Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 36

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»Fräulein Geßler, bitte zum Chef«, tönte es aus der Sprechanlage.

»Schon wieder«, murmelte Andrea Geßler seufzend. »Ich werde mit der Übersetzung nie mehr fertig.«

»Du bist halt gefragt«, sagte ihre Kollegin Carola neckend.

Auch Axel Quirin, der Juniorchef, hatte die Aufforderung für Andrea vernommen, und seine Augenbrauen schoben sich zusammen. Ganz zufällig hatte er am Morgen einen kleinen Klatsch vernommen, der ihn in gereizte Stimmung versetzt hatte.

»Der Senior und der Junior werden sich noch wegen der Geßler in die Haare kriegen«, hatte ein Mädchen aus dem Büro gemeint, und ihre Gesprächspartnerin hatte erwidert: »Der Alte sieht doch noch flott aus, und das Geld sitzt auch bei ihm. Aber der Strack ist auch hinter ihr her.« Dass alle, oder ziemlich alle, auf Andrea neidisch waren, wusste Axel. Und so viel hatte eben auch keine andere zu bieten wie dieses ebenso attraktive, wie auch intelligente Mädchen.

Dass der Senior, Joachim Quirin, Andrea in letzter Zeit sehr häufig für sich einspannte, war Axel auch nicht entgangen.

Allerdings war die Chefsekretärin Dagmar Braun plötzlich schwer erkrankt und fehlte nun schon drei Wochen.

Dass Axel heimlich, oder sogar unheimlich, in Andrea verliebt war, hatte er sich schon lange eingestanden, seinem Vater allerdings noch nicht. Er wusste auch, dass der »Senior«, der immerhin noch keine Fünfzig war, ganz andere Pläne mit seinem einzigen Sohn hatte.

Ob Vater doch etwas ahnt und Andrea von mir fernhalten will, überlegte Axel jetzt trübsinnig. Und was war mit Strack, an dem als Abteilungsleiter nichts auszusetzen war, der aber sonst als Playboy bezeichnet wurde?

Jedenfalls sah Peter Strack sehr gut aus, war Junggeselle, Mitte Dreißig und war anscheinend auch nicht unvermögend. Er fuhr einen flotten Sportwagen, hatte eine schöne Wohnung und war immer nach der

neuesten Mode gekleidet.

Axel wurde von seinem Vater noch kurz gehalten, und da er mit ihm unter einem Dach wohnte, stand er auch fast ständig unter Kontrolle. Manchmal war Axel drauf und dran, alles hinzuwerfen, aber seiner Tante Josi zuliebe blieb er dann doch.

Während Axel grimmig vor sich hin starrte, nahm Andrea ein Diktat auf. Joachim Quirin war es gewohnt, nur Stichworte zu geben, alles andere hatte er Dagmar Braun überlassen, und so hielt er es auch mit Andrea.

»Sie machen Ihre Sache sehr gut, Fräulein Geßler«, sagte er jovial, »und dabei habe ich doch gedacht, dass Frau Braun unersetzlich für mich sein würde.«

»Ich hoffe, dass sie bald gesund ist«, sagte Andrea.

Er war leicht irritiert. Sie war zwar sehr selbstbewusst, aber er war es doch gewohnt, dass er hofiert wurde.

»Arbeiten Sie nicht gern für mich?«, fragte er.

»O doch«, lenkte sie ein, »aber es bleibt doch so viel andere Arbeit liegen.«

»Kann die nicht jemand anderes machen?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Für Spanisch haben wir keine andere Übersetzerin, und wir haben zur Zeit sehr viel spanische Korrespondenz.«

»Und für die Spanier ist mein Sohn zuständig«, stellte der Chef anzüglich fest.

Andrea blickte ihn voll an. Sie blieb völlig kühl. »Ich müsste auch für einen anderen diese Übersetzungen machen«, erklärte sie.

»Ich sehe ein, dass Sie überlastet sind. Ich werde ab sofort Ihr Gehalt erhöhen«, sagte Joachim Quirin.

Dagegen hatte Andrea nun wirklich nichts einzuwenden. Sie wusste, was sie leistete und sie war überdies sehr realistisch eingestellt.

»Verbindlichen Dank«, erwiderte sie höflich. »Ich bringe Ihnen den Brief dann zur Unterschrift.«

Darauf legte er auch Wert, denn es handelte sich um eine Angelegenheit, die Diskretion erforderte, und bei Andrea konnte er solcher sicher sein.

»Ich werde auch dafür sorgen, dass Sie ein eigenes Büro bekommen«, erklärte er noch.

»Oh, das ist wirklich nicht nötig. Ich komme mit Carola Munk sehr gut aus, und sie kann mir manche Schreibarbeiten abnehmen, die nicht so wichtig sind.«

Er musterte sie mit einem schnellen Blick. Schlank und schön, und immer perfekt gekleidet war sie, immer gepflegt und von einem Hauch von Kühle umgeben.

»Darf ich fragen, ob Sie allein in München leben?«, kam es zögernd über seine Lippen.

»Ja, ich lebe allein hier«, erwiderte sie, keineswegs bereit, weitere Auskünfte über ihre Familie zu geben, und er fragte auch nicht weiter.

Über ihre Familienverhältnisse sprach Andrea nie, denn die waren verworren genug und hatten ihr viel zu schaffen gemacht. Ihre Eltern waren geschieden, beide wieder mit anderen Partnern verheiratet, und auch mit denen lief nicht alles glatt. Andrea war froh, auf eigenen Füßen stehen zu können, und dafür hatte sie von ihrem Vater, wie auch von ihrer Mutter eine ganz hübsche Mitgift mitbekommen.

Sie hatte sich eine gemütliche Wohnung einrichten können, und dabei hatten ihr Dr. Norden und seine Frau Fee geholfen, eine solche zu bekommen. Sie waren die einzigen Menschen, denen Andrea voll vertraute.

Zu Dr. Norden war Andrea gekommen, weil sie in der Blütezeit immer unter starkem Heuschnupfen litt. Eine Desensibilisierung war bei ihr erfolglos gewesen, aber wenn der akute Zustand eintrat, hatte ihr Dr. Norden immer schnell helfen können.

Er hatte ihr dann die Wohnung vermittelt, als ein langjähriger Patient von ihm gestorben war und seine Frau ungern in ihrem Haus allein bleiben wollte, aber ganz fremde Leute wollte sie auch nicht haben. Doch wen Dr. Norden empfahl, akzeptierte sie, und so hatte Andrea in dieser Beziehung das große Los gezogen.

Hanny Thaler war Andrea eine mütterliche Freundin geworden, dankbar, dass Andrea sich auch um sie fürsorglich kümmerte und ihr alle Besorgungen abnahm, da sie nicht mehr gut zu Fuß war.

Dafür bekam aber Andrea immer ein gutes Essen vorgesetzt, wenn sie vom Büro heimkam. Und etwas Solides wie Andrea, das bekam auch Dr. Norden oft zu hören, fand man heutzutage wohl selten. Da gab es keine Herrenbesuche, und Andrea ging auch nur mal ganz selten aus, höchstens mal ins Kino oder in ein Konzert, aber wenn ein schöner Tag war, machte sie mit Hanny Thaler einen Ausflug in die Umgebung. Weil sie auch eine umsichtige und vernünftige Autofahrerin war, vertraute ihr Frau Thaler auch diesbezüglich.

Beiden war geholfen. Andrea hatte eine wunderschöne Wohnung im Grünen, einen Garten, in dem sie sich gern betätigte. Im Sommer pflegte sie ihn, im Winter räumte sie Schnee. Um all das brauchte Hanny Thaler sich nicht zu kümmern, und eigentlich war ihre einzige Sorge, dass eines Tages doch ein Mann diese Idylle zunichte machen könnte.

Aber wenn sie mal eine Andeutung machte, lachte Andrea nur. »Ich habe ja erlebt, welche Probleme eine Ehe mit sich bringt«, erklärte sie. »Da ist es besser, man bleibt allein.«

Mit Hanny Thaler hatte sie über ihre Eltern gesprochen, doch diese hatte eine glückliche, wenn auch kinderlose Ehe geführt, und sie hätte diesem reizenden Mädchen auch eine solche gewünscht.

Vorerst aber genossen beide das harmonische Zusammenleben, und als Andrea an diesem Abend einen großen Pralinenkasten mitbrachte, war Hanny Thaler ganz gerührt.

»Sie sollen doch nicht auch noch für mich Geld ausgeben, Andrea«, sagte sie.

»Ich habe Gehaltserhöhung bekommen, und das ist ein Grund zum Feiern«, meinte Andrea. »Am Sonntag machen wir einen schönen Ausflug, und ich lade Sie ein, Mutti Thaler. Kein Widerspruch!«

*

»So etwas Liebes wie die Andrea gibt es so schnell nicht mehr«, sagte Hanny Thaler anderntags zu Dr. Norden, als er seinen Hausbesuch bei ihr machte. Zweimal in der Woche kam er, um Blutdruck zu kontrollieren und nach ihren Beinen zu schauen, da sie stark unter Krampfadern litt. »Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass Sie mir dazu verholfen haben. So habe ich in meinen alten Tagen doch noch viel Freude. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht wieder so leiden muss, wenn die Blütezeit kommt. Kann man denn da gar nichts machen? Sie können doch immer helfen.«

Dr. Daniel Norden hatte sich den Kopf schon genug zerbrochen, warum Andrea diesbezüglich nicht zu helfen war. Nun ja, Hilfe konnte er ihr schon bringen, aber bisher war alles Bemühen vergeblich gewesen, Andrea davor zu bewahren.

»Sie ist so gern in der Natur«, fuhr Hanny Thaler fort. »Am Sonntag will sie auch wieder einen Ausflug mit mir machen. Sie hat Gehaltserhöhung bekommen und will mich sogar zum Essen einladen. Sie lässt sich das nicht ausreden. Dass den Eltern solche Tochter gleichgültig sein kann, will mir nicht in den Kopf.«

»Wir wollen froh sein, dass Andrea dennoch ein so tüchtiges Mädchen geworden ist«, sagte Dr. Norden nachdenklich. »Sagen Sie ihr nur, dass sie rechtzeitig zu mir kommt, wenn die Blüte einsetzt, damit ich ihr vorab schon etwas spritzen kann, Es ist jetzt ein Mittel erprobt, das eine Langzeitwirkung haben soll. Wenn sie darauf anspricht, können doch möglicherweise unangenehme Begleiterscheinungen weitgehend ausgeschaltet werden. Ja, liebe Frau Thaler, auch wir Ärzte müssen erst dahinterkommen, was wirklich helfen kann.«

»Mein Mann wäre ja schon lange vorher gestorben, wenn Sie ihm nicht geholfen hätten«, sagte Frau Thaler leise. »Und so sehr hat er sich dann auch nicht mehr quälen müssen. Sie brauchen nicht denken, dass ich das vergesse. Und vor allem werde ich nie vergessen, dass Sie mir die Andrea ins Haus gebracht haben. Wenn sie ›Mutti Thaler‹ zu mir sagt, da ist es mir, als wäre sie mein Kind, obgleich ich nie eins haben konnte.« Ihr Blick schweifte ab. »Es wird alles gut aufgehoben sein, wenn ich nicht mehr bin, denke ich.«

»Jetzt geht es Ihnen doch gut, Frau Thaler«, sagte Dr. Norden, obgleich sie ihm doch manche Sorgen bereitete.

»Ich weiß, dass es nicht mehr so arg lange dauern kann, bis ich bei meinem Ferdi liege«, sagte sie leise. »Wir waren einfache Leute, Dr. Norden. Wir haben uns ein bissel was geschaffen. Das Häusle, mein Gott, damals war ja alles noch nicht so teuer, und der Ferdi war so fleißig. So gescheit wie Andrea war ich doch nie, dass ich hätte so viel mitverdienen können. Ein Kind hätt ich mir schon gewünscht, aber es sollte nicht sein, und ob es so wie Andrea geworden wäre …, lieber Gott, was man so alles liest, da will ich lieber nicht darüber nachdenken. Aber ich habe alles geregelt, und Sie müssen mir versprechen, dass Sie dem Dirndl sagen, dass sie mein ganzes Glück gewesen ist.«

»Sie sind noch quicklebendig, Frau Thaler«, sagte er.

»Aber ich geh auf die Achtzig zu, und einmal kann es ganz schnell gehen. Wie es der Herrgott will. So hat es mein Ferdi auch immer gesagt. Sie wissen es ja, dass meine Beine nicht mehr wollen, und wenn Andrea nicht wäre, wer würde sich dann um mich kümmern. Es ist ja nicht so, dass einem nur das Bett bereitet und das Essen gebracht wird, was man braucht.«

»Ich verstehe Sie, Frau Thaler, und ich bin sehr froh, dass Sie sich so gut mit Andrea verstehen«, sagte Dr. Norden.

»Aber sie ist auch allein. Es ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, dass ihre Eltern sich getrennt haben. Das alles sitzt tief drinnen in ihr, da braucht sie mir gar nichts zu sagen. Das fühle ich. Sie kennen mich doch auch schon lange, Herr Dr. Norden. Sie wissen, dass ich nicht so eine bin, die nur schwätzt.«

»Sie sind eine ganz liebe Patientin, Frau Thaler«, antwortete Dr. Nor­den.

»Wenn nur die Beine nicht wären«, murmelte sie. »Die machen mir schon arg zu schaffen. Ich weiß ja, dass Sie alles tun, aber was nun mal schon so verbraucht ist, kann man auch nicht mehr auf neu machen. Aber passen Sie mir auf das Dirndl auf.«

»Das verspreche ich. Und nun freuen Sie sich auf den Sonntag.«

*

Da spielte auch der Wettergott mit.

»Wie wäre es, wenn wir mal an den Tegernsee fahren, Mutti Thaler?«, fragte Andrea.

»Ist das nicht zu weit?«

»Eine gute Stunde? Es wäre doch mal was anderes«, meinte Andrea.

»Es ist schon dreißig Jahre her, dass ich mit meinem Ferdi mal dort war. Ja, schön wär’s schon«, sagte Hanny Thaler. »Aber so recht behagt es mir doch nicht, dass Sie Ihre knappe Freizeit immer mit mir alter Frau verbringen, Andrea.«

»Mit meiner lieben Mutti Thaler«, sagte Andrea. »Ich habe ein wunderschönes Zuhause bei Ihnen gefunden. Ich habe Sie lieb.«

Da wurden Hanny Thalers Augen feucht. »Bist so ein liebes Dirndl«, sagte sie leise.

»Dann lassen wir es beim Du, Mutti Thaler. Bist auch eine ganz Liebe«, sagte Andrea.

Und ein wunderschöner Tag sollte ihnen beschieden sein, der sie einander noch näher brachte. In Wiessee aßen sie zu Mittag, dann fuhren sie mit dem Schiff nach Rottach-Egern.

»Es hat sich sehr verändert seit damals«, sagte Hanny Thaler leise. »Ich bin alt geworden, Andrea, und immer denk ich nur daran, wie es früher war.«

»Es ist schön, wenn man gute Erinnerungen hat«, sagte Andrea leise, »wenn man gern zurückdenkt.«

»Wir haben uns ja nicht viel leisten können. Wir haben immer nur für das Haus gespart. Ein eigenes Dach über dem Kopf, hat mein Ferdi sich immer gewünscht. Und darüber sind wir alt geworden, Andrea. Du solltest mehr von der Welt sehen.«

»Mich zieht es nicht hinaus, Mutti Thaler. Mein Vater war viel auf Reisen. Meine Mutter wäre gern mit ihm gereist, aber sie hatte die Kinder, und was daraus geworden ist, das sind wirklich keine guten Erinnerungen.«

»Du hattest noch Geschwister?«

»Eine Schwester. Sie war zwei Jahre älter als ich. Sie hat geheiratet, als sie neunzehn war. Es war ein Fiasko. Warum soll ich dir diese traurige Geschichte erzählen.«

»Sprich dich doch mal aus, Andrea«, sagte Hanny Thaler leise.

»Caroline hatte nach einem heftigen Streit mit ihrem Mann eine Fehlgeburt«, erzählte Andrea nach minutenlangem Schweigen. »Dann lief sie ihm davon. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Sie ist verschollen, irgendwo. Unsere Eltern haben auch das hingenommen.«

»Und Carolines Mann?«, fragte Hanny Thaler.

»Er war drogensüchtig, er hat sich umgebracht. Nur gut, dass da kein Kind da war. Aber nun weißt du, warum ich lieber allein bleiben möchte.«

Mit mühsamen Schritten ging die alte Frau neben ihr her.

»Aber es gibt doch auch wirkliche Liebe, Andrea«, sagte sie leise.

»Wirklich, Mutti Thaler? Ich weiß sehr gut, dass ich auf Männer wirke. Aber gerade das schreckt mich. Ich wäre gern hässlich, um in Ruhe gelassen zu werden. Oder einfach nur so ein ganz normales Mädchen wie Carola, das seine Arbeit tut und sein Gehalt bekommt, ohne dass einer von den leitenden Herren Interesse zeigt. Aber ich schwör es dir, mich kriegt keiner klein.«

»Nein, dich kriegt bestimmt keiner klein«, sagte Hanny Thaler lächelnd, aber vielleicht kommt mal einer, der sich ebenbürtig erweist, dachte sie weiter.

Doch jetzt genoss sie mit ungeteilter Freude Andreas Nähe und den herzerfrischenden Anblick, den sie bot.

*

Im Hause Quirin verlief der Sonntag nicht so harmonisch. Schon beim Frühstück hatte Joachim wieder angefangen, vom Geschäft zu reden, von der Messe, zu der er diesmal selbst fahren wollte.

»Am Mittwoch fliege ich nach London«, verkündete er dann.

»Da wirst du dich aber hart tun mit deinem englischen Vokabular, Vater«, sagte Axel spöttisch. »Man spricht nicht deutsch auf diesen Kongressen.«

»Ich nehme Fräulein Geßler mit«, erklärte der Ältere.

Josi Kilian sah, wie Axel zusammenzuckte, und nun ergriff sie schnell das Wort.

»Bei dieser Gelegenheit möchte ich verkünden, dass ich für drei Wochen verreise.«

»Wieso?«, fragte Joachim.

»Weil ich mal was anderes hören will, als dauernd Geschäftliches«, erwiderte sie ironisch.

»Ein plötzlicher Entschluss«, brummte Joachim.

»Ein lang überlegter, aber ich werde ja auch immer vor vollendete Tatsachen gestellt«, erklärte sie gelassen.

»Mit wem fährst du, Josi?«, erkundigte sich Axel beklommen.

»Mit einem sehr netten Mann«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen, und die beiden anwesenden Männer waren sprachlos.

»Jetzt sag nur, dass du die Absicht hast, noch zu heiraten«, platzte Joachim dann heraus.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte sie anzüglich. »Vielleicht habe ich keine Lust mehr, hier die Hausdame zu spielen, und eines Tages bringst du ein junges Ding ins Haus, das mich abserviert. Dem will ich zuvorkommen.«

»Rede nicht solchen Unsinn, Josi«, sagte Axel erschrocken.

»Bei deinem Vater scheint der zweite Frühling ausgebrochen zu sein«, fuhr sie etwas spöttisch fort. »Na, meinetwegen, aber ohne mich.«

»Und was ist mit dir los?«, fragte Joachim gereizt. »Torschlusspanik?«

»Die hat man mit fünfundvierzig überwunden, aber der Herbst hat auch noch seine schönen Tage«, meinte sie anzüglich.

»Ich werde nicht zulassen, dass Vater Fräulein Geßler ins Gerede bringt«, stieß Axel jetzt zornig hervor.

Joachim hieb die Faust auf den Tisch. »Kümmere dich lieber um Astrid. Ich lege Wert darauf.«

»Aber ich nicht«, konterte Axel. »Warum kümmerst du dich nicht um sie, wenn dir ihr Wohl so am Herzen liegt. Sie ist auch nicht viel jünger als Andrea Geßler.«

»Oh, lá, lá«, murmelte Josi und verließ das Zimmer.

Axel sprang auf und folgte ihr, und mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss.

»Du kennst sie nicht. Niemals würde sie sich mit Vater einlassen, oder sonst in ein Abenteuer.«

»Vielleicht will er sie heiraten, und er hat was zu bieten. Und es könnte ja sein Gedanke sein, dich vorher ins Ehejoch zu spannen, damit du ihm nicht in die Quere kommen kannst.«

»Das könnte ihm so passen. Ich denke nicht daran, diese dumme Pute zu heiraten, damit er sich auch noch die Klinger AG unter den Nagel reißt.«

»Wenn ihm daran so viel liegt, könnte er ja die Witwe Klinger heiraten«, spottete Josi.

»Er ist hinter Andrea her«, sagte Axel grimmig.

Josi sah ihn forschend an. »Du bist verliebt«, stellte sie fest. »Warum kommst du ihm nicht zuvor?«

»Das Mädchen ist eine Festung. Man kommt einfach nicht an sie heran. Und das ist mein einziger Trost.«

»Es gibt auch junge Frauen, die ein ganz bestimmtes Ziel verfolgen, Axel«, sagte Josi nachdenklich. »Geld und Macht. Ist sie sehr hübsch?«

»Bildschön und außerdem klug.«

»Und wo wohnt sie?«

»Mardersteig vierzehn, bei einer alten Dame.«

»Du bist gut informiert«, meinte Josi nachsichtig.

»Die Adresse steht in den Personalpapieren, und das andere habe ich in Erfahrung gebracht. Sie ist nicht auf Geld und Macht aus, jedenfalls nicht durch eine reiche Heirat«, sagte er trotzig. »Wenn du sie kennen würdest, wärest du auch dieser Überzeugung.«

»Ich würde sie gern kennenlernen«, sagte Josi.

»Ich kann sie nicht einladen, Josi. Du müsstest schon ins Büro kommen.«

»Unter welchem Vorwand?«, fragte sie zögernd. »Ich möchte nicht, dass Joachim Wind davon bekommt.«

Axel überlegte ein paar Sekunden. »Du bekommst doch in letzter Zeit ziemlich häufig Briefe aus Spanien. Kannst du eigentlich alles lesen?«

»O ja, so ziemlich.«

»Andrea ist auch für die spanische Korrespondenz zuständig, und Vater ist morgen Vormittag in einer sehr wichtigen Konferenz«, erklärte Axel.

»Danke für den Hinweis.« Sie zwinkerte ihm zu. »Vielleicht so gegen halb elf Uhr?«

»Eine ganz gute Zeit«, erwiderte er. »Jetzt sag mir aber, wohin du fahren willst und mit wem.«

»Einfach so ins Blaue, Axel. Ich muss mal Abstand gewinnen. Es ist für Joachim zu selbstverständlich geworden, dass ich mich um den Haushalt kümmere.«

Er sah sie nachdenklich an. »Ich habe gehofft, dass er dich heiraten würde, Josi. Eine bessere Frau könnte er doch wirklich nicht finden.«

»Ach was«, sagte sie leichthin, »ich bin seine Schwägerin, Gundis Schwester, und ich bin nicht so sanftmütig, wie Gundi war.«

»Andrea hat auch einen starken Charakter«, sagte Axel.

Josi blickte von ihm fort. »Aber sie ist jung, und Männer um die Fünfzig machen auch eine Midlifecrisis durch. Ich habe ein hübsches Haus, Axel. Wenn es bei euch kracht, kannst du zu mir ziehen. Es wird sowieso höchste Zeit, dass ich mich mal wieder um das Haus kümmere. Es muss dort einiges renoviert werden.«

»Und was ist das für ein Mann?«

»Welcher Mann?«, fragte sie.

»Mit dem du verreisen willst?«

Sie lächelte hintergründig. »Das verrate ich nicht. Aber es wäre nett, wenn du dich mal um mein Haus kümmern würdest, wenn die Handwerker draußen sind. Du brauchst ja niemandem zu sagen, dass ich noch eine Woche dort bleiben werde.«

»Ist okay, Josi, aber ich werde dich sehr vermissen.«

Sie sah ihn wieder nachdenklich an. »Weißt du, Axel, es ist ganz gut, wenn jeder sich darauf besinnt, dass er ein Eigenleben hat und nicht immer auf andere Rücksicht nehmen muss.«

»Vater ist nicht sehr rücksichtsvoll«, stellte Axel fest.

»Aber er liebt seine Bequemlichkeit, und Restaurantessen ist er schnell überdrüssig.«

»Ich aber auch«, sagte Axel.

