik zugetragen hatte, denn nach dieser erneuten Niederlage, brauchte sie Zeit, um sich für das, was noch auf sie zukommen konnte, zu wappnen.
*
Da seine Frau keine Einsicht zeigte, war Arnold Callenberg in seiner Erbitterung zu einem Entschluss gekommen, während er am Krankenbett seines Sohnes saß.
Sein ganzes Leben war in der Zeit dieses Wartens vor seinem geistigen Auge wie ein Film abgerollt, von dem Tag an, als Carlo auf die Welt gekommen war. Sein ganzes Glück war es gewesen, einen Sohn in den Armen halten zu dürfen, ein hübsches, gesundes Baby.
Gefallen hatte es ihm nicht, dass Elena sogleich ein Horoskop erstellen ließ für diesen Erstgeborenen. Er hatte sich noch mehr Kinder gewünscht. Er war überzeugt gewesen, ein glückliches Eheleben mit Elena zu führen und lächelte nur ein bisschen über ihre Eigenheiten. Sie wollte ja nichts falsch machen. Sie wollte die Entwicklung des Kindes so steuern, dass es nur zu seinem Besten sein sollte.
Eine große künstlerische Begabung hatte man Carlo vorausgesagt, ein erfolgreiches Leben.
Er, Arnold Callenberg, hatte wirklich nur darüber gelächelt, und als das Horoskop dann auch weniger Gutes prophezeite, hatte Elena wegwerfend gesagt, dass er da ja schon erwachsen sei und sein Schicksal selbst in die Hände nehmen könne.
Ja, sie hatte alles getan, um ihn zu fördern, seine Begabung zu unterstützen. Sie hatte ihn mit aller Fürsorge umgeben, alles von ihm ferngehalten, was ihm hätte möglicherweise schaden können. Und er entwickelte sich genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er war nicht einseitig begabt, er war auf allen Gebieten wissbegierig.
Schon mit sechzehn Jahren hatte er seine ersten Erfolge als Geiger zu verzeichnen. Ein junges Genie, hatte man ihn genannt. Aber auch schlechter weiblicher Einfluss war warnend bemerkt worden. Eine frühe Ehe stünde unter keinem günstigen Stern.
Doch als er Viktoria kennenlernte, wollte sich Elena nicht mehr an dem Horoskop orientieren. Da war sie plötzlich anderer Meinung, da die Vandammes reich waren und Einfluss hatten. Und Viktoria war ein bildhübsches, sehr junges und romantisches Mädchen, das Carlo sich schon so formen würde, wie er es haben wollte. So hatte Elena gedacht. Und anfangs schien es sich auch so zu entwickeln.
Ja, in dem Horoskop war doch noch manches angedeutet worden, was Elena nicht wahrhaben wollte, obwohl das bedeutend diskreter mitgeteilt wurde. Warnungen vor Ausschweifungen, vor Selbstüberschätzung. Das Negative aber wollte Elena nicht herauslesen.
Als Bobby geboren wurde, ließ sie auch für ihn ein Horoskop erstellen, und damit, das wurde Arnold Callenberg jetzt bewusst, hatte schon das Lauern begonnen, denn Bobbys Mutter war eine Vandamme, und an dieser Familie hatte Elena sehr viel auszusetzen, weil sie dem »genialen« Schwiegersohn nicht den gewünschten Beifall zollten. Und nun stand in Bobbys Horoskop auch noch, dass er zwar sehr musikalisch werden würde, aber auch andere geistige, technische und geschäftliche Interessen entwickeln könnte. Eine familiäre Veränderung in frühkindlichem Alter, könnte seine weitere Entwicklung bestimmen, die jedoch in eine erfolgreiche Zukunft führen würde.
Die Veränderung in familiären Verhältnissen hatte Elena dann buchstäblich herbeigeredet, wenn sie mit Carlo zusammentraf.
»Sie wollen dir das Kind entfremden, du musst beizeiten einen Riegel vorschieben«, so und noch fanatischer hatte sie auf ihn eingeredet. Aber sie hatte ja offene Ohren gefunden. Er hatte sich über Viktoria beklagt, über ihre Gleichgültigkeit seinen Erfolgen gegenüber. Er hatte freilich nie gesagt, dass er niemals den Wunsch äußerte, dass sie ihn auf einer Konzertreise begleiten solle, und freilich erst recht nicht, dass er sich da lieber mit anderen Frauen amüsierte, die ihn anhimmelten.
Ja, Arnold Callenberg waren nun doch die Augen aufgegangen, aber nun schrak er aus diesen Gedankengängen empor, als Carlos Stimme an sein Ohr tönte.
»Wo ist Mam?«, fragte er mürrisch. »Was hockst du hier herum und starrst vor dich hin?«
Er hatte seinen Vater also schon eine Zeit beobachtet, und wieder war ein Ausdruck in seinen Augen, der Arnold erschrecken ließ.
»Sie ist zu Dr. Rogahn gefahren«, erwiderte er.
»Warum?«
»Weil sie sich einbildet, noch etwas zurechtbiegen zu können.«
»Was denn schon? Man wird mir nichts beweisen können. Solange ich krank bin, gibt es keine Scheidung, und dann …«
»Dann will ich zuerst mal mein Geld wiederhaben«, fiel ihm der Ältere ins Wort.
»Du wirst es ja bekommen«, murmelte Carlo. Und nun schloss er wieder die Augen. Was er nicht hören wollte, ignorierte er.
»Ich werde dir noch mehr sagen, Carlo. Mir kannst du jetzt nämlich erzählen, was du willst, ich glaube dir kein Wort mehr. Gott und die Welt sind Schuld an deinem Dilemma, nur du selbst nicht, aber es gibt zu viele Beweise, dass du dich selbst in diese Situation gebracht hast. Ich kann Viktoria jetzt nur bewundern, dass sie so viel geschluckt hat. Und deine angebliche abgöttische Liebe zu Bobby hinderte dich nicht daran, das Kind in Lebensgefahr zu bringen, dich der Mithilfe eines käuflichen Mädchens zu bedienen.«
»Und meine Erfolge, meine großen Erfolge«, lallte Carlo, »wer wollte mich denn vernichten?«
»Du selbst«, sagte Arnold Callenberg tonlos, »nur du, in deinem Wahn, der Größte und Unersetzliche zu sein. Soll ich dir mal vorlesen, was sie in den Zeitungen über dich und deinen Lebenswandel schreiben?«
»Hör auf, diese Aasgeier, alle sind sie neidisch und gemein.«
»Und du bist der Edelmut in Person«, brach es zornig aus Arnold heraus. »Oh, mein Gott, was hast du zerstört.«
Carlo starrte ihn an, rang nach Luft, und Schaum trat vor seinen Mund. Er sah so schrecklich aus, dass auch sein Vater dem Zusammenbruch nahe war, aber dann lag Carlo da und röchelte nur noch.
Bewegungslos blieb Arnold Callenberg noch einige Minuten sitzen. In ihm war jetzt eine fürchterliche Leere. Er empfand überhaupt nichts mehr. Ganz langsam erhob er sich und ging, schwankend wie eine Marionette, hinaus. Dr. Jenny Behnisch kam aus einem Krankenzimmer und schnell auf ihn zu, als er sich, grau im Gesicht, an die Wand lehnte.
»Es geht ihm schlecht«, sagte er schleppend. »Vielleicht habe ich ihm den Todesstoß versetzt.« Und dann sackte er in sich zusammen.
Dr. Jenny Behnisch dachte nicht daran, diese Worte Elena Callenberg zu wiederholen, als diese in die Klinik kam. Sie dachte auch nicht daran, besonders rücksichtsvoll zu sein, da diese Frau ja nicht die geringste Rücksichtnahme kannte.
»Im Befinden Ihres Sohnes ist eine akute Verschlechterung eingetreten«, erklärte sie. »Ihr Mann ist zusammengebrochen.«
Diesmal reagierte Elena anders, als Dr. Jenny Behnisch gefürchtet hatte. »Was ist mit meinem Mann?«, fragte sie zitternd, ohne zuerst zum Zimmer ihres Sohnes zu eilen und wieder einmal an dem Können und Wollen der Ärzte Zweifel zu hegen.
