Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 33
ОглавлениеUlrike Hermsdorf hatte den Tisch gedeckt, hübsch wie immer, und wie sie es von früheren guten Zeiten gewohnt war. Allzu viel war davon nicht geblieben, aber sie war darauf bedacht, dass ihre Tochter Nicola nicht alles entbehren sollte, woran sie bis vor einem Jahr gewöhnt gewesen war.
Bis dahin war ihre Welt in Ordnung gewesen, aber dann bewahrheitete sich für sie das Sprichwort, dass ein Unglück selten allein kommt.
Vor genau einem Jahr hatte Ludwig Hermsdorf bei einem schweren Autounfall sein Leben verloren, und darüber war Ulrike noch nicht hinweggekommen. Alles hätte sie mit ihm gemeinsam ertragen können, was sonst an Widrigkeiten noch auf sie zukam, aber der geliebte Mann, mit dem sie fünfundzwanzig glückliche Ehejahre verbracht hatte, hinterließ eine Lücke, die sich nicht schließen wollte.
Ulrikes einziger Trost war Nicola, und dieses bezaubernde Mädchen, das nun die Wohnung betrat, neunzehn Jahre jung und voller Anmut, verstand zu trösten.
Die Arme voller Frühlingsblumen, wirkte Nicola selbst wie der erwachende Frühling in Mädchengestalt.
»Ich habe noch Blumen besorgt, Mami«, sagte sie. »Wir wollen doch nachher zum Friedhof fahren. Und ich habe Frau Dr. Norden getroffen. Sie hat mir auch noch einen Strauß mitgegeben. Sie ist so lieb, und ich soll dich auch ganz herzlich grüßen.«
Nur mit Mühe konnte Ulrike die aufsteigenden Tränen unterdrücken.
»Ja, sie sind sehr lieb, die Nordens«, sagte sie leise.
»Ich soll dir auch sagen, dass du dir nicht solche Sorgen machen sollst, dass wir unser Häuschen aufgeben müssen, Mami. Die Versicherung muss jetzt bald zahlen. Frau Norden war ganz bestürzt, dass das noch immer nicht geschehen ist.« Sie strich sanft über das früh ergraute Haar der Älteren. »Ich weiß ja, was du denkst, Mami. Papi wird davon auch nicht lebendig.« Sie blickte zu dem Foto, das einen fröhlich lachenden Mann darstellte. »Mein lieber Papi«, sagte sie zärtlich. »Aber bitte nicht mehr weinen, Mami. Das würde ihm nicht gefallen.«
*
Am Nachmittag fuhren sie zum Friedhof. Ludwigs großen Wagen hatte Ulrike gegen einen kleinen eingetauscht. Als Vertriebsleiter einer großen Möbelfabrik hatte Ludwig Hermsdorf sehr gut verdient und es zu einem soliden Wohlstand gebracht, obgleich sie es am Anfang ihrer Ehe nicht leichtgehabt hatten. Sie stammten beide aus Beamtenfamilien, in denen es sparsam zugegangen war.
Immer wieder musste Ulrike daran denken, wie sie sich gemeinsam gefreut hatten, wenn sie sich wieder etwas für die Wohnung kaufen konnten, und immer hatten sie gespart für ein eigenes Haus. Und dann hatte Ludwig sich nur ein paar Jahre daran freuen können, als sie dieses Ziel erreicht hatten.
Es war viel über sie hereingebrochen in den letzten zwei Jahren. Die Möbelfabrik war nach dem Tode des Seniorchefs in andere Hände übergegangen. Erbschaftsauseinandersetzungen unter seinen Kindern hatten zur Folge, dass sie in Zahlungsschwierigkeiten geraten waren. Ludwig hatte sich mit dem Gedanken tragen müssen, eine neue Stellung zu suchen, aber für einen Mann von achtundvierzig Jahren war das auch nicht so einfach. Für die Firma war das Problem durch den tödlichen Unfall aus der Welt geschaffen, aber das Geld, das Ulrike und Nicola zugestanden hätte, bekamen sie nicht mehr. Und die Versicherungen klagten hin und her.
Das Haus war noch nicht abbezahlt, die Verbindlichkeiten liefen weiter.
Die Rücklagen schmolzen mehr und mehr zusammen, und Ulrike, die gern wieder gearbeitet hätte, fand auch keine Stellung mehr.
Nicola sollte ihre Ausbildung auf der Meisterschule für Mode nicht abbrechen, darauf bestand Ulrike. Das Mädchen war hochtalentiert, aber es blieb ihr nur wenig Zeit, ab und zu mal Geld mit einem Job dazuzuverdienen.
Ja, all diese Gedanken bewegten Ulrike, als sie am Grabe ihres geliebten Mannes standen. Sie wollte ja tapfer sein, aber gerade in den letzten Wochen ging es ihr auch gesundheitlich gar nicht gut. Das aber wollte sie vor Nicola verbergen.
Lange verharrten sie am Grab, ordneten die Blumen in die Vasen, bis alles so war, wie sie es sich vorstellten. Sie hielten sich umschlungen und beteten. Ulrike aber betete in diesen Minuten für die Zukunft ihrer geliebten Nicola.
Als sie zum Wagen gingen, waren Ulrikes Füße bleischwer. Ab und zu fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Körper, und Angstschweiß bedeckte ihr Gesicht.
»Fahr du jetzt lieber, Nicky«, sagte sie leise, »du kommst ja sonst ganz aus der Übung.«
Den Führerschein hatte Nicola zum achtzehnten Geburtstag noch von ihrem Papi geschenkt bekommen, aber sie war sehr bemüht gewesen, die Kosten so gering wie möglich zu halten, und das hatte sie auch geschafft. Sie fuhr auch jetzt überlegt und sicher, obgleich sie für ihre Fahrten in die Schule stets die S-Bahn benutzte.
»Was fehlt dir, Mami?«, fragte sie besorgt, als sie zu Hause ankamen und sie bemerkte, wie fahl das Gesicht ihrer Mutter war.
»Ach, nichts«, erwiderte Ulrike. »Es ist dieser Tag. Es tut doch weh. Es war auch sechs Uhr, als sie mir die Nachricht brachten.«
»Und ich war bei Susi«, sagte Nicola leise. »Auf der Geburtstagsfeier. Wäre ich doch bei dir gewesen.«
»Es hätte auch nichts mehr geändert«, sagte Ulrike.
»Jetzt legst du dich hin, und ich mache einen Tee. Aber es ist vielleicht besser, wenn ich Dr. Norden anrufe.«
»Nein, nein«, wehrte Ulrike ab. »Es wird schon besser.«
Als sie im warmen Bett lag und den heißen Tee getrunken hatte, bekam ihr Gesicht wieder Farbe. Nicola saß bei ihr und streichelte ihre Hände.
»Wolltest du nicht zu Susi gehen und ihr zum Geburtstag gratulieren?«, fragte Ulrike.
»Ich habe ihr schon gratuliert. Sie hat jetzt doch einen Freund, da bin ich nicht mehr so wichtig, Mami.«
Und wenn Nicola nun auch ihr Herz verliert, ging es Ulrike durch den Sinn, was bleibt mir dann noch? Dennoch war der Wunsch in ihr, dass Nicola einen so guten, anständigen Mann finden würde, wie es Ludwig gewesen war. Nicht nur so einen, der sie dann sitzenlassen würde. Erinnerungen erwachten wieder in Ulrike, die sie quälten, obgleich diese sie selbst nicht trafen, nichts mit ihr und Ludwig zu tun hatten, bis auf das eine … Doch sie vernahm nun wieder Nicolas sanfte Stimme.
»Ich kann nächste Woche ganz schön Geld verdienen, Mami. Frobenius hat mir angeboten, seine Modelle bei der Modenschau vorzuführen.«
»Frobenius ...?«, fragte Ulrike stockend.
»Der Modezar. Stell dir vor, sein Auge ist wohlwollend auf mich gefallen. Drei Tage, und für jeden zahlt er mir achthundert Euro.«
Ulrike richtete sich auf. »Du als Mannequin?«, fragte sie erregt.
»Ist doch nicht schlimm, Mami. Frau Dr. Norden findet auch nichts dabei.«
»Du hast mit ihr darüber gesprochen?«
»Ja, ich habe sie gefragt, was sie so als Mutter dazu sagen würde. Ich will es ja nicht als Beruf ergreifen, nur mal so. Er macht tolle Kleider.«
»Und wieso ist er auf dich verfallen?«, fragte Ulrike.
»Er hat sich halt umgeschaut, und da bin ich dazugekommen. Der gleiche Typ wie seine Frau sei ich, hat er gesagt. So was hat er sich vorgestellt.«
»Er ist also verheiratet«, sagte Ulrike erleichtert, und da lachte Nicola leicht auf. »Liebe Güte, du wirst doch nicht denken, dass er Hintergedanken hat. Du kannst ja mitkommen, Mami, und aufpassen. Er ist sehr seriös und viel zu alt für mich, und außerdem soll seine Frau noch vor ein paar Jahren das schönste Mannequin gewesen sein, das es je gab, hat mir Frau Gerlach gesagt. Und die hat, weiß Gott, genug gesehen. Aber wir können das Geld brauchen, und um mein Seelenheil brauchst du nicht bange zu sein. Ich verstehe ja nicht, dass er nicht die Silke genommen hat, die hat doch viel schönere Beine als ich und ist auch viel größer. Und wütend war sie auch, weil er mich gefragt hat.«
»Du brauchst das nicht zu machen, Nicky«, sagte Ulrike. »Wir haben noch ein bisschen Geld. Wir kommen schon über die Runden.«
»Ich will aber nicht, dass du dauernd rechnen musst, Mami. Es ist schnell verdientes Geld, und ich vergebe mir gar nichts dabei. Frau Norden kommt auch zu der Modenschau mit Frau Delorme, und Herr Frobenius wird mir sicher eine Karte für dich geben. Du brauchst doch auch mal ein bisschen Abwechslung.«
»Nun, wenn Frau Dr. Norden nichts dagegen hat, kann ich nicht nein sagen«, meinte Ulrike. »Sie kennt sich da besser aus als ich.«
*
Fee hatte es ihrem Mann erzählt, dass sie Nicola beim Gärtner getroffen hatte.