»Ein paar Opfer müssen wir halt mal bringen«, meinte sie lächelnd. »Eine Reisetante bin ich auch nicht gerade, aber Tapetenwechsel kann manches geradebiegen.«

Sie war eine kluge Frau, und sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Allein schon Joachims Idee, Axel mit Astrid Klinger verheiraten zu wollen, hatte ihr nicht gepasst, und dann auch noch diese Spannung zwischen Vater und Sohn wegen Andrea Geßler. Josi war sehr gespannt, dieses Mädchen kennenzulernen.

*

Pünktlich wie immer nahm Andrea auch an diesem Montagmorgen ihren Arbeitsplatz ein. Carola kam mit zehnminütiger Verspätung angehetzt.

»Hat es jemand gemerkt?«, keuchte sie.

»Brauchst dich doch nicht gleich aufzuregen«, sagte Andrea. »Niemand hat davon Kenntnis genommen. Wie siehst du aus? Fehlt dir was?«

»Mir war die ganze Nacht so schlecht. Ich habe kaum geschlafen. Speiübel ist mir. Entschuldige, Andrea.«

»Warum bist du nicht zu Hause geblieben?«, fragte Andrea.

»Da stinkt es nach Farbe, und mir dreht sich der Magen um.«

Anzufangen war nichts mit ihr. Heiß und kalt wurde es ihr, und dann lief sie hinaus.

Andrea wurde mal wieder zum höchsten Chef gerufen. Er war heute auch früher im Büro, weil die Konferenz angesetzt war.

»Ich muss am Mittwoch nach London, Fräulein Geßler, und ich möchte, dass Sie mich begleiten, da ich englisch nicht so perfekt beherrsche wie Sie.«

»Fräulein Munk ist krank«, erwiderte Andrea ruhig. »Sie ist zwar gekommen, aber sie gehört in ärztliche Behandlung.«

»Na, wenn schon, für sie wird es wohl Ersatz geben«, meinte Joachim Quirin.

»Für mich doch wohl auch«, sagte Andrea. »Ich lebe bei einer alten Dame, die ohne mich nicht zurechtkommt.«

»Eine Verwandte?«, fragte er.

»Nein, das nicht, aber ich betreue sie.«

»Ist das wichtiger als Ihr Beruf?«, fragte er unwillig. »Ich kann für so wichtige Dinge doch nicht irgendjemand mitnehmen. Es sind zwei Tage. Ich kann eine Pflegerin für diese alte Dame bestellen.«

Er traf immer schnell eine Entscheidung. Andrea war es nun schon gewohnt, und ihr gegenüber hatte er sich als großzügiger Chef erwiesen. Eine solche Stellung würde sie nicht so schnell finden.

»Ich brauche auch jemanden, der repräsentieren kann«, sagte er, »und Sie können das. Wir fliegen am Mittwochmorgen und sind Donnerstag zurück.«

»Wie Sie befehlen«, sagte Andrea kühl. »Könnte der Chauffeur Fräulein Munk zu einem Arzt bringen?«

Er war ein wenig irritiert. »Ja, gewiss«, erwiderte er dann. »Ich bin kein Unmensch.«

Carola war ein einziges Häufchen Unglück, aber dankbar sah sie Andrea an.

»Du bringst wirklich alles fertig«, murmelte sie.

»Möller bringt dich zu Dr. Norden. Er wird dir schon helfen können. Ist jemand bei dir zu Hause, der sich um dich kümmert?«

»Ich kann diese Farbe nicht riechen«, schluchzte Carola.

»Dann kommst du zu mir. Ich spreche mit Dr. Norden.«

Andrea führte ein kurzes Telefongespräch mit Loni Enderle, Dr. Nordens Sekretärin.

»Der Doktor macht das schon«, sagte Loni, »und wenn was dahintersteckt, bringen wir Fräulein Munk in die Klinik. Ja, ich sage Ihnen dann Bescheid.«

*

Peter Strack lief ihr in den Weg, nachdem sie Carola zum Wagen begleitet hatte.

»Wie der Boss«, sagte er mit einem anzüglichen Lächeln.

Sie maß ihn mit einem eisigen Blick. »Wie meinen Sie das?«

»Schnell entschlossen und alles funktioniert. Was fehlt denn dem armen Hühnchen?«

Eigentlich klang das ganz mitfühlend, und Andrea war überrascht.

»Fräulein Munk ist krank«, erwiderte sie.

»Aber sie muss unbedingt ins Büro kommen, dafür sorgt schon die Mutter, und wenn sie auf allen Vieren kriecht.«

Andrea war noch mehr überrascht. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie.

»Ich hab’ mich mal mit ihr darüber unterhalten. Bei Regenwetter habe ich sie nach Hause gebracht. Aber das muss ja wirklich nicht publik werden. Sie ist ein nettes Mädchen.«

Andrea staunte. Der Herr Abteilungsleiter Strack zeigte menschliche Züge. Der Playboy brachte die bescheidene Carola nach Hause.

»Würden Sie mir bitte Bescheid sagen, was ihr fehlt?«, fragte er nun auch noch. »Vielleicht ist es der Blinddarm.«

Andrea sah ihn fassungslos an. »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte sie.

»Weil sie an jenem Tag, als ich Sie heimbrachte, über stechende Schmerzen in der rechten Seite klagte. Bei mir war das auch so. Da ging ich noch zur Schule, und ich hatte einen sehr strengen Vater. Er bestand darauf, dass ich die Schule nicht versäume, und da wäre ich fast gestorben, wenn ich nicht einen netten Lehrer gehabt hätte.«

Er sagte das ganz lässig und mit einem Lächeln. Es war das erste Mal, dass Andrea ein persönliches Gespräch mit ihm führte, und sie bemerkte nicht, dass Axel Quirin sie beobachtete, der dann aber schnell in sein Büro ging.

Auch noch Strack, dachte Axel voller Eifersucht, und mit ihm redet sie. Der Gaul ging ihm durch. Er ließ Andrea zu sich rufen.

»Ich hoffe, dass ich Ihre rege Unterhaltung mit Herrn Strack nicht frühzeitig gestört habe«, sagte er heiser. »Was ist heute hier eigentlich los?«

»Fräulein Munk ist erkrankt, und Herr Strack hat sich erkundigt, was ihr fehlt.«

»Wohl eine gute Gelegenheit für ihn, mit Ihnen zu reden«, entfuhr es ihm.

Andrea sah ihn betroffen an. »Ich konnte ihn ja nicht einfach stehenlassen«, erwiderte sie. »Wer könnte Fräulein Munk vertreten? Es fällt viel Arbeit an, wenn ich den Chef nach London begleiten soll. Es sei denn, Sie können ihm ausreden, mich mitzunehmen.«

»Sie legen keinen Wert darauf, ihn zu begleiten?«

»Nicht den geringsten. Warum fliegen Sie nicht zu diesem Kongress? Sie beherrschen doch englisch perfekt?«

Es kam ihr in den Sinn, dass sie eigentlich so mit dem Juniorchef nicht sprechen sollte, aber jetzt glättete sich seine Miene.

»Sagen Sie das doch meinem Vater, vielleicht hört er auf Sie. Aber bitte, bekommen Sie das nicht wieder in die falsche Kehle, Fräulein Geßler.«

»Ich bekomme nichts in die falsche Kehle«, konterte sie. »Ich mag es nur nicht, wenn mir etwas unterstellt wird, was jeder Grundlage entbehrt.«

»Es tut mir leid«, sagte er verlegen, doch in diesem Augenblick wurden sie unterbrochen, denn früher als geplant erschien Josi Kilian.

»Ich störe hoffentlich nicht«, sagte sie, aber ihr konnte Andrea eine solche Bemerkung nicht übelnehmen, denn sie war über Josis Erscheinen erfreut, da sie sich durch Axels Art verunsichert gefühlt hatte. Und ihr war diese Frau auf Anhieb sympathisch, und noch mehr, als Axel sie als seine Tante vorstellte.

Donner und Doria, dachte Josi, solche Augenweide kann die Männer schon den Verstand kosten.

»Gibt es etwas, was sofort erledigt werden muss, Herr Quirin?«, fragte Andrea. »Ich muss jetzt wirklich schauen, dass ich zurechtkomme.«

»Meine Tante wollte gern einen spanischen Brief korrekt übersetzt haben«, erwiderte er hastig.

»Ich komme damit wohl sehr ungelegen?«, fragte Josi.

»Das geht sicher schnell«, erwiderte Andrea. »Wir sind im Druck, weil eine Kollegin plötzlich erkrankt ist.«

Josi gab ihr den Brief. Er stammte von einer Immobilienfirma. Andrea übersetzte ihn blitzschnell, aber dann sah sie Josi nachdenklich an.

»Ich will mich da nicht einmischen, gnädige Frau«, sagte sie zögernd, »aber es klingt ein wenig dubios. Ich würde an Ihrer Stelle sehr vorsichtig sein und ein solches Angebot genauestens unter die Lupe nehmen.«

»Das werde ich tun. Danke für diesen Rat, Fräulein Geßler.«

»Dann darf ich mich verabschieden«, sagte Andrea höflich.

»Ich sorge für die Vertretung«, rief Axel ihr nach.

Josi blickte auf die Tür, die Andrea hinter sich geschlossen hatte.

»Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich«, murmelte sie. »Eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Da kann man verstehen, dass die Männerherzen höher schlagen.«

»So was scheint sie aber nicht zu bemerken«, sagte Axel kleinlaut.

»Mein Junge, sei froh, dass sie so ist. Was leicht zu haben ist, verliert schnell den Reiz. Ich bin beruhigt. An ihr wird Joachim sich die Zähne ausbeißen.«

»Aber er nimmt sie mit nach London, und sie legt gar keinen Wert darauf.«

»Mach dir nicht zu viel Gedanken. Sie wird die Lage souverän beherrschen«, meinte Josi lächelnd. »Und ich verschwinde wieder. Sehr zufrieden«, fügte sie hinzu. Sie schwenkte den Brief. »Ich wusste übrigens schon, dass da was faul ist.«

*

Schon eine halbe Stunde später erfuhr Andrea, dass es bei Carola tatsächlich der Blinddarm war. Dr. Norden hatte sie sofort in die Behnisch-Klinik gebracht, und dort war sie auch gleich operiert worden.

Ganz spontan gab sie diese Nachricht auch an Peter Strack weiter. Und da war ausgerechnet Axel bei ihm.

»Bedanke mich herzlich, Fräulein Geßler«, sagte Peter Strack. In Axel begann es schon wieder zu sieden, aber da fragte Strack: »In welcher Klinik ist sie?«

Andrea sagte es ihm, und sie machte sich dann doch Gedanken, dass ausgerechnet dieser »Playboy« so mitfühlend war.

*

»Es ist der Blinddarm«, sagte Peter Strack zu Axel. »Fräulein Geßler hat es mir eben bestätigt.«

»Was für ein Blinddarm?«, fragte Axel, der seiner Eifersucht noch nicht Herr geworden war.

»Fräulein Munks Blinddarm. Ich hatte das vermutet und mit Fräulein Geßler darüber gesprochen.«

»Wieso wissen Sie was über Fräulein Munks Blinddarm?«, fragte Axel konsterniert.

»Meine Güte, man kann doch auch mal menschliches Interesse an einer Angestellten haben, oder ist das nicht erlaubt?«, fragte Peter Strack. »Ich finde es sehr nett, wie kollegial Fräulein Geßler ist.«

»Dagegen ist gar nichts einzuwenden«, erwiderte Axel. »Wer kann denn Fräulein Munk vertreten?«

»Das ist schwierig. Sie ist sehr anspruchsvoll – ich meine Fräulein Geßler, und das macht neidisch oder auch eifersüchtig. Was wird eigentlich, wenn Frau Braun zurückkommt?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Axel.

»Der Chef bevorzugt Fräulein Geßler, das ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Es besteht ja kein Zweifel, dass sie außerordentlich tüchtig ist.«

»Ohne Zweifel«, sagte Axel, »aber Sie sind der Personalchef und werden jetzt eine Hilfskraft für Fräulein Geßler finden müssen.«

Und dann ging er. Peter Strack grinste in sich hinein. Er wusste genau, was man über ihn dachte und sagte, aber das amüsierte ihn nur. Und er wusste auch genau, warum der Chef und sein Sohn derzeit nicht gut aufeinander zu sprechen waren.

Er hatte das menschliche Bedürfnis, in der Behnisch-Klinik anzurufen, um sich nach Carola Munks Befinden zu erkundigen.

*

Andrea hatte ihren höchsten Chef an diesem Tag nur noch kurz gesehen. Er machte einen abgespannten Eindruck. Sie würden morgen alles besprechen, hatte er nur gesagt und sie war froh gewesen, dass er sie sonst nicht auch noch beanspruchte. Sie hatte wahrhaft genug zu tun gehabt, und obgleich Renate Gräf, die ihr zugeteilt worden war, sich die erdenklichste Mühe gab, mit ihrem Tempo mitzuhalten, wusste sie es jetzt doppelt zu schätzen, wie eingespielt sie schon mit Carola gewesen war.

Vom Büro aus fuhr sie gleich zur Behnisch-Klinik, aber Carola war aus dem Narkoseschlaf noch nicht aufgewacht. Dr. Jenny Behnisch versprach ihr, Bescheid zu geben, wenn Carola bei Bewusstsein war.

Die gute Mutti Thaler wartete auch schon besorgt auf Andrea, weil sie sonst früher zu Hause war.

Bei Bohneneintopf mit Lammfleisch, eines von Andreas Leibgerichten, musste sie dann erzählen. Aber nur zögernd rückte sie mit der Nachricht heraus, dass sie den Chef nach London begleiten sollte.

»Aber das ist doch eine große Auszeichnung, Andrea«, sagte die alte Dame, »darüber solltest du dich freuen.«

»Meinst du, es bereitet mir Freude, dich zwei Tage allein zu lassen, Mutti Thaler?«, sagte Andrea.

»Es ist doch alles im Haus, Dr. Norden kommt am Donnerstag sowieso. So viel Rücksicht sollst du auf mich auch nicht nehmen, Kind. Freilich bin ich froh, wenn du wieder heil zu Hause bist, aber dein berufliches Fortkommen ist doch wichtiger als ich.«

Andrea sah es mit gemischten Gefühlen. Erst seit diesem Tag machte sie sich Gedanken über Vater und Sohn Quirin, und auch über Peter Strack, aber auch über Josi Kilian. Dass diese Frau sie mit einem ganz eindringlichen Blick gemustert hatte, war ihr auch nicht entgangen.

Dann läutete das Telefon. Und schnell war Andrea dort. Dr. Jenny Behnisch sagte ihr, dass Carola aufgewacht sei, und sofort nach ihr gefragt hätte.

»Ich komme gleich«, sagte Andrea.

*

»Carola ist aufgewacht, ich fahre schnell noch mal in die Klinik, Mutti Thaler. Willst du noch fernsehen? Es kommt ein lustiger Film.«

»Wenn ich aber dabei einschlafe, musst du mich wecken, Andrea«, sagte Hanny Thaler.

»Ich bleibe nicht lange, ich will nur sehen, wie es Carola geht.«

So ganz war Carola noch nicht da, aber in ihre Augen kam Leben, als Andrea sich an ihr Bett setzte.

»Es war doch nicht bloß die Farbe«, murmelte sie.

»Strack hat gleich auf den Blinddarm getippt«, sagte Andrea.

»Strack? Wieso?«

»Er war sehr nett, Carola.«

»Frau Dr. Behnisch hat mir gesagt, dass er angerufen hat. Werden sie mich jetzt entlassen?«

»Wie kannst du nur so etwas denken? Was meinst du, wie du mir fehlst. Und Strack hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Er hat mir gesagt, dass er dich mal heimgebracht hat.«

»Da hat es so geregnet«, flüsterte Carola. »Ich bin schnell gelaufen und hatte Schmerzen in der rechten Seite.«

»Er ist auch mal am Blinddarm operiert worden. Es ist ja bei dir alles noch mal gutgegangen, aber warum hast du mir nichts von diesen Schmerzen gesagt?«

»Ich hatte immer Angst, dass sie mich für wehleidig halten. Ich wollte ja nicht fehlen, Andrea. Dann hätten sie mich durch eine andere ersetzt. Ich bin nicht so wie du. Ich kann mich nicht durchsetzen, und außerdem bin ich auch nicht so gescheit.«

»Jedenfalls machst du alles zehnmal besser als die Gräf«, meinte Andrea. »Mach dir jetzt bloß keine Gedanken. Werde ganz schnell gesund und sag mir in Zukunft, wenn dir was fehlt.« Sie streichelte Carolas Wange. »Ich weiß ja, dass ich auch nicht sehr mitteilsam bin, aber ich habe dich sehr gern, Carola. Es ist zu blöd, dass ich ausgerechnet Mittwoch und Donnerstag mit dem Chef in London sein muss. Und morgen werde ich viel zu tun haben. Aber am Freitag besuche ich dich wieder.«

»Könntest du meiner Mutter sagen, dass ich nicht gekündigt werde?«

»Wie kann sie so was denken, Carola?«

»Sie redet sich alles mögliche ein, weil ihr gekündigt worden ist, und weil sie uns jetzt doch die Miete erhöht haben.«

»Schlaf jetzt und denk gar nichts, Carola«, sagte Andrea, und Carola schlummerte auch gleich ein.

»Armes Hühnchen« hatte Peter Strack gesagt, und Andrea fragte sich, warum ihr Carola nicht auch von ihren privaten Sorgen erzählt hatte.

Andrea dachte auch über sich selber nach. War sie zu hart geworden, als ihr bewusst wurde, wie ihre Eltern sich zerstritten, sich gegenseitig aufrieben, sich so auseinandergelebt hatten, dass auch bei der Scheidung es nur noch um Geld ging?

Wie hatte denn Carola gelebt mit ihrer Mutter? Sie hatte sich nie beklagt.

Warum habe ich mich nicht mal mit ihr getroffen, fragte sich Andrea, als sie heimwärts fuhr. Aber hatte sie sich nicht immer gegen enge Bindungen gesperrt, aus Angst, enttäuscht zu werden?

Mit Mutti Thaler war das anders. Das war eine alte Frau, voller Güte, die ihr ein Zuhause gegeben hatte, in dem es keinen Streit gab.

Und wieder wurde sie sehnsüchtig erwartet. Tee war schon aufgebrüht, Gebäck stand auf dem Tisch. Der Fernsehapparat war ausgeschaltet.

»Ist es doch kein lustiger Film, Mutti Thaler?«, fragte Andrea.

»Ach, in der Tagesschau haben sie so schreckliche Bilder von so einem Anschlag gebracht. Da habe ich lieber ausgeschaltet. Ich will so was nicht mehr sehen. Warum können die Menschen denn nur nicht in Frieden miteinander leben?«

Ja, warum nicht, dachte auch Andrea, aber es fängt ja schon in den Familien an.

Hier, in diesem kleinen Haus, herrschte Frieden. Hier hatte auch sie Frieden gefunden. Aber suchten nicht auch andere diesen Frieden? Carola, brauchte sie nicht auch Hilfe, wie sie ihr selbst von Dr. Norden zuteil geworden war?

»Was hast du eigentlich gedacht, als Dr. Norden mich zu dir brachte, Mutti Thaler?«, fragte sie gedankenverloren. »Sag es ganz ehrlich.«

»Na ja, zuerst dachte ich, dass du sehr hübsch bist und sicher bald ein Mann aufkreuzen würde, aber ich konnte zu Dr. Norden nicht nein sagen, weil er ja immer für uns dagewesen war. Er ist ein guter Menschenkenner. Und jetzt bin ich einfach froh, dass du bei mir bist, Andrea. Gebe Gott, dass ich nie zu einer Last für dich werde.«

»Niemals«, rief Andrea aus. »Du darfst so was nicht denken.«

»Ich bin ja schon so alt, Kindchen. Ich wünsch mir nur, dass ich mal hinüberschlummern könnte in die andere Welt, aus der es kein Zurück mehr gibt. Und wenn es so wäre, darfst du nicht traurig sein. Dann denk nur, dass die Mutti Thaler dich sehr lieb gehabt hat, und dass sie dir alles Glück der Welt wünscht.«

»Sonst geht es dir aber gut«, versuchte Andrea zu scherzen.

»Wie immer, wenn du bei mir bist.«

*

Bevor Andrea am nächsten Tag ins Büro fuhr, war sie bei Dr. Norden in der Praxis.

»Ich will nur ein paar Minuten mit dem Doktor sprechen, Loni«, sagte sie. »Ich muss gleich wieder weg. Aber morgen muss ich mit dem Chef nach London fliegen, und es ist mir einfach bange, wenn ich Mutti Thaler allein lasse.«

»Ich sage es ihm, und ich kann ja auch bei Frau Thaler bleiben, wenn es ihr recht ist. Ich habe nichts vor, ich bin ja auch immer allein«, sagte Loni. »Wir machen das schon, Andrea. Dr. Norden hat grad einen schwierigen Patienten, das dauert lange.«

»Dann rufe ich noch mal an«, sagte Andrea.

Dass der schwierige Patient eine Frau war und Marianne Munk hieß, sagte Loni nicht. Dr. Norden war am Morgen schon in der Behnisch-Klinik gewesen, um nach Carola und noch einem anderen Patienten zu schauen, und da war er mit Carolas Mutter zusammengetroffen, die Jenny Behnisch nervte und es einfach nicht verstehen wollte, dass die Ärztin keine Zeit hatte, weil eine Operation angesetzt war. Ihr sei so elend, hatte Marianne Munk gejammert, und da hatte Dr. Norden sie kurzerhand mit in die Praxis genommen, wofür Jenny ihm sehr dankbar war, denn Carola sollte durch das Wehklagen ihrer Mutter nicht aufgeregt werden.

An sich war Marianne Munk eine ganz ansehnliche Frau, aber überaus nervös und exaltiert. Ihr Wehklagen ging darauf hinaus, dass sie immer nur Pech gehabt hätte, und anstatt sich um ihre Tochter zu sorgen, fand sie nur sich bedauernswert. Dass Carola es nicht leicht hatte mit dieser Mutter, war Dr. Norden schnell klar.

»Warum musste man Carola denn in eine Privatklinik bringen und nicht ins Krankenhaus«, zeterte sie. »Können wir das überhaupt bezahlen?«

»Es ist alles durch die Krankenkasse gedeckt, Frau Munk«, erklärte Dr. Norden, nun auch langsam die Geduld verlierend. Das Beruhigungsmittel, das er ihr gegeben hatte, zeigte keine Wirkung und er vermutete, dass sie oft Tabletten schluckte. Doch als er sie das fragte, verneinte sie es empört.

»Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich drogensüchtig sei«, begehrte sie auf.

»Keineswegs, Frau Munk. Sind Sie in ärztlicher Behandlung?«

»Wozu denn? Da zahlt man doch auch nur für nichts und wieder nichts. Und besonders die Chirurgen, die schneiden doch auch, wenn es gar nicht nötig ist. Vielleicht hatte Carola nur eine Magenverstimmung.«

Nun wurde es Dr. Norden doch zu bunt.

»Ihre Tochter wäre möglicherweise nicht mehr am Leben, wenn sie nicht so schnell operiert worden wäre«, sagte er gereizt. »Und Sie können sich darauf verlassen, dass ich ebenso wie Dr. Behnisch, eine Magenverstimmung von einer akuten Blinddarmentzündung unterscheiden kann.«

»Ich habe ja nur gemeint, dass es nicht schlimm ist, weil Carola wegen dem Farbgeruch gemeckert hat.«

Er wollte sich nicht ewig mit ihr aufhalten.

»Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal gründlich untersuchen zu lassen, Frau Munk«, sagte er betont. »Sie sind doch sicher auch krankenversichert.«

»Aber privat, und da nehmen die Ärzte, was sie nur kriegen können«, ereiferte sie sich. »Wir haben einmal bessere Tage gesehen, aber jetzt sind wir arm.« Ihre Kleidung ließ zwar nicht darauf schließen, aber darüber wollte er nun nicht auch noch eine Diskussion beginnen.

»Ich muss mich jetzt meinen anderen Patienten widmen«, sagte er. »Bitte, seien Sie vernünftig und gönnen Sie Ihrer Tochter Ruhe, die sie jetzt braucht, damit die Genesung nicht gefährdet wird.«

Sie wollte wieder zum Reden ansetzen, aber da hatte Loni die Initiative ergriffen. »Ein Notruf, Herr Doktor«, sagte sie, denn das war immer die letzte Rettung, wenn es gar zu lange dauerte.

Beleidigt rauschte Marianne Munk hinaus. »Danke, Loni«, sagte Dr. Norden, »aber das ist wirklich schon ein Fall für den Psychiater, und da muss man sich auch überlegen, wie dem Mädchen geholfen werden kann. Darüber muss ich mal mit Andrea sprechen.«

»Sie war da. Sie muss mit ihrem Chef nach London fliegen und macht sich Sorgen um Frau Thaler.«

»Bleibt sie länger weg?«, fragte er.