»Es ist ein Herzinfarkt«, erwiderte Jenny.
»Aber er ist doch nicht tot? Er kann doch nicht sterben und mich allein lassen«, stöhnte Elena.
»Er lebt, aber es geht ihm nicht gut, Frau Callenberg. Ich kann Ihnen augenblicklich nicht mehr sagen.«
»Und mein Sohn?«
»Er liegt im Koma.«
»Was ist das?«, fragte Elena.
»Tiefste Bewusstlosigkeit.«
»Besteht da keine Hoffnung mehr?«
»Es gibt Patienten, die Monate im Koma überleben.«
»Ohne Nahrung aufzunehmen?«, fragte Elena. »Ich kenne mich da nicht aus. Es ist erschreckend für mich.«
»Die Patienten werden künstlich ernährt und auch beatmet.«
»Und warum das?«
»Weil es unsere Pflicht ist«, erwiderte Jenny.
»Und was kostet das?«, fragte Elena, und da kam wieder das durch, was Jenny diese Frau von Anfang an unsympathisch gemacht hatte, bevor sie noch Einzelheiten über die Ehe des Carlo Callenberg kannte.
»Auf Sie werden keine zusätzlichen Kosten zukommen«, erwiderte sie kühl.
Elena blickte zu Boden. »Kann ich meinen Mann sehen?«, fragte sie.
»Später, aber er ist nicht ansprechbar. Er wird immer noch versorgt.«
»Und wodurch erfolgte der Zusammenbruch?«
Zäh wie Hosenleder, dachte Jenny. »Das weiß ich nicht, wahrscheinlich völlige physische und psychische Erschöpfung.«
Das mit dem Todesstoß wollte sie für sich behalten, denn dass Arnold Callenberg gelitten hatte, wusste sie.
Elena konnte nun weder mit ihrem Sohn, noch mit ihrem Mann sprechen, und alle Hoffnung in ihr, dass sich ihre Lage doch noch zum Guten verändern lassen könnte, schwand.
Inzwischen war Viktoria von Marc ausführlich über sein Gespräch mit Elena unterrichtet worden.
So deprimierend auch für Viktoria alles war, tröstlich war es doch, dass Marc sich als ein so guter Freund erwies, und dass die Familie zusammenhielt. Und außerdem sorgte Sally dafür, dass keine Resignation aufkommen konnte.
Ja, sie in ihrer kraftvollen, optimistischen Persönlichkeit war für alle eine gute Medizin, da brauchten sie nicht zu anderen Mitteln zu greifen.
Sie beschäftigte sich sehr viel mit Bobby und sie war es auch, die den richtigen Zeitpunkt erwischte, mit ihm über die Zukunft zu sprechen. Da bewies sie auch sehr viel Einfühlungsvermögen.
»Meinst du, dass der Papa jetzt bald heimkommt?«, fragte Bobby, als sie mit ihm durch den nahen Wald wanderte.
Für Sally war es schon ermunternd, dass er Papa sagte, und nicht mehr Papi. Aber sie hatte auch das richtige Gespür, ihre eigenen Gedanken für sich zu behalten.
»Willst du es denn, Bobby?«, fragte sie behutsam.
»Eigentlich nicht. Ich weiß doch jetzt, dass ihr mich alle lieb habt, und es hat mir wirklich nicht gefallen, dass er immer auf Mami geschimpft hat. Ich bin jetzt auch schon größer. Mieke hat ja auch gesagt, dass es ganz falsch war, was er mit mir gemacht hat. Auch schon, als er mich zu den anderen Großeltern nach Biarritz gebracht hat. Das hat mir nicht gefallen, Sally.«
»Das hat Vicky auch sehr viel Kummer bereitet, Bobby«, erklärte Sally. »Ja, das hat sie krank gemacht und sehr traurig. Sie hatte große Angst um dich und auch darum, dass du gar nicht mehr bei ihr sein solltest.«
»Aber das braucht sie nicht denken, Sally, ich bin viel lieber bei Mami. Ich habe richtige Angst, dass Papa kommt und mich wieder zu dem schmutzigen Haus bringt, oder zu der Großmama, vor der habe ich jetzt noch mehr Angst.«
»Das wird nicht geschehen, Bobby. Es ist ja so, dass der Papa sehr krank ist und nicht mehr gesund wird. Und jetzt ist der Großpapa auch noch sehr krank.«
Bobby hielt ihre Hand fest umklammert.
»Er war eigentlich immer freundlich«, sagte er leise. »Muss er sterben, Sally?«
»Das weiß ich nicht, Bobby.«
»Und Papa?«
»Darüber kann ich auch noch nichts sagen.«
Mit gesenktem Kopf trabte Bobby neben ihr her. »Wenn man tot ist, kommt man nicht zurück«, sagte er nachdenklich. »So, wie Frau Lenau von gegenüber. Die haben sie auf den Friedhof gebracht. Sie war noch nicht alt und sehr nett. Warum hat Papa eigentlich immer nur gesagt, dass er bloß mich lieb hat, und zu Mami war er gar nicht nett, Sally?«
»Er wollte sicher nicht, dass du die Mami genauso lieb hast und noch mehr, Bobby«, erwiderte Sally nach kurzem Überlegen.
»Das kann ich wirklich nicht verstehen. Mami war doch immer bei mir und er war so oft weg. Ich sage Mami aber gleich, dass ich nie mehr von ihr fortgehe, und wenn er mir sonst was schenken würde.«
Sally nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. »Darüber wird sie sehr glücklich sein, Bobby«, flüsterte sie, »und wir alle.«
Ein paar kleine feuchte Küsse trafen ihre Wangen. »Dich hat er nicht leiden können, überhaupt nicht, und das habe ich gar nicht verstanden. Ich freue mich so auf eure Hochzeit, Sally. Ich möchte auch so gern mal bei einer Hochzeit dabei sein.«
Das war befreiend. Sally konnte wieder lachen. Hand in Hand liefen sie den Weg zurück und atemlos kamen sie beide an, und dann fiel Bobby seiner Mami um den Hals.
»Meine Allerliebste«, juchzte er. »Ich bin so froh, dass du nicht mehr krank bist.«
Und unter Sallys zwingendem Blick schoss Viktoria das Blut in die Wangen.
Sie konnte nur etwas ahnen und kombinieren, aber sie hielt ihr Kind in den Armen, das sie mit niemandem mehr teilen wollte. Wenigstens dachte sie in diesen Minuten voller Glückseligkeit so.
Und später umarmte sie Sally. »Wenn wir dich nicht hätten«, sagte sie dankbar.
»Ach was, Bobby weiß, wohin er gehört. Er ist nur ein bisschen verwirrt, aber er wird nicht trauern, Vicky. Nein, er wird ihn ganz sicher nicht vermissen, davon bin ich überzeugt.«
»Was bringst du alles fertig«, sagte Viktoria staunend.
»Wahrscheinlich steht mir ein guter Stern bei«, lächelte Sally. »Aber als du mich batest, seine Patin zu werden, habe ich mir geschworen, alles, was in meiner Kraft steht, für ihn zu tun, so wahr mir Gott helfe. So habe ich es doch wohl geschworen, Vicky.«
»Du hast es geahnt, Sally, dass er dich brauchen würde?«
»Und gefürchtet, um ehrlich zu sein, Vicky. Ja, ich habe gefürchtet, dass du an dieser Ehe, an diesem Mann zerbrechen könntest, aber ich habe zugleich auch gehofft, dass mein Instinkt täuscht. Er war so gar nicht mein Fall. Freilich wirkte er auf Frauen, aber nicht auf mich. Und es hat ihn gewaltig gewurmt, als ich ihm das ins Gesicht gesagt habe. Deshalb konnte er mich wohl auch nicht leiden. Immerhin gab ich dich nicht verloren, weil unsere Freundschaft hielt. Er hat doch bestimmt alles versucht, um sie zu zerstören.«
»Und gerade das war es, was mich hellhörig machte, Sally. Dass meine Eltern distanziert blieben, schob ich darauf, dass sie sich einen Partner für mich gewünscht hatten, der kein unstetes Künstlerleben führen würde, dass sich Carlo deswegen gekränkt zeigte, konnte ich anfangs auch verstehen. Ich sah ja alles noch in rosarotem Licht, aber als er dann anfing, unsere Freundschaft zu kritisieren, erwachte in mir Widerstand.«
»Aber er hatte dann doch nichts dagegen, dass ich Bobbys Patin wurde«, sagte Sally.