»Ich hab’ ihr ein paar Blumen mitgegeben. Heute ist der Todestag«, sagte Fee. »Von der Versicherung haben sie immer noch nichts bekommen.«
»Schweinerei«, knurrte Daniel. »Man könnte aus der Haut fahren. Wie geht es ihnen sonst?«
»Nicola wird immer hübscher. Frobenius möchte, dass sie bei seiner Modenschau vorführt.«
»Wie kommt er denn dazu?«, fragte Daniel. »Hast du nicht gesagt, dass Wien und Rom sein Eldorado sind?«
»Er hat Nicola wohl auf der Meisterschule gesehen. Denk nicht gleich was Falsches, Daniel, er ist mit einer schönen Frau verheiratet.«
»Was auch nicht vor Torheiten schützt!«
»Nicola hat Charakter«, sagte Fee. »Aber sie kann Geld verdienen, und das können sie brauchen. Du brauchst nicht gleich zu denken, dass sie unter die Räder kommt.«
»Das geht manchmal schneller als man denkt, wenn diese jungen Mädchen den Duft der großen weiten Welt geschnuppert haben.«
»Ich weiß ja, was du denkst, Daniel. Die einen werden Punker, die anderen drehen auf andere Weise durch, aber ein paar Vernünftige gibt es trotzdem, und dazu gehört Nicola. Sie ist blitzsauber, davon bin ich überzeugt.«
»Und dann wird sie in Samt und Seide und Pelze gehüllt, und gleich ist auch einer da, der dafür gleich die Brieftasche zückt. Das ist doch eine richtige Verführung.«
»Du brauchst deine Brieftasche nicht zu zücken. Ich schaue mir diese Schöpfungen gern an, aber wann hätte ich Gelegenheit, mal so eine zu tragen? Ein Dutzend Kittel, die ich brauche, kosten nicht soviel wie ein solches Gewand«, meinte sie mit einem bezwingenden Lächeln.
»Wir könnten ja mal wieder in ein Konzert gehen«, sagte er. »Kauf dir was Schönes, Feelein!«
»Wozu denn? Ich ziehe das Grüne an. Es ist immer noch in Mode, und wir gehen so selten aus, dass sich keiner mehr daran erinnert. Und im übrigen hat Katja den ganzen Schrank voll, und ich kann darauf zurückgreifen.«
»Du hast Humor«, sagte er.
»Fünf Kinder einzukleiden kostet genug«, meinte Fee gelassen.
»Aber du kannst ja tragen, was du willst. Du wirst immer die Schönste sein«, sagte er.
*
Zumindest fiel Fee auch in einem schlichten, schon oft getragenen Kleid bei der Modenschau auf. Katja Delorme, nach neuestem Pariser Schick gekleidet, erregte nicht dieses Aufsehen.
»Wer ist denn diese blonde Frau neben Katja?«, fragte Helga Frobenius ihren Mann.
»Es wird wohl Frau Dr. Norden sein«, erwiderte Herbert Frobenius.
»Katja hat gesagt, dass sie ihre Schwester mitbringt. Mach dich doch mit ihr bekannt, ich habe hinten zu tun.«
Auch Helga Frobenius konnte sich immer noch sehen lassen. Ihre Figur war vollkommen, und natürlich trug sie ein Kleid, das auf diese geschneidert war. Als sie auf Katja Delorme und Fee Norden zuging, stockte Fee jedoch nicht deshalb der Atem, sondern deshalb, weil Helga Frobenius eine so frappante Ähnlichkeit mit Nicola Hermsdorf hatte. Sie war viel älter, vielleicht sogar doppelt so alt, obgleich ihr ebenmäßiges Gesicht glatt und faltenlos war, aber Fee fragte sich, wie es solche Ähnlichkeit überhaupt geben konnte.
Mit der Grandezza einer Königin begrüßte Helga die beiden Damen. Mit Katja Delorme war sie auf Du und Du, und Fee bekam zu hören, dass sie niemals geglaubt hätte, dass eine Mutter von fünf Kindern noch eine solche Figur haben könnte.
»Sie haben keine Kinder?«, fragte Fee beiläufig.
»Nein, wir haben keine«, erwiderte Helga.
»Ich muss jetzt in die Garderobe. Ich hoffe, wir sehen uns noch. Deiner Schwester machen wir auch einen Sonderpreis, wenn ihr etwas gefällt, Katja.«
Und schon entschwand sie. Fee blickte ihr nach. »Seid ihr befreundet, Katja?«, fragte sie nachdenklich.
»Man kennt sich«, erwiderte Katja, »man muss solche Verbindungen nützen. Ich komme billig zu teuren Kleidern. Außerdem ist Adrian Frobenius unser Anwalt.«
»Jetzt verstehe ich nur noch Bahnhof«, sagte Fee.
»Adrian ist der Bruder des berühmten Modeschöpfers, liebste Fee«, sagte Katja nachsichtig. »Ach, da kommt er ja. So wirst du ihn gleich kennenlernen.«
Er war noch jung, und blendend sah er aus, und so hegte Fee sogleich die Befürchtung, dass das für Katja ausschlaggebend gewesen sein könnte. Sie machte ihren Mann David gern eifersüchtig. Außerdem war sie ein bisschen verwirrt, dass ein Modeschöpfer einen Bruder hatte, der Rechtsanwalt war.
Dr. Adrian Frobenius begrüßte die Damen höflich mit Handkuss, aber er hielt sich nicht lange auf.
»Ist auch bloß der Stiefbruder von Herbert«, sagte Katja, als Fee meinte, dass er noch recht jung sei. »Ungefähr so ein Verhältnis wie zwischen uns, nur dass bei uns die Ältere auch die Schönere ist. Und du weißt ja hoffentlich, wie sehr ich dich liebe, Fee.«
Das war echt, und es war echt Katja. Es waren keine leeren Worte. Mochte mancher sie für arrogant halten, sehr von sich überzeugt, Fee kannte ihre guten Seiten und wusste, dass manches an Katja Selbstschutz war.
»Dr. Frobenius sieht sehr gut aus«, sagte Fee.
»Und er ist ein verflixt schlauer Bursche«, sagte Katja lachend. »Dass es für mich nur David gibt, wirst du hoffentlich wissen.«
Unwillkürlich waren Fees Augen zur Tür gewandert. Da stand Ulrike Hermsdorf.
»Entschuldige, Katja. Nicolas Mutter ist gekommen, ich muss mich ein bisschen um sie kümmern.«
Und das war auch nötig, denn Ulrike fühlte sich unter dieser Eleganz fehl am Platze und traute sich gar nicht herein.
Sie war dankbar, als Fee auf sie zu kam.
»Nicola musste gleich in die Garderobe. Wir hatten uns ein wenig verspätet, weil noch jemand von der Versicherung bei uns war.«
»Geht das nun endlich in Ordnung, Frau Hermsdorf?«, fragte Fee.
»Noch immer nicht. Ich sollte mich mit einer einmaligen Entschädigung einverstanden erklären. Aber ich muss doch an Nicola denken.«
»Versuchen tun sie alles. Lassen Sie sich bloß nicht übers Ohr hauen«, sagte Fee.
Sie hatte Ulrike unter ihre Fittiche genommen und war froh, als auch Katja nett zu der Älteren war, die wie ein fremder Vogel unter diesen Leuten wirkte, die nun ungeduldig auf die Schau warteten.
Fee blieb gelassen, aber was hätte sie darum gegeben es mitzuerleben, als Helga Frobenius zum ersten Mal Nicola gegenüberstand.
*
Helga erstarrte. »Na, was sagst du nun, Darling?«, fragte Herbert Frobenius unbefangen. »Ich habe dein junges Pendant gefunden. Für die Entwürfe warst du mein Vorbild, aber da du nicht mehr auf den Laufsteg gehst, was ich natürlich auch nicht mehr will, musste ich mir ein Mädchen suchen, das dir ähnlich ist. Dass ich eines finden würde, das dir so ähnlich ist, konnte ich allerdings nicht ahnen. Ich stelle dir vor, die hochbegabte Meisterschülerin der Mode, Nicola Hermsdorf.«
Nicola war glühende Röte in die Wangen geschossen. Sie war genauso groß wie Helga, hatte die gleichen dunklen Augen, eine ebenso klassische Nase.
»Man könnte sie für deine Schwester halten, Helga«, sagte Herbert Frobenius, »aber meist sehen sich Schwestern nicht so ähnlich. Eine amüsante Laune der Natur, muss ich sagen. Erst jetzt wird es mir ganz bewusst.«
»Es ist ein großes Kompliment für mich«, sagte Nicola leise. »Ich darf die schönsten Kleider tragen. Hoffentlich mache ich nichts falsch. Ich mache das zum ersten Mal.«
Dann wurde sie schon wieder in die Garderobe zitiert. »Es war wirklich eine Überraschung, Herb«, sagte Helga mit rauchiger Stimme. »Wo hast du sie gefunden?«
»Auf der Meisterschule für Mode. Es war ein Zufall, mein Schatz. Mir blieb die Luft weg.«
»Willst du sie unter Vertrag nehmen?«, fragte Helga rau.
»Das würde ich gern. Aber dieses Mädchen hat das Ziel, mir einmal Konkurrenz zu machen, und ich glaube, dass sie das schafft. Wollen wir hoffen, dass sie als Mannequin genauso erfolgreich ist wie als Modeschülerin. Sie wird nächsten Monat fertig, und man wird sich um sie reißen.«
»Und du wirst ihr doch ein Angebot machen«, meinte Helga schleppend.
»Nur, wenn du auch einverstanden bist, meine Liebe.«
Sie legte den Kopf zurück. »Ich werde sie mir anschauen«, sagte sie.
»Die Entwürfe, die sie bereits gemacht hat, musst du dir anschauen. Wir könnten ihr einige abkaufen. Sie scheint Geld zu brauchen.«
»Meinst du, dass sie käuflich ist?«, fragte Helga hastig.
»So direkt natürlich nicht. Sehr gut erzogen und sehr intelligent. Wir reden noch darüber. Die Show muss beginnen.«
Und sie begann. »Phantastisch!« Immer wieder hörte man dieses Wort, und auch Fee Norden war begeistert. Dieser Frobenius wusste, wie man Frauen vorteilhaft kleiden konnte, und selbst die gewagtesten Modelle waren zauberhaft. Am Zauberhaftesten war Nicola, die ohne Mätzchen mit natürlicher Anmut, ihre Kleider vorführte.