»Zwei Tage.«

»Na, die werden wir schon überbrücken«, meinte er.

»Ich kann mich ja um Frau Thaler kümmern, mich kennt sie doch.«

»Darüber reden wir noch, Loni. Jetzt muss es weitergehen.«

Zwischendurch nahm er sich aber doch noch die Zeit, in der Behnisch-Klinik anzurufen, um Bescheid zu sagen, dass man Carola Munk den Besuch ihrer Mutter ersparen solle.

Carola konnte schlafen, und als sie am späten Nachmittag erwachte, fühlte sie sich schon ein bißchen wohler. Dr. Jenny Behnisch setzte sich zu ihr ans Bett. Carola blickte auf den hübschen, bunten Blumenstrauß, der auf dem Tischchen stand.

»Der ist für Sie abgegeben worden, Fräulein Munk«, sagte Jenny Behnisch. »Eine Karte ist auch dabei.«

Als Carola die Karte las, kam Farbe in ihre blassen Wangen. Mit den besten Genesungswünschen von Peter Strack, stand da.

»Von der Firma, wie aufmerksam«, murmelte sie. »War meine Mutter schon da?«

»Ja, aber wir gestatten noch keinen Besuch«, erwiderte Jenny. »Ihre Mutter ist zu aufgeregt.«

»Sie regt sich immer auf«, sagte Carola. »Die ganze Welt ist gegen sie. Ihr fehlt einfach ein Mann, der sie ordentlich in Trab hält.«

Da musste Jenny lächeln. »Oder Sie müssten sich selbstständig machen, Fräulein Munk«, sagte sie.

»Das geht doch nicht, wer soll denn auf sie aufpassen. Entschuldigen Sie, ich will Sie nicht mit meinen Sorgen aufhalten.«

»Aber ich habe jetzt ein bißchen Zeit, und Sie können Ihr Herz ruhig ausschütten. Das trägt auch zur Genesung bei. War sie denn schon immer so?«

»Aber nein, erst seit zwei Jahren geht das so«, sagte Carola. »Ich glaube, das sind die Wechseljahre. Ich habe schon öfter gelesen, dass manche Frauen da das Spinnen anfangen. Vielleicht bin ich aber auch ein bißchen schuld daran, wenn ich es auch nur gutgemeint habe.«

»Inwiefern?«, fragte Jenny.

»Da hatte sie einen Mann kennengelernt, der mir aber nicht gefallen hat. Sie müssen wissen, dass Mutter gar nicht so arm ist, wie sie tut. Sie hat ein schönes Polster im Rücken, und dieser Heini hat das gewusst. Sie war ja auch so töricht, ihm zu sagen, wie gut es uns geht. Und ich habe dann herausbekommen, dass er verheiratet ist, als er mit dem Hauskauf anfing. Sie kann ja keine größere Summe abheben, wenn ich nicht gegenzeichne.«

»Aber hat sie dann nicht akzeptiert, dass Sie sie vor einem Verlust bewahrt haben?«, fragte Jenny.

»Einerseits schon, andrerseits war es für sie natürlich eine Blamage. Und dann hat sie auf Armut gemacht. Und sie hat sich immer mehr hineingesteigert in diesen Wahn. Und als sie nun auch noch ihre Stellung verloren hat, weil die Firma Konkurs anmelden musste, war es ganz aus. Sie war Direktrice in einer Konfektionsfabrik. Mein Gott, sie braucht sich nicht so aufzuführen. Sie bekommt Arbeitslosenunterstützung, und ich verdiene auch ganz gut. Aber sie hat sich immer zu Höherem geboren gefühlt. Hoffentlich bin ich bald gesund.«

»Und dann soll es so weitergehen, wie gehabt?«

»Was soll ich denn machen? Sie ist doch meine Mutter.« Ein Schicksal von vielen, Jenny wusste das.

»Jetzt müssen Sie mal ganz abschalten, Fräulein Munk«, sagte sie.

»Kann ich doch nicht. Sie wird nichts essen, sie rührt keinen Finger in der Wohnung, ich kann sie doch nicht verkommen lassen, und eine Zugehfrau können wir uns nach der Mieterhöhung nicht leisten, weil das Konto nicht angerührt werden darf. Das wär es dann. Lieb von Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.«

Und nun war sie müde, und ihre Kehle war trocken. Aber ein bißchen Tee durfte sie schon trinken, und dann schlief sie wieder ein.

*

Andrea war wieder spät aus dem Büro gekommen. Hanny Thaler hatte Gulasch vorbereitet.

»Warst du noch in der Klinik, Andrea?«, fragte sie.

»Das habe ich nicht mehr geschafft, aber ich habe angerufen. Es geht Carola schon ein bißchen besser.«

»Und für mich hast du auch vorgesorgt«, sagte die alte Dame gerührt, »aber ich schaffe es doch auch ein paar Tage allein, Kindchen. Wenn ich dich nicht hätte, müsste es auch gehen, wenn es so natürlich auch viel schöner ist. Dr. Norden kommt morgen, und am Abend leistet mir Loni Gesellschaft. Es ist sehr lieb von dir, dass du so um mich besorgt bist.«

Andrea drückte ihr einen Kuss auf die faltige Wange. »Du bist ja auch um mich besorgt, Mutti Thaler. Wieder so ein gutes Essen.«

»Es macht mir Spass, und irgendwas muss man ja tun. Sonst sorgst du ja sowieso für alles.«

»Carola bekommt kein Essen vorgesetzt, wenn sie abends heimkommt, und sie muss auch noch den ganzen Haushalt machen«, sagte Andrea nachdenklich. »Das habe ich heute erst von Frau Dr. Behnisch erfahren, als ich mit ihr telefoniert habe. Mir gegenüber hat Carola nur mal ein paar Andeutungen gemacht, dass ihre Mutter ein bißchen schwierig ist. Sie ist ein sehr nettes Mädchen.«

»Und die nettesten Menschen finden meist keinen Mann«, meinte Frau Thaler sinnend.

Andrea lachte leise. »Du warst bestimmt auch ein sehr nettes Mädchen und hast einen Mann gefunden«, meinte sie neckend.

»Ach Gott, ich war nicht anspruchsvoll, Andrea. Es hat sich so ergeben. Wir haben uns gut verstanden, aber so eine große Liebe, wie sie in Romanen und Filmen geschildert wird, war das nicht. Es ging alles schön geruhsam seinen Gang. Ein Euro wurde auf den anderen gelegt. Schaffe, schaffe, Häusle baue, das war die Devise bei uns. Mein Mann war ja ein Schwab’, und für Träume blieb da keine Zeit. Aber es war ein gutes Leben.«

»Es ist doch schön, wenn man so denken kann, solche Erinnerungen hat«, sagte Andrea.

»Ich hätt’ schon gern mal eine Reise gemacht, nach Österreich vielleicht oder in die Schweiz, wohin es doch gar nicht so weit ist, aber der Ferdi war da nicht zu bewegen, erst recht nicht, als er seinen Garten hatte. Für ihn war es die Hauptsache, dass immer ein gutes Essen auf dem Tisch stand.«

»Und von deiner Kochkunst profitiere ich jetzt auch noch.«

»Bei dir schlägt ja nichts an«, sagte Hanny Thaler lächelnd. »Mich freut’s, wenn es dir schmeckt.«

»In England ißt man nicht gut«, sagte Andrea.

»Aber wenn du am Donnerstag heimkommst, gibt es Rehrücken.«

»Du sollst dich nicht so strapazieren, Mutti Thaler«, sagte Andrea. »Aber ich bin froh, wenn ich wieder daheim bin.«

Am nächsten Morgen, als sie sich von Hanny verabschiedete, war ihr wehmütig zumute, so zusammengeschrumpft sah die alte Dame plötzlich aus.

»Komm nur gut zurück, mein Kleinchen«, sagte Hanny Thaler zärtlich. »Gott schütze dich.«

Andrea wurde von Schöler abgeholt. Der Wagen stand schon vor der Tür. Im Hause Quirin herrschte indessen eine geradezu eisige Stimmung, nur Joachim Quirin war viel hektischer als sonst.

»Also, Axel, Strack weiß über alles Bescheid«, sagte er. »Die zwei Tage wirst du ja wohl mal ohne mich zurechtkommen.«

»Mir traust du wohl gar nichts zu«, stieß Axel hervor, »eigentlich könnte ich mir ja eine andere Stellung suchen, wo ich mich besser beweisen kann.«

»Rede nicht solchen Blödsinn«, fuhr ihn der Ältere an. »Wer herrschen will, muss lernen.«

»Der Diktator hat gesprochen«, sagte Josi spöttisch.

»Was ist mit euch eigentlich los? Habt ihr ein Komplott geschmiedet? Aber wie ihr wollt, noch bin ich der Herr im Hause.«

»Aber nach einer neuen Hausdame musst du dich umschauen«, sagte Josi gelassen. »Ich habe mich entschlossen, fortan in meinem Hause zu leben, wenn ich von meiner Reise zurückkehre.«

Joachim Quirin kniff die Augen zusammen, als er seinen Sohn anblickte. »Und du mein Sohn Brutus?«, fragte er sarkastisch.

»Ich sage es dir noch einmal, dass ich Astrid Klinger nicht heirate. Wenn du darauf bestehst, gehe ich auch.«

Es hatte geläutet. Der Wagen war vorgefahren. »Spinnt euch aus«, rief Joachim Quirin, »bis morgen.«

»Du dich auch«, rief ihm Josi nach, aber er drehte sich nicht mehr um.

»Jetzt haben wir ihm wenigstens nochmals ordentlich eingeheizt«, sagte Josi genußvoll, »und die hübsche Andrea Geßler wird ihm hoffentlich darauf die kalte Dusche verpassen.«

»Wohl ist mir nicht, Josi«, sagte Axel, »ich liebe sie.«

»Das habe ich mir schon gedacht, aber eine Festung muss belagert werden, mein Junge, und man muss im richtigen Augenblick zum Angriff übergehen.«

»Wenn man den nur wüsste«, murmelte er.

»Alles Strategie, aber Liebe rechtfertigt alle Mittel.«

»Und wenn man keinen Erfolg hat?«, fragte Axel.

»Dann braucht man sich wenigstens nicht den Vorwurf machen, nichts unternommen zu haben. Ich mache mir den jedenfalls nicht, deswegen räume ich jetzt das Feld.«

Er sah sie konsterniert an. »Sollte das etwa bedeuten, dass du den Diktator liebst?«, fragte er leise.

»Nun ja, ich habe viel für ihn übrig«, meinte Josi verlegen. »Ich habe mich an ihn gewöhnt, und er sich wohl auch an mich. Aber nur für seine Bequemlichkeit will ich nicht ewig sorgen, und jetzt hat er wahrscheinlich auch andere Gelüste.«

»Du hast die Ruhe weg, Josi.«

»Ich bin ja auch schon ein bißchen älter als du, aber ich denke, dass du dir um die reizende Andrea keine großen Sorgen zu machen brauchst. Sie würde lieber kündigen, als sich etwas zu vergeben.«

*

Andrea war währenddessen ganz zufrieden, dass ihr Chef schweigsam, wenn nicht sogar recht mürrisch war. Sie machte sich allerdings auch keine Gedanken, dass er ein rein persönliches Interesse an ihr haben könnte. Für sie war er der Chef, doppelt so alt wie sie, Vater eines erwachsenen Sohnes, durch dessen Benehmen sie in den letzten Tagen manchmal irritiert worden war. Sie hatte nur festgestellt, dass Axel Quirin zumindest äußerlich seinem Vater recht ähnlich sah.

Sie fiel aus allen Wolken, als der Chef sie plötzlich und ohne jede Einleitung fragte: »Was halten Sie eigentlich von meinem Sohn, Fräulein Geßler?«

»Ich kann mich nicht beklagen«, erwiderte sie zögernd. »Er weiß gut Bescheid und ist allgemein beliebt.«

»Macht er Ihnen den Hof?«, fragte Joachim.

»Aber nein.«

»Damit wir uns recht verstehen, er ist so gut wie verlobt mit Astrid Klinger«, bemerkte Joachim Quirin beiläufig. »Die Firma Klinger ist Ihnen ja wohlbekannt.«

»Aber gewiss«, erwiderte Andrea kühl. »Es wird von Vorteil sein, wenn da ein frischer Wind weht.«

Es war ihr gelungen, ihn wieder einmal aus dem Konzept zu bringen.

»Gibt es da Gerüchte?«, fragte er.

»Das müssen Sie doch besser wissen als ich«, entgegnete Andrea.

Er zögerte. »Ich schätze Ihre Meinung, Ihre Unbestechlichkeit«, sagte er. »Sie sind wahrlich ein Gewinn für unser Unternehmen. Wenn mein Sohn doch auch so konsequent und zielstrebig wäre wie Sie!«

»Nun, vielleicht würden Sie seine Persönlichkeit anders einschätzen, wenn er nicht Ihr Sohn wäre«, erwiderte Andrea ruhig, »und auch seine Fähigkeiten, aber vielleicht kann er die in der Firma Klinger besser zur Geltung bringen.«

»Sie sehen alles sehr sachlich«, stellte er fest.

»Nur vom Standpunkt Ihrer Angestellten aus, die ihre eigene Meinung hat«, erklärte Andrea. »Sind Sie jetzt bereit, mich zu informieren, worum es bei den Gesprächen geht?«

Er schluckte diese sachliche Bemerkung schwer. »Oh, Sie sind doch sehr flexibel«, meinte er. »Ich denke, dass Sie sehr schnell erkennen, worum es geht. Ich weiß selbst noch nicht, ob diese Konferenz etwas bringt. Aber ich habe ja einen Trumpf in der Hand.«

»Tatsächlich?«

»Sie«, erwiderte er trocken. »Sie sind ja mein Sprachrohr.«

»Hoffentlich habe ich auch ein so gutes Gehör«, erwiderte Andrea ironisch.

Eine Weile schwieg er, dann aber sagte er: »Um nochmals auf die Klinger AG zurückzukommen, vielleicht bin ich da nicht genau informiert.«

»Ich auch nicht, aber ich nehme an, dass der Junior Ihnen genaue Auskünfte geben kann.«

So langsam begann Joachim Quirin an sich selbst zu zweifeln. Andrea war ihm direkt ein bißchen unheimlich. Dagmar Braun hätte es nie gewagt, ihm solche Antworten zu geben, und immerhin war sie auch eine sehr tüchtige Sekretärin, und dazu bereits seit zehn Jahren bei ihm. Und sie hatte ihn auch auf Reisen immer sehr umsorgt. Neben Andrea fühlte er sich jetzt doch schon ziemlich alt, und ein paar Bemerkungen von Josi kamen ihm in den Sinn, die sie ihm in letzter Zeit so zugeworfen hatte.

*

Josi war tatsächlich zu ihrem Haus gefahren. Axel hatte sie nicht zum Bleiben bewegen können.

»Wenn du Hunger hast, kannst du zu mir kommen. So weit ist es ja nicht«, hatte sie gesagt. »Aber ich habe alles organisiert, und morgen kommen die Handwerker. Mach du deine Arbeit gut, damit der Alte nichts zu meckern hat.«

»Wenn er das hören würde«, sagte Axel.

Sie fuhr ihm mit der Hand durch sein dichtes, ein bißchen störrisches Haar. »Als du fünfzehn warst, hast du ihn oft so tituliert, Axel.«

»Na ja, das tut man so. Er hat jung geheiratet, darüber denke ich erst jetzt nach. Und wie war es da, Josi?«

»Da hat er jedenfalls noch nicht so viel geleistet wie du, und er wurde auch nicht so eingespannt. Es hatte ja geklappt. Er hatte ein reiches Mädchen geheiratet. Nimm es nicht krumm, dass ich es so sage, sie mochten sich wirklich sehr. Und meine Schwester war ja so erzogen, dass sie nicht gick noch gack sagte. Ich war das enfant terrible und gerade erst siebzehn, als du auf die Welt kamst, aber ich muss sagen, dass ich dich heiß geliebt habe, und das ist ja auch so geblieben. Du sollst wissen, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst, Axel.«

»Und wenn ich vor die Hunde gehe, wenn du nicht mehr bei uns bist, Josi?«

»Das wirst du nicht. Lass dich von dem Alten nicht unterkriegen. Zeig mal, was in dir steckt. Sag ihm doch mal ins Gesicht, warum die Witwe Klinger so darauf aus ist, dass du ihre Tochter heiratest. Sie flötet ihm doch nur etwas ein. Sie schmiert ihm Saft um die Backen, wie das entfant ter­rible gesagt hätte.«

»Mit mir kannst du reden, wie dir der Schnabel gewachsen ist«, sagte Axel. »Du bist meine Allerliebste.«

»Da gibt es doch wohl auch noch eine Andrea«, meinte sie lachend.

»Wenn ich nur wüsste, wie es in London läuft«, sagte er leise.

Das hätte Josi allerdings auch gern gewusst.

Bei der Konferenz wäre keiner auf die Vermutung gekommen, dass Joachim Quirin ein rein persönliches Interesse an Andrea hatte, so kühl und sachlich blieb sie und zog sich auch gleich zurück, als den Herren ein Imbiß serviert wurde.

Vor dem Bankett konnte sie sich allerdings nicht drücken. Da waren auch andere Damen zugegen, aber Andrea hatte die Genugtuung, dass sie von diesen meist schon älteren Damen sehr liebenswürdig behandelt wurde.

»Sie haben das Unternehmen ausgezeichnet repräsentiert, Andrea«, sagte Joachim Quirin, »darauf könnten wir uns doch eigentlich noch einen guten Schluck genehmigen.«

»Ich bin ziemlich müde, und morgen ist auch noch ein anstrengender Tag«, erwiderte sie. »Sie dürfen Ihre Gesprächspartner nicht unterschätzen, Herr Quirin, die Ehefrauen waren ein bißchen zu nett zu mir. Sie wollten mich aushorchen.«

»Wem würde es schon gelingen, Sie auszuhorchen«, sagte Joachim, schon ganz resigniert.

Sie sah ihn offen an. »Ich habe eine gute Stellung, und ich möchte sie behalten«, erwiderte sie. »Und wenn möglich, auch noch weiterkommen.«

»Und was streben Sie an?«

»Das Management«, erwiderte sie. »Da scheint es an der Koordination zu fehlen.«

»Sie sind ganz schön hart«, sagte er staunend.

»Die Zeiten ändern sich von Generation zu Generation, wenn Sie mir diese Bemerkung bitte nicht verübeln wollen. Ein gutes Fundament schließt nicht aus, dass die Konkurrenz stärker wird.«

»Darüber sollten wir uns doch einmal länger unterhalten«, sagte er.

»Darüber schon«, erwiderte sie diplomatisch. »Was berufliche Dinge angeht, bin ich zu jedem Gespräch bereit.«

»Dann kann ich Ihnen nur eine gute Nacht wünschen, Fräulein Geßler.«

Was ihm in dieser Nacht durch den Kopf ging, sollte Andrea so schnell nicht erfahren, und der nächste Tag war dann tatsächlich so anstrengend, aber für Joachim Quirin so erfolgreich, dass er auf dem Rückflug ganz entspannt war und vor sich hin dämmerte.

*

Axel hatte vergeblich auf einen Anruf von seinem Vater gewartet.

Er fragte Strack, ob der Chef mit ihm gesprochen hätte.

»Nein«, erwiderte Peter Strack. »Aber es scheint ja alles bestens zu laufen, sonst hätte es bestimmt Rückfragen gegeben. Aber hier merkt man schon, wenn Fräulein Geßler fehlt und auch noch Fräulein Munk.«

»Hat sich mal jemand nach Fräulein Munks Befinden erkundigt?«, fragte Axel.

»Ich habe es nicht versäumt«, erwiderte Peter Strack mit einem ganz eigenen Unterton. »Sie befindet sich auf dem Wege der Besserung.«

»Veranlassen Sie bitte, dass ihr Blumen geschickt werden, Herr Strack.«

»Sehr gern«, erwiderte der andere.

»Fräulein Geßler wird sie ja sicher besuchen, wenn sie zurück ist«, sagte Axel. »Sie verstehen sich anscheinend sehr gut.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch, obgleich man bei Fräulein Geßler wirklich nie so genau weiß, woran man ist.«

»Stört Sie das?«, fragte Axel.

»Im Gegenteil.« Er lächelte flüchtig. »Es ist für einen Mann immer ein Ansporn, sich nicht in den Schatten stellen zu lassen.«

Auf eine weitere Diskussion ließ sich Axel nicht ein. Er wurde ans Telefon gerufen.

Die immer weinerlich klingende Stimme von Astrid Klinger tönte an sein Ohr.

»Was ist nun mit heute Abend, Axel?«, fragte sie. »Du lässt überhaupt nichts mehr von dir hören.«

»Was soll mit heute Abend sein? Ich habe zu tun«, erwiderte er.

»Aber dein Vater hat gesagt, dass wir gemeinsam essen. Mama ist schon sehr gekränkt.«

»Mein Vater ist in London, und ich habe keine Zeit. Er hat sicher vergessen, mir Bescheid zu sagen.«

Ganz unhöflich wollte Axel nicht sein, da man sich lange kannte, aber er sagte dann doch noch, dass er sowieso keine Zeit gehabt hätte.

»Mama hat bei euch zu Hause angerufen, und Thilde hat gesagt, dass Josi nicht mehr bei euch wohnt. Was ist denn da passiert?«

»Josi macht eine Reise und will sich um ihr Haus kümmern, sonst ist nichts passiert, und jetzt habe ich zu tun, Astrid. Schöne Grüße an die Mama, sie soll mit Vater sprechen, wenn er zurück ist.«

Und wenn Vater noch einmal von der Heirat anfängt, packe ich auch meine Sachen, dachte Axel jetzt grimmig.

Dann blickte er auf die Uhr, und gleich darauf auf seinen Merkzettel, auf dem die Ankunftszeiten der Maschinen aus London vermerkt waren. Und plötzlich hatte er es sehr eilig, denn bei dem Verkehr musste er gut mit vierzig Minuten Fahrtzeit bis zum Flughafen rechnen.

Peter Strack schloss auch mit Verspätung seinen Schreibtisch ab, aber er hatte auch noch etwas vor. Er fuhr zur Behnisch-Klinik. Vorhin hätte er Axel Quirin gern gesagt, dass er sich momentan doch bedeutend mehr Sorgen um Carola mache, als um Andrea, aber was ging das den Junior eigentlich an.

Freilich hatte Andrea auch mal sein Interesse erregt, denn er war zu sehr Mann, um gleichgültig an dieser Frau vorbeizugehen, aber er hatte schnell gemerkt, dass er sich da keine Chancen ausrechnen konnte, und Peter Strack war nicht so eingebildet, wie man ihn einschätzte. Er hatte in seinem Leben trübe Erfahrungen gesammelt mit attraktiven Frauen, nach Abenteuern gelüstete es ihn nicht mehr. Und er konnte auch abschätzen, wenn eine Frau eine Nummer zu groß für ihn war, wie Andrea Geßler.

Die schüchterne Carola lag ihm da schon eher, aber dass er für sie tatsächlich etwas übrig hatte, hatte er erst gemerkt, als sie zwischen Leben und Tod schwebte. So hatte er es jedenfalls in diesen Stunden gesehen.

Dr. Jenny Behnisch war sehr erstaunt, als dieser smarte, noch junge Mann in der Klinik erschien und fragte, ob er Carola besuchen dürfe.

»Ich komme von der Firma, ich bin der Personalleiter«, sagte er.

»Ich werde nachschauen, ob Fräulein Munk noch wach ist«, sagte Jenny.

»Aber es geht ihr doch schon besser«, sagte Peter Strack. »Oder etwa nicht?«

»Sie soll noch geschont werden«, erwiderte Jenny. »Und keine Aufregung!«

»Da können Sie sicher sein«, erwiderte er. »Es kann sie doch nur freuen, dass sie uns fehlt.«

»Na, wenn es so ist«, sagte Jenny Behnisch aufatmend.

Und Carolas Augen leuchteten auf, als Peter Strack eintrat.

»Sie nehmen sich die Zeit«, sagte sie scheu, »und ich konnte mich noch nicht mal für die schönen Blumen bedanken.«

»Die waren ein ganz persönlicher Gruß, Carola«, sagte er, »von der Firma kommen noch schönere. Sie haben uns ja einen ganz dollen Schrecken eingejagt.«

»Aber Andrea hat mir gesagt, dass Sie gleich auf den Blinddarm getippt haben«, murmelte Carola.