Vicky wurde sehr verlegen, und Sally lachte auf. »Ich kann mir schon vorstellen, weshalb«, sagte sie leichthin. »Du kannst es ruhig sagen, Vicky.«
»Ja, er meinte, dass du hoffentlich tief in die Tasche greifen würdest für diese Ehre. Aber du wirst doch nicht glauben, dass ich ebenso dachte.«
»Nein, Vicky, du nicht«, sagte Sally nun tiefernst. »Für ihn war treue Freundschaft ja auch ein weltenferner Begriff. Für ihn waren auch Menschen nur Objekte, die er benutzte und zur Seite stellte, wenn er ihrer überdrüssig war.«
»Du sprichst schon so, als wäre er nicht mehr vorhanden«, sagte Viktoria tonlos.
»Geistig ist er schon tot«, sagte Sally ruhig, »und was noch an Leben in ihm ist, kann dir und Bobby nicht mehr schaden. Du hast von ihm nichts mehr zu fürchten.«
»Wie kann sich ein Mensch nur so verändern, Sally«, sagte Viktoria leise.
»Ich weiß nicht, ob er sich gar so sehr verändert hat. Er konnte seine Umwelt nur so gut täuschen, denke ich, und solange er Erfolg hatte, schaute auch niemand hinter die Kulissen.«
»Und nun wird er als mein Ehemann sterben«, flüsterte Viktoria. »Bis zur bitteren Neige bleiben wir auf dem Papier verbunden.«
»Ist das nicht immerhin noch besser, als wenn bei der Scheidung schmutzige Wäsche gewaschen worden wäre?«, fragte Sally. »Oder meinst du, er hätte klein beigegeben? Du darfst jetzt nicht wieder resignieren, Vicky. Es ist auch für Bobby besser so.«
»Du hast recht, Sally, du hast ja so recht. Ich empfinde nichts mehr für ihn. Er war schon so lange so weit von mir entfernt. Ich hätte schon längst eine Entscheidung treffen müssen, aber ich hatte so große Angst, dass Bobby ihm nachweinen würde.«
Und was wäre geschehen, wenn sie diese Entscheidung getroffen hätte, fragte sich Sally. Vielleicht hätte er seine Drohung tatsächlich wahrgemacht und sich und den Jungen umgebracht, wenn er keinen Ausweg mehr aus seinem Dilemma gesehen hätte und Bobby seiner Mutter zugesprochen worden wäre. Oder er hätte auch Vicky umgebracht, wenn er mit seinem Psychoterror nicht zum Ziel gelangt wäre.
*
Solche Gedanken äußerte auch Dr. Daniel Norden, als er mit Fee und den Behnischs am Abend für eine knappe Stunde beisammensitzen konnte.
Dieter Behnisch wollte nun endlich die Einstellung seines Freundes Daniel genauer erfahren.
»Wenn wir nun alles bedenken, was wir über ihn zusammentragen konnten, und was die Untersuchungen ergeben haben, wie würde dann deine Diagnose lauten, Dieter?«, fragte Daniel. »Würdest du ihn als einen Psychopathen bezeichnen?«
Dieter schüttelte den Kopf. »Abgesehen von den Unfallfolgen, würde meine Diagnose eher Neuropathie heißen.«
»Was du gesagt hast, Daniel«?, warf Fee hastig ein.
»Dann stimmen die Männer ja wieder mal überein«, sagte Jenny. »Ich dachte zuerst, dass er ein Hysteriker ist. Aber wenn ein Mensch keine Seele hat, muss es ja von den Nerven kommen.«
»Eins haben sie ja gemeinsam, Jenny«, stellte Dieter fest, »vegetative und endokrine Störungen, und da ist eine Abgrenzung oft schier unmöglich. Die Fehlschläge, die schlechten Kritiken spielten da wohl eine wesentliche Rolle. Selbstüberschätzung führt leider häufig zum Versagen, dazu der Stress, dem er sich unterwarf, weil er nicht genug kriegen konnte.«
»Und dazu die Frauengeschichten, die ja auch nicht erfunden sind«, sagte Fee. »Es wird gut sein, Jenny, dass wir unsere Männer unter Kontrolle haben.«
Daniel und Dieter lachten gleichzeitig schallend auf.
»Eure Männer sind doch abends viel zu müde, um noch nach anderen Frauen zu schauen«, sagte Dieter.
»Und wenn ich so bedenke, was ich für eine Frau und fünf Kinder an Unterhalt zahlen müsste, falls sie mir den Laufpass gibt, vergehen mir alle Gelüste«, meinte Daniel neckend.
»Als ob du welche hättest«, rief ihm Jenny hin. »Aber Unterhalt hätte Viktoria Callenberg bestimmt nicht mehr bekommen. Er hat doch mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.«
»Was du nicht sagst«, rief Daniel aus. »Dann war die Erpressung nicht nur ein Scheinmanöver?«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Dieter. »Du glaubst doch nicht, dass diese dumme Pute sich das aus den Fingern gesogen hat?«
»Diesmal habe ich falsch kombiniert«, sagte Fee. »Ich wollte nicht glauben, dass Callenberg seinen Schwiegervater tatsächlich erpressen wollte. Ich meinte, er wollte die Familie nur in Angst versetzen, vor allem seine Frau. Und wenn der Unfall nicht passiert wäre, wäre er zu Hause erschienen und hätte so getan, als wüsste er gar nicht, wo Bobby geblieben ist.«
»Aber er ist doch am Morgen mit dem Jungen weggefahren, das wusste die Haushälterin«, sagte Jenny. »Diesmal hast du wirklich ganz falsch kombiniert. Was hätte er denn anführen können als Ausrede?«
»Die gleiche Geschichte, die er erzählte, nur zu einem anderen Zeitpunkt«, sagte Fee.
»Fee kann sich irrsinnig spannende Geschichten ausdenken«, sagte Daniel lächelnd, »und ich finde sie sogar logisch durchdacht. Sie meinte nämlich, dass Callenberg geplant haben könnte, seine Frau von irgendwo in der Nähe von München anzurufen, um ihr zu sagen, dass Bobby sich verletzt hätte und sie doch kommen möchte und dann hätte er sie betäubt …«
»Hör jetzt auf, Schatz, ich habe alles Mögliche überlegt. Das war nur eine Version. Ich kann mir auch jetzt noch nicht vorstellen, dass er sich nicht einen wohldurchdachten Plan zurechtgelegt hat, um Viktoria restlos fertigzumachen. Nachdem, was sie schon vorher durchgemacht hatte, befand sie sich doch auch schon in einer Angstpsychose.«
»Das muss ich zugeben«, sagte Daniel, »aber davon soll jetzt nicht mehr die Rede sein. Die strafende Hand Gottes hat den Schuldigen getroffen, und wir brauchen uns nicht in falschem Mitleid zu ergehen, da man Neuropathie wohl nicht als Erbkrankheit bezeichnen kann.«
»Wenn man nach Freud geht, entstehen Neurosen durch frühkindliche Frustration«, sagte Dieter Behnisch nachdenklich.
»Das kann man doch weder auf Carlo Callenberg noch auf Bobby beziehen«, sagte Fee erregt.
»Jedenfalls solltest du ein Auge darauf haben, wie Bobby auf die neue Situation reagiert, Daniel«, meinte Dieter Behnisch.
Was Carlo Callenberg wirklich geplant hatte, gab Daisy Plessa, zermürbt durch die Untersuchungshaft schließlich zu, nachdem ihr gesagt worden war, dass Carlo im Sterben läge.