Fees Blick traf auf Adrian Frobenius, der Nicola nicht aus den Augen ließ, und was sich in seinem Mienenspiel widerspiegelte, gab ihr zu denken. Zum Glück schien das Ulrike Hermsdorf nicht zu bemerken.
»Wie das Kind das kann«, flüsterte sie nur andächtig. »Und dass man damit so viel Geld verdienen kann. Aber sie wird das doch jetzt nicht immer machen wollen?«
»Machen Sie sich keine Sorgen um Nicola«, sagte Fee leise. »Sie geht ihren Weg. Sie würde ihre Mutter nie enttäuschen.«
Ein Schatten fiel über Ulrikes Gesicht. Ihre Hände verkrampften sich, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Ist Ihnen nicht gut, Frau Hermsdorf?«, fragte Fee besorgt.
»Mir ist so schwindlig«, flüsterte Ulrike.
Zum Glück war gleich darauf Pause. Fee führte Ulrike Hermsdorf hinaus. Sie merkte, dass diese sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Ich bringe Sie hin«, sagte sie.
»Sie möchten das doch sehen«, murmelte Ulrike.
»Ach was, ich sage nur noch schnell meiner Schwester Bescheid. Kaufen wollte ich sowieso nichts«, erwiderte Fee.
*
Katja war bestürzt, aber sie bewies, dass sie Gefühl hatte.
»Sei so lieb, und sag Nicola Bescheid«, sagte Fee. »Aber nicht so, dass sie in Panik gerät.«
»Ich bin doch auch eine halbe Cornelius«, erwiderte Katja. »Zumindest fühle ich mich so. Ich mach das schon, Fee. Dieses Mädchen hat eine aufregende Ähnlichkeit mit Helga. Hat das ihre Mutter erschreckt?«
Hatte Ulrike Helga überhaupt gesehen? Fee fand es auf der Heimfahrt nicht heraus, denn Ulrike sagte gar nichts. Sie saß apathisch neben ihr, und dann schien ein Schüttelfrost sie zu überfallen. Das veranlasste Fee, Ulrike nicht heimzubringen, sondern zur Praxis ihres Mannes.
Ulrike ließ verwirrt alles mit sich geschehen. Sie bekam eine kreislaufstützende Spritze und wurde auf die Liege gebettet und warm eingehüllt.
Dr. Norden fertigte erst die anderen Patienten, die noch warteten, ab, um sich dann ganz ihr widmen zu können.
Die Modenschau ging indessen weiter. Durch die Begegnung mit Helga war Nicola so verwirrt, dass sie sich ganz konzentrieren musste, um ja keinen Fehler zu machen, denn nun wurden die kostbarsten Modelle vorgeführt. Nicola blickte nicht in den Zuschauerraum, und so vermisste sie auch ihre Mutter überhaupt nicht.
Adrian Frobenius hatte seinen Platz auch verlassen. Katjas wachsame Augen entdeckten ihn jedoch. Er stand neben Helga und sprach flüsternd auf sie ein.
»Wer ist dieses Mädchen?«, hatte er Helga gefragt.
Ihre Augen verengten sich. »Eine Modeschülerin. Herb hat sie aufgerissen. Er war schon immer hinter dem gleichen Typ her, das weißt du doch.«
»Sie hat eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dir. Wie heißt sie?«
»Warum interessiert dich das?«, fragte Helga gereizt. Dann ließ sie ihn stehen und ging in die Garderobe zurück.
Nicola erschien jetzt in einem nilgrünen Chiffonkleid, das ihren schlanken Körper umspielte und ihre zarte Haut noch mehr zur Geltung brachte.
Es war das Kleid, das Katja am besten gefiel, aber so ganz war sie nicht bei der Sache. Als Nicola dann noch ein romantisches Brautkleid vorführte, bot sie einen atemberaubenden Anblick. Adrian wandte nicht einen Moment den Blick von ihr.
Begeisterter Applaus rauschte auf und schwoll nochmals an, als Katja schon zur Garderobe eilte.
»Hast du dich entschieden?«, fragte Helga mit einem krampfhaften Lächeln.
»Ja, ich nehme das Grüne«, sagte Katja. »Aber ich muss jetzt Nicola sprechen. Fee hat Frau Hermsdorf nach Hause bringen müssen. Sie fühlte sich nicht wohl.«
»Mir ist auch nicht wohl, dass Herbert mir ein Double offeriert hat«, sagte Helga unwillig.
»Aber sie hat ihre Sache doch sehr gut gemacht«, meinte Katja.
Ob sie eifersüchtig ist, fragte sie sich, eifersüchtig auf diese bezaubernde Jugend, oder auch deshalb, weil Adrian sie so angestarrt hat? Katja wusste, dass Helga sehr viel für ihren Schwager übrig hatte.
Nicola war schon umgekleidet. Herbert Frobenius redete auf sie ein, als Katja erschien. Das aber schien er gar nicht zu bemerken. Katja hörte, wie er sagte: »Ich biete Ihnen einen glänzenden Vertrag, Nicola. Wir können in aller Ruhe darüber sprechen. Gleich heute Abend. Ich lade Sie zum Essen ein.«
»Danke, aber es ist nicht möglich.« Da trat Katja rasch näher.
»Pardon, Herbert«, sagte sie, »ich muss Fräulein Hermsdorf etwas ausrichten.«
Nicola geriet noch mehr in Verwirrung, als Katja sich vorstellte. »Ich bin Fee Nordens Schwester«, sagte sie. »Bitte, erschrecken Sie nicht, aber Fee hat Ihre Mutter heimgebracht. Sie fühlte sich plötzlich nicht wohl.«
»Sie hat sich aufgeregt«, flüsterte Nicola. »Für sie ist das doch eine andere Welt. Bitte, verstehen Sie, Herr Frobenius, ich muss mich um meine Mutter kümmern. Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Es wäre für mich auch undenkbar, von München wegzugehen.«
Katja wusste, wie zäh Herbert Frobenius sein konnte, wenn er etwas erreichen wollte. Sie machte kurzen Prozess. »Ich nehme das grüne Kleid, und jetzt bringe ich Nicola nach Hause«, erklärte sie.
*
Adrian hatte mit Helga gerade einen Disput, als sich Herbert zu ihnen gesellte, aber sie schwiegen abrupt.
»Nun, hast du sie herumgekriegt?«, fragte Helga anzüglich.
»Nein, und mir will es nicht in den Sinn, wie man ein solches Angebot ausschlagen kann. Sie muss sich um ihre Mutter kümmern. Der Vater lebt nicht mehr, und nun fühlt sich die alte Dame nicht wohl. Sie geht nicht weg von München.«
»Und ich bin froh, wenn wir wieder in Rom sind«, sagte Helga. »Es könnte noch jemand auf den Gedanken kommen, dass sie meine Schwester ist.«
»Wär das so schlimm?«, fragte Herbert.
»Vielleicht macht Helga sich Sorgen, dass man diese Nicola für ihre Tochter halten könnte«, sagte Adrian ironisch.
Helga wurde blass. »Lass solche Anzüglichkeiten!«, fauchte sie.
»Heute verstehst du aber gar keinen Spaß«, sagte Adrian.
»Wär gar nicht übel, solche Tochter zu haben«, sagte Herbert.
»Ihr nervt mich«, zischte Helga und rauschte davon.
»Da hast du dir was Schönes eingebrockt, großer Bruder«, sagte Adrian. »Merkst du nicht, wie eifersüchtig sie ist?«
»Ist doch Unsinn!«
»Es könnte ja sein, dass sie die Jugend entschwinden sieht. Frauen geraten da manchmal in Panik.«
»Du musst es ja wissen«, spottete Herbert. »Lassen wir das Thema. Vielleicht überlegt es sich die Kleine ja doch noch. Die Schau war jedenfalls ein voller Erfolg.«
*
Für Nicola war es ein Schock, als sie das Haus leer fand. Zum Glück hatte Katja gewartet und sprach beruhigend auf Nicola ein.
»Ihre Mutter wird sicher bei Fee sein, Nicola. Wir fahren jetzt hin. Sie dürfen sich nicht gleich solche Sorgen machen.«
»Ich habe Mami doch so lieb. Hätte ich bloß nicht dieses Theater mitgemacht! Mami hat sicher gedacht, dass es mir gefällt. Ich möchte lieber solche Kleider entwerfen und nicht vorführen.«
Der zweite Schock war noch größer, als sie zu den Nordens kamen und Fee Nicola sagen musste, dass ihre Mutter in die Klinik gebracht worden war.
»In welche Klinik?«, fragte Nicola aufschluchzend, »was fehlt ihr? Sie hat doch nie über Schmerzen geklagt!«
Ja, darüber hatte auch Daniel Norden den Kopf geschüttelt, denn als erfahrener Arzt wusste er, dass Ulrike Hermsdorf schon längere Zeit Schmerzen haben musste, und oft sehr starke.
»Ihre Mutter wird in der Leitner-Klinik operiert werden müssen, Nicola«, erklärte Fee behutsam. »Es ist ein Myom.«
»Ist das Krebs?«, fragte Nicola bebend.
»Nein«, erwiderte Fee, obgleich bisher noch nicht feststand, ob es nicht doch eine bösartige Geschwulst in der Gebärmutter war. Das musste erst noch festgestellt werden. Aber Nicola war auch so schon deprimiert genug.
»Darf ich zu ihr?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
»Ich bringe Sie hin«, erklärte Fee.
Dr. Norden war noch in der Leitner-Klinik. Er hatte mit seinem Freund Dr. Hans-Georg Leitner alles durchgesprochen, und es war auch schon beschlossen, dass Jenny Behnisch bei der Operation assistieren würde. Keinen weiteren Tag wollte man verstreichen lassen. Ulrike Hermsdorf hatte ihre Schmerzen schon fast zu lange ertragen. Jetzt war sie unter der Wirkung der schmerzstillenden Injektion schon nicht mehr ganz gegenwärtig, aber als Nicola an ihrem Bett niederkniete, hoben sich ihre Lider.
»Hab’ ich dir einen Schrecken eingejagt, Liebes?«, murmelte sie. »Es wird schon alles wieder gut. Es verursacht auch keine zusätzlichen Kosten, hat Dr. Norden gesagt.« Kaum vernehmbar war ihre Stimme jetzt noch, und die Augen waren geschlossen. »Mein Liebstes«, hauchte sie noch, dann schlummerte sie ein.