»Aus eigener Erfahrung. Das haben wir gemeinsam«, sagte er. »Aber ich habe es auch überstanden.«

»Wie gut«, sagte sie gedankenverloren. »Durften Sie auch nichts essen?«

»Eine ganze Woche nicht. Haben Sie Hunger?«

»Und wie.«

»Dann war es bei mir noch ein bißchen schlimmer«, sagte er. »Ich war am vierten Tag noch immer weg vom Fenster.«

»Denken kann ich schon wieder«, sagte Carola. »Wie geht es im Büro?«

»Sie fehlen uns.«

»Weil Andrea auch nicht da ist«, sagte sie leise.

»Nein, nicht nur deshalb. Die Gräf macht entsetzlich viele Fehler, das bin ich bei Ihnen gar nicht gewohnt.«

»Ich bin froh, wenn ich wieder arbeiten kann«, seufzte sie.

»Nur nichts überstürzen, erst auskurieren. Um die Stellung brauchen Sie sich doch keine Sorgen zu machen, Carola.«

Der selbstsichere Peter Strack wurde verlegen, als sie ihn so anschaute.

»Sie sind ein sehr nettes Mädchen, Carola«, sagte er leise. »Privat kann ich das ja sagen. Ich weiß, wie über mich geredet wird, aber Sie dürfen ruhig eine bessere Meinung von mir haben.«

»Habe ich doch«, flüsterte sie. »Sie waren schon damals so nett, als Sie mich heimgebracht haben.«

»Das werde ich öfter tun, und ab und zu können wir ja auch mal einen Ausflug machen.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie kennen meine Mutter nicht.«

»Dann werde ich sie wohl bei Gelegenheit einmal kennenlernen«, meinte er lächelnd.

»Lieber nicht.«

»Jede Mutter muss einmal einsehen, dass ihre Kinder erwachsen werden. Für meine Mutter war das auch ziemlich schwer, aber sie hat sich daran gewöhnt.«

»Meine Mutter gewöhnt sich nie daran.«

»Es kommt auf den Versuch an.«

»Warum sind Sie so nett zu mir?«, fragte sie leise.

»Weil ich Sie sehr gern habe, ja, das dürfen Sie mir ruhig glauben.«

»Ich tue Ihnen leid, geben Sie es zu.«

»Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen müssen, das ist ein Unterschied, Carola. Man merkt immer erst, wie sehr man einen Menschen mag, wenn man Angst um ihn hat.«

Da purzelten bei ihr die Tränen, und sanft streichelte er sie von ihren Wangen. »Ich bin kein Playboy«, murmelte er leise.

»Es ist auch kein schönes Wort«, flüsterte sie scheu. »Playboys faulenzen doch nur.«

Er lächelte. »Sie wissen doch, was dieses Wort in der Übersetzung bedeutet. Spieljunge, aber ich spiele nicht, und ich lasse auch nicht mit mir spielen. So, das wär’s für heute. Ich komme morgen wieder.«

»Und wenn sie im Büro klatschen?«, fragte sie schüchtern.

»Sie brauchen es ja nicht zu wissen.«

»Ich sage es bestimmt niemandem.«

Er tippte mit dem Zeigefinger ganz sanft auf ihre Nasenspitze. »Das weiß ich. Abgesehen von dem Blinddarm, haben wir auch sonst einiges gemeinsam, Carola.«

Dann küsste er sie schnell auf die Stirn und ging, und sie konnte träumen von einem Wunder, das ihr widerfahren war. Mit einem glücklichen Lächeln schlummerte sie ein.

*

Joachim Quirin war überrascht, als er seinen Sohn in der Flughafenhalle entdeckte. Erfreut war er nicht. Andrea zeigte keinerlei Überraschung.

»Gibt es was?«, fragte der Ältere.

»Nein, wäre es dir lieber gewesen, ich hätte Schöler geschickt?«, fragte Axel.

»Es gibt auch genügend Taxis«, brummte sein Vater. »Solltest du heute Abend nicht bei den Klingers sein?«

»Irrtum, du hattest für gestern eine Verabredung getroffen, aber vergessen, mir davon zu sagen.«

»Warst du dort?«

»Nein.«

»Ich werde ein Taxi nehmen«, erklärte Andrea diplomatisch, da die Spannung zwischen Vater und Sohn so offensichtlich war.

»Ich wollte Sie noch zu einem Abschlussessen einladen, Fräulein Geßler«, sagte Joachim Quirin.

»Sehr liebenswürdig, aber ich werde von Frau Thaler erwartet mit einem Rehrücken.«

Axel war halbwegs beruhigt, da nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen den beiden zu bemerken war.

»Ich bringe Sie selbstverständlich nach Hause«, sagte er. »Es ist ja nur ein kleiner Umweg.«

Eine Blöße wollte sich Joachim doch nicht geben. »Du kannst ja erst mich nach Hause bringen. Es war recht anstrengend.«

Er wirkte tatsächlich müde, und auf der Fahrt war er schweigsam. Andreas Gedanken waren schon bei Mutti Thaler. Sie hatte so ein eigentümliches Gefühl, eine Beklemmung.

*

Hanny Thaler bereitete indessen auch Dr. Norden Sorgen. Loni war in der Mittagspause zu der alten Dame gefahren und hatte sie so matt vorgefunden, dass sie Dr. Norden gerufen hatte. Er stellte eine Thrombose fest und hätte sie am liebsten gleich in die Klinik gebracht. Aber so viel Kraft hatte Hanny Thaler noch, sich dagegen zu sträuben.

»Andrea kommt zurück, ich muss den Rehrücken machen«, sagte sie.

»Andrea ist es lieber, Sie schonen sich«, sagte Dr. Norden energisch. »Sie müssen jetzt liegenbleiben, Frau Thaler.«

Und allein lassen konnte man sie jetzt auch nicht. Loni wurde in der Praxis gebraucht, aber nach kurzem Überlegen kam Dr. Norden eine Idee.

»Ich schicke Ihnen unsere Lenni, Frau Thaler, und sie kann auch den Rehrücken zubereiten, wenn Sie unbedingt darauf bestehen.«

»Das Kind mag ihn doch so gern, und ich habe es versprochen«, flüsterte die alte Dame. »Sie soll doch auch keinen Schrecken kriegen, wenn sie heimkommt.« Dann sah sie den Arzt aus müden Augen an. »Jetzt wird es wohl doch langsam zu Ende gehen mit mir. Gell, Sie sagen es Andrea, dass sie nicht weinen und trauern soll, und Ihnen möchte ich auch nochmals Dankeschön sagen, dass Sie mir die Andrea ins Haus gebracht haben. So viel Glück, mein Liebling, mein Kleinchen.«

Dr. Norden kroch ein Frösteln über den Rücken. Loni blickte ihn traurig an.

»Wir bringen Sie doch in die Klinik«, sagte er leise. »Es sieht gar nicht gut aus.«

Das hörte Hanny Thaler schon nicht mehr, und sie merkte auch nicht, wie der Krankenwagen kam und sie auf die Trage gehoben wurde.

Dr. Behnisch zuckte dann auch die Schultern. »Vielleicht schaffen wir es noch mal, Daniel«, sagte er, »aber ihre Tage sind gezählt. Darüber sind wir uns im klaren.«

»Wie wird es Andrea zumute sein, wenn sie heimkommt und das Haus leer ist?«, fragte Loni, als sie zur Praxis fuhren. »Wir müssten ihr wenigstens eine Nachricht hinterlegen.«

»Gut, dass Sie daran denken, Loni«, sagte Dr. Norden, »aber jetzt können wir nicht mehr ins Haus. Andrea wird doch hoffentlich einen Schlüssel haben.«

»Wir können einen Zettel an die Haustür heften«, sagte Loni. Sie wusste immer Rat.

»Sie wollte nicht fahren«, meinte Loni nachdenklich, als das geschehen war. »Sie muss so eine Ahnung gehabt haben. Seltsam, wie sehr sich die beiden zusammengelebt haben.«

»Sie haben einander gegeben, was jede vermisst hat, Loni«, sagte Dr. Norden gedankenverloren.

»Ist ja alles gut«, meinte Loni, »aber so ein Mädchen wie Andrea sollte ihr Herz lieber doch einem Mann schenken.«

»Das wird sie hoffentlich eines Tages auch tun.«

*

Daran dachte Andrea auch dann nicht, als Joachim Quirin sich mit einem Handkuss recht demonstrativ von ihr verabschiedete.

»Ich erwarte dich bald, Axel«, sagte er sehr betont zu seinem Sohn. »Oder hast du noch etwas vor?«

»Nein, ich habe nichts vor, Vater«, erwiderte Axel barsch.

»Kampfstimmung?«, fragte Andrea, als sie weiterfuhren.

»Er behandelt mich wie einen dummen Jungen«, sagte Axel unwillig.

»Vielleicht ist das auch eine gewisse Angst, dass Sie ihn bald überflügeln können«, sagte Andrea. »Söhne neigen manchmal dazu, der älteren Generation Grenzen zu setzen.«

»Ich habe nicht die Absicht. Ich anerkenne seine Fähigkeiten. Ich habe mich entschlossen, meine anderswo zu beweisen.«

»Das wird Ihrem Vater aber auch nicht gefallen«, sagte Andrea nachdenklich.

»Und mir gefällt es nicht, dass er über mich bestimmt, dass er sogar bestimmen will, welche Frau ich zu heiraten habe.«

»Astrid Klinger«, sagte Andrea, »aber ich denke, er wird diesbezüglich nachdenken und sich genauer über die Finanzlage der Firma Klinger informieren.«

»Sie haben mit ihm darüber gesprochen?«, fragte Axel erstaunt.

»Er hat mit mir darüber gesprochen«, erwiderte sie. »Wohl aus der großen Besorgnis heraus, dass ich ein Auge auf den Juniorchef werfen könnte.«

»Eher, weil er selbst zwei Augen auf Sie geworfen hat«, stieß Axel gereizt hervor.

»Du liebe Güte, das dürfen Sie doch nicht denken.«

»Da wir nun einmal dabei sind, ich liebe Sie, Andrea. Sie sollen es wenigstens wissen, wenn Sie meine Gefühle auch nicht erwidern. Ich liebe und verehre Sie. Und ich werde nicht zulassen, dass mein Vater Sie belästigt.«

»Du lieber Himmel, das tut er doch nicht«, widersprach Andrea.

»Aber es wird doch in der Firma schon getuschelt, dass er hinter Ihnen her ist.«

»Sagt man das gleiche nicht von Ihnen und Strack? Solchen Klatsch gibt es doch überall. Wenn ich deswegen jedesmal die Stellung wechseln würde, müsste ich dauernd umziehen. Neid oder Eifersucht sind doch die Motive, oder auch nur Dummheit. Mich tangiert das nicht, solange ich die Leistung erbringe, die von mir erwartet wird.«

»Sie nehmen es auch nicht ernst, wenn ich wiederhole, dass ich Sie liebe?«

»Ich lege solche Worte auf die Goldwaage. Ich habe eine Stellung, die mir gefällt, ich habe endlich ein richtiges Zuhause, und das setze ich nicht aufs Spiel. Und jetzt bin ich sowieso gleich zu Hause.«

Aber dann erlebte Axel Andrea einmal völlig fassungslos, als sie den Zettel las, den Loni an die Tür geheftet hatte. Er war nicht gleich weitergefahren, und das war gut. Schreckensbleich kam sie zurückgelaufen.

»Es ist etwas mit Mutti Thaler«, flüsterte sie bebend. »Oh, mein Gott, wäre ich doch nur nicht weggefahren. Sie ist doch der einzige Mensch, den ich liebe.«

Es gab ihm einen Stich, aber dass sie solche Gefühlsregung zeigte, dass man ihr den Schrecken, die Angst vom Gesicht ablesen konnte, zeigte ihm Andrea in einem andern Licht.

Und sie kramte mit zitternden Fingern in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel.

»Ich muss Dr. Norden anrufen, verstehen Sie bitte«, sagte sie tonlos.

»Ich warte«, erwiderte er.

Nach wenigen Minuten kam sie wieder aus dem Haus.

»Sie mussten Mutti Thaler in die Behnisch-Klinik bringen. Ich muss sofort hin«, stammelte sie.

»Ich fahre Sie«, sagte Axel.

*

In seinem Hause lief Joachim Quirin durch alle Räume. Josi war nicht da. Sie war tatsächlich nicht mehr da, das wurde ihm jetzt auch erst richtig bewusst. Und Axel kam nicht. Appetit hatte er nicht, außerdem schmeckte ihm sowieso nichts, was Josi nicht zubereitete.

Bier stand auch nicht im Kühlschrank. Nicht mal das. Nichts klappte, wenn Josi nicht da war. Hatte er sie gekränkt? Er war sich dessen nicht bewusst, aber wieso hatte sie sich so plötzlich entschlossen, ihr eigenes Leben zu führen? Gab es da einen Mann? Aber wann sollte sie den denn kennengelernt haben?

Jetzt dachte er mehr über Josi nach, als über Andrea, obgleich er auch wütend war, weil Axel so lange ausblieb.

Axel wartete indessen in der Behnisch-Klinik, aber dann kam Dr. Jenny Behnisch und sagte ihm, dass Andrea bei Frau Thaler bleiben würde.

»Sie wird doch hoffentlich gesund werden«, sagte Axel leise. »Fräulein Geßler macht sich große Sorgen.«

»Es müsste ein Wunder geschehen«, erwiderte Jenny tonlos, »aber in solchen Fällen geschehen Wunder leider sehr, sehr selten.«

Und ausgerechnet da kam Peter Strack, der Carola besucht hatte. Axel sah ihn finster an. »Sie sind auch hier?«, sagte er.

»Das gleiche könnte ich Sie fragen«, erwiderte Peter Strack. »Ich habe Fräulein Munk besucht. Sie schläft jetzt.«

Axel griff sich an die Stirn. »Das hatte ich ja ganz vergessen. Ich habe Fräulein Geßler hergebracht. Ihre Hauswirtin wurde in diese Klinik gebracht.«

»Ist in London alles gut gelaufen?«, wechselte Peter Strack das Thema.

»Darüber habe ich mit meinem Vater noch nicht gesprochen. Es gibt auch wichtigere Dinge«, erwiderte Axel.

»Ja, es gibt tatsächlich Wichtigeres als die Geschäfte«, sagte Peter Strack.

Axel sah ihn blicklos an. »Geht es Fräulein Munk besser?«, fragte er geistesabwesend.

»Ja, es geht aufwärts.«

»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich um sie kümmern«, sagte Axel.

Peter Stracks Augenbrauen ruckten leicht empor.

»Nicht aus geschäftlichem Interesse«, sagte er mit einem sarkastischen Unterton. »Es wird mir wohl nicht verübelt werden, dass es ein rein menschliches Mitgefühl ist.«

»Ich wäre der Letzte, der es Ihnen verübeln würde«, erwiderte Axel.

»Dann brauchen wir darüber wohl kein Wort mehr verlieren«, sagte Peter Strack.

Spontan streckte ihm Axel die Hand entgegen. »Ich hoffe, Sie wissen genau, was Sie tun«, sagte er nachdenklich.

»Ich weiß es genau, Herr Quirin, hoffentlich wissen Sie es auch«, erwiderte Peter Strack. »Für mich gibt es keine Probleme.«

*

Von seinem Vater wurde Axel gereizt empfangen. »Warum bist du solange weggeblieben?«, fragte der Ältere.

Axel erklärte es ihm ruhig. »Ich verstehe nicht, dass man sich um eine Hauswirtin so anstellen kann«, sagte Joachim unwillig. »Das passt doch gar nicht zu diesem Mädchen.«

»Sie hat eben Herz, und dir scheint das zu fehlen«, konterte Axel. »Du machst dir ja nicht mal Gedanken, warum Josi das Feld geräumt hat.«

»Dafür gab es nicht den geringsten Grund aus meiner Sicht. Irgendein Mann wird sie schon dazu veranlasst haben.«

»Und dass du dieser Mann sein könntest, der Gedanke ist dir auch noch nicht gekommen?«

»Ich, wieso ich?«

»Manchmal tust du mir direkt leid, Vater«, sagte Axel. »Josi hat auch ihren Stolz, und sie hat ihr eigenes Vermögen. Sie hätte niemals für uns einen Finger zu rühren brauchen. Sie habe es aus Zuneigung getan und dabei ihr eigenes Leben vertan. So sehe ich das. Ich werde sie bestimmt mehr vermissen als du, da sie mir die Mutter ersetzt hat, während du dich ja auch mit anderen Frauen amüsieren konntest.«

»Amüsieren? Du bist unverschämt, Axel.«

»Soll ich sagen, trösten? Sieh nicht ständig den kleinen Jungen in mir, dem du ein Vorbild sein wolltest. Aber bei Andrea wirst du nicht landen.«

»Bist du gelandet?«, fragte Joachim.

Axels Augen wurden ganz eng. »Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe, und auch davon hat sie keine Notiz genommen. Sie hat mir gesagt, dass sie eine Stellung hat, die ihr gefällt und endlich auch ein Zuhause, und ich habe sie verstanden, Vater. Sie will nicht aufgeben, was ihr etwas bedeutet. Sie lässt sich durch nichts verführen. Hoffentlich ist das deutlich genug. Man kann nicht alles kaufen, was einem gefällt. Und dein Sohn lässt sich nicht verschaukeln an etwas, was ihm gar nicht gefällt. Weißt du, was Josi gesagt hat? Wenn dir so viel an der Firma Klinger liegt, solltest du doch die Witwe Klinger heiraten.«

Joachim Quirin sah seinen Sohn fassungslos an. »Muss ich mir das sagen lassen?«, stieß er hervor.

»Ich habe es gesagt, und du kannst die Konsequenzen ziehen. Meinetwegen kannst du dich auch um Astrid bemühen, wenn dir nach jungen Mädchen gelüstet. Da brauchst du keine Konkurrenz zu fürchten, aber ich sage es dir nochmals ganz deutlich, dass ich mich zu einer solchen Ehe nicht zwingen lasse.«

»Bei Andrea Geßler wirst auch du auf Granit beißen«, wütete Joachim.

»Und auch dann würde sie für mich immer die einzige Frau bleiben, die ich liebe. So, nun weißt du Bescheid. Wenn Frau Thaler stirbt, ist für Andrea dieses Zuhause auch nichts mehr wert. Und sie wird man überall mit Kusshand nehmen. Aber den jungen Quirin vielleicht auch.«

»Bilde dir nur nicht zu viel ein«, schrie ihn der Ältere an. »Geh doch, wenn du willst. Die Sprüche werden dir schnell vergehen.«

»Das wird sich herausstellen«, sagte Axel. »Du hast wahrhaftig ein seltenes Talent, alle Menschen vor den Kopf zu stoßen, die nicht nur den Boss in dir gesehen haben.«

*

So müde Andrea auch war, sie wich nicht von Mutti Thalers Bett. Schwester Martha hatte ihr Tee gebracht und ein paar belegte Brote, aber Andrea brachte nur mühsam ein paar Bissen hinunter.

An Carola dachte sie erst wieder, als Jenny Behnisch ihr sagte, dass es ihr schon bedeutend besser gehe.

»Ich kann sie jetzt nicht besuchen«, flüsterte Andrea, »ich bin so traurig, Frau Dr. Behnisch.«

»Fräulein Munk schläft jetzt auch«, erwiderte Jenny.

»Und was ist nun eigentlich mit Mutti Thaler?«, fragte Andrea.

»Eine Thrombose, aber ihr Herz ist müde, Fräulein Geßler. Sie müssen bedenken, dass sie schon recht alt ist.«

»Viele Leute werden neunzig Jahre und noch älter«, sagte Andrea, »und geistig war sie doch noch so rege.«

»Weil sie sich noch einmal freuen konnte am Leben. Weil Sie bei ihr waren.«

»Ich hätte nicht wegfahren sollen. Sie hat da schon so eigenartig gesprochen.«

»Wenn eine Lebensuhr abgelaufen ist, spürt man es. Ja, sie hat es gespürt, und sie hat sich auch gewünscht, nicht lange leiden zu müssen, nicht noch mehr, denn sie hat wahrhaftig schon genug durchgemacht.«

»Warum müssen gute Menschen leiden«, flüsterte Andrea.

»Sie leidet nicht mehr. Die Schmerzen konnten wir ihr nehmen. Sie schläft ganz ruhig«, sagte Jenny.

Und kaum vernehmbar war noch ihr Atem, aber sie schien doch noch zu spüren, dass Andrea bei ihr war.

»Mein kleiner Liebling«, flüsterte sie.

»Ich bin da, Mutti Thaler«, sagte Andrea dicht an ihrem Ohr, während sie das weiße Haar streichelte. »Und ich fahre bestimmt nicht wieder weg.«

»Denk auch an dich, Andrea«, sagte Hanny Thaler ganz langsam. »Viel Glück.« Und dann versagte ihr die Stimme, ging in ein leises Röcheln über. Andrea drückte auf die Klingel. Dr. Behnisch kam.

»Sie gehen jetzt besser hinaus, Fräulein Geßler«, sagte er.

»Kann ich ihr denn wirklich nicht mehr helfen«, schluchzte Andrea trocken auf. »Sie hat doch gerade noch mit mir gesprochen.«

Doch das war ein letztes Aufflackern gewesen. Hanny Thaler tat ihren letzten Atemzug.

Dr. Behnisch war erschüttert, als Andrea an ihrem Bett niederkniete und die bleichen Hände streichelte.

»Ich hätte doch so gern noch lange für dich gesorgt, liebe Mutti Thaler«, murmelte sie. Man ließ ihr Zeit, Abschied zu nehmen, aber dann kam Jenny Behnisch und zog sie mit sanfter Gewalt empor.

»Sie müssen jetzt schlafen, Fräulein Geßler«, sagte sie eindringlich. »Herr Quirin wird Sie jetzt nach Hause bringen.«

»Herr Quirin?«, fragte Andrea geistesabwesend.

»Er wartet in der Halle. Sie sollten ihm keinen Korb geben.«

»Haben Sie ihn benachrichtigt?«, fragte Andrea tonlos.

»Nein, er ist von selbst gekommen. Er hatte sie doch auch hergebracht.«

»Der Junior«, flüsterte Andrea und fuhr sich über die Augen.

»Darf ich mir das Gesicht waschen?«, fragte sie leise.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Jenny.

Ihren Schmerz wollte Andrea nicht zeigen, aber man sah doch, dass sie geweint hatte und wie unendlich müde sie nun war.

Axel ergriff ihre Hand. »Es tut mir sehr leid«, sagte er leise. »Ich bringe Sie jetzt heim, und morgen kommen Sie noch nicht ins Büro.«

»Ich muss doch den Bericht schreiben«, sagte sie.

»Man wird dafür Verständnis haben müssen, dass Sie einen Menschen verloren haben, der Ihnen sehr nahe stand«, sagte Axel heiser.

Sie sagte nichts mehr. Ihre Kehle war trocken und eng. Sie reichte ihm dann nur stumm die Hand.

»Schlafen Sie jetzt«, sagte er, »und wenn Sie irgendwie Hilfe brauchen, sagen Sie es mir bitte.«

»Danke«, das war alles, was sie noch sagen konnte.

In dem stillen Haus konnte sie endlich allen Schmerz von der Seele weinen, bis der Schlaf dann doch kam und ihr Ruhe brachte.

*

Dr. Norden erfuhr es erst am Morgen, dass Frau Thaler gestorben war. Jenny Behnisch sagte ihm auch, dass Andrea bis zuletzt bei ihr gewesen sei.

»Herr Quirin hat sie dann heimgebracht«, sagte Jenny auch.

»Der Chef selbst«, staunte Daniel.

»Der Junior. Sehr sympathisch!«

Jenny war da kurz und bündig. Dr. Norden war schon ein bißchen nachdenklicher. Er kannte Andrea recht gut. Hoffentlich gab es da keine Komplikationen. Frau Thalers Tod brachte ohnehin einige schwerwiegende Veränderungen für Andrea mit sich. Dr. Norden wusste das.

Andrea schlief zu dieser Zeit noch ganz tief. Sie hatte den Wecker auf acht Uhr gestellt. Trotz allem wollte sie ins Büro gehen, und diesmal nicht nur aus gewohnter Gewissenhaftigkeit. Sie wollte nicht, dass Axel ihretwegen noch größeren Ärger mit seinem Vater bekommen sollte. Ja, tatsächlich hatte sie an Axel gedacht, als sie diesen Entschluss gefaßt hatte. Es war ihr ein wirklicher Trost gewesen, dass er sich so fürsorglich gezeigt hatte und so voller ehrlicher Teilnahme.