So weit entfernt war Fee Norden gar nicht mit ihren Vermutungen gewesen, denn Daisy Plessas Geständnis war dies: »Ich lernte Carlo Callenberg kennen, als er Herrn Kleemann, meinen Chef, aufsuchte, der seine Frau beobachten lassen sollte. Ich war sehr beeindruckt von ihm und konnte die Frau nicht verstehen. Er hat mich zu einem Essen eingeladen und mir erzählt, dass seine Frau ihn schon lange betrügt. Aber er wollte sein Kind behalten, und er fragte mich, ob ich ihm helfen würde. Ich sollte nur einen Platz suchen, wo er sich ein paar Tage mit Bobby versteckt halten könnte. Da fiel mir gleich das Haus von meinen Großeltern ein. Er war sofort einverstanden. Ich teilte dem Notar mit, dass eine Filmfirma das Haus gekauft hätte, um dort einen Heimatfilm zu drehen, so hatte ich es mit Carlo überlegt. Dann sagte er mir aber, dass Herr Vandamme jeden Preis bezahlen würde, um seinen Enkel wiederzubekommen und wir könnten uns dann mit dem Lösegeld ein schönes Leben im Ausland machen. Ich habe ihn doch so geliebt.« Nach einem langen Schluchzen fuhr sie fort: »Ich fuhr zu dem Haus. Carlo brachte den Jungen. Er schlief. Ich hatte ein Transistorradio dabei. Da hörte ich dann, dass Carlo verunglückt ist, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich sollte Herrn Vandamme anrufen wegen des Lösegeldes und Bobby mitnehmen. Es hat auch alles soweit geklappt. Und das andere habe ich dann bloß gemacht, um Carlo zu helfen. Ich wollte doch nicht, dass dem Jungen etwas passiert. Ich habe doch hinterlassen, wo er zu finden ist.«
Aber was hätte sie wohl mit dem Geld angefangen, wenn sie es wirklich bekommen hätte? Immer wieder beteuerte sie, dass sie es Carlo hatte bringen wollen.
Ein törichtes Mädchen war sie, aber Viktoria sagte dann, dass sie ja auch so töricht gewesen sei, Carlos Liebesbeteuerungen zu glauben und er da wohl auch schon seinen finanziellen Vorteil im Auge gehabt hätte.
Marc meinte, dass ein guter Anwalt es wohl durchsetzen könnte, dass ihr mildernde Umstände zugebilligt würden, da sie Carlo hörig gewesen sei.
»Willst du sie nicht verteidigen, Marc?«, fragte Viktoria.
»Ich? Das wäre ja wohl zu viel verlangt, Vicky«, erwiderte er konsterniert.
»Man muss ihr doch eine Chance geben, damit nicht ihr ganzes Leben verpfuscht ist. Ich habe auch eine Chance bekommen, Marc.«
»Das sind zweierlei Schuhe, Vicky. Wir werden auf keinen grünen Zweig kommen, wenn du immer voller Mitleid mit meinen Mandanten bist, wenn eine Straftat vorliegt.«
»Aber du verteidigst doch auch solche.«
»Aber nicht dann, wenn ich persönlich engagiert bin.«
»Bist du das?«, fragte sie leise.
»Und wie, hast du überhört, dass ich ›wir‹ gesagt habe? Ich kann warten, Vicky, aber einmal würde ich auch von dir gern ein Ja hören, ebenso, wie Phil von Sally es hören wollte.«
»Das hast du wieder mal ganz diplomatisch ausgedrückt«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln, »aber besorg ihr einen guten Anwalt. Er hat schon so viel zerstört. Sie ist noch so jung.«
»Weißt du nicht, wie Bobby sie bezeichnet?«, fragte er.
»Hast du mit ihm darüber gesprochen?«, fragte sie erstaunt zurück.
»Wir haben uns mal ein bisschen unterhalten. Eine doofe Biene, nannte er sie, die nicht mal saubermachen kann und ihm auch nichts zum Essen dagelassen hätte. Nur zwei trockene Brötchen. Aber sie hatte Geld geschnuppert, Vicky, sehr viel Geld, und wenn sie auch noch so viel heult, ihren Anwalt soll sie sich allein suchen. Denk doch nicht, dass Carlo sie entlastet hätte, wenn es dazu gekommen wäre. Die Erpressung hätte er auf jeden Fall geleugnet.«
»Aber auch der Kommissar sagt, dass sie nicht sehr intelligent ist.«
»Aber sie war Angestellte in einem Detektivbüro, und da kann sie schon allerhand gelernt haben.«
»Du kannst sehr hart sein, Marc«, sagte Viktoria leise.
»Ja, das kann ich.«
»Warum bringst du dann mir so viel Verständnis entgegen?«
»Weil du dich unerfahren in Illusionen verstrickt hast, Vicky, und weil ich dich liebe«, erwiderte er. »Und du hast für verlorene Illusionen teuer bezahlt. Ich bin froh, dass dieser Leidensweg zu Ende ist. Und wenn du bereit bist, werden wir einen neuen Weg finden, das möchte ich dir heute sagen, aber du brauchst mir darauf nicht zu antworten. Bobby muss sein Ja dazu auch sagen können.«
Viktorias Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Lippen bebten.
»So denkst du nach allem?«, flüsterte sie, »nachdem ich so versagt habe?«
»Wieso hast du versagt? Du warst jung und gutgläubig und sehr verliebt. Als Phil mir erzählte, dass du Callenberg heiraten willst, und er nicht sehr erbaut war, sagte ich noch, dass jung gefreit nicht immer bereut werden müsse. Als ich dich dann kennenlernte, habe ich es bereut, dir nicht früher begegnet zu sein. Ja, so ist es, Vicky. Und da ich wusste, dass es Probleme in deiner Ehe gab, habe ich auch gehofft, dass es bald zu einer Trennung kommen würde, dass ich dir eines Tages sagen dürfte, was ich empfinde. Darf ich hoffen, dass du ja sagst?«
Die Tränen rollten nun über ihre Wange, und er küsste sie behutsam weg.
»Es ist so gut zu wissen, dass es dich gibt, dass es Liebe gibt, Marc.«
»Und Glück, Vicky, mein Liebstes.«
*
Sally erwies sich auch weiterhin als eine sehr geschickte Vermittlerin, wenn sie mit Bobby lange Gespräche führte. Ihm gefiel es sehr, mit ihr zu reden, weil sie nie sagte, dass er noch zu klein sei, um dieses oder jenes zu verstehen.
»Wie findest du eigentlich Marc?«, fragte sie ganz nebenbei, als der sich verabschiedet hatte.
»Prima«, erwiderte Bobby unbefangen. »So einen Freund möchte ich auch mal haben.«
»Er ist nicht nur Phils und mein Freund, er ist auch dein Freund, Bobby«, sagte sie.
»Mamis aber auch.«
»Natürlich, Mamis auch.«
»Es ist gut, dass er so nett zu ihr ist und dass er ihr hilft. Mieke hat gesagt, dass er ein guter Beschützer ist.«
»Ja, ein sehr guter.«
»Er geht mal mit uns Tennis spielen und bringt es mir auch bei, und wir machen auch mal eine Bergtour. So was hat Papa nie gemacht. Lebt er noch, Sally?«
Diese direkte Frage ließ Sally doch leicht erschrecken. »Ja, schon«, erwiderte sie zögernd, »aber er ist nicht bei Bewusstsein.«
»Wie ist das?«, fragte Bobby.
»Wenn man ständig schläft und nicht weiß, was um einen herum vor sich geht.«
»Dann kann er auch nicht reden«, sagte Bobby nachdenklich. »Dann kann er aber auch nicht verlangen, dass ich ihn besuche.« Er versank in Schweigen.
»Und der Großpapa?«, fragte er dann.
Bevor Sally darauf antworten konnte, kam Viktoria schnellen Schrittes auf sie zu.
»Geh mal zu Mieke, Bobby«, sagte sie, »sie hat was zum Schlecken.«
Da war er gleich dabei. »Er hat schon einen weiten Abstand gewonnen«, sagte Sally. »Wie das bei Kindern so ist, wenn sie sonst nichts vermissen.«
»Das wird auch gut sein«, sagte Viktoria. »Eben hat Dr. Behnisch angerufen. Carlos Vater ist gestorben.«
»Und Carlo?«, fragte Sally rau.