Tränen rannen über Nicolas Gesicht, tropften auf die Hand der Kranken. Mütterlich nahm Fee das Mädchen in die Arme. »Kommen Sie mit zu uns, Nicola«, sagte sie mitfühlend.
»Ich muss doch noch arbeiten für meine Prüfung«, sagte Nicola tonlos. »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll. Herr Frobenius wird es nicht verstehen, wenn ich morgen nicht komme. Aber ich kann doch das nicht machen, wenn ich immer an Mami denken muss.«
»Katja wird das regeln. Machen Sie sich darum keine Gedanken, Nicola.«
*
»Das wird eine bittere Pille für ihn sein«, hatte Katja gemeint, aber sie war dann zum Hotel gefahren, in dem auch sie während ihres Aufenthalts in München wohnte. Das taten sie und ihr Mann immer, denn sie wollten nicht noch mehr Trubel in Nordens Häuslichkeit bringen, und eng war es da auch geworden, seit die Zwillinge auf der Welt waren.
Mit ihrem Erscheinen hatten Herbert und Helga Frobenius gerechnet, denn es war schon verabredet gewesen, dass sie das Abendessen gemeinsam einnehmen wollten.
Trotz des Erfolges der Modenschau fand Katja eine recht triste Gesellschaft vor. Adrian war auch anwesend.
»Was ist mit der Kleinen?«, fragte Herbert sofort.
»Frau Hermsdorf muss morgen operiert werden. Bitte, hab’ Verständnis, Herbert, dass Nicola nicht vorführen kann.«
Er starrte sie fassungslos an. »Die schönsten Kleider, wer soll die denn tragen? Ich bekomme so schnell doch keinen Ersatz.«
»Dann gehe ich auf den Laufsteg«, erklärte Helga sofort, zum sprachlosen Erstaunen aller. »Oder meinst du, dass ich es nicht kann, Herb?«
»Natürlich kannst du es, aber du wolltest doch nicht mehr«, sagte er verblüfft.
»Es schien mir nicht angebracht, seit du deinen Berühmtheitsgrad erreicht hast, aber schließlich kann ich dich ja nicht sitzenlassen, wenn Not am Mann ist.«
Sie jedenfalls schien es zu freuen, dass Nicola ausgeschaltet war. Sie war jetzt bester Laune. Man konnte nur noch staunen.
Katja gelangte dann doch zu der Überzeugung, dass sie sich von der Jüngeren nicht in den Schatten drängen lassen wollte. Sie bemerkte aber auch, dass Adrian Helga nachdenklich betrachtete.
Adrian begleitete Katja später zum Lift, da Herbert und Helga noch in die Bar gehen wollten.
»Wollen Sie mir bitte sagen, wo Fräulein Hermsdorf wohnt, Katja?«, fragte Adrian zögernd.
»Wollen Sie sie überreden?«, fragte Katja überrascht.
»Nein, das hätte wohl auch keinen Erfolg. Ich gestehe ein, dass mich dieses Mädchen sehr interessiert.«
»Wegen der Ähnlichkeit mit Helga?«
Er wurde leicht verlegen. »Nein, nicht nur deshalb. Traut man mir nicht zu, dass ich mich auch mal verlieben könnte?«
Katja warf ihm einen schrägen Blick zu. »Wenn ich ehrlich sein soll, so muss ich gestehen, dass ich es Ihnen schon zutraue«, erwiderte sie mit einem charmanten Lächeln, »aber ich dachte, dass Sie in Helga verliebt sind. Aber das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen.«
»Warum nicht? Ich bin zwar ein nüchterner Anwalt, aber ich bewundere schöne Frauen wie ein schönes Gemälde. Sie gehören auch dazu, Katja.«
»Das Herz ist nicht im Spiel?«, fragte sie.
»Man muss nicht alles besitzen wollen, was einem gefällt. An Helga bewundere ich vor allem, was sie aus Herbert gemacht hat.«
»Sie aus ihm?«, fragte Katja staunend.
»Er war voller Ideen, aber ziellos. Sie hat ihn inspiriert, ihn aber mit ihrem Ehrgeiz und ihrer Energie auch angetrieben. Sie ist ungeheuer geschäftstüchtig. Letzlich habe ich es ihr zu verdanken, dass ich studieren konnte. Daran erinnert sie mich auch oft. Nun, das hätte ich wohl auch nicht sagen sollen.«
»Sie sind ein guter Anwalt geworden, Adrian«, sagte Katja. Und dann sagte sie ihm, wo Nicola wohnte.
»Es bleibt unter uns?«, fragte er.
»Aber sicher. Ich werde morgen zu meinen Eltern fahren, meine Kinder abholen und daheim auf die Rückkehr meines gestressten Mannes warten. Nur noch eines: Nicola ist ein ganz besonders reizendes Mädchen, aber für einen Flirt zu schade.«
*
Nicola verschwendete keine Gedanken an diesem Nachmittag, auch nicht an Helga, sie dachte nur an ihre Mutter, voller Angst und Sorge.
Nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes war sie schon wieder früh auf den Beinen. Auf die Entwürfe, die sie für die Prüfung noch machen musste, konnte sie sich wieder nicht konzentrieren.
In der Leitner-Klinik standen sie schon um sieben Uhr im OP. Dr. Leitner hatte die Operation so früh angesetzt, weil an diesem Tage noch zwei Geburten ins Haus standen, und Dr. Jenny Behnisch konnte es nur recht sein, wenn sie früh fertig wurden, denn in der Behnisch-Klinik gab es auch genug zu tun.
Doch die Freundschaft, die die drei Ärzte verband, wirkte sich auch auf gegenseitige Hilfe aus. Korrekt waren sie auch.
»Liegt die Einwilligung zur Totaloperation vor?«, fragte Jenny Dr. Leitner.
»Selbstverständlich. Anders ist es nicht zu machen, Jenny. Die Wucherungen sind zu stark. Sie ist eine tapfere Frau, aber sie will leben für ihre Tochter.«
»Sie hätte sich früher zur Operation entschließen sollen«, meinte Jenny.
»Der Tod ihres Mannes hat ihr schwer zu schaffen gemacht. Die Tochter ist neunzehn, was geht in einer Mutter vor in einer solchen Situation!«
Jenny betrachtete Ulrikes stilles Gesicht. »Nun denn«, sagte sie. »Gott steh uns bei, Schorsch.«
Jenny Behnisch hatte sich lange Zeit von Gott und aller Welt verlassen gefühlt, aber sie hatte wieder an Gott glauben gelernt, als sie dann Dieter Behnisch kennenlernte, als Dr. Norden ihr über schwere Zeiten hinweggeholfen hatte. Sie war eine Ärztin, die mit ganzem Herzen dabei war, wenn es galt, ein Menschenleben zu retten. Für sie war es nie Routine, obgleich sie alle Griffe perfekt beherrschte, und ihre Augen hatte sie überall. Sie verfolgte das EKG auf dem Bildschirm, den Blutdruck.
»Du hast noch fünf Minuten, sonst müssen wir Nachnarkose geben, Schorsch«, sagte sie leise.
»Ich schaffe es«, erwiderte er, genauso ruhig. Noch ein präziser Schnitt, dann war die Gebärmutter herausgelöst. Das Vernähen übernahm Jenny, und das konnte sie so perfekt, so schnell, dass Schorsch später sagte, dass dies einem Weltrekord gleichkommen würde.
»Hoffentlich wird sie schnell gesund«, sagte Jenny.
Und kaum war das geschehen, wurde auch schon wieder nach Dr. Leitner gerufen.
»Kannst dich nicht mal ganz kurz verschnaufen«, sagte Jenny mitleidig.
»Du doch auch nicht.«
»Halt mich auf dem Laufenden, Schorsch. Ich rufe Daniel an.«
Dr. Leitner hoffte, ein Leben gerettet zu haben, als er dann bald schon einer jungen Mutter ihr erstes Kind in den Arm legen konnte. Schnell und unkompliziert war das gegangen, und so hätte er es sich immer gewünscht, um der Mutter wie auch dem Baby Angst und Kampf ersparen zu können.
*
Schon eine Stunde früher hatte bei Nicola zum ersten Mal das Telefon geläutet. Mit Zittern und Zagen hatte sie es aufgenommen, aber es war Katja, die ihr nur Bescheid sagen wollte, dass sie mit Frobenius gesprochen hätte und Helga die Modelle vorführen würde.
»Sie kann es bestimmt besser als ich«, sagte Nicola. »Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich für mich eingesetzt haben.«
»Ich hoffe, dass Ihre Mutter bald wieder gesund ist, Nicola«, erwiderte Katja. »Lassen Sie sich nicht beirren, gehen Sie den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben.«
Über diese Worte dachte Nicola erst später nach. Der zweite Anruf kam eine Stunde später. Da war es Fee Norden, die ihr sagte, dass die Operation geglückt sei.
»Und wann darf ich Mami besuchen?«, fragte Nicola.
»Am Nachmittag. Wenn Sie sich einsam fühlen, kommen Sie doch zu uns.«
»Ich muss für die Prüfung arbeiten. Ich kann mich nur so schwer konzentrieren«, erwiderte Nicola.
Aber das konnte sie dann doch. Plötzlich vermeinte sie Helga vor sich zu sehen, für die Herbert Frobenius seine schönsten Kleider komponierte. Das hatte er ihr ja gesagt, und deshalb wollte er auch, dass sie von einem Mannequin vorgeführt würden, das seiner Frau ähnlich war.
»So ähnlich wie Sie war ihr allerdings noch keine«, hatte er auch gesagt.
Dann war es, als würde ein fremder Wille sie beflügeln, und sie zauberte drei Entwürfe auf das Papier, die sie auch schon lebendig in Stoff und Farben vor sich zu sehen meinte und auf den Körper dieser Helga Frobenius gezaubert.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Wie konnten sich zwei Menschen nur so ähnlich sein, fragte sie sich, aber war diese Ähnlichkeit wirklich so groß?
Nicola war so jung, so mädchenhaft, dass sie in aller Unbefangenheit Helga Frobenius einer anderen Generation zuschrieb. Eine damenhafte Erscheinung, sehr gepflegt und mit einer makellosen Figur. Aber wie mochte sie ohne dieses perfekte Make up aussehen? Warum kamen ihr solche Gedanken?
Schon kurze Zeit später wurde es ihr bewusst. Es hatte geläutet. Sie eilte zur Tür. Vor ihr stand Adrian Frobenius.