Dass Joachim Quirin seinen Sohn immer noch wie einen Volontär behandelte, hatte ihr schon des öfteren nicht gefallen, aber sie hatte nie daran gedacht, dass beide an ihr auch ein persönliches Interesse nehmen würden.

Als dann der Wecker läutete, dachte sie aber vorerst nur an Mutti Thaler, die nun nie mehr durch dieses Haus gehen würde. Sie drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Sie gehörte nicht zu denen, die ihren Kummer zu Markte trugen, schon gar nicht im Büro, und sie hoffte, dass sie wenigstens einigermaßen in Form sein würde.

Ein Blick in den Spiegel überzeugte sie, dass sie doch mal zum Make-up greifen müsste, so umschattet waren ihre Augen, aber nach einer Wechseldusche fühlte sie sich schon ein bißchen wohler.

Sie rief in der Klinik an und fragte Dr. Behnisch, welche Formalitäten für die Beerdigung noch zu erledigen wären. Dass ihre Stimme zitterte, war nicht zu überhören.

»Das hat Frau Thaler alles schon vorab geregelt«, erklärte ihr Dr. Behnisch. »Sie werden alle Einzelheiten heute noch von dem Notar erfahren. Mag es bestimmt tröstlich für Sie sein, dass sie ruhig hinüberschlummern konnte, Fräulein Geßler.«

Tröstlich war das schon, aber wer sollte denn ahnen, wie sehr sie diese gütige alte Dame vermisste!

Sie war beim Ankleiden, als das Telefon läutete. Es war Dr. Norden.

»Ich schreibe Sie krank, Andrea«, sagte er. »Das kann ich verantworten, damit Sie ein paar Tage Ruhe haben.«

»Nein, das nicht. Ich vermisse Mutti Thaler hier an allen Ecken und Enden.«

»Ich sollte Ihnen sagen, dass Sie nicht weinen und trauern sollen, Andrea. Bewahren Sie ihr ein liebes Gedenken, das sie verdient. Es war ihr größtes Glück, diese Zeit mit Ihnen verbringen zu können. Wir sehen uns auf jeden Fall zur Beerdigung.«

»Ich weiß ja noch nicht mal, wann die ist.«

»Das erfahren Sie heute vom Notar.«

So ganz ging das Andrea noch nicht ein, obgleich sie sonst wahrhaftig schnell denken konnte.

Kaum hatte sie das Telefon aufgelegt, läutete es schon wieder. Diesmal war es die Kanzlei des Notars Baumer. Ob es ihr möglich wäre, um zwölf Uhr in der Kanzlei zu erscheinen, wurde sie höflich gefragt. Sie sagte zu.

Es war das erste Mal, dass sie mit beträchtlicher Verspätung im Büro erschien, aber man zeigte sich erstaunt darüber, dass sie überhaupt kam. Peter Strack erklärte ihr sofort, dass der Junior Bescheid gegeben hätte, dass sie gar nicht käme.

»Und was hat der Boss gesagt?«, fragte sie.

»Der ist auch nicht da«, erwiderte Peter Strack. »Er musste mit einem Bandscheibenvorfall in die Klinik gebracht werden.«

»Na, so was«, entfuhr es ihr, »erteilen dann Sie mir die Erlaubnis, einen wichtigen Termin wahrzunehmen?«

»Was mich betrifft, kann ich nur sagen, dass Sie für heute beurlaubt sind, Fräulein Geßler«, erwiderte er. »Darf ich Ihnen mein Bedauern ausdrücken, dass Sie einen lieben Menschen verloren haben.«

Ein Zucken lief über Andreas Gesicht. »Sie wissen es?«, fragte sie stockend.

»Der Junior hat es mir gesagt, und Fräulein Munk hat mich auch gleich angerufen, nachdem sie es erfahren hat. Es ist ihr sehr nahe gegangen.«

»Carola«, sagte Andrea sinnend, »sie soll jetzt an sich denken, damit sie bald gesund wird.«

»Es geht ihr schon viel besser. Ich habe sie besucht. Doch, sie ist über den Berg.«

Andrea sah ihn staunend an. Für einen Augenblick vergaß sie ihren Kummer. »Sie haben Carola besucht?«, fragte sie fassungslos.

»Mir traut wohl niemand menschliches, oder gar rein persönliches Interesse zu«, sagte er. »Ich werde Carola noch öfter besuchen.«

Andrea reagierte nun wieder so, wie man sie kannte. »Nein, das hätte ich Ihnen wirklich nicht zugetraut, aber es freut mich sehr.«

»Es muss ja nicht publik werden, aber Carola wird es Ihnen sicher ohnehin erzählen«, sagte er.

Der Hauch eines Lächelns legte sich um Andreas Mund. »Es bleibt unter uns, aber es ist gut, wenn man an einem solchen Tag auch eine Freude erlebt.«

»Und Sie sind heute von allen Pflichten befreit.«

»Ist der Juniorchef auch nicht im Haus?«, fragte sie zögernd.

»Er ist wohl noch beim Boss. London scheint ziemlich anstrengend gewesen zu sein. Man darf in diesem Alter seine Kräfte nicht überschätzen.«

»Ja, er machte einen recht erschöpften Eindruck«, sagte Andrea, und erst später kam es ihr in den Sinn, dass sie zu anderer Zeit Peter Stracks Bemerkung als doppelsinnig empfunden hätte. Aber jetzt erschien auch er ihr plötzlich in einem anderen Licht. Vorurteile hatte sie nie gehegt, und auf Klatsch hatte sie auch nie gehört, aber dass er sich um Carola kümmerte, dass er das ihr gegenüber auch so offen zugab, brachte ihm mehr Sympathie von ihr ein, als sie ihm sonst zugebilligt hätte.

Peter Strack und Carola, war das vorstellbar? Aber auch Andrea dachte jetzt an Carolas Mutter. Wenn sie auch nicht allzu viel wusste, immerhin doch etwas mehr als andere.

Und dann dachte sie auch daran, ob Joachim Quirins Zusammenbruch wieder ein besseres Verhältnis zu seinem Sohn schaffen würde.

*

Für Axel war dieses Ereignis völlig überraschend gekommen. Am Morgen hatte es wieder einen Disput zwischen ihm und seinem Vater gegeben, als er dem Älteren gesagt hatte, dass Andrea an diesem Tag nicht ins Büro kommen würde.

»Dann bist du also doch gelandet«, hatte Joachim ihn angeherrscht. »Du hast das Haus gestern nochmals verlassen, das habe ich bemerkt.«

»Ich bin zur Behnisch-Klinik gefahren. Frau Thaler ist gestorben.«

»Frau Thaler, Frau Thaler«, höhnte Joachim, »guter Gott, bei Angehörigen kann man ja Zugeständnisse machen, aber für eine Vermieterin?«

»Sie war für Andrea mehr, aber so was wirst du nie begreifen. Du hast ja nicht mal ein Herz für Josi, die uns viele Jahre ihres Lebens geopfert hat. Aber vielleicht brauchst du auch mal einen Menschen, und dann wirst du allein sein. Man bekommt nur zurück, was man zu geben bereit ist, und mit Geld ist das nicht abgetan. Aber auch in Bezug auf Geld bekommst du ja nie genug.«

Und nachdem er das gesagt hatte, wollte Axel gehen, aber da stand sein Vater an der Treppe und krümmte sich plötzlich und klammerte sich an das Geländer. Dann sank er zusammen und rutschte ein paar Stufen abwärts.

»Axel, hilf mir«, brachte er gerade noch über die Lippen.

Axel stürmte die Treppe empor, da er das schmerzverzerrte Gesicht seines Vaters sah.

»Josi, wo ist Josi«, lallte Joachim, »sie kennt die Ärzte.«

Axel hatte nur einen Namen im Gedächtnis, denn Josi war fern. Dr. Behnisch! Und von der Behnisch-Klinik hatte er sich schon gestern die Nummer geben lassen.

»Verhalt dich ganz ruhig«, sagte er. »Ich hole einen Arzt.«

Die beiden Hausmädchen kamen herbei, aber sie waren viel zu aufgeregt, um mehr tun zu können, als Joachim zu stützen.

Axel rannte zum Telefon. Wenig später sagte er, dass der Krankenwagen gleich kommen würde.

Zu einem Widerspruch war Joachim Quirin nicht mehr fähig.

Axel hatte zuerst einen Herzinfarkt befürchtet und machte sich schwere Gewissensbisse. Der junge Notarzt, der mit dem Wagen kam, tippte auf einen Hexenschuss und kam damit der Sache näher. Aber in der Behnisch-Klinik wurde von Dr. Behnisch dann der Bandscheibenvorfall diagnostiziert.

»Dass wir uns so schnell und unter solchen Bedingungen wiedersehen würden, hätte ich nicht gedacht«, sagte Jenny Behnisch zu Axel.

»Mir fiel kein anderer Arzt ein«, erwiderte er leise. »Ist so etwas wirklich so schmerzhaft?«

»Und wie!«, erwiderte sie.

»Kommt das auch so plötzlich?«

»Wenn man bei leichteren Beschwerden nichts unternimmt, kommt es wie der Blitz aus heiterem Himmel«, erklärte sie. »Immerhin nicht so gefährlich wie ein Herzinfarkt.«

»Können Sie es mir näher erklären?«, fragte er.

»Gewiss. Es kommt zu einem Druck des prolabierten Gewebes auf das Rückenmark.«

»Da kann ich Ihnen nicht folgen, aber was können sich für meinen Vater für Folgen ergeben?«

»Das müssen wir erst feststellen. Manchmal ist nur eine Operation möglich, aber im günstigsten Fall bleiben die Nervenwurzeln verschont, und bei gezielter Therapie kann eine Operation vermieden werden.«

»Er würde sich niemals operieren lassen, das hat er oft gesagt«, murmelte Axel.

»Wahrscheinlich hat er noch nie solche Schmerzen gehabt«, erwiderte Jenny Behnisch. »Da wird man doch anderer Meinung, aber es ist ja nicht gesagt, dass es zu einer Operation kommen muss.«

Nun aber lag Joachim Quirin vorerst in der Behnisch-Klinik, und das sollte Dr. Norden auch schnell erfahren.

»Eine seltsame Verkettung von Ereignissen«, sagte er zu seiner Frau Fee, als er zum Mittagessen heimkam, und diesmal sogar ziemlich pünktlich.

*

Zu dieser Zeit war Andrea nun schon bei Dr. Baumer. Ein vertrauenerweckender, väterlich wirkender Mann war er. Dass er Andrea sehr forschend betrachtete, machte ihr nichts aus. Sie erwartete eigentlich nur, wann, wie und wo die Beerdigung von Hanny Thaler stattfinden sollte, zu erfahren.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein Geßler. Frau Thaler hat bestimmt, dass ich Sie sofort nach ihrem Tod mit dem Testament vertraut mache.«

»Wieso mich?«, fragte Andrea beklommen.

»Weil Frau Thaler sehr viel Vertrauen zu Ihnen hatte, und weil Sie der einzige Mensch waren, an den sie mit uneingeschränkter Liebe dachte. Sie bat mich auch, das Testament, das gültig ist, nicht formell zu verlesen, sondern Ihnen zu sagen, dass der ganze Nachlass an Sie fällt. Selbstverständlich ist das rechtens und genau festgelegt, und unanfechtbar, aber nahe Angehörige sind ohnehin nicht mehr am Leben. Für Sie bedeutet das, dass das Haus mit gesamtem Inventar Ihnen gehört, dazu auch das Barvermögen. Die Details werden Sie schriftlich bekommen. Das Grab, in dem auch Herr Thaler bereits ruht, wird auch Frau Thalers letzte Ruhestätte sein. Alle Kosten, die entstehen, sind bereits bezahlt.«

Andrea schlug die Hände vor ihr Gesicht.

»O Gott, und was kann ich denn noch für sie tun?«, stammelte sie. »Ich bin ihr doch so viel Dank schuldig.«

»Den haben Sie mit Ihrer Fürsorge bereits abgegolten, so wollte es Frau Thaler verstanden wissen.«

»Ich habe doch nie daran gedacht, sie beerben zu wollen«, flüsterte Andrea.

»Und das hat sie ganz genau gewusst. Sie wussten ja auch nicht, was sie alles hinterlässt. Sie haben Miete bezahlt und sehr großzügig für den gemeinsamen Lebensunterhalt gesorgt.«

»Das war doch selbstverständlich. Das war doch alles, was ich überhaupt für sie tun konnte«, sagte Andrea.

»Es gibt nicht viele Menschen, für die das selbstverständlich ist, wenn sie eine Wohnung mieten, eine alte, gebrechliche Dame betreuen, mit ihr Ausflüge machen, Garten und Haus in Ordnung halten. Frau Thaler wusste das zu schätzen, aber vor allem hatte sie einen Menschen, den sie schnell lieben lernte. Und ich verstehe sie, da ich Sie nun kennenlerne.«

»Mir wäre es doch so viel lieber, sie würde leben«, schluchzte Andrea auf. »Meine Eltern haben mich auch bezahlt, aber dafür, dass ich ihre Kreise nicht störe. Mutti Thaler hat mir all das gegeben, was ich vermisst habe. Dafür wollte ich nichts haben.«

»Und sie wusste, dass alles, was sie liebte, bei Ihnen in den besten Händen sein würde. Aber letztlich, als sie dieses Testament machte, war ihr nichts so lieb wie Sie, Fräulein Geßler. Es ist nun meine Pflicht, zu den Fakten zu kommen.«

»Zu den Fakten? Ich will wissen, wann und wo Frau Thaler ihre letzte Ruhestätte findet.«

»Am Freitag fünfzehn Uhr auf dem Waldfriedhof.«

»Mehr wollte ich nicht wissen«, sagte Andrea.

»Sie sind die alleinige Erbin. Ich muss meine Pflicht, wenn es auch eine traurige Pflicht ist, erfüllen.«

Dann rauschten Zahlen an Andreas Ohren vorbei. Wie viel das Grundstück jetzt wert sei, wie hoch das Bankkonto Hanny Thalers noch war. Wie betäubt verließ sie dann die Kanzlei.

Auch Dr. Baumer hatte ihr gesagt, dass sie sich bei der Beerdigung sehen würden.

Und sie konnte es noch immer nicht begreifen, als sie dann in dem Haus war, das nun ihr gehörte. Aber sie wollte es auch nicht begreifen. Weil das jetzt fehlte, was sie am meisten vermisste, ihre Mutti Thaler.

Sie weinte heiße Tränen. Es nützte gar nichts, dass Dr. Norden ihr gesagt hatte, sie solle nicht weinen und trauern. Sie nahm auch den Telefonhörer nicht auf, als es läutete. Sie konnte und wollte mit niemandem sprechen. Sie dachte daran, als sie das Haus zum ersten Mal betreten hatte, als sie von den hellen Augen der alten Dame so durchdringend gemustert wurde. Einmal in ihrem Leben hatte sie ihren Widerstand gegen fremde Menschen schnell besiegt, einmal hatte sie wieder ihre verschlossene Seele öffnen können.

Gerade in der schwierigen Entwicklungsphase vom Kind zur Frau, hatte sie das Vertrauen zu ihren Eltern verloren, hatte sie erleben müssen, wie sie einander betrogen und jeder dem anderen die Schuld zuschieben wollte. Dann hatte die Mutter gesagt, dass sie zu ihr halten müsse, sogar verlangt, dass sie für sie lügen solle. Geld, immer wieder Geld von beiden Seiten, damit sie für die Mutter und auch für den Vater aussagen solle, aber sie hatte niemanden gehabt, dem sie sich anvertrauen konnte.

Nie wieder, so hatte sie gemeint, könne sie einem Menschen trauen, aber sie wollte sich auch nicht verloren geben. Sie hatte den Kampf um ihre eigene Existenz aufgenommen. Dann hatte sie in Dr. Norden einen hilfsbereiten Arzt gefunden, und so war sie zu Hanny Thaler gekommen.

Nun sollte ihr alles gehören. Mutti Thaler hatte ihr ein Vermögen hinterlassen.

Sie ging durch den Garten. Ich darf hier wohnen bleiben, ging es ihr durch den Sinn, und von tiefer Dankbarkeit erfüllt blickte sie zum Himmel.

Langsam ging sie ums Haus, so tief in Gedanken versunken, dass sie nichts hören, aber dann sah sie Axel Quirin vor der Gartentür stehen.

»Bitte, verzeihen Sie, Andrea« sagte er leise, »ich will nicht aufdringlich sein. Ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen, da ich Sie telefonisch nicht erreichen konnte.«

Immer noch in Gedanken öffnete sie die Tür. »Wenn Sie eintreten wollen?«, fragte sie zögernd. »Wie geht es dem Boss?«

»Er ist jetzt auch in der Behnisch-Klinik. Ein anderer Arzt fiel mir nicht ein, als er zusammenbrach.«

»Ist es schlimm?«

»Schmerzhaft, aber er ist gut versorgt. Welch ein hübsches Haus.«

»Ja, aber es fehlt etwas«, erwiderte sie traurig.

»Wir werden Ihnen behilflich sein, eine neue Wohnung zu finden«, sagte er.

»Nein, das ist nicht nötig. Mutti Thaler hat mir das Haus vererbt«, erwiderte sie.

»Und man kann es Ihnen nicht streitig machen?«, fragte er, als er sich von der ersten Überraschung erholt hatte.

»Nein, sie hatte keine Verwandten mehr. Ich kann es selbst noch nicht fassen.«

»Wie sehr muss Frau Thaler Ihnen zugetan gewesen sein«, sagte Axel.

»Es beruhte auf Gegenseitigkeit. Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Sie haben sich meinetwegen die Nacht um die Ohren geschlagen. Ich habe mich dafür noch gar nicht bedankt.«

»Ich habe mich noch nicht bei Ihnen bedankt, dass Sie trotz allem ins Büro gekommen sind.«

»Herr Strack hat mich ja gleich wieder gehen lassen, und am Freitagnachmittag muss ich auch um Urlaub ersuchen.«

»Wir werden die paar Tage nun auch noch überstehen, wenn Sie nicht da sind. Ich werde es verantworten.«

»Der Boss wird den Bericht haben wollen«, sagte sie.

»Der Boss ist jetzt mit sich selbst beschäftigt. Notgedrungen hat er das Kommando mal seinem Sohn überlassen müssen, und es kann ja durchaus möglich sein, dass es auch mal ohne ihn geht.«

»Aber nur, wenn nichts liegen bleibt«, sagte Andrea. »Es ist selbstverständlich, dass ich mit dazu beitrage, dass alles klappt. Den Bericht kann ich hier schreiben, und Sie können ihn dann Ihrem Vater in die Klinik bringen. Es wäre doch unfair, wenn ich Sie jetzt im Stich lassen würde, es sei denn, Sie haben bereits Ersatz für mich.«

»Für Sie gibt es keinen Ersatz«, sagte er.

»Das kommt immer auf den persönlichen Standpunkt an«, meinte Andrea nachdenklich.

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich für Sie empfinde. Ich werde es nicht wiederholen, wenn Sie mir nicht Mut dazu machen, Andrea. Aber bitte, betrachten Sie mich doch als einen Freund, nicht als den Sohn von Joachim Quirin.«

»Ich habe nichts gegen den Boss. Er ist ein kluger Geschäftsmann, und er wird einsehen, dass sein Sohn über die Lehrjahre hinaus ist, und dass er sich seine Lebensgefährtin selbst aussuchen möchte.«

»Was den Sohn betrifft, ist die Entscheidung schon gefallen. Aber Astrid Klinger hätte ich niemals geheiratet, wenn sie auch die einzigste Frau auf der Welt wäre.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Andreas Gesicht, aber sogleich fiel wieder ein Schatten darüber, als Axel sagte: »Allerdings hat der Boss sich wohl Hoffnung gemacht, dass Andrea Geßler Gefallen an ihm finden könnte.«

Sie sah ihn offen an. »Hat mich denn jemand für so berechnend gehalten?«

»Ich bestimmt nicht und Josi auch nicht«, erwiderte er spontan. »Guter Gott, ich muss ihr ja Bescheid sagen, dass Vater in der Klinik ist. Herzlichen Dank, dass Sie mich nicht weggeschickt haben, Andrea.«

Ihr Herz tat einen schnellen Schlag, als sein Blick sie so sehnsüchtig traf. »Sie können auch von hier aus telefonieren«, sagte sie hastig.

»Ich muss zu ihr fahren. Das muss ich ihr selbst sagen. Ich möchte Ihnen auch noch viel sagen, Andrea.«

»Wir werden sicher zu anderer Zeit Gelegenheit dazu finden, wenn sich alles wieder beruhigt hat.« Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie und drückte sie rasch an seine Lippen.

Es bedurfte keiner Worte, noch zu sagen, was er fühlte. Sein Mienenspiel drückte alles aus. Heiß strömte das Blut durch Andreas Adern, als sie ihm nachblickte.

Einen Menschen hatte sie verloren, einen anderen gewonnen, und es war ihr, als halte Mutti Thaler auch jetzt noch segnend ihre Hand über sie.

*

Axel stand vor einem verschlossenen Haus, und damit hatte er nicht gerechnet. Josi hatte ihm zwar die Schlüssel gegeben, aber die hatte er zu Hause gelassen.

Doch die Nachbarn, die auch in Josis Abwesenheit immer ein Auge auf das Haus hatten, hatten sein Kommen bemerkt.

»Frau Kilian ist heute weggefahren«, erfuhr Axel von ihnen.

»Aber sie hatte doch die Handwerker bestellt«, sagte er bestürzt.

»Die sind schon fertig. Das Saubermachen besorgt die Zenzi.«

»Und wohin ist meine Tante gefahren?«, fragte Axel.

»Das hat sie nicht gesagt. Man will ja auch nicht neugierig sein.«

Und man machte sich wohl auch Gedanken, dass nicht mal die Angehörigen Bescheid zu wissen schienen.

»Nun, sie wird schon anrufen«, sagte Axel. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und wollte nur mal vorbeischauen.«

Josi hatte es tatsächlich wahr gemacht. So recht hatte er nicht daran glauben wollen, und für seinen Vater würde das wohl eine herbe Enttäuschung sein. Aber vielleicht machte er sich nun doch Gedanken darüber, dass man nicht zu achtlos mit den Gefühlen anderer Menschen umgehen konnte, um dann auch zu der Erkenntnis zu gelangen, wie egoistisch er war.

Auf dem Rückweg fuhr er aber dennoch zur Klinik. Es war schon spät geworden, und es herrschte Ruhe. Axel war erleichtert, als ihm gesagt wurde, dass sein Vater nun schlief und ausgesprochen gut auf die Injektionen reagiert hätte.

Else war noch auf, als er heimkam. Sie schaute recht trübsinnig drein.

»Hat Tante Josi angerufen?«, fragte er.

Sie nickte. »Ich habe ihr auch gesagt, dass der Herr krank ist, aber sie hat gesagt, dass er sich was Besseres einfallen lassen soll, um sie von ihrer Reise abzubringen. Und dann hat sie aufgelegt.«

Josi hatte es also nicht geglaubt, und wie es schien, hatte sie tatsächlich andere Interessen. Verdenken konnte er es ihr nicht. Sein Vater war in der Klinik gut aufgehoben, und zu seiner Genesung konnte Josi auch nichts beitragen. Axel zwang sich zur Ruhe. Jetzt war es wichtig, dass in der Firma alles so lief, dass der Boss dann nichts zu meckern hatte. Auf Strack konnte er sich jedenfalls verlassen und erst recht auf Andrea. Aber wenn er an sie dachte, hakte sein Verstand doch aus, da war das Gefühl vorherrschend. So ein wenig Hoffnung war aber schon in ihm erwacht, dass er ihr nicht ganz gleichgültig wäre.

*

Am nächsten Morgen war Andrea wieder pünktlich im Büro. Sie konnte erleichtert bemerken, dass Frau Gräf aufatmete.

»Bin ich froh, dass Sie wieder da sind, Fräulein Geßler. Wie Sie das schaffen, ist mir ein Rätsel. Ich wäre nach einer Woche mit den Nerven am Ende. Ist ja auch ein Jammer, dass Fräulein Munk auch gerade krank werden musste.«

Sie hatte jedenfalls eingesehen, dass sie den Anforderungen dieses Ressorts nicht gewachsen war, und sie gab es auch zu. Das stimmte Andrea friedfertig.

Sie machte sich gleich an die Arbeit, sah die Post durch, schob Frau Gräf zu, was diese erledigen konnte, und als Axel anrief, ging sie zu ihm.