»Sein Zustand ist unverändert.«
Bobby zuckte nur die Schultern, als Viktoria es dann auch ihm sagte, aber dann kam ein ängstlicher Ausdruck in seine Augen.
»Kommt die Großmama jetzt etwa zu uns?«, fragte er bebend.
»Nein, Bobby!«, erwiderte Viktoria beklommen, da sie nicht wusste, was er sich dabei dachte.
»Dann ist es ja gut«, sagte er erleichtert. »Aber zur Hochzeit kommt sie auch nicht.«
Wenn das seine einzige Sorge sein sollte, konnte Viktoria erleichtert sein.
Elena Callenberg hatte jetzt ganz andere Sorgen. Ihr Mann war vor Carlo gestorben. Was wurde nun mit der Lebensversicherung? Die Klauseln kannte sie nicht, und das bereitete ihr mehr Sorgen als der Tod ihres Mannes, da sie nun auch bereits zu der Überzeugung gelangt war, dass auch für Carlo der Tod die bessere Lösung sei. Für sie ging es jetzt ums Überleben. Sie hing am Leben, und wenn sie jetzt auch jammerte und die tief Trauernde spielte, ihre Gedanken waren nur bei der Lebensversicherung und freilich auch bei den Kosten, die auf sie zukommen würden.
Dann kam ihr die Idee, sich hinter Hilflosigkeit zu verschanzen, und dies gelang ihr auch recht glaubwürdig, da sie ja gewohnt gewesen war, dass ihr Mann zeitlebens alle Behördenangelegenheiten erledigt hatte.
Jenny Behnisch musste herhalten, um sich Elenas Klagen anzuhören.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Frau Dr. Behnisch«, sagte Elena so entsagungsvoll, dass ihr Jenny ein gewisses Mitgefühl nicht versagen konnte. Hatte Elenas Auftreten auch keine Sympathie wecken können, es war doch sehr viel auf sie eingestürmt.
»Es gibt Institute, die alle Formalitäten erledigen, Frau Callenberg«, sagte Jenny.
»Aber unsere Mittel sind erschöpft«, klagte Elena. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich weiß auch nicht, wo ich meinen Mann bestatten lassen soll. Wenn mir meine Schwiegertochter doch wenigstens in dieser Situation behilflich sein würde.«
Dafür wäre sie willkommen, dachte Jenny nun doch wieder erbittert. Aber gleich darauf sollte sie erleben, wie großmütig Viktoria trotz allem sein konnte, denn eine Schwester erschien und sagte, dass Herr Dr. Rogahn Frau Callenberg sprechen wolle.
Elena zuckte leicht zusammen. »Was kann er wollen«, murmelte sie.
»Ich werde ihn fragen«, sagte Jenny.
Sie kam bald zurück. »Herr Dr. Rogahn kommt im Auftrag Ihrer Schwiegertochter, Frau Callenberg«, erklärte sie. »Wir hatten sie benachrichtigt, dass Ihr Mann verstorben ist. Er wird Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten behilflich sein.«
Elena starrte sie ungläubig an. »Das will er?«, fragte sie fassungslos.
Dann aber wusste sie gar nichts mehr zu sagen, als Marc ihr erklärte, dass Viktoria alle anfallenden Kosten übernehmen würde, und er ein Institut beauftragen solle.
»Es ist sehr entgegenkommend«, brachte sie stockend über die Lippen. »In meiner derzeitigen Situation muss ich das mit Dank annehmen. Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Dr. Rogahn?«
»Bitte, sofern es nicht die persönlichen Angelegenheiten von Viktoria betrifft.«
»Es handelt sich um eine Lebensversicherung. Es fällt mir nicht leicht, jetzt darüber zu sprechen, aber ich bin da völlig hilflos. Mein Mann hatte meinem Sohn eine recht beträchtliche Summe geliehen, und dafür hatte Carlo eine Lebensversicherung zu seinen Gunsten abgeschlossen. Da er nun aber vor Carlo gestorben ist …«, sie tupfte mit dem Taschentuch über ihre Augen, »es ist ja so peinlich, dies zu erörtern, aber könnten Sie mir sagen, wie sich das rechtlich verhält?«
So weit geht der Schmerz also doch nicht, dachte Marc.
So schwer scheint dieser Schicksalsschlag nicht für sie zu sein, wie Viktoria meint.
»Da ich die Police nicht kenne, die gewisse Abmachungen beinhaltet, kann ich Ihnen da leider keine verbindliche Auskunft geben«, sagte er.
Sie zerknüllte das Taschentuch. »Carlo wird doch auch sterben«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, wie alles weitergehen soll. Ich war immer nur Ehefrau und Mutter, und in geschäftliche Dinge hat mich mein Mann nicht eingeweiht.«
»Sie haben doch Haus- und Grundbesitz, so viel mir bekannt ist. Hat Ihr Mann kein Testament gemacht?«
»Das weiß ich nicht. Er war ja noch nicht so alt. Wer hätte ahnen sollen, dass alles so kommt. Wenn Carlo tatsächlich Schuld auf sich geladen hat, ist es nicht schlimm genug für eine Mutter, dies ertragen zu müssen? Soll ich nun dafür auch noch büßen?«
»Das brauchen Sie sicher nicht, Frau Callenberg«, erwiderte Marc kühl. »Im Einvernehmen mit Viktoria kann ich Ihnen erklären, dass sie für alle entstehenden Kosten aufkommen wird, und dass auch die Bankschulden Ihres Sohnes beglichen werden.«
»Er kann doch unmöglich so viel Schulden gemacht haben!«, stöhnte sie.
»Sie werden eine genaue Aufstellung erhalten. Eine Bedingung ist damit allerdings verknüpft. Bobby soll in Ruhe und Sicherheit heranwachsen und an nichts, was geschehen ist, erinnert werden.«
»Man will mir nicht gestatten, ihn wenigstens zu sehen?«, fragte sie heiser. »Muss mir das in diesen schmerzlichen Stunden gesagt werden?«
»Sie haben in diesen schmerzlichen Stunden doch auch an die finanzielle Absicherung Ihrer Zukunft gedacht, Frau Callenberg«, sagte Marc betont. »Die wird Ihnen zugesichert, falls sie sich an die eine Bedingung halten. Und denken Sie bitte auch daran, mit welchen Mitteln Ihr Sohn Bobbys Mutter in tiefe Verzweiflung getrieben hat.«
»Und mich auch«, schluchzte sie, und das war eine ehrliche Regung. »Warum das alles, warum nur? Warum musste mein Mann sterben, warum konnte Carlo nicht vor ihm sterben? Warum musste er uns das antun, wir waren doch so stolz auf ihn! Wir haben alles für ihn getan.«
Ja, das war echte Verzweiflung aus Erkenntnis geboren. Und nun sah sie Marc flehend an, aber sie brachte kein Wort mehr über ihre zuckenden Lippen.
»Es ist sicher schwer für Sie, Frau Callenberg«, sagte Marc, »aber bedenken Sie bitte auch, dass Bobby nicht nur der Sohn Ihres Sohnes ist, sondern dass er eine Mutter hat, die ihr Kind liebt, und die auch sehr gelitten hat. Aber Bobbys Leben liegt noch vor ihm.«
Sie wandte sich ab. »Wie es in dem Horoskop steht«, flüsterte sie. »Es wird eine Wendung nehmen in früher Kindheit. Es gibt da nichts zu belächeln, wie es Arnold tat, Herr Dr. Rogahn. Man darf dies nur nicht so auslegen, wie es einem gefällt.«
Marc glaubte zwar nicht an Horoskope, aber lächeln konnte er jetzt nicht, denn Elena hatte sich erhoben. »Sagen Sie Viktoria, dass ich ihr danke«, murmelte sie, »sagen Sie ihr auch, dass Sie verzeihen möge, was ihr angetan wurde. Darf ich darum bitten, dass mein Mann und mein Sohn dort ihr Grab finden, wo sie beide geboren wurden, weit entfernt von hier, und Gräber kann man schnell vergessen.«
Es klang zwar theatralisch, aber Marc spürte, dass sie mit ihren Gedanken zu weit entfernt war, um nach einem dramatischen Abgang zu suchen. Es waren Worte, die aus innerer Erkenntnis kamen.