Sie hatte eine flüchtige Erinnerung an ihn, an den gestrigen Nachmittag. Er hatte sie angestarrt, aber andere Männer hatten das auch getan, sodass sie solche Blicke ignoriert hatte. Was wollte dieser Mann von ihr? Wieso kam er?
»Mein Name ist Adrian Frobenius«, stellte er sich stockend vor. »Ich bin Herberts Bruder. Vielleicht haben Sie mich gestern schon gesehen.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, erwiderte Nicola. »Warum sind Sie gekommen? Frau Delorme teilte mir mit, dass Herr Frobenius unterrichtet ist, dass ich nicht kommen kann.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Adrian, »und es wird akzeptiert. Mein Bruder hat mich beauftragt, Ihnen das Honorar für die gestrige Vorführung zu bringen.«
Ganz so war es nicht. Geldangelegenheiten erledigte immer Helga, und sie war nicht bereit gewesen, achthundert Euro herauszurücken. Es hatte eine ziemlich heftige Debatte deswegen gegeben, bis Adrian erklärt hatte, wie blamabel es doch wäre, Katja Delorme würde davon erfahren. Und er hatte dann gesagt, dass er es erledigen würde.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Frobenius«, sagte Nicola leise, »aber da ich nur den einen Tag zur Verfügung stand und er Ersatz für mich suchen musste, steht mir ein Honorar wohl nicht zu.«
»Es war nicht vorauszusehen, dass Ihre Mutter in die Klinik musste. Wir bedauern das sehr, Fräulein Hermsdorf. Selbstverständlich steht Ihnen das Honorar zu. Darf ich fragen, ob Sie zu einem späteren Zeitpunkt das Angebot meines Bruders annehmen würden?«
»Nein, keinesfalls. Ich bleibe in München.«
»Rom könnte Sie gar nicht reizen, Wien auch nicht?«
»Nein. Ich werde auch hier eine Stellung finden. Ich hatte nie die Absicht, Mannequin zu werden.«
Adrian fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, aber er sagte dann doch noch: »Ich habe mich in München niedergelassen. Falls Sie doch zu anderen Überlegungen kommen, hier ist meine Karte. Auch wenn Sie einen Rat brauchen, stehe ich zu Ihrer Verfügung. Und für Ihre Mutter wünsche ich baldige Genesung.«
»Danke«, sagte Nicola leise. »Und bitte, sagen Sie meinen Dank auch Herrn Frobenius für sein Entgegenkommen.«
»Darf ich auf Wiedersehen sagen?«, fragte Adrian.
Feine Röte stieg in ihre Wangen. »Vielleicht ergibt es sich«, gab sie hastig zur Antwort. Und als er gegangen war, betrachtete sie sich wieder im Spiegel. Nein, sie wollte nicht so werden wie Helga Frobenius. Sie wollte ihre Haut nicht zu Markte tragen, so verlockend die Honorare gewesen waren, die Frobenius ihr genannt hatte. Er hätte noch niemanden kennengelernt, der dies ausgeschlagen hätte, hatte er gesagt. Aber schlimmer klang ihr in den Ohren, was eines der Mannequins beim Umkleiden gesagt hatte:
»Heute spielt sie die große Dame, dabei soll sie buchstäblich aus der Gosse gekommen sein«, und damit hatte sie Helga Frobenius gemeint. Die anderen hatten das zwar abgeschwächt, aber Nicola wusste um den Neid untereinander, das erlebte sie schon in der Schule, aber niemals wollte sie solchen Intrigen ausgesetzt sein.
Als sie dann in dem Umschlag zwei Fünfhunderteuroscheine fand, wurde es ihr heiß und kalt. Achthundert hatte ihr Frobenius zugesagt, hielt man sie etwa für käuflich? Glaubte man, sie locken zu können? Wurde sie genauso eingeschätzt wie die anderen, die danach gierten, eine solche Karriere zu machen?
Die Schlagzeilen kannte sie ja.
»Vom Fotomodell zum Filmstar.«
»Die sagenhafte Karriere eines Mannequins« und vieles andere. Sie hatte darüber gelesen, aber sie wollte eine solche Karriere nicht. Meist waren jene Frauen unglücklich gestorben oder sie hatten Ehen am laufenden Band geschlossen, fünf, sechs, sieben oder gar acht. Für Nicola war es rätselhaft, dass man das tun konnte. Aber konnte man eine Helga Frobenius da auch einstufen? Das wäre ungerecht, denn sie war schon gut ein Dutzend Jahre mit Herbert Frobenius verheiratet. Das hatte Nicola auch so nebenbei erfahren während des Umkleidens.
Dann aber schämte sich Nicola plötzlich. Wie konnte sie so viele Gedanken daran verschwenden, da ihre Mami krank in der Klinik lag.
Sie machte sich zu Fuß auf den Weg. Den Wagen wollte sie lieber in der Garage lassen. So weit war es ja auch nicht, und die frische Luft tat ihr gut.
Im Blumengeschäft kaufte sie ein kleines Gesteck. Sie wusste, dass man es in Kliniken nicht allzu gern sah, wenn viele Blumen herumstanden.
Ulrike konnte sich an diesem Tag sowieso noch nicht daran freuen. Sie lag noch im Narkoseschlaf, wie klein und blass ihr Gesicht wirkte. Aber Dr. Leitner tröstete sie.
»Wir können zufrieden sein«, sagte er. »Morgen wird es schon besser ausschauen.«
»Bestimmt?«, fragte Nicola ängstlich.
»Wir passen schon auf.«
Nicola verbrachte Stunden am Bett ihrer Mutter, und bei jedem noch so leisen Seufzer schrak sie zusammen. »Ich bin bei dir, Mami«, sagte sie jedes Mal, aber als Ulrike dann ihren Namen flüsterte, kullerten Tränen über ihre Wangen.
»Ich bleibe immer bei dir, Mamilein«, flüsterte sie. »Ich lasse dich nie allein.«
Erreichten diese Worte doch Ulrikes Gehör? Es schien, als gleite ein Lächeln über ihr Antlitz.
*
Auch die zweite Modenschau war erfolgreich verlaufen, wenngleich auch nicht jenes Entzücken zu bemerken gewesen war wie am gestrigen Tag. Aber Helga hatte Routine. Sie hatte all die Tricks, die gekonnten Bewegungen, der sie letztlich ihre Karriere zu verdanken hatte. So manche Jüngere konnte da noch vor Neid erblassen, auch wenn sie nicht eben solche zauberhafte Ausstrahlung besaß wie Nicola.
Nun, aus der Gosse war Helga nicht gekommen, das war boshafte Unterstellung. Sie entstammte sogar einer sehr annehmbaren Familie, die allerdings für ihre Ambitionen nicht das Geringste übrig gehabt hatte.
Ausgestattet mit allen äußeren Vorzügen hatte sie sich schon mit sechzehn Jahren als Fotomodell verdingt. Als ihre Eltern dahinterkamen, wurde sie in ein strenges Internat gesteckt zu Klosterschwestern. Nach einem knappen Jahr war ihr die Flucht gelungen, und ihre Eltern hatten bis zu ihrem Tode nie wieder etwas von ihr gehört.
Freilich war das längst vergessen und auch nie bekannt geworden, und ihre Lebensgeschichte hatte sie später ganz anders geschildert. Mit dem recht geläufigen Mädchennamen Müller ausgestattet, fiel ihr das auch nicht schwer. Über manches ihrer Vergangenheit bewahrte sie allerdings Schweigen.
Ihr Traum war Monte Carlo, Nizza und Cannes gewesen, und nach ihrer Flucht aus dem Internat war sie auch auf Umwegen dorthin gekommen. Zum ersehnten Filmruhm kam sie zwar nicht, aber als Fotomodell und dann als Mannequin machte sie zielstrebig Karriere, nachdem sie eine unliebsame Affäre aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.
In Rom, wohin es sie dann zog, lernte sie den Kostümbildner Herbert Frobenius kennen, nur ein Jahr älter als sie und noch keineswegs bekannt. Aber zum ersten Male lernte Helga einen Mann kennen, der sie nicht nach einer gewissen Zeit wieder loswerden wollte, weil sie sich doch gewisse bürgerliche Vorstellungen bewahrt hatte. Als Helga Müller wollte sie nicht ewig herumlaufen. Der Name Frobenius gefiel ihr, Herbert gefiel ihr auch, und sie gefiel ihm.
Sie hatte schon gute Verbindungen geknüpft, und als Herbert ein paar Kleider für sie entwarf, die von einer großen Konfektionsfirma gekauft wurden, war der Anfang zu seiner Karriere gemacht. Freilich dauerte es noch einige Jahre, bis er sich einen Namen gemacht hatte, bei dem man aufhorchte, aber da war auch Helga schon ein Starmannequin und hatte es erfasst, dass sie mit diesem Mann nicht nur das große Geld machen, sondern auch mit ihm auskommen konnte.
Sie gab den Ton an, sie repräsentierte den Namen Frobenius, sie vermarktete Herberts geniale Ideen. Sie knüpfte Verbindungen, schloss Freundschaften mit Schauspielern und auch mit Adligen, und um es nicht zu vergessen, hatte sie auch dafür gesorgt, dass Adrian studierte, obgleich Herbert der Meinung gewesen war, dass der zehn Jahre jüngere Bruder auch ins Geschäft einsteigen könnte.
Für Adrian aber hatte Helga immer ein besonderes Faible gehabt, und ihr hatte es sehr gefallen, wie sehr sie von dem Jungen bewundert wurde. Aus dem Jungen war dann ein sehr attraktiver Mann geworden, mit dem sie sich gern zeigte.
Bei dem großen Empfang, den sie an diesem Abend gaben, hielt Helga jedoch vergeblich nach Adrian Ausschau, und ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt.
»Wo bleibt Adrian?«, fragte sie ihren Mann.
»Keine Ahnung«, bekam sie zur Antwort.
»Auf der Modenschau war er auch nicht.«
»Er hat sie doch gestern gesehen. zum Glück hat er noch keine Frau, die ihm das Geld aus der Tasche zieht. Freilich hat er versäumt, dich zu bewundern«, fügte Herbert hinzu.
»Aber finde dich damit ab, dass er nicht mehr der Page ist, der immer kommt, wenn du pfeifst.«
»Dein Ton gefällt mir nicht, Herbert«, sagte sie.