Er ließ sie nicht durch die Sprechanlage rufen. Er sagte ihr auch gleich, dass sie sich nicht so hätte beeilen müssen.

»Es muss noch eine Menge erledigt werden«, erklärte sie. »Hier ist der Bericht für den Boss. Dann liegt das Schreiben von den Spaniern vor, dass sie schon am Montag kommen.«

»Guter Gott, da sind die Japaner doch schon eingeplant.«

»Vielleicht haben die stolzen Spanier das schon erfahren«, sagte Andrea ironisch. »Es geht um das gleiche Projekt.«

»Da hat mich mein Vater noch nicht eingeweiht«, sagte Axel.

»Das werde ich tun«, erwiderte sie. »Aber sprechen Sie zuvor mit ihm.«

»Wenn er ansprechbar ist«, sagte Axel.

»Die Bandscheibe wird sich nicht auf seinen Verstand auswirken«, sagte Andrea gleichmütig.

»Sie haben sich gefangen?«, fragte er stockend.

»Ablenkung tut gut, und Frau Gräf zeigte sich über mein Erscheinen hocherfreut. Das ist auch was wert.«

»Da sehen Sie, wie unentbehrlich Sie sind. Ich werde nachher zur Klinik fahren. Könnten wir mittags gemeinsam essen?«

»O nein, das lieber doch nicht. Außerdem wollte ich zum Friedhof fahren, ob auch wirklich alles richtig vorbereitet wird. Heute abend werde ich Carola besuchen.«

Es stimmte ihn schon froh, dass auch persönliche Worte gewechselt wurden. Bisher war das nie der Fall gewesen.

»Und dem Chef bestellen Sie bitte meine Grüße und Genesungswünsche«, fügte Andrea noch hinzu.

»Ungern, aber ich werde es nicht vergessen«, sagte er.

»Er ist wirklich nur der Boss«, sagte Andrea, und dann ging sie wieder.

Wenig später bat Peter Strack sie zu einem Gespräch. Er wollte sie nur fragen, ob sie mit Frau Gräf zurechtkäme.

»Wenn man ihr alles genau sagt, macht sie ihre Arbeit«, erklärte Andrea. »Ist schon okay. Sie sieht wenigstens ein, wo ihre Grenzen sind.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Was jedoch Carola anbetrifft, möchte ich sagen, dass sie viel selbstständiger sein würde, wenn sie nicht so gehemmt wäre.«

»Daran sind die familiären Verhältnisse schuld. Ich bin schon dahintergekommen.«

»Freut mich«, sagte Andrea. »Ich werde mich mehr darum kümmern.«

Und sie staunte über sich selbst, aber ihr war es, als würde nun Mutti Thalers guter Geist mit ihr und auch in ihr sein.

Was ihr von dieser gütigen Frau widerfahren war, was sie ihr selbst nicht mehr zurückgeben konnte, musste sie anderen weitergeben. Sie war sich dessen selbst noch gar nicht bewusst, aber ein Ring, der sich um ihr Herz gelegt hatte, war gesprengt.

Sie tat ihre Arbeit so engagiert wie sonst. Frau Gräf erstarrte in Bewunderung. Aber sie machte an diesem Tag auch keinen Fehler.

Mittags fuhr Andrea zum Friedhof. Sie wurde zu dem schlichten Sarg geführt, der nur von Grün umgeben war.

»Keine Blumen?«, fragte sie tonlos.

»Es ist so, wie die Verstorbene es gewünscht hat«, bekam sie zur Antwort.

Nein, Mutti Thaler, das kannst du mir nicht versagen, dachte Andrea, und sie fuhr sofort zum Gärtner. Den Kranz hatte sie schon bestellt, aber nun ordnete sie an, dass der Sarg mit roten Rosen überdeckt werden solle.

Hanny Thaler hatte ihr einmal erzählt, dass damals, als sie geheiratet hatte, das Geld gerade zu fünf roten Rosen gereicht hätte, und jedes Jahr zum Hochzeitstag hätte ihr dann ihr Mann wiederum fünf rote Rosen geschenkt. So sparsam waren sie gewesen, soviel hätten sie sich leisten können, aber sie hatte ja auch immer gesagt, dass sie stets zufrieden mit ihrem Leben gewesen wären.

»Das wird teuer«, sagte der Gärtner.

»Schön soll es sein«, sagte Andrea und stellte ihm einen Scheck aus, bei dem ihm die Augen fast übergingen.

*

Axel Quirin war bei seinem Vater in der Klinik, und so sanftmütig und entsagungsvoll hatte er ihn noch nie erlebt.

»Warum werde ich so gestraft«, hatte er geseufzt.

»Das weiß der Himmel«, erwiderte Axel doppelsinnig.

»Warum kommt Josi nicht?«

»Sie ist verreist. Sie weiß gar nicht, was dir passiert ist.«

»Jetzt sag mir nur, was ich ihr angetan habe!«

»Sie wird sich wohl überflüssig gefühlt haben, Vater. Sie hat ja auch ihren Stolz, und sie hat es nicht nötig, wie eine Angestellte behandelt zu werden.«

»Sie konnte doch schalten und walten, wie sie wollte, und sie gehörte doch zu uns.«

»Aber sie ist eine Frau. Das habe ich dir schon mal gesagt. Ich will nicht wieder mit dir streiten, Vater. Es tut mir leid, dass du krank bist. Aber endlich hast du auch mal Zeit, über all das nachzudenken, was dir so selbstverständlich war.«

»Wenn Josi gedacht hat, dass ich sie heiraten würde, hätte sie doch mal eine Andeutung machen können, aber sie hat sich immer als ganz emanzipierte Frau gegeben.«

»Wollen wir nicht lieber vom Geschäft reden, Vater?«, fragte Axel.

»Nein, jetzt reden wir über Josi. Schließlich ist sie doch nur deinetwegen bei uns geblieben.«

»Wenn du es so drehen willst, reden wir kein Wort mehr darüber. Und Josi ist auch keine emanzipierte Frau. Sie hat alles aus Liebe getan, wohl auch aus Liebe zu dir, aber du merkst es ja nicht. Und nun reden wir vom Geschäft. Am Montag kommen die Japaner und auch die Spanier, und Andrea hat gesagt, dass ich mit dir darüber sprechen soll, welche Taktik wir einschlagen sollen.«

»Andrea hat es gesagt«, knurrte Joachim Quirin.

»Sie ist besser informiert als ich. Ich habe dir auch den Bericht über die Konferenz in London mitgebracht.«

»Das ist eine Frau«, sagte der Ältere. »Unsentimental, zuverlässig, und du hast so getan, als müsste sie wegen des Todes ihrer Vermieterin in Schmerz zerfließen.«

Axels Gesicht erstarrte. »Ihren Schmerz wirst du wohl nie verstehen, Vater«, sagte er. »Sie hat wohl auch daran gedacht, dass du jetzt Schmerzen leidest, du, der Boss. Und ich soll dir auch Genesungswünsche bestellen. Aber wenn Frau Thaler morgen beerdigt ist, wird sie sich vielleicht überlegen, was sie nun tun wird, denn sie ist die Erbin von Frau Thaler. Eine unabhängige Frau, die tiefste Trauer über den Tod einer gütigen, mütterlichen Freundin empfindet, und die dennoch so viel Loyalität besitzt, auch an unsere Mitarbeiter zu denken, für die sehr viel davon abhängt, ob wir alle Aufträge unter Dach und Fach bringen. Aber für dich allein tut sie das nicht, da bildest du dir wohl zu viel ein. Ich komme heute Abend wieder. Bis dahin wirst du hoffentlich alles überdacht haben.«

»Wie redest du mit mir, Axel?«, fragte der Ältere konsterniert.

»Wie zwei erwachsene Männer miteinander reden sollten, wenn es um Geschäfte geht, an denen dir so viel liegt. Und wenn du mich für zu dumm hältst, diese Geschäfte weiterzuführen, während du ausfällst, musst du dir einen anderen suchen. Du siehst, ich bin völlig unsentimental. So was imponiert dir doch. Es kommt immer darauf an, worum es geht. Ich verstehe, dass Andrea um einen lieben und gütigen Menschen trauert, und ich werde morgen zur Beerdigung von Frau Thaler gehen. Wie die Geschäfte dann am Montag weitergehen sollen, kannst du gern bestimmen. Wie sagte doch Andrea, die Bandscheibe wird sich wohl nicht auf seinen Verstand auswirken.«

Sprachlos blieb Joachim Quirin zurück. Am liebsten wäre er dann aus dem Bett gesprungen, aber schon, als er sich nur aufrichten wollte, fiel er wieder zurück.

Und diesmal war es nicht nur körperlicher Schmerz, der ihn leiden ließ, jetzt plagte ihn auch sein Gewissen.

*

Aber auch Josi wurde von ihrem Gewissen geplagt. Wenn Joachim nun wirklich ernsthaft erkrankt sein sollte, wenn Axel allein war mit all den Sorgen? Vordringlich dachte sie wirklich an Axel. Er war ihr Ersatz für alles gewesen, was sie vermissen musste. Auf einen Mann hatte sie verzichten können, aber ein Kind hatte sie sich gewünscht, und dann hatte sie Axel als ihr Kind betrachtet und war glücklich gewesen, dass er ihr so viel Zuneigung entgegenbrachte.

Ruhelos hatte sie schon die erste Nacht in Bregenz verbracht und hatte sich nicht entschließen können, weiterzufahren, wie sie es sich vorgenommen hatte. Sie war den ganzen Vormittag herumgelaufen und dann auf einem Postamt gelandet.

Diesmal rief sie nicht im Haus an, sondern im Büro. »Ich möchte Herrn Axel Quirin sprechen«, sagte sie zu der Telefonistin.

»Herr Quirin ist beim Chef in der Klinik«, erwiderte diese.

»In welcher Klinik? Hier spricht Frau Kilian, die Schwägerin von Herrn Quirin, ich rufe aus dem Ausland an.« Zu mehr war Josi jetzt nicht bereit.

»In der Behnisch-Klinik, gnädige Frau«, erwiderte die Telefonistin höflich.

Josi hängte wie betäubt den Hörer ein. Er ist wirklich krank, ging es ihr durch den Sinn, und schon eine halbe Stunde später war sie auf der Rückfahrt.

*

Axel hatte am Nachmittag kaum noch Gelegenheit, mit Andrea zu sprechen. Er wollte ihr auch nicht sagen, wie unerfreulich sein Gespräch mit seinem Vater verlaufen war. Als er sie dann kurz traf, da sie schon im Gehen begriffen war, sagte er nur leise: »Vielleicht sehen wir uns noch heute Abend. Ich muss noch mal in die Klinik.«

Andrea fuhr zur Behnisch-Klinik, um Carola zu besuchen, aber wie erschrocken war sie, als sie diese in Tränen aufgelöst vorfand.

»Carola, was ist denn?«, fragte sie besorgt. »Hast du Schmerzen?«

»Mutter war hier, ich kann das nicht mehr ertragen, Andrea, sie macht alles kaputt. Ich kann es nicht begreifen, wie eine Mutter so reden kann.«

»Jetzt beruhige dich erst«, sagte Andrea tröstend. »Ich werde Frau Dr. Behnisch rufen, dass sie dir etwas gibt.«

»Nein, dann schlafe ich gleich wieder ein, und in der Nacht bin ich dann wieder munter.« Langsam versiegten die Tränen. »Es ist so lieb, dass du kommst, wo du doch jetzt soviel mitmachen musst. Wirst du deine Wohnung räumen müssen?«

»Nein, das brauche ich nicht. Mutti Thaler hat mir das Haus vererbt.«

Fassungslos war auch Carola, aber nun flog doch ein heller Schein über ihr Gesicht. »Wie lieb muss sie dich gehabt haben«, sagte sie leise. »Jetzt verstehe ich auch, dass du so für sie gesorgt hast.«

»Noch viel zu wenig und nur diese kurze Zeit, aber ich konnte nicht ahnen, dass sie mir alles hinterlassen würde. Du kannst zu mir ziehen, Carola. Es ist Platz genug.«

Carola schluchzte wieder leise auf. »Lieb von dir gemeint, aber meinst du, Mutter würde mich in Ruhe lassen? Du hättest dann auch noch darunter zu leiden.«

»Jetzt erzählst du mir erst mal, was geschehen ist, und dann überlegen wir gemeinsam, was wir tun können.«

»Ich muss dir erst was sagen, Andrea. Herr Strack hat mich besucht.«

»Ja, ich weiß, er hat es mir erzählt.«

»Er hat mich schon mehrmals besucht, und Mutter haben sie nicht zu mir gelassen, weil sie sich wieder so komisch benommen hatte. Aber sie war gestern Abend hier, und da hat sie gesehen, dass Herr Strack aus meinem Zimmer kam. Aber da ist sie nicht zu mir gekommen, sondern ist ihm anscheinend nachgefahren.«

»Sie fährt Auto?«, fragte Andrea verblüfft.

»Ja, das steht ihr doch zu. So arm, wie sie immer tut, sind wir nicht. Sie will nur, dass ich für den Lebensunterhalt aufkomme, das sei ich ihr schuldig.«

Dann, nach einer kurzen Pause, erzählte Carola die Vorgeschichte mit dem Heiratsschwindler.

»Und seit dieser Zeit spinnt sie. Dr. Norden meint, dass auch das Klimakterium da eine Rolle mitspielt. Mir gönnt sie nun auch nicht, dass sich ein Mann um mich bemüht. Peter Strack ist nämlich viel menschlicher, als ihr denkt.«

»Ich weiß es, Carola, und ich weiß auch, dass er dich sehr gern hat.«

»Heute war Mutter da, und du hättest hören müssen, was sie alles gesagt hat. Ich solle mir doch nicht im Traum einbilden, dass ein so attraktiver Mann es ernst mit mir meinen könnte, so unscheinbar und schwerfällig wie ich sei. Wahrscheinlich sei er auch verheiratet und brauche nur mal Abwechslung. Ach, ich will dir alles gar nicht sagen. Sie hat kein gutes Haar an mir gelassen. Und wie sie dann guckt, das macht mir richtig Angst. Ich war so fertig, dass ich gar nichts mehr sagen konnte. Meinetwegen kann sie doch alles Geld haben, was von der Lebensversicherung da ist. Ich fürchte nur, sie wird es dann verprassen und sich wieder an mich halten. Ich werde nie Ruhe bekommen.«

»Ich werde mal mit Dr. Norden sprechen«, sagte Andrea.

»Auf ihn ist sie auch nicht gut zu sprechen. Ich würde mit ihm unter einer Decke stecken, und die Operation wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Ich hätte schon als Kind immer simuliert. Das ist alles nicht wahr. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, Verständnis für sie aufzubringen. Früher war sie ja anders. Wie kann ein Mensch sich nur so verändern.«

»Vielleicht ist sie krank, Carola. Manche Krankheiten bringen solche Wesensveränderungen mit sich.«

»Du meinst geisteskrank?«, fragte Carola entsetzt.

»Nein, das sicher nicht. Sie müsste halt gründlich durchuntersucht werden.«

»Sie hat was gegen Ärzte. Es wäre alles nur Geldschneiderei, sagt sie, und die Apotheken würden auch nur daran verdienen.«

»So denken mehrere, aber in diesem Fall musst du ja am meisten leiden. Du hast ein Recht auf dein Leben.«

»Mein Gott, man kann es doch keinem Mann zumuten, eine solche Schwiegermutter zu haben. Daran sind auch schon manche Ehen zerbrochen.«

»Auch an anderen Umständen«, sagte Andrea. »Jetzt wirst du jedenfalls noch eine Woche in der Klinik bleiben, und inzwischen werden wir nach einer Lösung suchen. So kann es für dich doch einfach nicht weitergehen.«

»Sie wird überall erzählen, dass ich ihr das Leben zur Hölle mache, damit hat sie mir schon gedroht. Ich würde sie zum Selbstmord treiben, aber ich habe langsam Angst, dass sie mich umbringt. Es ist schlimm, wenn ich das denken muss, aber sie hasst mich, ich spüre es.«

»Ich werde mit ihr sprechen, Carola.«

»Nein, tu das nicht. Es würde alles nur schlimmer machen.«

»Es kommt darauf an, wie man es anfängt. Mach dir das Herz doch nicht so schwer, Carola. Du bist jung, du brauchst jetzt nur mehr Selbstbewusstsein. Man kann das lernen. Da habe ich schon eine Idee.«

»Welche?«

»Ich sage es dir, wenn ich alles durchdacht habe.«

»Wenn ich doch nur so klug wäre wie du.«

»Du bist klug. Du hast nur noch nicht versucht, deine Fähigkeiten zu nutzen, Carola. Um des lieben Friedens willen hast du immer zu allem Ja und Amen gesagt, und damit drängt man sich selbst in die Reserve. Das wird ausgenutzt. Wir werden alles durchsprechen, wenn du dich besser fühlst, aber vielleicht hilft dir auch Peter Strack ein bißchen weiter.«

»Ich werde ihm sagen, dass er nicht mehr kommen soll.«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Andrea energisch. »Bring dich nicht um jede Freude.«

»Du hättest doch wirklich alle Chancen bei so vielen Männern, und du kümmerst dich überhaupt nicht darum«, sagte Carola nachdenklich.

»Ich habe erlebt, unter welchen Umständen die Ehe meiner Eltern zerbrochen ist, Carola, das musste ich auch erst bewältigen. Es braucht alles seine Zeit. Mutti Thaler hat mir sehr viel geholfen und mir manchen verlorenen Glauben zurückgegeben. Vielleicht kann ich nun dir ein bißchen helfen. Resigniere nicht, Carola.«

»Ich habe dich immer bewundert, Andrea.«

»Wofür denn eigentlich?«, fragte Andrea nachdenklich. »Dass ich immer recht rücksichtslos war und dich auch manchmal angeschnauzt habe?«

»Schnauzen kann man das doch nicht nennen. Du bist nie ungerecht gewesen, Andrea, und ich hatte doch wenigstens einen Menschen als Vorbild.«

»Jetzt machst du mich aber ganz verlegen, Carola. Betrachte mich lieber als Freundin, und Freunde sollten immer ehrlich zueinander sein.«

Etwas Tröstlicheres hätte sie Carola gar nicht sagen können.

*

Als Andrea das Krankenzimmer verlassen hatte, sah sie Dr. Norden kommen.

»Fein, dass wir uns treffen«, sagte er herzlich. »Hat der Boss Sie her befohlen?«

»Ich habe Carola besucht. Dem Boss mache ich keinen Privatbesuch.«

»So habe ich es auch nicht gedacht. Ihm wird es auch sehr gut tun, wenn er mal abschaltet.«

»Wenn er das nur könnte«, sagte sie mit einem ganz leisen Seufzer. »Bei Gelegenheit würde ich wirklich gern mal mit Ihnen über Frau Munk sprechen. Carola ist recht verzweifelt.«

»Was ich verstehen kann. Frau Munk ist sehr schwierig, gelinde ausgedrückt. Ich habe da auch meine Bedenken. Aber ich kann sie nicht zwingen, sich einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen.«

»Für Carola spitzt sich alles zu. Sie ist in einer kritischen Phase. – Oh, da kommt ja Herr Strack. Ich möchte mit ihm sprechen, bevor er Carola besucht.«

»Tun Sie das, und vielleicht besuchen Sie uns am Wochenende, Andrea. Dann können wir länger miteinander reden.«

»Aber die Freizeit gehört doch der Familie.«

»Ein lieber Gast ist immer willkommen«, sagte er. »Wir sehen uns ja morgen. Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Ihr Wohl Frau Thaler sehr am Herzen lag.«

»Das weiß ich. Sie hat mir alles hinterlassen. Wir sprechen noch darüber?«

»Gern.«

Peter Strack zeigte keine Spur von Verlegenheit, obgleich er einen großen Rosenstrauß in der Hand hatte.

»Jetzt macht Dr. Norden einen kurzen Besuch bei Carola«, sagte Andrea, »da kann ich Ihnen noch sagen, dass sie heute Aufmunterung braucht. Die schwierige Mutter hat ihr das Herz schwergemacht.«

»Kennen Sie Frau Munk?«, fragte Peter Strack.

»Noch nicht, aber ich werde mich bald mit ihr bekannt machen, wenn diese Woche vorüber ist.«

»Sie haben wirklich Mut, Fräulein Geßler. Besuchen Sie jetzt noch den Boss?«

»Das habe ich nicht beabsichtigt.«

»Der Junior ist bei ihm. Es gibt auch schwierige Väter«, sagte er anzüglich.

»Das ist mir auch nicht unbekannt. Wir sind uns einig, dass es keinen Lehrlauf gibt?«

»An mir soll es bestimmt nicht liegen, falls dem Junior nicht die Galle überläuft.«

Nach dieser Andeutung hatte sich Andrea entschlossen, in der Klinik zu warten. Doch dann erlebte sie eine Überraschung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Josi Kilian erschien, bemüht, Haltung zu wahren, aber doch aufgeregt. Als sie Andrea gewahrte, begann sie zu zittern.

Sofort kam sie auf Andrea zugeeilt. »Steht es schlimm um Joachim?«, fragte sie angstvoll.

Andrea war verwirrt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Und sie war erleichtert, als nun, gerade im richtigen Augenblick, Axel erschien.

»Josi, du bist hier?«, staunte er. »Ich dachte, du wärest weit weg. Deine Nachbarn haben mir gesagt, dass du verreist wärest.«

»War ich auch, aber dann habe ich Gewissensbisse bekommen, und im Büro hat man mir bestätigt, dass Joachim tatsächlich krank ist. Nun sag schon, wie es ihm geht!«

»Nicht so schlecht, dass er nicht meckern könnte, nicht so gut, dass er aus dem Bett springen kann. Es ist ein Bandscheibenvorfall.«

»Wenigstens kein Herzinfarkt«, sagte Josi erleichtert. Andreas Anwesenheit schien sie vergessen zu haben.

Andrea hatte sich entfernen wollen, aber Axel rief:

»Bitte, bleiben Sie doch, Andrea, ich muss noch einiges mit Ihnen besprechen.«

»Ich bin ein bißchen durcheinander«, sagte Josi entschuldigend. »Wenn Joachim Fräulein Geßler sprechen will, warte ich.«

»Nein, er will Fräulein Geßler nicht sprechen. Er weiß gar nicht, dass sie hier ist. Sie hat eine kranke Kollegin besucht. Das brauchst du Vater nicht zu sagen, Josi. Und nimm bitte nicht an, dass du ohne Vorwürfe davonkommst. Schuld sind nämlich wir, dass er krank ist.«

»Das werde ich ihm schon ausreden«, sagte Josi. »Bist du nachher da, Axel?«

»Aber sicher. Ich kann auch warten und hier mit Andrea besprechen, was noch zu klären ist.«

»Dafür würde ich mir schon einen etwas gemütlichen Ort aufsuchen«, sagte Josi. »Außerdem bin ich mit dem Wagen hier.« Sie schenkte Andrea ein Lächeln. »Ich hoffe, dass wir uns auch bald näher kennenlernen. So, jetzt werde ich mich in die Höhle des Löwen begeben«

»Er wird sanft wie ein Lamm sein, wenn Josi zurückkehrt«, lächelte Axel hintergründig.

*

Er hatte Andreas Arm mit festem Griff umschlossen. »In der Nähe ist ein Restaurant, da könnten wir einen Happen essen«, schlug er vor. »Sie können wohl auch eine Stärkung brauchen, Andrea.«

Dem konnte sie nicht widersprechen. Sie hatte ein ganz flaues Gefühl im Magen. Nicht ahnend, dass ihnen aus einem Wagen, der auf dem Parkplatz stand, ein ebenso böser wie gehässiger Blick folgte, gingen sie zu Fuß über die Straße. Wie hätten sie auch ahnen sollen, dass Astrid Klinger hier auf Axel warten könnte.

Es war auch ihr zu Ohren gekommen, dass Joachim Quirin in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden war. Die gute Else hatte keinen Grund gesehen, ihr dies nicht mitzuteilen.

Man hatte Astrid gesagt, dass sie Herrn Quirin noch nicht besuchen dürfe, aber sie hatte Axels Wagen auf dem Parkplatz gesehen, und so hatte sie gewartet. Er hatte allerdings keinen Blick für irgendeinen Wagen, der hier stand. Er hatte nur Augen für Andrea.

»Vater ist wirklich sanft wie ein Lamm«, sagte er zu Andrea, als sie über die Straße gingen. »Wenn er meckert, dann nur deshalb, weil er sich nicht rühren kann. Das ist wirklich schlimm für ihn. Außerdem hatte er schon immer fürchterliche Angst vor einer Operation.«

»Muss er operiert werden?«, fragte Andrea.