»Sie brauchen alles nur anzuordnen«, sagte er.
*
Waren diese Worte Elenas, die Marc dann auch an Viktoria weitergab, schon eine Ahnung gewesen? Schon am selben Abend tat Carlo Callenberg seinen letzten Atemzug.
Bobby schlief bereits, als sie diese Nachricht übermittelt bekamen. Viktoria hatte gerade alles noch einmal mit Marc durchgesprochen, und dann waren Sally und Phil gekommen.
»Sie kann mir jetzt wirklich nur noch leidtun«, sagte Viktoria gedankenvoll. »Alle ihre Illusionen sind zerstört, und was hat sie noch zu erwarten?«
»Jetzt fang bloß nicht damit an, dass ihr Bobby Trost sein könnte«, sagte Sally in ihrer umwerfenden Offenheit. »Alle Toleranz hat Grenzen, Vicky.«
»So weit würde meinte Toleranz nicht gehen«, erklärte Viktoria ruhig. »Der Vorhang ist gefallen, aber ich kann mir vorstellen, wie ihr zumute ist. Alles, was sie erträumt hatte, ist in Scherben gefallen, und immerhin war sie fünfunddreißig Jahre verheiratet, und davon hat sie dreiunddreißig in der Vorstellung gelebt, ein Genie geboren zu haben. Sie hat mir mal erzählt, dass sie für Carlo gleich nach der Geburt ein Horoskop erstellen ließ …«
»Fängst du jetzt auch noch damit an«, fiel ihr Marc ins Wort. »Davon sprach sie auch, als ich bei ihr war. Mich würde es sehr interessieren, ob da nur Positives drinstand. Ich glaube sowieso nicht daran …«
»Aber von der Hand zu weisen ist das nun auch wieder nicht«, mischte sich nun Sally ein. »Ich war auch mal bei so einer Astrologin, nur so zum Spaß, und sie hat mir gesagt, wann und wen ich heiraten werde.«
»Jesses, jetzt bin ich aber platt«, rief Philipp aus. »Hat die auch meinen Namen gewusst?«
»Das nicht«, sagte Sally mit einem flüchtigen Lächeln, »aber deinen Geburtstag.«
»Den hast du ihr vorher gesagt«, sagte Philipp lachend.
»Nicht die Spur, mein Schatz. Sie hat mir gesagt, dass ich mit einem Mann sehr glücklich werde, der an diesem Tag geboren ist. Diesen oder keinen würde ich ehelichen. Also hast du mich bewahrt, dass ich eine alte Jungfer werde. Und ich, um es auch zu sagen, habe schon ziemlich daran geglaubt.«
»Du bist ein Teufelsweib, Sally«, sagte Phil staunend.
»Sag das nicht noch mal, sonst werde ich eine alte Jungfer«, konterte sie.
»Ich wollte damit ja auch nur sagen, dass du einmalig bist und sonst ein Engel.«
»Nun hört euch den an«, lachte Sally, »wie er sich drehen kann. Was sagst du, Marc?«
»Dass er dich liebt. Und was mich anbetrifft, brauche ich kein Horoskop, um zu wissen, dass Vicky für mich die einzige Frau bleiben wird, mit der ich leben möchte bis ans Ende unserer Tage.«
Philipp hielt die Luft an und Sally warf Viktoria einen schrägen Blick zu.
»Das hört man gern«, sagte sie leise, »und da Bobby Marc prima findet, wird es ja nicht lange dauern, bis der Name Callenberg vergessen ist.«
Konnte man so rasch vergessen? Viktoria war sich im Zweifel.
Die zerstörten Träume schon, ja, aber diese Jahre, in denen sie sich selbst verloren glaubte? Ihr Blick verlor sich ins Ungewisse, doch da nahm Marc ihre Hand, zog sie empor und ging mit ihr hinaus.
»Wir haben solche Probleme nicht zu bewältigen, Sally«, sagte Philipp.
»Ich habe ja auch immer gewusst, wer der richtige Mann für mich wäre«, erwiderte sie schlagfertig.
»Und wenn ich nun einer anderen auf den Leim gekrochen wäre?«, fragte er neckend.
»Ja, dann würde ich auch nicht an Horoskope glauben«, erwiderte sie mit einem umwerfenden Lächeln, »aber ich wäre da schon dazwischengegangen, mein Lieber. Das darfst du glauben. Ich wäre ja von Vicky rechtzeitig informiert worden.«
»Und warum hast du mich so lange zappeln lassen, wenn ich das fragen darf?«
»Weil mir auch mein Hochzeitstermin vorausbestimmt wurde … Also in genau vier Wochen, und ich bin froh, dass die dramatischen Ereignisse, die diesem vorangehen sollten, nun auch überstanden sind.«
»Guter Gott«, seufzte er, »dass du so fest an so was glauben könntest, hätte ich nicht gedacht.«
»Ein paar weibliche Attribute und Sentimentalitäten musst du mir schon zubilligen, Phil«, sagte sie träumerisch.
»Und wie gern«, erwiderte er zärtlich. »Raue Schale, weicher Kern, aber die Schale gefällt mir trotzdem sehr gut, mein Herz.«
Sie lehnte sich an ihn. »Mit Marc wird Vicky auch glücklich werden. So ganz glücklich könnte ich sonst nicht sein«, sagte sie gedankenverloren. »Aber es mag wohl doch so sein, dass jedem sein Schicksal vorbestimmt ist.«
»Dann ist uns hoffentlich ein langes, gemeinsames Leben vorbestimmt, Sally«, sagte er.
»Ein sehr langes«, erwiderte sie schelmisch. »Und warum sollen wir nicht daran glauben? Wirst du dich vier Kindern gewachsen fühlen?«
»Warum nicht, dann müssen wir aber bald anfangen«, meinte er schmunzelnd.
*
»Mach dir doch jetzt keine Vorwürfe mehr, Vicky«, sagte Marc.
»Es sind keine Vorwürfe, Marc. Ich muss mich doch aber fragen, warum man so blindlings in sein Unglück taumelt. Und du musst dich doch fragen, ob es dir nichts ausmacht, dass Bobby einen solchen Vater hatte.«
»Ich liebe seine Mutter, und ich komme prächtig mit ihm aus, Vicky. Ist es für ihn nicht sogar gut, dass er einen Vater bekommt, der ihn nicht als ein kommendes Genie sieht, sondern als ein völlig normales Kind, dem Spielraum zur eigenen Entfaltung gegeben werden muss?«
»Und wenn er die Geige jetzt doch wieder hervorholt?«, fragte sie.
»Dann soll er spielen, aber nur spielen und nicht dressiert werden. Und wenn er später den Wunsch äußert, Musik studieren zu wollen, werden wir damit auch fertig werden. Mir hat er gestern gesagt, dass er gern so ein Doktor werden würde wie Dr. Norden. Vielleicht äußert er mal den Wunsch, Pilot zu werden. Wenn ich so nachdenke, was ich alles werden wollte und dann habe ich mich für die Juristerei entschieden. Und dabei wollte mein Vater doch so gern, dass ich die Diplomatenlaufbahn einschlage.«
»Du bist ja auch ein Diplomat«, sagte Viktoria.