»Und mir gefällt nicht, dass dir Adrian so wichtig ist.«
»Ich habe ja sozusagen Mutterstelle an ihm vertreten«, sagte sie zornig.
»Oh, du lieber Himmel, der Glorienschein steht dir nicht, Helga. Du hättest Kinder haben können, wenn du gewollt hättest.«
»Dann hätte ich heute nicht einspringen können«, konterte sie gereizt. »Habe ich in die Kleider etwa nicht hineingepasst?«
»Wir haben nur das auslassen müssen, was wir wegheften mussten«, sagte er spöttisch. »Aber das hat niemand gemerkt. Lass das Mädchen aus dem Spiel. Es wird kein Mannequin.«
*
Adrian hatte nicht die geringste Lust gehabt, unter Leute zu gehen, und er wollte auch einer neuen Debatte mit Helga aus dem Wege gehen. Ernsthaft anlegen wollte er sich mit ihr weiß Gott nicht. Er fühlte sich ihr verpflichtet, weil ihm das Studium ermöglicht worden war, aber seinen Bruder hintergehen wollte er nicht.
Es gefiel ihm nicht, dass Helga diesbezüglich keine Skrupel zu haben schien.
Er hatte sich deshalb auch in München niedergelassen, als sich ihm die Gelegenheit geboten hatte, Dr. Hartwigs Kanzlei zu übernehmen, was durch die Vermittlung der Delormes ja zustande gekommen war.
Darüber war Helga allerdings erbost gewesen. »Was soll ich in Rom? Was soll ich in Wien?«, hatte er eingewandt. »Ich bin auf deutsches Recht eingefuchst.«
Jetzt saß er in seiner Wohnung, die nicht groß aber behaglich war. Er betrachtete die Fotos von der gestrigen Modenschau, aber in erster Linie die von Nicola. Und er verglich sie mit Fotos von Helga.
Helga war sehr fotogen, und sie hatte immer gleich ihr Fotogesicht, wenn sie merkte, dass eine Kamera auf sie gerichtet war, während Nicola sich durch ihre Natürlichkeit auszeichnete. Aber die Ähnlichkeit war verblüffend. Konnte so etwas wirklich nur eine Laune der Natur sein? Eine Beklemmung nahm Adrian gefangen.
Nicola war neunzehn, das wusste er, und Helga war achtunddreißig, genau doppelt so alt. Sie war sechsundzwanzig gewesen, als sie und Herbert heirateten. Er war ein Junge von achtzehn gewesen.
Als sie achtzehn gewesen war, so hatte sie erzählt, hatten gute Bekannte ihrer Eltern, die leider früh verstorben waren, sie mit an die Côte d’Azur genommen, und dort wäre sie von einem Starfotografen entdeckt worden. Joslin hatte der geheißen. Es hatte ihn gegeben, aber er war schon vor Jahren an einer sehr seltenen Krankheit gestorben.
Wie ihr Leben dann wirklich, den Tatsachen entsprechend, verlaufen war, konnten sie erst rückverfolgen, als sie nach Rom gekommen war und Herbert dann kennengelernt hatte. Um ihr Vorleben hatte sich Herbert überhaupt nicht gekümmert, und Adrian erst recht nicht.
Sie war gefragt, sie war eiskalt, wenn es um ihre Karriere ging, und sie war faszinierend, wenn sie etwas erreichen wollte. Herbert wickelte sie um den Finger, wie man so sagte, allerdings zu seinem Wohl, denn er war ziemlich labil gewesen. Aber er hatte Phantasie, war unglaublich kreativ, und Helga wurde zu seinem Motor, der ihn antrieb.
Sie war eine schillernde Frau, die sich allen Gegebenheiten anpassen konnte, und Nicola war ein Mädchen aus gutbürgerlicher Familie, das seine Mutter liebte und an ihrem Zuhause hing.
Durch das Läuten des Telefons wurde Adrian aus seinen Gedanken herausgerissen. Er ließ es mehrmals klingeln, bevor er aufnahm. Und sogleich tönte Helgas erregte Stimme an sein Ohr.
»Wieso kommst du nicht? Was fällt dir eigentlich ein?«
»Sind nicht genug Leute da?«, fragte er ruhig.
»Diesen Leuten ist es nicht entgangen, wie du diese Nicola angestarrt hast. Ist sie etwa bei dir?«
»Jetzt langt es aber, Helga«, sagte er barsch. »Sie ist kein Amüsiermädchen.«
»Ist vielleicht ein solches bei dir?«, fragte sie schrill.
»Hast du zu viel getrunken?«, fragte er zurück.
»Du scheinst zu vergessen, was ich alles für dich getan habe.«
»Ich habe es nicht vergessen und werde alles auf Heller und Pfennig zurückbezahlen, das habe ich dir schon gesagt.«
»Ich rede nicht von Geld.«
»Aber ich. Ich habe gerade alles zusammengerechnet.«
»Und warum so plötzlich? Da steckt doch dieses Mädchen dahinter!«
»Hör endlich damit auf, Helga! Dieses Mädchen sorgt sich um seine kranke Mutter. Red dir doch nichts ein. Kümmere du dich um eure Gäste.«
»Wir werden morgen reden, Adrian. Ich lasse mich nicht so abspeisen. Ich erwarte dich zur letzten Schau.«
Ein Frösteln kroch über seinen Rücken, als sie den Hörer auflegte.
Zur letzten Schau! Für ihn hatte dies jetzt eine doppelte Bedeutung.
*
Nach Mitternacht wurde Dr. Leitner von Schwester Martha zu Ulrike Hermsdorf gerufen.
»Sie phantasiert, aber die Temperatur ist nicht gestiegen«, sagte Martha besorgt.
Ulrike träumte. Sie redete im Traum, und was Dr. Leitner da hörte, gab ihm zu denken.
»Nicky, mein Kleines, ich gebe dich nicht her. Nie! Mein Baby, ich habe es verloren, ich habe es gefunden. Mein alles …« Sie schluchzte, und Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln. Voller Mitgefühl streichelte Dr. Leitner die blassen Wangen, tupfte die Tränen ab und verabreichte Ulrike dann eine Injektion, die ihr wieder ruhigen Schlaf bescheren sollte.
Was mochten diese Worte bedeuten? Dr. Leitner konnte keine Zusammenhänge finden. Er war erleichtert, dass sich keine Verschlechterung in Ulrikes Befinden einstellte. Am Morgen schlief sie ganz ruhig, und als Nicola kam, schlug sie die Augen auf, und ein Lächeln legte sich um ihre blassen Lippen.
»Jetzt geht es schon wieder etwas besser, mein Kleines«, flüsterte sie. »Hat alles geklappt?«
»Was meinst du, Mami?«, fragte Nicola.
»Die Modenschau.«
»Ich war nicht wieder dort.«
»Es tut mir wirklich leid, dass ich dir das verdorben habe«, flüsterte Ulrike.
»Du hast mir nichts verdorben. Ich bin dafür nicht geschaffen. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als dich.«
»Es musste sein. Dr. Norden hat es gesagt.«
»Und warum hast du nicht gesagt, dass du Schmerzen hattest?«
»Dein Examen, Nicky, du solltest dir keine Sorgen machen.«
»Ich schaffe es schon, Mami. Wir schaffen es. Frau Gerlach hat gesagt, dass ich hier bestimmt eine gute Stellung finde, vielleicht sogar bei Rolain. Aber viel wichtiger ist, dass du bald gesund wirst.«
»Ich möchte dir nie im Wege stehen, mein Kind«, murmelte Ulrike.
»Sag nicht so was, das mag ich nicht hören, Mami.«
Ulrike war wieder eingeschlafen. Das Sprechen strengte sie noch an, aber Nicola war froh, dass sich ihr Geist schon regte. Das sei wichtig, hatte Dr. Leitner gesagt.
Am Nachmittag war auch der histologische Befund schon da.
»Es ist kein Krebs«, sagte Dr. Leitner erleichtert.
»Ich bin so froh«, stammelte Nicola.
»Wir auch«, sagte er. »Glauben Sie mir, Nicola, uns fällt immer ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, wenn solcher Befund kommt.«
»Und was sagen Sie den Angehörigen, wenn er positiv ist?«, fragte sie nachdenklich.
»Es kommt darauf an, was sie verkraften können. Zuerst vertrösten wir sie, aber auch ein positiver Befund besagt nicht, dass das Leben nicht zu retten ist. Eben hatte ich eine Patientin zur Nachuntersuchung da, die vor fünf Jahren operiert wurde. Es war Krebs, aber sie lebt, sie ist gesund. Sie wollte leben, darauf kommt es auch viel an. Dennoch bin ich sehr froh, dass ich Ihnen eine gute Nachricht bringen kann. Sie sind noch so jung, und wir alle wünschen, dass Sie glückliche Jahre mit Ihrer Mutter verleben können. Weil wir wissen, wie sorgenvolle Jahre ein junges Leben überschatten können«, fügte er leise hinzu. »Aber da kommt Daniel Norden. Er wird sich auch freuen.«
Und wie er sich freute. Er schwenkte Nicola gleich durch die Luft.
»Und heute Abend kommen Sie zu uns, das muss doch gefeiert werden«, sagte er. »Mein Gott, wie wird Fee sich freuen!«
*
Für Adrain Frobenius sollte es ein freudloser Tag werden. Hin und her gerissen zwischen Pflichtgefühl und Aufbegehren erschien er zur letzten Modenschau. Sie hatte schon begonnen, und ausgerechnet da führte Helga das erste Modell vor.
Sie hatte ihn sofort entdeckt und winkte ihm leicht zu. Ihm war es peinlich, denn es war bemerkt worden.
Er verschwand schnell in der Garderobe und traf dort seinen Bruder.
Herbert lächelte spöttisch: »Der Page wird befohlen, und er folgt.«
»Muss das sein, Bert?«, fragte Adrian. »Ich will keinen Streit und auch kein Misstrauen. Würdest du das bitte zur Kenntnis nehmen? Ich bin nicht mehr der kleine Bruder. Ich lasse den Betrag, den ihr für mein Studium aufgewendet habt, überweisen. Ich habe das schon angeordnet.«
»Unsinn, mir geht es doch nicht ums Geld, Kleiner«, erwiderte Herbert betroffen.