»Nein, aber damit er Ruhe gibt, sagt man ihm das zur Warnung. Die geschäftlichen Entscheidungen überlässt er uns. Sie werden das schon machen, hat er gesagt. Er erteilt Ihnen Prokura. Dazu bittet er ganz formell um Ihren Besuch.«

»Und das lassen Sie sich gefallen?«, fragte sie konsterniert.

»Ich muss ihm beistimmen, dass Sie besser informiert sind als ich, allerdings räumt er ein, dass wir alles absprechen sollen. Das ist doch auch schon ein Fortschritt. So, jetzt bestellen wir uns erst mal was Gutes.«

Astrid rief in der Zwischenzeit ihre Mutter von der Telefonzelle aus an. »Du musst sofort herkommen, Mama«, sagte sie schrill. »Axel ist mit der Geßler beisammen. Das werden wir ihm versalzen.«

Zum Glück ahnte Josi von alldem gar nichts, sonst hätte sie nicht so ruhig und gelassen am Bett ihres Schwagers gesessen und seine Klagen angehört, wie tief es ihn getroffen hätte, so schmählich von ihr im Stich gelassen zu werden.

»Ich bin ja hier, Joachim, und es tut mir auch leid, dass es dich umgeworfen hat. Aber daran bin ich nicht schuld und Axel auch nicht. Du hast dich nie geschont, und das rächt sich immer. Und ich brauche halt auch mal Ruhe und ein bißchen Abwechslung. Ich möchte auch noch ein bißchen was von der Welt sehen.«

»Aber das hättest du doch nur zu sagen brauchen, Josi«, brummte er. »Nie hast du ein Wort verlauten lassen, dass dir was fehlt.«

»Mir hat auch nichts gefehlt, Joachim. Es hat mir nur nicht gepasst, dass du Axel wie einen dummen Jungen behandelt hast. Es hat mir erst recht nicht gefallen, dass du ihn mit dieser einfältigen Puppe Astrid Klinger verschachern wolltest.«

»Das ist abgeschrieben, Josi. Darüber brauchen wir nicht mehr zu reden, aber wer herrschen will, muss erst seine Erfahrungen sammeln.«

»Aber dazu braucht er nicht vor seinem Vater zu katzbuckeln«, sagte Josi. »Und dann will ich dir auch gleich noch was sagen. Andrea Geßler schlag dir aus dem Sinn. Es würde mir schon gar nicht behagen, wenn du dich lächerlich machen würdest. Du solltest vielleicht eher bemüht sein, in ihr deine zukünftige Schwiegertochter zu sehen.«

»Und wenn ich das schon länger tue, als du denkst?«, fragte er. »Aber man will ja auch wissen, was so ein ehrgeiziges Mädchen anstrebt. Aber da sie jetzt Frau Thaler beerbt hat, braucht sie ja nicht auf Geld aus zu sein.«

Josi sah ihn erschrocken an. »Frau Thaler ist gestorben?«, fragte sie heiser.

»Morgen wird sie beerdigt. Und sie muss allerhand hinterlassen haben. Ich weiß, was Grund und Boden in dieser Gegend wert sind.«

»Und das hat deinen Sinneswandel bewirkt«, sagte sie mit einem Anflug von Bitterkeit.

»Ach was, red nicht solchen Unsinn. Ich finde es nur gut, wenn man sich keine Gedanken zu machen braucht, dass es einem Mädchen darum geht, sich einen reichen Mann zu angeln.«

»Diese Gedanken hättest du dir eher über Astrid Klinger machen sollen«, sagte sie.

Er stöhnte. »Was bist du Axel ähnlich. Du könntest wahrhaft seine Mutter sein. Deine Schwester war nicht so, Josi.«

»Sie war lieb und brav, zahm und züchtig, nein, das werde ich nie sein, Joachim. Aber was Axel betrifft, ich wäre stolz und glücklich, wenn er mein Sohn wäre.«

»Und was sonst noch?«

»Ich hoffe, dass du zu einer toleranteren Einstellung kommst.«

»Ich leide, und ihr schimpft mit mir«, sagte er mit einem Anflug von Galgenhumor.

»Ist das wirklich so schmerzhaft?«, fragte Josi.

»Ich wünsche dir so was nicht. Ich habe gedacht, jetzt ist es aus.«

»Dann werden wir in Zukunft schön aufpassen, dass es sich nicht wiederholt.«

»Fährst du nicht wieder weg?«, fragte er kleinlaut.

»So herzlos bin ich ja nicht, aber wenn du denkst, ich bleibe an deinem Bett sitzen und werde Händchen halten, hast du dich geirrt. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass Axel seine Ordnung hat, während du hier gut versorgt wirst.«

»Und wenn mir das Essen hier nicht schmeckt?«

»Ich werde kommen und es kosten«, erwiderte sie.

*

Axel und Andrea schmeckte das Essen, das ihnen serviert wurde, als Astrid Klinger und ihre Mutter auf der Bildfläche erschienen.

»In Deckung gehen, Andrea«, flüsterte Axel, als sein Blick zufällig auf den Eingang fiel.

»Warum?«

»Witwe Klinger und Tochter sind gekommen. Soll das ein Zufall sein?«

»Ich habe sie nicht eingeladen«, sagte Andrea ironisch.

»Was immer ich sage, Sie werden nicht widersprechen«, raunte er ihr zu, aber da nahten sie schon.

»Welch ein Zufall«, sagte Frau Klinger mit süßsäuerlichem Lächeln. »Stören wir eine geschäftliche Besprechung? Wir wollten gerade Joachim besuchen.«

»Ein bißchen spät abends«, sagte Axel kühl.

»Wir haben es doch gerade erst erfahren«, sagte Astrid mit ihrer zirpenden Stimme. »Möchtest du uns nicht vorstellen, Axel.«

»Aber gern«, erwiderte er. »Frau und Fräulein Klinger, Fräulein Geßler, meine zukünftige Frau.«

Marianne und Astrid Klinger schnappten nach Luft, und Andrea hatte die Luft angehalten.

»Das ist allerdings eine schöne Überraschung«, sagte Frau Klinger schrill.

»Aber kein Zufall und auch nicht von anderen geplant«, erwiderte Axel.

»Findest du das gut, Axel?«, zischte Astrid.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr hier erscheint.«

»Komm jetzt, Astrid, wir gehen«, sagte Frau Klinger zornbebend. »Ich bin sehr gespannt, ob das von Joachim gebilligt wird.«

»Da bin ich allerdings auch gespannt«, sagte Andrea leise, als die beiden davonrauschten.

»Und was sagen Sie?«, fragte er.

»Das war stark. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.«

»Wollen Sie mir nicht ein bißchen helfen, Andrea?«, fragte er bittend.

»Und wenn ich meine Kündigung bekomme?«

»Dann gehen wir gemeinsam. Trauen Sie mir nicht zu, dass ich eine Frau ernähren kann?«

Ein Lächeln kam in ihre Augen. »Das kann ich auch ganz gut allein, Axel, aber warum sollten wir es nicht mal versuchen, Junior? Du warst sehr mutig!«

»Sie …, du sagst du?«, flüsterte er.

»Sozusagen, Verlobte sollten sich nicht siezen«, erwiderte sie schelmisch.

»Du bist umwerfend. Ich würde dich liebend gern küssen«, sagte er zärtlich.

»Aber nicht hier. Ich bin diesbezüglich sehr zurückhaltend. Und es wird auch noch einige Zeit vergehen, bis ich ein richtiges Ja sage, Axel. Aber einen Freund darf man nicht im Stich lassen.«

»Ich möchte nicht immer nur dein Freund sein, Andrea«, sagte er ganz leise.

»Freundschaft ist Liebe mit Verstand«, sagte sie gedankenvoll, »und sie ist beständiger als eine lodernde Flamme, die dann doch erlischt.«

»Wenn du es so siehst!« Er wusste darauf nichts zu sagen.

»Mutti Thaler hat es mir einmal gesagt, als wir über unsere Beziehung sprachen. Da habe ich es allerdings auch nur auf die Zuneigung zwischen uns bezogen. Aber du kannst mich erst richtig verstehen, wenn du auch begreifst, dass diese Frau mich wieder zu einem Menschen machte, der einem anderen Zuneigung schenken wollte.« Und dann sprach sie über ihre Kindheit, ihre Jugend und ihre Beziehung zu ihren Eltern.

»Ich war völlig leer, als ich mir mein eigenes Leben einrichtete, Axel. Ich hatte nur meinen Verstand und einen unbändigen Willen, nie von jemandem abhängig zu sein. Aber dann widerfährt einem das Wunder, dass ein fremder Mensch Güte und Liebe zu geben vermag und den eisernen Ring sprengt, durch den man eingeengt wurde. In mir ist so viel Dankbarkeit, dass ich nicht mehr leben will wie früher. Allein mit dem Verstand kann man viel erreichen, aber nicht alles.«

»Nun habe ich meinen Schatten übersprungen, und du hast mir dazu verholfen, Andrea.«

*

Mit Josi, die schon im Haus wartete, sprach er auch noch lange. Das Erscheinen der Klingers entlockte ihr nur ein sarkastisches Lächeln.

»Eine von beiden wird schon auf der Lauer gelegen haben«, meinte sie, »aber so was mag Joachim nicht. Er hat seine Schwächen, er kann verletzend sein, aber hinterhältig ist er nicht. Und was Andrea anbetrifft, brauchst du keinen Gegenspieler in ihm zu sehen. Es mag sein, dass er sich wieder mal eine vage Hoffnung gemacht hat, aber er erkannte, dass er keine Chance hatte und war recht schnell bereit, diese Chance seinem Sohn einzuräumen.«

»Bist du davon wirklich überzeugt, Josi?«, fragte Axel.

»O ja, ich kenne Joachim.« Sie lachte leise auf. »Er hat von mir auch allerhand zu hören bekommen, aber der zweite Frühling hat bei ihm nicht lange gedauert. Dr. Behnisch hat mir auch gesagt, dass er höllische Schmerzen hatte und da ist ihm wohl doch bewusst geworden, dass auch seiner Vitalität Grenzen gesetzt sind. Momentan ist seine größte Angst, dass er auf Diät gesetzt wird.« Und wieder lachte sie, diesmal freier und herzlicher. Aber dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Du wirst morgen zur Beerdigung gehen?«

»Hat man daran etwas auszusetzen?«, fragte Axel.

»Nein, ich werde auch dort sein. Schau mich nicht so an, es ist mir ein Bedürfnis, Andrea zu verstehen zu geben, dass ich auf eurer Seite bin.«

»Du bist ein Schatz, Josi«, sagte er weich.

»Und vielleicht liegen die Damen Klinger wieder auf der Lauer. Denen traue ich alles zu. Aber mich konnten sie sowieso nie leiden.«

»Du hast doch nicht wirklich gewollt, dass Vater die Witwe Klinger heiratet«, fragte Axel.

»So töricht ist er denn doch nicht!«

Sie blinzelte ihm zu. »In dieser Altersklasse konnte er ja Vergleiche mit mir ziehen, und da schneide ich ja doch wohl noch besser ab. Aber vielleicht denkt er darüber erst jetzt richtig nach.«

»Würdest du Vater heiraten?«, fragte Axel.

»Nun, ich würde es mir überlegen im Hinblick darauf, dass eure Kinder Großeltern haben sollten«, erwiderte sie.

»Soweit ist es noch lange nicht«, sagte Axel.

*

Stille herrschte in der Aussegnungshalle, als der mit Rosen überdeckte Sarg hereingefahren wurde. Die Kerzen flackerten. So tapfer auch Andrea bis zu diesem Augenblick gewesen war, als dann »So nimm denn meine Hände« vom Harmonium herabtönte, rollten die Tränen über ihre Wangen und fielen auf ihre gefalteten Hände.

Ganz impulsiv legte Axel seinen Arm um ihre zuckenden Schultern, und Fee Norden blickte ihren Mann an.

Es ist gut, sie wird nicht allein bleiben, sagte ihr Blick, und Josi dachte das gleiche.

Der Weg zum Grab war weit, Axel hatte Andreas Hand fest umschlossen, als sie dem Sarg folgten.

Regentropfen fielen herab. Es musste wohl so sein.

Josi entdeckte dann für einen Augenblick Astrid Klinger in der Nähe des Grabes. Verächtlich bogen sich ihre Mundwinkel abwärts.

Viele Blumen lagen an dem Grab, aber der Kranz aus zartrosa Rosen mit der Schleife, auf der zu lesen war: »In Liebe und Dankbarkeit, deine Andrea«, war der schönste.

Daniel Norden tupfte seiner Frau dann auch Tränen von den Wangen.

»Es ist so traurig«, flüsterte Fee.

»Sie wird nicht vergessen sein, Fee«, sagte er. »Auch nicht, wenn das Glück den Schmerz verdrängt. Aber das Leben ist stärker, und das ist gut.«

Und wieder dachte Josi ähnlich.

Zur gleichen Stunde machte Marianne Klinger ihren Krankenbesuch bei Joachim Quirin. Mit scheinheiliger Freundlichkeit drückte sie ihm ihr Bedauern aus, dass er so leiden müsse.

»Ans Sterben geht es ja noch nicht, Marianne«, sagte er. »Ich bin bald wieder auf den Beinen. Ist ganz gut, wenn man nur so einen Schreckschuss vor den Bug bekommt.«

»Wir wollten dich ja schon gestern besuchen«, sagte sie, »aber da war es schon ziemlich spät. Es hatte uns ja niemand Bescheid gesagt.«

»Und wie habt ihr es dann erfahren?«, fragte er beiläufig.

»Astrid hatte angerufen und mit Else gesprochen. Man wundert sich ja doch ein bißchen, wenn man plötzlich nichts mehr hört, aber als wir dann ganz zufällig in das Restaurant gingen, und dort Axel mit diesem Fräulein Geßler trafen, wurde uns ja wirklich manches klar. Es war sehr peinlich, dass er uns so taktlos seine zukünftige Frau vorstellte.«

Joachim Quirin runzelte die Stirn, aber als er diesen gehässigen Ausdruck in ihrem Gesicht wahrnahm, reagierte er geistesgegenwärtig anders, als sein augenblicklicher Unwillen es ihm eingab.

»Wieso war es peinlich?«, fragte er. »Ihr hättet die beiden doch einfach übersehen können. Man kann sich öfter mal zufällig treffen, oder war es nicht so zufällig?«

Sie war nicht so reaktionsschnell wie er. Hektisch rote Flecken erschienen auf ihren Wangen.

»Willst du damit sagen, dass du Axels Entscheidung billigst? Ich war der Meinung, dass wir uns einig waren, dass unsere Kinder heiraten.«

»Man sollte so etwas eben nicht planen«, erwiderte er. »Axel ist erwachsen und lässt sich nicht dreinreden, und Andrea Geßler ist immerhin ein Mädchen, das man nicht übersehen kann. Ungemein tüchtig, und gerade jetzt wird sie Axel beistehen können, wenn ich länger hier liegen muss.«

»Und die Pläne, die du mit unserer Firma hattest?«, fragte sie voller Empörung.

»Ich war da wohl etwas engstirnig, Marianne. Man möge es mir nachsehen. Firmen zu koordinieren ist etwas anderes, als zwei Menschen verheiraten zu wollen, von denen jeder eigene Vorstellungen hat.«

»Aber Astrid hat immer nur Axel im Sinn gehabt. Es ist doch ungerecht, sie so zu enttäuschen.«

»Nun, was Astrid anbetrifft, war sie wohl nie ein Kind von Traurigkeit, und das konnte auch Axel wohl besser beurteilen als ich.«

»Mein Gott, sie war mit jungen Leuten beisammen. Axel hatte ja nie Zeit. Sie konnte doch nicht immer nur warten und zu Hause herumhocken. Sie hat doch auch das Recht, jung zu sein.«

»Und sie wird bestimmt auch einen anderen Mann finden in diesen Kreisen, in denen sie sich wohl fühlt«, sagte Joachim ruhig. »Sie ist doch ganz niedlich. Gut, ich werde die Klinger AG kaufen, wenn dir damit gedient ist. Allerdings wird da nicht viel übrigbleiben, wenn die ganzen Verbindlichkeiten reguliert sind.«

»Was willst du damit sagen? Ich verstehe doch nichts vom Geschäft.«

»Dann solltest du dich mal informieren. Ich bin augenblicklich nicht in der Lage, lange Diskussionen darüber zu führen. Axel hat mir klipp und klar gesagt, dass er nicht daran denkt, Astrid zu heiraten, und das muss ich akzeptieren. Die Kinder sind erwachsen geworden. Mir würde es nicht gefallen, wenn er aussteigt, und das würde er tun.«

»Erinnere dich bitte daran, dass du mal ganz anders geredet hast.«

»Da habe ich nicht in Betracht gezogen, dass Axel so viel Rückgrat hat, und da bin ich von ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen. Muss ich noch deutlicher werden?«

Plötzlich war es ihm bewusst, wie ärgerlich diese ganze Geschichte war, wie peinlich nun dieses Gespräch. Aber ihm kam auch die Erkenntnis, dass er nicht andere dafür verantwortlich machen konnte.

»Gut, wir werden eine Fusion eingehen, eine rein geschäftliche«, erklärte er.

»Aber die Firma ist auch Astrids Mitgift«, sagte Marianne Klinger erregt.

»Dann muss sie sich einen Partner suchen, der die Firma wieder aus den roten Zahlen bringt. Mit Axel ist da nicht zu rechnen.«

»Aber du hast nichts dagegen, dass er sich mit einer Angestellten eingelassen hat, die doch auch nur auf Geld aus ist.«

»Das ganz bestimmt nicht. Andrea Geßler hat Format. Sie ist eine Lady, an der sich manche andere ein Beispiel nehmen kann.«

»Und ich habe dich bisher für einen Ehrenmann gehalten, der zu seinem Wort steht.«

»Ich gebe zu, dass es außerordentlich töricht war, solchen Plan überhaupt nur ins Auge zu fassen, aber mein Wort habe ich nicht gegeben. Axel und Astrid kannten sich von Kindheit an und haben sich auch ganz gut verstanden, aber mein Sohn hat nun mal seinen eigenen Willen, und da er mir dies nun bewiesen hat, bin ich sogar froh darüber. Jedenfalls bekommt er eine sehr tüchtige Frau, die nur ein Gewinn für unsere Firma war und bleiben wird.«

»Kalt und berechnend und nur auf ihre Karriere bedacht«, sagte sie.

»Und nicht unvermögend«, warf er spöttisch ein. »Aber wer will Andrea beurteilen, der sie überhaupt nicht kennt. Euer Syndikus soll sich mit unserm in Verbindung setzen, wenn ihr an einer Fusion interessiert seid.«

»Ich werde das noch mit Astrid besprechen.«

Eine sarkastische Bemerkung lag ihm auf der Zunge, aber sie blieb ungesagt. Er war jetzt überzeugt, dass Mutter und Tochter Klinger genau Bescheid wussten, wie es um die Firma stand, obgleich sie beide überhaupt nichts von Geschäften verstanden und wohl auch nicht begreifen wollten, dass man nicht mehr ausgeben konnte, als verdient wurde. Aber sie wollte und wollte nicht gehen.

»Astrid wollte auch noch kommen«, sagte sie.

Da drückte er aber auf die Klingel. »Ich bin müde, und ich habe Schmerzen«, sagte er.

Da kam aber nicht nur Dr. Behnisch, sondern auch Josi, noch im schlichten schwarzen Kostüm.

Sie hatte schon erfahren, wer bei Joachim war und zeigte sich gewappnet.

»Oh, ein Trauerfall in der Familie?«, fragte Marianne unklugerweise auch noch spitz.

»Ich komme von Frau Thalers Beerdigung, aber da ich Astrid auf dem Friedhof gesehen habe, werden Sie wohl genauestens unterrichtet werden.« Und da zog es Marianne Klinger doch vor, eilends zu verschwinden.

Joachim sah Josi bestürzt an. »Wieso war Astrid da?«, fragte er.

»Sie hat sich da herumgedrückt, wollte wohl spionieren. Wie gestern Abend, oder glaubst du etwa, dass es Zufall war, dass sie in das Restaurant gingen, in dem Axel und Andrea gegessen haben?«

»Axel hat Andrea als seine zukünftige Frau vorgestellt«, brummte er.

»Ich weiß, und das hat dir die Witwe Klinger brühwarm berichten müssen. Welche Zugeständnisse hast du ihr gemacht?«

»Gar keine! Warum redest du immer so barsch mit mir, Josi?«

»Weil mir danach ist.«

»Hast du überhaupt kein Mitleid mit mir?«

»Wenn du damit zufrieden bist, ja, ich habe Mitleid mit dir, aber nicht wegen der Bandscheibe. Jetzt musst du von deinem hohen Roß herabsteigen, Joachim, und was meinst du, was die Klingers alles über dich verbreiten werden.«

»Ich bin vom hohen Roß heruntergefallen, Josi, genügt dir das nicht? Und kann man nicht zur Einsicht kommen, wenn man Fehler gemacht hat?«

»Na schön, wenn du zur Einsicht kommst, werde ich sanftere Töne anschlagen«, sagte sie einsichtig, »aber jetzt schlaf eine Stunde. Du siehst ganz erschöpft aus.«

»Sie hat ja auch lange genug auf mich eingequatscht«, sagte er müde. »Wo ist Axel?«

»Im Büro.«

»Und Andrea?«

»Bei Frau Dr. Norden. Sie hat diese alte Dame sehr lieb gehabt. Wenn ich mir vorstellen könnte, dass jemand mal auch mir so nachtrauert, würde ich wissen, dass ich doch nicht umsonst gelebt habe.«

Ungeweinte Tränen schwangen in ihrer Stimme mit. Erschrocken griff Joachim nach ihrer Hand. »Aber wie kannst du so etwas sagen, Josi. Wir lieben uns doch. Daran darfst du niemals zweifeln. Ich weiß, dass ich manchmal ein richtiges Ekel bin, aber ich verspreche Besserung.«

»Und ich werde wohl auch mal ein bißchen sentimental sein dürfen«, sagte sie leise. »Andrea ist ein wundervolles Mädchen. Du kannst von Glück sagen, dass du solche Schwiegertochter bekommst, und nicht so eine hohle, eitle Puppe wie Astrid. Da hättest du zwei Weiber am Hals gehabt, na, ich will lieber nichts mehr sagen.«

Das andere konnte er sich denken, aber da sie nun doch ganz gedankenverloren seine Hände streichelte, sagte er nichts mehr. Er schloss die Augen und war zufrieden, dass sie bei ihm war und er dachte, dass sie auch eine wundervolle Frau sei.

*

Gleich wieder an die Arbeit gehen, das hatte Andrea doch nicht fertig gebracht, und Axel hatte es auch nicht gewollt. Daniel und Fee Norden hatten gefragt, ob sie am Samstagnachmittag kommen würde, und da hatte Andrea ihnen erklären müssen, dass sie wegen der Auslandsbesuche noch Vorbereitungen treffen müsse und deshalb auch den Boss besuchen wolle.

»Dann kommen Sie doch jetzt mit zu uns«, hatte Fee vorgeschlagen.

Damit war Andrea gern einverstanden. Sie vergaß nicht einen Augenblick, was sie Dr. Norden zu verdanken hatte, und er hatte Hanny Thaler länger gekannt als sie. Sie wollte so gern noch erfahren, wie es früher gewesen war, als ihr Mann noch lebte.

»Schwer hat sie es mit ihm gehabt, aber beklagt hat sie sich nie«, sagte Dr. Norden. »Er war ein Eigenbrötler. Erst seine Arbeit, dann Haus und Garten, dass sie mal eine schöne Reise machen wollte, dafür hatte er nichts übrig. Sie hatten ein gemütliches Haus, hatten immer gutes Essen, darauf legte er Wert, und das genügte ihm. Er war ein braver Mann, und sie war ihm eine gute Frau.«

»Aber ich glaube, dass sie sich doch Kinder gewünscht hätte«, sagte Andrea nachdenklich.

»Ja, das hat sie, aber es lag nicht an ihr, dass sie keine bekam. Es lag an ihm. Eine Kriegsverletzung war daran schuld, aber nie und nimmer hätte sie ihn verlassen. Ein Kind adoptieren, das wollte sie nicht, und so bekam sie erst am Ende ihres Lebens das geschenkt, wonach sie sich heimlich gesehnt hatte«, sagte Dr. Norden. »Ja, Andrea, es war für sie das größte Glück. Sie hat es mir immer wieder gesagt.«

»Hat sie Ihnen auch gesagt, dass Sie mich als Erbin einsetzen will?«

»Ja, das wusste ich auch, und ich habe mich gefreut darüber.«

»Aber es ist doch einfach zu viel für die kurze Zeit«, sagte Andrea.