»Na ja, so ein bisschen, wenn es der Beruf erfordert, aber ich habe meine Eltern ziemlich früh verloren, gerade zu einem Zeitpunkt, wo man selbst eine Entscheidung treffen muss, und deshalb ist wohl auch bei mir manches anders gelaufen, als sie es wollten.Wir wissen nicht, in welche Zeit die Kinder hineinwachsen. Man muss ihnen Spielraum lassen, Vicky. Neulich sagte mir ein hoher Richter sehr vernünftig: Besser ein guter Handwerker als ein arbeitsloser Akademiker. Und er hat es sehr gelassen hingenommen, dass sein Sohn sich für das Schreinerhandwerk entschieden hatte. So sollten gute Eltern denken. Dann gibt es keine unüberbrückbaren Konflikte. Bobby ist noch keine fünf Jahre. Lassen wir ihm doch Zeit, noch lange Kind zu sein. Er wird es genießen.«
Sie war nicht wie Sally, die sich gern in einer zärtlichen Stunde anlehnte, aber dann wieder voller Tatkraft war. Sie brauchte den Schutz eines starken Mannes, von dem Kraft ausging, aber Marc gab ihr auch die Kraft, am nächsten Morgen Bobby zu erklären, dass sein Vater nun gestorben sei.
»Sally hat schon gesagt, dass er nicht mehr aufwachen wird, Mami«, sagte Bobby. »Aber ich brauche doch nicht mit auf den Friedhof zu gehen?«
»Nein, das brauchst du nicht«, erwiderte Viktoria.
*
Elena hatte sich indessen schon für die Feuerbestattung entschieden und die Urnen sollten dann in der Kärntner Heimat beigesetzt werden.
Nichts drang davon an die Öffentlichkeit. Erst Tage später wurde Carlo Callenbergs Tod in kleinen Notizen in den Zeitungen bekanntgegeben. Darüber lasen die meisten hinweg. So schnell verging die Zeit, so schnell wurde vergessen, was einmal Schlagzeilen machte. Und wenn dann mal jemand fragte, was eigentlich mit dem Callenberg sei, und bekam darauf die Antwort, dass er tot sei, war man nur erstaunt. Diejenigen, die den Künstler bewundert hatten fragten vergeblich nach seinem Grab. Seine Gläubiger waren froh, dass sie schnell und diskret zu ihrem Geld kamen, und nur die Versicherung machte Schwierigkeiten. Einmal deshalb, da diese Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit abgeschlossen war, und der Begünstigte Arnold vor seinem Sohn verstorben war. Zum anderen aber auch, weil Carlo den Unfall selbst verschuldet hatte. Mit Recht hatte sich Elena deshalb Sorgen gemacht, aber dann brachte es Marc durch, dass ihr vorerst die Hälfte des Betrages ausgezahlt wurde, da Viktoria eine Verzichterklärung geleistet hatte. Ihrerseits bestand Elena nun jedoch darauf, dass Carlos Schulden aus dieser Summe beglichen werden sollten. Darin hatte sie doch ihren Stolz. So blieb nur noch Daisy Plessa, doch sie bekam einen guten Anwalt. In Anbetracht der Umstände, da der Hauptschuldige nicht mehr am Leben war, fand kein großer Prozess statt, und Dietrich Vandamme hatte kein Interesse an einer Verurteilung. Die Strafe wegen der versuchten Erpressung, bei der niemand geschädigt worden war, wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Für Bobby geriet das Geschehen schon in Vergessenheit, aber die Freude war groß, als Dr. Brunner und seine Frau Bruni nach München kamen und mit den Nordens ein großes Wiedersehensfest gefeiert wurde.
Ihnen war es ja zu danken, dass Bobby keinen Schaden genommen hatte, dass er so gut versorgt wurde und so bald seine Mami wiedersehen konnte.
Es hätte auch anders verlaufen können, doch daran wollte jetzt niemand mehr denken.
Verging die Zeit für die Erwachsenen buchstäblich im Fluge, im Leben des kleinen Bobby schien eine Ewigkeit zurückzuliegen, was einmal sein Leben so unruhig gemacht hatte.
Dann kam ja auch das große Erlebnis für ihn, als die Hochzeit von Philipp und Sally stattfand. Er war unsagbar stolz, dass er mit Anneka Norden Blumen streuen durfte und beide lauschten andächtig der Trauungszeremonie.
»Hochzeiten ist sehr schön«, verkündete er hernach laut hörbar. »Das könnten wir öfter feiern. Sally hat noch nie so schön ausgeschaut.« Dann ging er zu Marc. »Weißt du, eigentlich könntest du doch Mami heiraten, dann streue ich auch wieder Blumen, und dann wärest du richtig unser Häuptling, nicht bloß beim Spielen.«
Wie gut Marc mit ihm umzugehen verstand, bewies er geistesgegenwärtig.
»Häuptling klingt nicht übel, Bobby, aber ich würde gern ein bisschen mehr sein für dich«, sagte er.
»Noch mehr?«, staunte Bobby, »du bist doch sowieso der Größte, und ich möchte mal genauso groß und stark werden wie du und auch so gescheit.« Und als Dietrich Vandamme sich da ein Lachen nicht verkneifen konnte, fuhr Bobby fort: »Brauchst gar nicht lachen, Mopi. Von Marc habe ich das allermeiste gelernt. Ich kann jetzt schon schwimmen und Tennis spielen, und ich weiß auch schon, wie man beim Schach spielen den König mattsetzen kann. Und da muss man bloß aufpassen, dass die Dame nicht in Gefahr gerät. Stimmt’s, Marc?«
»So ist es, Bobby, die Dame darf nicht in Gefahr geraten«, erwiderte Marc, und dann tauschte er einen langen verständnisinnigen Blick mit Dietrich Vandamme.
»Wenn es dir dann lieber ist, dass ich Papi zu dir sage und nicht Häuptling, können wir ja noch drüber reden«, meinte Bobby.
»Darüber können wir bald reden, Bobby«, sagte Marc. »Wir müssen dann aber deine Mami fragen, ob sie einverstanden ist.«
»Das mache ich schon«, erklärte Bobby. »Sally hat gesagt, ich muss es ein bisschen schlau anfangen.«
»Ach, du hast schon mit Sally darüber geredet«, warf Dietrich Vandamme ein.
»Mit Sally kann man über alles reden«, erklärte er. »Weil sie nämlich meine Patin ist. Sie hat mir auch erklärt, dass Marc mich bloß adoptieren braucht, damit ich genauso heiße wie er.«
»Und das möchtest du, Bobby?«, fragte sein Mopi gerührt.
»Na klar.« Doch da nahte Viktoria, die ein langes Gespräch mit Sallys Mutter gehabt hatte.
»Na, was habt ihr denn so lange zu reden?«, fragte sie heiter.
»Darüber reden wir beide mal allein, Mami«, erwiderte Bobby, »und was hast du mit Tante Henny geredet?«
»Sie hat uns eingeladen, zu ihr zu kommen, solange Sally und Phil auf der Hochzeitsreise sind.«
»Kommt Marc da auch mit?«, fragte Bobby sofort.
»Ich muss doch arbeiten, Bobby«, sagte Marc schnell.
»Dann bleibe ich aber auch lieber hier, sonst verlerne ich wieder den Aufschlag.«
»Tennis spielen können wir auch in Holland, Bobby«, sagte Viktoria errötend.
»Aber du kannst es nicht so gut wie Marc, Mami. Du brauchst auch noch Training.«
»Was sagt man dazu«, staunte Dietrich Vandamme.
»Und außerdem können wir mal alle zusammen zu Tante Henny fahren, wenn Marc Zeit hat«, meinte Bobby. »Ich kann doch noch nicht so gut auf dich aufpassen, wie Marc, Mammilein.«
»Da muss ich ihm allerdings recht geben«, sagte Marc, nahm Viktorias Arm und führte sie auf die Tanzfläche, da nun die Musik wieder spielte.
»Du wirst doch nicht annehmen, dass ich noch mal Dummheiten mache«, sagte Viktoria leise.
»Ich möchte nur nicht, dass du wieder so weit weg von mir bist, Vicky«, erwiderte er zärtlich.
Mit strahlenden Augen betrachtete Bobby das tanzende Paar.
»Jetzt sind wir aber wirklich froh, Mopi«, sagte er zufrieden. »Jetzt kann Mami wieder lachen. Marc ist ja auch so lieb mit ihr, gell. Du magst ihn doch auch?«
»Ja, sehr, Bobby.«
»Meinst du, dass wir auch so schön Hochzeit feiern?«
»Da kannst du dich ganz auf mich verlassen, Bobby.«
»Weißt du, worüber ich auch froh bin?«
»Sag es mir.«
»Dass ich nicht jeden Tag Geige spielen muss. Tennis ist eigentlich schöner. Was man muss, macht man nicht so gern. Und Tennis kann man auch viel schneller lernen als schön spielen.«
Dietrich Vandamme nahm seinen kleinen Enkel bei der Hand. »Du bist schon ein richtiger, vernünftiger Bub, Bobby«, sagte er mit tiefer Stimme.