»Wir wollen nicht aneinander vorbeireden. Aber jetzt habe ich keine Zeit. Setz dich in eine Ecke, damit du nachher wenigstens sagen kannst, dass Helga großartig war. Das will sie doch wohl hören. Sie kommt in die Jahre, in denen eine Frau nach Bewunderung giert.«
Es klang kühl, und Adrian erschrak jetzt noch mehr. Aber Herbert war schon verschwunden, und Adrian ging wieder hinaus und setzte sich in eine Ecke.
Er kam sich fast vor wie ein Schüler auf der Strafbank, und ihm wurde so recht bewusst, dass man einen Tribut zu zahlen hatte, wenn man nicht aus eigener Kraft seinen Weg ging.
Seine Gedanken wanderten zu dem Mädchen Nicola, während die Schau weiterging. Hatte sie es nicht viel früher erfasst als er, dass sie ihren Stolz hatte?
Am Morgen hatte er ein Einschreiben von ihr erhalten, in dem sich zwei Hunderteuroscheine befanden.
Herr Frobenius hatte mir achthundert Euro zugesagt, und für diese bedanke ich mich. Mehr kann ich nicht annehmen.
Mit bestem Gruß
Nicola Hermsdorf
Nicht mehr, nicht weniger.
Und jetzt sah er Helga, sehr gut geschminkt, in der Entfernung viel jünger wirkend. An ihrer Figur war nichts auszusetzen, aber er schloss die Augen und sah Nicola vor sich. Und plötzlich wusste er, dass dieses Mädchen Gefühle in ihm geweckt hatte, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Helga hatte keine Macht mehr über ihn. Er konnte seine Schulden mit barer Münze zurückzahlen, und das war geschehen, wenn er dafür auch hatte einen Kredit aufnehmen müssen.
Aber jetzt war er nicht mehr der Junge, der Page, jetzt war er ein Mann, der sich von einer Zentnerlast befreien wollte.
*
Als Helga im Brautkleid, das Gesicht vom wehenden Spitzenschleier verdeckt, über den Laufsteg schritt, hatte Adrian seinen Platz verlassen. Herbert grinste breit, als er in den Nebenraum kam.
»Schlicht und ergreifend«, sagte er sarkastisch. »Aber es ist überstanden. Die Geschäfte laufen, und sehen lassen kann sie sich immer noch.«
»Das sagst du?«, fragte Adrian stockend.
»Kniefälle mache ich schon lange nicht mehr, mein Junge, und mich gelüstet auch nicht mehr nach anderen Frauen. Im Grunde ist es mir auch egal, mit wem sie sich amüsiert, nur du solltest es nicht gerade sein.«
»Ich habe nicht die Absicht«, erwiderte Adrian.
»Das klingt sehr bestimmt«, stellte Herbert fest.
»Was denkst du eigentlich von mir, Bert?«
»Immerhin ist sie noch verführerisch, und sie möchte gern noch zehn Jahre, wenn nicht sogar zwanzig, jünger sein und so viel Geld haben wie jetzt.«
»Ich habe meine Schulden bezahlt, Bruder, das ist erledigt.«
»Mal sehen, was sie dazu meint.«
»Willst du sie loswerden?«, fragte Adrian direkt.
»Nein, so ist es nicht. Ich will mich nur nicht zum Hampelmann stempeln lassen. Ist das deutlich genug? Ich bin kein halber Mann, Adrian. Als Braut ist Helga oft genug über den Laufsteg geschritten, aber durch wie viel Hände sie vorher gegangen ist, möchte ich gar nicht wissen.«
»Warum sagst du das erst jetzt?«
»Weil ich denke, dass Offenheit am Platze ist. Du schuldest mir kein Geld, nur Loyalität.«
»Darum brauchst du nicht zu bangen, Bert. Es tut mir leid, wenn du daran Zweifel hegtest.«
Herbert sah ihn zwingend an. »Dann ist ja alles okay«, sagte er.
»Und jetzt sagst du bitte nicht mehr ›Kleiner‹ zu mir«, sagte Adrian.
»Es könnte mich nur freuen, wenn du weiter bist als ich vor zehn Jahren war«, erwiderte Herbert.
»Hättest du etwas geändert, Bert?«, fragte Adrian.
»Nein, damals wohl nicht. Aber jetzt bin ich müde.«
»Du bist vierzig«, sagte Adrian.
»Es sind doch nicht die Jahre, die uns fertigmachen. Erfolg kann man nicht mit dem Glück gleichsetzen. Hoffentlich hast du das früher begriffen als ich.«
»Glück ist auch nicht mit Reichtum gleichzusetzen«, sagte Adrian nachdenklich. »Aber lassen wir das. Helga kommt.«
Und sie kam mit zornsprühenden Augen. »Meinen Abgang hättet ihr wenigstens beklatschen können«, stieß sie hervor.
»Vielleicht tun wir das noch«, sagte Herbert sarkastisch. »Monsieur Cambray erwartet dich im Hilton.«
Sie wich ein paar Schritte zurück. »Was soll das bedeuten? Ich kenne ihn nicht«, sagte sie erregt.
»Frag ihn doch«, erwiderte Herbert. »Vielleicht bietet er dir ein großartiges Comeback als Mannequin. Cambray und Comeback könnte eine Assoziation sein.«
»Und dass ich deine Frau bin, Helga Frobenius, interessiert dich dabei nicht?«, fragte sie wütend.
»Es kommt ganz auf deine Einstellung an, meine Liebe«, erwiderte er.
»Und du sagst gar nichts, Adrian?«, fragte sie bebend.
»Was soll ich sagen?«
»Ihr habt euch doch schon eine ganze Weile unterhalten«, sagte sie misstrauisch.
»Unter Brüdern«, erwiderte Herbert. »Das muss auch mal sein. Wir sind keine Marionetten, die du dirigieren kannst, Helga. Adrian hat mir gesagt, dass er das Geld für sein Studium überwiesen hat, und ich habe ihm gesagt, dass mich das Geld nicht interessiert. Er ist uns nichts schuldig, gar nichts! Oder verlangst du mehr von ihm?«
»Was wollt ihr mir eigentlich vorwerfen? Hat euch das Mädchen alle beide verhext?«, schrie sie erregt.
»Verhext? Verzaubert vielleicht«, sagte Herbert. »Vielleicht auch den Wunsch in mir geweckt, dass du so sein könntest, wenigstens so gewesen sein könntest, den Gedanken, ob du jemals so gewesen bist.«
Helgas Gesicht versteinerte. »Muss ich mir das sagen lassen?«, fragte sie tonlos. »Und du sagst gar nichts, Adrian?«
»Herbert kennt dich wohl besser als ich«, erwiderte Adrian. »Und er ist dein Mann, Helga.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ja, er ist mein Mann, und das wird er auch bleiben«, zischte sie. »Das Abschiedsessen fällt flach, Adrian.«
Einen größeren Gefallen hätte sie ihm nicht tun können. Sie rauschte grußlos davon, aber Herbert drückte seine Hand. »Mach es gut, Bruder«, sagte er. »Ich hoffe, dass ich dich als Anwalt nicht in Anspruch nehmen muss, aber die Überweisung geht zurück. Als ich dreißig war, hatte ich auch noch Träume, jetzt werden sie nur noch in Kleidern verwirklicht.«
»Die immer für den gleichen Typ Frau geschaffen werden«, sagte Adrian.
»Nicht immer, aber du scheinst bei der Schau nur den einen Typ im Auge gehabt zu haben. Ja, man hat seine Träume, kleiner Bruder. Für dieses Mädchen hätte ich alles aufgegeben.«
»Aber sie nicht für dich«, entfuhr es Adrian.
»Das war mir klar. Aber vielleicht hast du Chancen.«
»Da rechne ich mir keine aus«, erwiderte Adrian.
*
In der Nacht fand Helga Frobenius keinen Schlaf. Erinnerungen, die sie lange verdrängen konnte, erwachten. Der Name Pierre Cambray hatte sie wieder ganz geweckt, und das gerade zu diesem Zeitpunkt.
Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Am liebsten wäre sie noch am gleichen Abend abgereist, aber damit war Herbert nicht einverstanden.
Nach der Auseinandersetzung gab er sich ganz gelassen, so als wäre nichts geschehen.
Aber dann rief Cambray an. Da Helga meinte, es wäre Adrian, war sie schnell am Telefon.
Aber dann vernahm sie die Stimme. »Damals nanntest du dich Janine, Helga. Aber du erinnerst dich bestimmt an mich. Ich hoffe, du wirst dich erinnern, sonst werde ich deinem Mann ein paar Aufnahmen schicken, an denen er keine große Freude haben wird.«
»Nein, ich erinnere mich nicht. Sie irren sich«, erwiderte sie, und dann legte sie den Hörer auf.
»Wer war es?«, fragte Herbert.
»Dieser Cambray. Er scheint mich mit einer Janine zu verwechseln«, erwiderte sie.
»Hast du dich nicht mal so genannt?«, fragte Herbert.
»Wie kommst du darauf?«, fragte sie tonlos.
»Ich habe mal ein paar Bilder gesehen von einer Janine. Sie war dir sehr ähnlich. Noch ähnlicher als Nicola. Es ist schon lange her. Wäre es nicht mal an der Zeit, mir von damals zu erzählen, als wir uns noch nicht kannten, Helga?«
Sie wandte ihm den Rücken zu. »Worauf willst du hinaus? Hast du das alles inszeniert, so einen Horrortrip, weil du mich loswerden willst?«
»Ich will dich nicht loswerden, Helga. Ich will nur endlich wissen, wer du wirklich bist, was du eigentlich willst, wie du dir unsere Zukunft vorstellst.«
Sie starrte ihn an. »Unsere Zukunft? Wir sind doch immer noch auf der Erfolgsstraße, Herb. Was hast du im Sinn?«
»Augenblicklich gar nichts, als Ordnung in unser Privatleben zu bringen. Dazu gehört doch Ehrlichkeit.«
»Genügt dir das eigentlich nicht, was wir gemeinsam erreicht haben, was ich auch für Adrian getan habe?«
»Willst du ihn an dich ketten?«, fragte er. »Hat er kein Recht auf seine Freiheit?«
»Musst du das auch dramatisieren? Er bleibt in München, wir fliegen morgen nach Rom. Mir hat es gelangt, was ich von euch zu hören bekommen habe. Aber wenn du mich abschieben willst, eine Scheidung würde dich teuer zu stehen kommen, und womit willst du sie begründen?«
»Ich lasse mich nicht scheiden, Helga. Nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil ich dir deine Freiheit nicht gönne, weil ich dich auch keinem anderen Mann gönne, und auch deshalb, weil Adrian seine Freiheit haben soll. Er würde dir nie mit Haut und Haaren verfallen sein wie ich, lass dir das sagen. Denk darüber nach. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Sie durchlebte eine schlechte Nacht. Pierre Cambray war aufgetaucht. Ein Mann, den sie längst abgeschrieben hatte. Er wollte sie erpressen, das war ihr ganz klar. Damals war er einer von denen gewesen, die gegeben hatten. Damals! Es lag so lange zurück. Er musste jetzt doch ein alter Mann sein. Damals in Cannes war er doppelt so alt gewesen wie sie, mehr als doppelt, wie sie sich in dieser Nacht in Erinnerung rief. Sie war achtzehn gewesen, er fast vierzig. Ein tolles Auto und ein schickes Appartement. Im Filmgeschäft war er. Aufnahmen hatte er von ihr gemacht. Ganz groß wollte er sie herausbringen. Bedenkenlos hatte sie ihm vertraut, aber dann war eine Frau aufgetaucht. Seine Frau. Und sie hatte ihr die Hölle heiß gemacht. Und Pierre hatte ihr dann gesagt, dass sie verschwinden solle und ihr Geld gegeben. Eine ganze Menge Geld.