»Sie hatte die wenigen Monate mehr genossen, als ihr vergangenes Leben«, sagte er. »Sie hat es auch genossen, dass Sie meinten, zu ihrem Lebensunterhalt beitragen zu müssen und ihr so manche Freude bereiteten. Diese Ausflüge, die Sie mit ihr unternahmen, davon schwärmte sie, und da ich ja wusste, dass Sie dafür reich entschädigt werden würden, habe ich auch keine Andeutung gemacht.«

»Ich hätte es auch getan, wenn ich nicht auf diese Weise belohnt worden wäre«, sagte Andrea, »einfach deshalb, weil ich ein Zuhause hatte und bei einem so lieben Menschen.«

»Betrachten Sie es nicht als Neugier, Andrea«, warf Fee ein, »aber Sie sind doch anscheinend in recht großzügigen Verhältnissen aufgewachsen.«

»Großzügig schon, was die finanziellen Verhältnisse betraf, kleinlich, wenn es ums Menschliche ging. Mein Vater war selten zu Hause, meine Mutter sagte oft: Lass mich in Ruhe, da hast du Geld, geh ins Kino oder Eis essen. Verreist sind wir nie zusammen. In den Ferien kam ich immer in ein Heim, später dann ja auch in ein Internat. Aber begriffen, wie es in dieser Ehe aussah, habe ich erst, als ich schon beinahe erwachsen war. Nun wissen Sie, warum ich so verschlossen war. Über so was spricht man nicht gern.«

»Sie haben keinen Kontakt mehr zu Ihren Eltern?«, fragte Fee

»Wir schreiben uns zu den Festtagen. Ich bekomme dann von jedem einen Scheck, und beide sind heilfroh, samt ihrer neuen Partner, dass ich nicht größere Forderungen stelle. Aber wenn sie erfahren würden, dass Axel Quirin mich heiraten möchte, wären sie bestimmt alle freudevoll zur Stelle«, sagte Andrea spöttisch. »Und schon deshalb können sie noch lange darauf warten.«

»So dürfen Sie auch nicht denken, Andrea«, sagte Fee. »Man kann in solchem Fall die Verwandtschaft auch vor eine vollendete Tatsache stellen.«

Dr. Norden musste sich nun verabschieden, denn er hatte freitags seine Abendsprechstunde für die Berufstätigen, die am Tage nicht kommen konnten. Aber Fee verstand es, Andrea das Gefühl zu geben, auch das sagen zu dürfen, was sie noch mit Zweifeln erfüllte.

»Axel Quirin hat Ihnen doch schon bewiesen, wie viel Sie ihm bedeuten, Andrea«, sagte Fee nach einem längeren Schweigen.

»Ich sag ja auch nicht, dass ich ihn nicht mag. Ich kann mit ihm reden, und er hat es wirklich bewiesen, dass er nicht nur einen Flirt will. Aber sein Vater hatte andere Pläne, und mich ärgert es gewaltig, dass er Axel immer noch wie einen Lehrjungen behandelt, ja, es kränkt mich, und Axel hat auch darunter gelitten. Und außerdem hätte es dem Boss wohl geschmeichelt, wenn ich ihm den Vorzug gegeben hätte. Ich sollte das wohl lieber nicht sagen, aber Sie sind eine lebenskluge Frau, und vielleicht können Sie mir einen Rat geben, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich weiß es momentan wirklich nicht.«

»Wieso nicht, Andrea?«, fragte Fee.

Andrea erzählte von dem Zusammentreffen mit Marianne und Astrid Klinger.

»Da hat mich Axel als seine zukünftige Frau vorgestellt, und das ist dem Boss bestimmt schon zu Ohren gekommen. Josi hat es gesagt. Sie hat Durchblick. Deswegen ist sie auch gleich in die Klinik gefahren.«

»Sie werden doch keine Angst vor dem Boss haben, Andrea«, sagte Fee. »Sie denken zu viel.«

»Aber das muss ich doch. Ich stehe zwischen Vater und Sohn. Josi steht zu uns, aber der Boss bedeutet ihr auch mehr, als sie zugeben will. Und wenn der Boss dahinterkommt, dass Andreas Geßler, den ich als meinen Vater ja nicht verleugnen kann, eine leitende Stellung bei einer Konkurrenzfirma hat …, ich wage nicht daran zu denken, was dann geschieht.«

»Wie wäre es denn, wenn Sie ihm reinen Wein einschenken würden, Andrea?«, fragte Fee.

»Mit ihm kann ich doch nicht so reden wie mit Ihnen. Er ist doch so wahnsinnig misstrauisch.«

»Was meinen Sie damit?«

»Er wollte Axel mit Astrid Klinger verheiraten. Okay, Axel hätte da nicht mitgemacht, aber ich als zukünftige Schwiegertochter?«

»Sie meinen, dass da gekränkte Eitelkeit mitspielen würde?«

»Ich würde es gern verneinen, aber ich könnte mir vorstellen, dass er da doch ein Haar in der Suppe suchen und finden würde, und das wäre mein Vater, der bei der Konkurrenz eine große Nummer hat. Ich weiß doch mittlerweile schon, wie er bei Neueinstellungen verfährt. Alles wird genau durchforscht bei den leitenden Stellungen. Bis jetzt war ich ja nur eine Sekretärin, aber wenn der Sohn sich für diese interessiert, wird er genauso verfahren.«

»Sehen Sie nicht ein bißchen schwarz, Andrea?«, fragte Fee.

»Ich bin mit seinen Praktiken vertraut, und bisher habe ich das ja nur objektiv gesehen. Ich kann mir vorstellen, welche Gedanken ihn bewegen. Warum hat diese Andrea Geßler sich ausgerechnet bei uns beworben? Steckt da nicht ihr Vater dahinter? Gibt sie ihm vielleicht Informationen? Ja, ich muss das denken, denn die Firma, für die mein Vater tätig ist, ist eine starke Konkurrenz für Quirin. Und deshalb muss ich auch am Montag mit den Spaniern zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Und ich kann nur hoffen, dass es Axel auch mit den Japanern gelingt. Und es muss geschehen, bevor der Boss erfährt, dass ich die Tochter von Andreas Geßler bin.«

»Und ich soll Ihnen einen Rat geben?«, fragte Fee nachdenklich.

»Sie sind objektiv.«

»Nun, dann würde ich Ihnen raten, mit Axel Quirin zu sprechen. Er hätte wohl auch in erster Linie das Recht zu erfahren, wer Ihr Vater ist.« Fee sah Andrea forschend an. »Und möchten Sie auch wissen, was ich denke?«

»Ja, sehr gern.«

»Sie wollten Ihrem Vater zeigen, was in seiner Tochter steckt, aber Sie ahnten nicht, dass Gefühle stärker werden könnten, als der Ehrgeiz, eine solche Position zu erobern. Ist das richtig?«

»Genau«, erwiderte Andrea. »Mutti Thaler hat so oft gesagt, dass ich wohl immer die richtige Entscheidung treffen würde, aber ich habe zum ersten Mal an mir gezweifelt, als ich an ihrem Grab stand. Das war der endgültige Abschied. Mit ihr konnte ich über alles sprechen, aber dass Sie mir jetzt Gehör schenkten, tröstet mich über diesen Abschied hinweg.«

»Dann war es gut so, Andrea«, sagte Fee, »und wenn Sie Rat brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden können.«

*

Andrea hatte wahrhaft genug zu überdenken, aber Carola hatte sie nicht vergessen. Auf der Heimfahrt kam ihr der Gedanke, Frau Munk aufzusuchen.

Irgendwie schien es so, als würde sie von einem fremden Willen gesteuert.

Frau Munk war zu Hause.

»Sie wünschen?«, fragte sie, als sie die Tür öffnete, und auch Andrea erschrak vor dem starren, leeren Blick.

»Ich bin Andrea Geßler, eine Kollegin von Carola, auch eine Freundin.«

»Sie hat keine Freundinnen«, sagte Frau Munk mit einem schiefen Lächeln.

»Doch, ich bin Carolas Freundin.«

»Und warum kommen Sie?«

Ja, was will ich eigentlich, dachte Andrea, als sie das Durcheinander in dem Wohnraum sah.

»Ich wollte fragen, ob ich Ihnen irgendwie helfen kann«, erwiderte sie.

»Mir helfen, wie denn? Ich bin so schwach. Carola liegt in der Klinik. Sie braucht sich ja um nichts zu kümmern, und ich muss sehen, wie ich allein fertig werde.«

»Sie sollten eine Kur machen«, sagte Andrea.

»Und wer soll das bezahlen?«, fragte Frau Munk.

»Ich«, erwiderte Andrea. »Ja, ich gebe Ihnen das Geld. Ich habe es. Carola hat es nicht, ist das nicht ein Beweis, dass ich Carolas Freundin bin?«

»So was möchte ich erleben«, lachte Frau Munk klirrend auf.

»Sie brauchen nur ja zu sagen.«

»Ja, das möchte ich erleben, dass eine Fremde mir was gibt«, kicherte Frau Munk. »Aber es müsste schon was sein, was meinen Ansprüchen entspricht.«

»Darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte Andrea, wie gewohnt, schnellen Entschlüssen die Tat folgen zu lassen.

Frau Munk nickte, starr vor Staunen.

Andrea wählte Dr. Nordens Nummer.

»Hier spricht Andrea Geßler«, sagte sie. »Ich bin bei Frau Munk. Könnten Sie mir sagen, wo man sie ab sofort unterbringen könnte, selbstverständlich komfortabel. Sie braucht beste Betreuung.«

Loni musste erst durchschnaufen.

»Ist sie durchgedreht?«, fragte sie.

»Ihre Tochter kann sich jetzt nicht um sie kümmern. Sie braucht Betreuung«, erwiderte Andrea ausweichend. »Ich habe es Carola versprochen, mich um ihre Mutter zu kümmern. Mehr sage ich nicht.«

»Ich verstehe schon«, sagte Loni. »Ich spreche gleich mit dem Doktor.«

Während Andrea wartete, fragte Frau Munk:

»Sie haben Carola versprochen, sich um mich zu kümmern? Ist das wahr?«

»Ja, Frau Munk«, erwiderte Andrea, und dann war Dr. Norden am Apparat.

»Sie haben Mut, Andrea«, sagte er. »Musste das auch noch heute sein?«

»Wahrscheinlich«, erwiderte sie. »Frau Munk will nur nicht glauben, dass ich für die Kur aufkomme. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.«

»Ist noch Zeit bis morgen?«

»Ich denke schon.«

»Dann wird alles geregelt. Rufen Sie mich heute Abend bitte nochmals an.«

»Vielen Dank«, sagte Andrea leise. »Ich möchte wirklich, dass Frau Munk gut aufgehoben ist.«

»Sie wird morgen gegen zehn Uhr abgeholt werden, von einem Chauffeur. Doch, ich kriege das hin, Andrea. Ist sie einverstanden?«

»Ich frage sie«, sagte Andrea.

Und er konnte es mithören.

»Sie können morgen schon die Kur antreten, Frau Munk. Sie werden um zehn Uhr von einem Chauffeur abgeholt. Sind Sie einverstanden?«

»Aber ich zahle keinen Cent«, erwiderte Frau Munk.

»Das wird alles geregelt«, sagte Andrea.

»Wie heißt das Sanatorium?«, fragte Frau Munk.

Andrea hatte den Hörer immer noch an ihrem Ohr, und sie atmete auf, als Dr. Norden sagte:

»Sonnenwende.«

Sie wiederholte es.

»Klingt gut«, sagte Frau Munk schleppend. »Ich brauche mich um nichts zu kümmern?«

»Um gar nichts«, erwiderte Andrea.

»Haben Sie wirklich so viel Geld?«

»Ich habe eine unerwartete Erbschaft gemacht.«

»Wir sind arm, und Carola bringt es ja zu nichts. Mein Mann ist schon so lange tot«, murmelte Frau Munk. »Ich werde jetzt packen. Sie sind sehr freundlich, Fräulein … wie war doch Ihr Name?«

»Geßler, Andrea Geßler.«

»Carola hat nie gesagt, dass sie eine Freundin hat. Sie ist so dumm. Sie bildet sich ein, dass dieser Mann sie heiratet.«

Langsam bekam es Andrea doch mit der Angst, als Carolas Mutter dann nur noch wirres Zeug redete. Dann griff sie sich an die Brust.

»Die Knoten, ich fühle sie, aber operieren lasse ich mich nicht. Die gehen schon wieder von allein weg. Ich werde mich erholen, wenn ich mich um nichts mehr zu kümmern brauche. Die Ärzte wollen nur immer schneiden und kassieren. Ich kann nicht mehr schlafen und bin so müde, so müde.«

»Schlafen Sie, Frau Munk«, murmelte Andrea tonlos. »Morgen geht es Ihnen besser.«

Aber dann wählte sie zum zweiten Mal Dr. Nordens Nummer und bat Loni, einen Notarztwagen zu schicken.

»Dr. Norden ist schon unterwegs. Er hat sich schon so was gedacht«, erwiderte Loni.

*

Frau Munk überlebte den nächsten Tag nicht mehr. Es war festgestellt worden, dass die Metastasen ihre Organe schon zerfressen hatten. Der Krebs hatte sie aufgezehrt, den sie nicht hatte wahrhaben wollen, aber es konnte keinem Arzt ein Vorwurf gemacht werden, da sie keinen konsultiert hatte und letztlich konnte Dr. Norden auch sagen, dass sie zu keiner gründlichen Untersuchung bereit gewesen war.

So traurig dies alles war, für Carola war es der Anfang zu einem neuen Leben, in dem ihr ein Mann zur Seite stehen wollte, der bereits den Schlussstrich unter seine Vergangenheit gezogen hatte.

Für Andrea war es allerdings auch der Zeitpunkt gewesen, Axel alles so offen zu sagen, wie sie es Fee Norden gesagt hatte.

Seine Antwort war klar und deutlich. »Für mich ändert das gar nichts, Andrea, auch wenn das Geschäft nicht so läuft, wie der Boss es sich vorstellt. Ich liebe dich, und das allein gilt. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir zwei unser Leben nicht so einrichten könnten, wie wir es wollen, wenn du es so willst wie ich.«

»Zuerst müssen wir an die Verträge denken«, sagte Andrea. »Wir lassen uns von der Konkurrenz nicht ausbooten, weil wir vorübergehend mal den Kopf verloren haben.«

Als sie dann mit dem Boss sprach, merkte man allerdings nichts davon, dass das Gefühl mit dem Verstand im Streit lag. Und Joachim Quirin sagte lächelnd: »Was soll’s, wenn das Geschäft flöten geht, Hauptsache, in der Familie ist alles wieder in Ordnung, und wenn du deinem Vater mal eins auswischen willst, kannst du das immer noch. Aber ist das so wichtig? Ich bin verdammt stolz auf meine Schwiegertochter, und mir macht es nichts aus, wenn bei der Konkurrenz ein Geßler sitzt. Bekannt war mir der Name noch nicht.«

»Aber ich heiße Geßler, Boss«, sagte sie.

»Hoffentlich nicht mehr lange«, erwiderte er. »Darf ich fragen, wie du mich dann nennen wirst? Aber bitte nicht mehr Sie.«

Da brauchte sie doch ein paar Minuten, um eine Antwort zu finden.

»Boss klingt doch gut«, sagte sie. »Ich hoffe, dass du noch lange der Boss bleibst.«

»So schnell wird es wohl nicht gehen, dass ich euch die Arbeit abnehme, aber ich bin überzeugt, dass ich sie auch nicht besser machen kann, als ihr beide. Und außerdem passt Josi auf, dass ich mir nicht zu viel zumute. Sie hat auch durchaus Verständnis dafür, dass ich so verdammt viel für dich übrig habe, Andrea. Das soll nicht ungesagt bleiben, aber ich möchte auch sagen, dass ich mich auf meine Enkel freue.«

»Über das Heiraten haben wir aber noch nicht geredet, Boss«, sagte Andrea.

»Dann tut es möglichst bald«, sagte er. »Ich habe was läuten hören, dass Strack sich für die kleine Munk entschieden hat. Wer hätte das gedacht. Mir ist sie eigentlich nie aufgefallen.«

»Er wird es nicht bereuen. Sie ist ein ganz liebes Mädchen, das sich jetzt erst richtig entfalten kann.«

Dass ihre Mutter so plötzlich gestorben war, konnte Carola nicht so schnell begreifen, aber Dr. Norden sagte ihr dann, dass das Herz versagt hatte.

»Aber sie muss doch schreckliche Schmerzen gehabt haben. Mir ist das ein Rätsel«, sagte Carola nachdenklich.

Das war es auch für ihn, aber hin und wieder gab es solche Fälle, dass bei manchen Patienten die Schmerzen erst einsetzten, wenn das Endstadium erreicht war, und er konnte Carola sagen, dass es eine Gnade sei, wenn die Patienten dann so schnell sterben konnten.

Er wagte jetzt nicht mehr auszudenken, welcher Leidensweg auch Carola bevorgestanden hätte, wenn das Leben ihrer Mutter durch gezielte Behandlung noch über Monate hätte verlängert werden können, und dazu waren die Ärzte eben verpflichtet.

*

Axel und Andrea brachten die neuen Verträge unter Dach und Fach. Der Boss sparte nicht mit Lob, und Josi strahlte. Die Tage gingen dahin. Carola hatte die Klinik verlassen. In aller Stille war ihre Mutter beerdigt worden. Peter Strack, Andrea und Axel gaben ihr in dieser Stunde die Zuversicht, dass sie nun an eine bessere Zukunft denken konnte.

Von Joachim Quirin hatte sie schon die Zusage, dass sie auch als Frau Strack in der Firma bleiben könnte.

Eine neue Wohnung brauchte sie nicht zu suchen. Peter meinte, dass seine vorerst groß genug wäre, und dann könnten sie in aller Ruhe ein Haus suchen, in der auch für Nachwuchs Platz sein würde. Dann allerdings würde er schon darauf bestehen, dass sie nicht mehr arbeiten würde.

Sie blühte auf. Da fiel sie dann auch dem Boss auf, als er wieder an seinem Arbeitsplatz zurückkehren konnte. Aber er ließ es langsam angehen, Josis Drohung im Ohr, dass sie sofort wieder gehen würde, wenn er sich dem alten Stress ausliefere. Und die Ärzte hatten ihm angekündigt, dass es letztlich doch noch zu einer Operation kommen könne, wenn sich der Vorfall wiederholte.

Er ließ sich von ihr auch überreden, eine Kur zu machen, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie ihn dann begleiten würde. So bekam die Insel der Hoffnung im Oktober zwei neue Gäste, doch zuvor hatten ihm Axel und Andrea noch zugestehen müssen, noch in diesem Jahr zu heiraten.

»Mir wird ja auch mal die Sentimentalität zugestanden werden, dass ich Weihnachten im Familienkreis feiern will«, hatte er erklärt.

Warum sollte Andrea nicht auch mal ihren Grundsätzen untreu werden. Alle verschütteten Gefühle waren in ihr geweckt worden. Mit jedem Tag mehr wusste sie, dass sie mit Axel glücklich sein konnte. Sie wusste, wie viel Energie in ihm steckte, wenn er auch sagte, dass sie sein Motor sei. Aber schließlich war sie auch eine Frau mit Sehnsüchten und geheimen Wünschen, und ein hübsches Haus hatten sie auch, in dem ein guter Geist unsichtbar zu walten schien.

Dass Josi dann sagte, Peter und Carola könnten doch eigentlich ihr Haus übernehmen, da sie Joachim nun wirklich nicht allein lassen könne, setzte einem dreifachen Glück die Krone auf.

Die Firma Klinger hatte Joachim Quirin gekauft, und er hatte sich dabei großzügig erwiesen. Allerdings hatte er das auch deutlich den beiden Damen Klinger gesagt. Und sie ersparten sich die Blamage, Zaungäste bei der Trauung von Axel und Andrea zu sein, die zwei Wochen vor Weihnachten stattfand.

Da hatten aber nicht nur sie sich auf dem Standesamt das Jawort gegeben, sondern auch Joachim und Josi, die dann aber nach einigem Zureden auch nicht auf den kirchlichen Segen verzichten wollten.

Es hatte sich herumgesprochen, obgleich vorher davon kein Aufhebens gemacht worden war. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt.

Auch die Hochzeit von Peter und Carola Strack, die schon sechs Wochen vorher in aller Stille stattgefunden hatte, wurde da mitgefeiert.

Ihrem Vater und auch ihrer Mutter schickte Andrea nur die offiziellen Heiratsanzeigen, und beide reagierten beleidigt, dass sie davon nicht vorher unterrichtet worden wären, aber auch so, wie es Andrea erwartet hatte.

»Auf ein Hochzeitsgeschenk kannst du ja verzichten in Anbetracht dieser Partie«, hatte ihr Vater geschrieben.

»Ich habe immer gewusst, dass du dir mal einen reichen Mann angeln würdest«, schrieb ihre Mutter. »Ich hätte dich gern als Braut gesehen.«

Aber in dieser einen Beziehung wurde Andrea nicht sentimental.

Sie hatte jetzt wieder eine Familie, und sie lebten in vollster Harmonie. Ein wunderschönes Weihnachtsfest konnten sie feiern, wie Andrea es noch nie erlebt hatte.

Da dachte sie dann doch zurück. »Wozu der ganze Rummel«, hatte ihr Vater gesagt, »fahren wir doch lieber weg.«

Und ihre Mutter hatte sich nur dafür interessiert, was man sich schenken könnte.

Hier schenkte sie sich vor allem Liebe, und am ersten Feiertag waren auch Peter und Carola bei ihnen zu Gast.

Aber welch ein großer Tag kam dann erst im Oktober des nächsten Jahres, als in der Leitner-Klinik Andrea ihr erstes Kind zur Welt brachte.

Da wartete aber auch schon Carola.

»Jetzt musst du dich aber ranhalten, Andrea«, schmunzelte sie, »diesmal wollte ich dir den Vortritt lassen.«

Aber schon oft waren sie auch gemeinsam dort gewesen, voller Vorfreude auf wieder ein doppeltes Ereignis.

Bedeutend aufgeregter als die beiden werdenden Väter aber waren Joachim und Josi.

»Wirst du böse sein, wenn Carola einen Sohn bekommt und Andrea eine Tochter, Joachim?«, fragte Josi zaghaft.

»Du weißt doch, dass ich hübsche Mädchen liebe«, erwiderte er. »Reg mich jetzt nicht auf, Josi. Ich denke, dass wir noch öfter hier sein werden.«

Kurz nach siebzehn Uhr konnte er aber seinen ersten Enkel in den Armen halten, und da sah Josi zum ersten Mal Tränen in seinen Augen. Tränen eines unendlichen Glückes.

Und eine Stunde später brachte Carola auch einen Sohn zur Welt.

»Wenn das keine Freundschaft ist«, sagte Axel zu Peter Strack.

»Deshalb wollen wir unsern Sohn ja auch Axel nennen«, sagte Peter.

»Da unserer Joachim heißen wird, ist nichts dagegen einzuwenden«, erwiderte Axel. »Ich habe nie geglaubt, dass du mal so ein guter Ehemann und glücklicher Vater werden würdest.«

»Danke, gleichfalls«, erwiderte Peter. »Aber so ein großes Los kann man ja auch teilen.«

Und vereint konnten sie auch bei den beiden glücklichen Müttern sitzen, die nun in einem Zimmer lagen, während Joachim und Josi noch lange vor dem Säuglingszimmer standen.

»Unser Baby ist zweihundert Gramm schwerer als der kleine Axel«, sagte Josi.

»Axel war ein mickriges Baby, aber er ist ein ganzer Mann geworden«, sagte Joachim.

»Der kleine Joachim Quirin wird auch ein ganzer Mann werden«, sagte Josi.

»Bei der Mutter«, sagte Joachim, »aber eine kleine Andrea möchte ich auch noch haben.«

Er brauchte nicht allzu lange darauf zu warten, und es war gut, dass der kleine Joachim seiner Omi den Vorzug gab, denn für den Boss war es das höchste Glück, dass die kleine Andrea ihrer Mutter immer ähnlicher wurde.

*

Für Dr. Norden aber war es das Erstaunlichste, dass Andrea nie mehr an Heuschnupfen litt, was ihn dann auch in der Erkenntnis bestärkte, dass auch diese Allergie psychisch bedingt sein konnte, oder auch durch eine glückliche Mutterschaft geheilt wurde. Manchmal gab es eben keine bessere Medizin als Liebe.

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