»Ich habe von Marc auch schon so viel gelernt.«
Dietrich Vandamme machte sich um die Zukunft seiner Tochter nun keine Sorgen mehr und um Bobbys erst recht nicht. Für das Kind zählte die Gegenwart, in die Zukunft würde ein kluger Mann ihn besonnen leiten.
Das wusste er und auch seine Frau hatte sich davon nun schon überzeugen lassen, obgleich sie so skeptisch gewesen war, dass Viktoria an dem erlittenen Schock noch lange kranken würde.
»Ich bin froh für euch, dass Vicky sich gefangen hat«, sagte Henny Reynold zu Juliane Vandamme. »Sally hat sich immer mehr Sorgen um sie gemacht als um ihre eigene Zukunft.«
»Aber wir haben eine Schwiegertochter bekommen, an der es nichts auszusetzen gibt, Henny.«
»Vorlaut ist sie aber schon oft«, lächelte Henny.
»Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, und Marc auch.«
»Denk nicht mehr zurück, Juliane. Ich weiß, wie es dir ums Herz war. Was können wir Mütter mehr hoffen, als dass die Kinder glücklich werden.«
Und warum sollte es nun nicht auch mal gut gehen? Wenn auch dieser glückliche Tag ein Ende haben sollte, es konnten ihm noch so viele folgen.
Das ganz intime Gespräch mit seiner Mami war für Bobby unendlich wichtig gewesen, aber das Ergebnis ließ seine Augen noch heller leuchten.
»Ein bisschen müssen wir uns schon noch gedulden, Bobby«, hatte Viktoria gesagt, »aber wenn du Blumen streuen willst, sollten wir doch bis zum Frühling warten, denn im Winter gibt es ja keine.«
»Geben tät es die schon, aber die sind dann teuer«, sagte er. »Darüber habe ich mit Sally schon gesprochen. Aber wenn ich in die Schule komme, will ich so heißen wie Marc und einen starken Vater haben.«
»Bis dahin ist ja noch Zeit, Bobby«, sagte Viktoria. »Und außerdem kannst du Marc doch jeden Tag sehen.«
»Und im Winter gehen wir Ski fahren, das bringt er mir auch bei. Was er alles kann, da muss man doch wirklich staunen, wo er sonst doch auch so viel arbeiten muss.«
Ja, er hatte es verstanden, Bobbys Herz zu gewinnen, ohne große Worte zu machen. Und wenn er für Bobby auch noch der vielbewunderte Häuptling war, dass er ein guter Vater sein konnte und wollte, hatte er längst bewiesen.
Der Winter war kurz und nicht allzu streng, aber sie waren oft in den Bergen beim Skifahren und Viktoria schaute gern zu, wenn Marc mit dem Jungen zwischen seinen langen Beinen den Hang hinunterglitt. Sie hatte auch wieder Spaß daran gewonnen, aber noch lieber schaute sie doch den beiden zu und freute sich, wenn Bobby jauchzend in ihre Arme fiel.
Als der Frühling kam, freute sich Sally schon auf die Geburt ihres ersten Kindes. Auch in die Geheimnisse des werdenden Lebens hatte sie Bobby einweihen können.
Und wie viel Gefühl ihr mitgegeben war, hatte sie auch da bewiesen.
Zuerst hatte es Bobby nicht ganz begreifen können, wie ein Kind im Mutterleib heranwachsen konnte, aber er konnte es nun miterleben. Sally verstand es wundervoll, ihm alles zu erklären.
»Aber eine Mutter ist viel wichtiger für ein Baby als ein Vater«, sagte er, »weil sie ihr Kind schon viel länger kennt als der Vater, gell, so ist es, Sally?«
»Du hast es begriffen, Bobby. Wenn eine Mutter ihr Kind vom ersten Tag an liebt, auch dann, wenn sie es noch gar nicht anschauen und im Arm halten kann, dann ist sie die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben.«
»Phil stellt sich aber an wie eine wichtige Bezugsperson«, sagte er. »Er kauft dauernd Babysachen. Mommi hat neulich gesagt, sie wäre närrisch geworden, wenn Mopi sich so aufgeführt hätte. So viel Sachen braucht ein Baby gar nicht, meint sie.«
»Dann kriegt ihr eben was ab, wenn du mal ein Geschwisterchen bekommst«, sagte Sally.
»Wann wird das denn sein? Wenn ich zur Schule gehen muss, bin ich doch schon groß, und zuerst müssen sie doch heiraten. Bei uns ist alles schwieriger, Sally. Und stell dir mal vor, dass dein Baby gerade kommt, wenn sie heiraten.«
Aber die Sorge brauchte er nicht mehr zu haben. Die Hochzeit fand noch vor Ostern statt und genauso, wie Bobby sie mit seinem Mopi geplant hatte.
Diesmal wussten Dietrich und Juliane Vandamme, dass ihre Tochter die richtige Wahl getroffen hatte, und das Glück war vollkommen, als Bobby Marc umarmte und sagte: »Jetzt bist du mein richtiger Vater.«
Die Adoption machte keine Schwierigkeiten, und als Sally vier Wochen später einem Sohn das Leben schenkte, der auf den Namen Marc getauft werden sollte, konnte Bobby das Baby auch gleich in der ersten Stunde seines Erdendaseins betrachten.
»Das ist ein richtiger kleiner Mensch«, sagte er nachdenklich. »Das habe ich Sally wirklich nicht ganz glauben wollen. Aber ich möchte lieber zuerst ein Schwesterchen haben, und dann erst einen Marc. Gell, Papi, einen Marc bekommen wir dann auch noch.«
»Das mach mit Mami aus«, erwiderte Marc. »Ich habe nichts dagegen.«
»Sally hat gesagt, dass man viele Kinder haben kann, wenn sich die Eltern sehr lieb haben.«
»An wie viele denkst du, Bobby?«, fragte Marc lachend.
»Nordens haben fünf. Könnten wir das nicht auch schaffen, Papi, wenn wir mal Zwillinge kriegen? Ich finde Zwillinge ganz süß, und das geht auch schneller, wenn wir gleich zwei auf einmal bekommen.«
»Mach mich nicht schwach, mein Sohn«, sagte Marc, »ich finde das sehr aufregend.«
»Du kannst ja mal mit Dr. Norden sprechen, wie sie das gemacht haben«, sagte Bobby. »Sally ist auch ganz begeistert.«
Aber er war dann doch ganz zufrieden, als er zuerst das Schwesterchen bekam, das auf seinen Wunsch Anneka getauft werden sollte, weil Sally ihm gesagt hatte, dass der Name Sally nicht zu Rogahn passe, und darauf müsse man auch achten.
»Klingt Bobby Rogahn etwa nicht gut?«, hatte er gefragt.
»Doch, das klingt sehr gut«, erwiderte Sally.
»Aber Marc Rogahn klingt noch besser«, sagte Bobby, »und einen Bruder bekommen wir auch noch. Bekommst du eigentlich nur Buben, Sally?«, fragte er, da der zweite Sohn auch schon in der Wiege lag, der Henrik hieß.
»Eine Viktoria hätte ich auch schon ganz gern«, meinte Sally fröhlich.
»Wenn wir einen Marc bekommen, kriegst du eine Viktoria«, sagte Bobby.
»Oder einen Philipp«, sagte Sally.
Und so sollte es auch kommen. Eine zweite Viktoria gab es nicht, wie auch keine zweite Sally, aber deren Männer waren damit sehr zufrieden. Und Bobby war der Häuptling, wenn die muntere Schar zur Freude ihrer Eltern und Großeltern herumtobte, und Dr. Norden konnte sich nur darüber freuen, wie gesund sie heranwuchsen.