Warum wollte er sie jetzt erpressen mit diesen alten Fotos? Weil sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger sei? Dafür hatte er doch keinen Beweis bekommen. Sie war aus seinem Leben verschwunden, war untergetaucht. Sie hatte Pierre Cambray aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie war Helga Frobenius geworden, und das wollte sie auch bleiben.
Das sollte ihr niemand nehmen. Sie ging zu ihrem Mann, der schon schlief. Sie legte sich zu ihm und umarmte ihn.
»Ich liebe doch nur dich, Herbi«, flüsterte sie ihm zu. »Nur dich. Wir sollten mal einen richtigen Urlaub einlegen.«
»Das sollten wir«, murmelte er schlaftrunken. »Ab sofort.«
*
Am nächsten Vormittag brachte Adrian die beiden zum Flughafen. Helga gab sich kühl und unnahbar, aber das konnte Adrian nur recht sein.
Noch mehr erleichtert war er, als Herbert ihm ankündigte, dass sie nun einen längeren Urlaub machen wollten. Hinter Helgas Rücken blinzelte er seinem Bruder verschmitzt zu.
»Erholt euch gut«, sagte Adrian.
»Worauf du dich verlassen kannst«, erwiderte Helga spitz.
Es war Samstag, und eigentlich hatte sich Adrian vorgenommen, einen Ausflug ins Grüne zu machen, aber dann kam ihm plötzlich eine Idee, die ihn nicht mehr losließ.
Er fuhr zu dem Privatdetektiv Waldmann, der manchmal auch für Dr. Hartwig tätig gewesen war. Er traf ihn auch an, und obgleich Waldmann ihm seufzend erklärte, dass es für ihn kein Wochenende gäbe, konnte Adrian sein Anliegen doch vortragen.
Wundern konnte sich der Detektiv über gar nichts mehr, aber dass ein Kunde Auskünfte über seine Schwägerin einholen wollte, die mit seinem Bruder schon ein Dutzend Jahre verheiratet war, erschien ihm doch merkwürdig.
Aber das war nicht Adrians einziges Anliegen. Auch über Nicola Hermsdorf und ihre Eltern wollte er mehr erfahren.
So etwas war für Waldmann allerdings ein leichteres Unterfangen, da diese Familie in München wohnte, während Adrian von Helgas Vergangenheit nur sagen konnte, dass sie in Berlin geboren sei, und dies dazu im letzten Kriegsjahr, wo dort alles drunter und drüber gegangen war.
Aber Waldmann hatte schon ungewöhnlichere Aufträge erfüllt, und Dr. Hartwigs Nachfolger wollte er gern gefällig sein.
Adrian fuhr an den Starnberger See und lief stundenlang, sich endlich wieder freier fühlend, herum, bis sein Magen knurrte. In einem hübschen Restaurant konnte er seinen Hunger stillen.
Helga war fern, der Druck war von ihm gewichen. Es wollte ihm nur nicht gelingen, auch jeden Gedanken an Nicola auszuschalten, und als er in seine Wohnung zurückkam, betrachtete er die Bilder von ihr wieder lange und intensiv.
*
Nicola hatte den ganzen Tag am Bett ihrer Mutter verbracht. Mit Essen war sie hier auch versorgt worden, da Ulrike ja noch nichts essen durfte. Es ging aber schon aufwärts mit ihr. Ihr eiserner Wille half mit. Sie schlief jetzt auch nicht mehr so viel.
Sie fragte nun, wie die Modenschau verlaufen sei. »Es liegt schon so fern, Mami«, sagte Nicola.
»Hast du Frau Frobenius kennengelernt?«, fragte Ulrike stockend.
»Nur kurz. Sie schien nicht erbaut zu sein, dass ich so ein ähnlicher Typ bin wie sie, aber falls dich das schockiert haben sollte, kann ich dir nur sagen, dass ich nie so werden will wie sie. Herr Frobenius scheint allerdings auf diesen Typ zu stehen. Ich habe gehört, dass er immer danach Ausschau gehalten hat, seit seine Frau nicht mehr auf den Laufsteg wollte. Diesmal hat sie dann wohl eine Ausnahme gemacht, weil er so schnell keinen Ersatz für mich finden konnte.«
»Sie ist doch auch noch ziemlich jung«, sagte Ulrike.
»Ich weiß es nicht genau, aber ein Mannequin sagte, dass sie auf die Vierzig zugeht. Da herrscht ein Konkurrenzneid, so was würde ich nie ertragen. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, dass ich Geschmack daran gefunden haben könnte, aber vielleicht werde ich Frobenius eines Tages Konkurrenz machen. Sein Stil gefällt mir, aber der Geschmack wandelt sich ja. Er wird sicher noch lange zu den Führenden gehören. Aber ich habe doch auch meinen Ehrgeiz.«
»Denkst du nicht daran, einen Mann und Kinder zu haben, Nicky?«, fragte Ulrike leise.
»Noch lange nicht. Bist du wild darauf, Großmutter zu werden, Mami?«, scherzte sie.
»Ich möchte nur, dass du glücklich wirst, mein Kleines.«
»Ich bin glücklich, wenn du gesund bist. Ich würde niemals einen Mann wollen, der uns trennen will.«
*
Zwei Tage später kam der Bescheid, dass die Versicherungen nun endlich zahlen wollten, und auch das trug zu Ulrikes Genesung bei. Jetzt waren sie der finanziellen Sorge ledig, jetzt wusste Ulrike auch Nicola versorgt, und das war ihr doch wichtiger als sie selbst.
Auch Daniel und Fee Norden atmeten auf. An diesem Tag bekam auch Adrian schwarz auf weiß zugestellt, was Waldmann bisher ermittelt hatte. Allerdings war es vorerst nur ein Bericht über die Hermsdorfs.
Geburtsdaten und Geburtsorte, Heiratsdatum und Ludwig Hermsdorfs beruflicher Werdegang. Drei Jahre nach seiner Eheschließung war er für seine Firma in Italien tätig gewesen, und Nicola war in Cremona geboren. Ein Jahr später Rückkehr in die Heimat, dann steter Wohnsitz in München und vor ein paar Jahren hatten sie das Haus bezogen. Dann der Unfalltod. Ein Leben, das ruhig verlaufen war, und doch hatte das Schicksal dann zugeschlagen.
Cremona! Bekannt durch die Geigenbauer Amati und Stradivari und durch die Seidenindustrie. Herbert bezog von dort viele Stoffe.
War auch Helga dort gewesen? Hatte sie vielleicht ein Kind zur Welt gebracht, und war das vertauscht worden?
O Gott, in was denke ich mich da hinein, ging es Adrian durch den Sinn. Aber diese Ähnlichkeit zwang ihm solche Gedanken auf.
Aber wenn dies auch geschehen war, wo war dann Helgas Kind? Hatte sie es weggegeben, weil es ihr lästig war? War es vielleicht gestorben? Nicola war neunzehn Jahre, also hätte Helga damals genauso alt gewesen sein müssen.
Mit Adrians Ruhe war es wieder vorbei. Aber es ging ihm mehr um Nicola als um Helga. Nicola war als Kind von Ludwig und Ulrike Hermsdorf herangewachsen, und wenn sie auch den Vater verloren hatte, ihre Mutter liebte sie über alle Maßen. Es musste eine gute Mutter sein. Helga konnte er sich als gute Mutter nicht vorstellen. Herbert hatte ja auch gesagt, dass sie nie ein Kind haben wollte.
Sollte er, da er jetzt so voller Zweifel war, Unruhe in Nicolas Leben bringen, die kranke Mutter mit einer fixen Idee quälen? Nein, das wollte er nicht. Aber er wollte Nicola wiedersehen. Er wusste nur noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.
*
Unbeschwerten Herzens konnte sich Nicola nun ihren letzten Prüfungsaufgaben unterziehen, und sie bestand sie mit Glanz und Gloria, als Beste ihres Lehrganges.
Das war für Ulrike eine große Freude, denn an diesem Tag konnte sie die Klinik verlassen. Noch ein bisschen schwach, aber doch wieder voller Lebensmut. Sie wollte mit Nicola feiern, und sie wollten dann eine Erholungsreise unternehmen. Ulrike war nie anspruchsvoll gewesen, und Nicola auch nicht. Dr. Norden hatte ihnen einen Aufenthalt im Schwarzwald empfohlen.
Adrian hatte sich inzwischen ein Herz gefasst und Fee Norden angerufen, um sich nach dem Befinden von Ulrike Hermsdorf zu erkundigen.
So überrascht Fee auch war, er verstand es, ihr zu entlocken, was er erfahren wollte. Fee hatte noch keine Ahnung, welche Einstellung Nicola zu Herbert Frobenius hatte, und eine berufliche Chance sah sie für das Mädchen bei ihm schon. So sagte sie, dass Frau Hermsdorf genesen sei und Nicola ihr Examen glänzend bestanden hätte.
Für Adrian war das ein Anlass, ein wunderschönes Blumengesteck mit einem Begleitschreiben an die ihm wohlbekannte Adresse bringen zu lassen.
»Wunderschön«, sagte Ulrike leise. »Du hast also doch einen Verehrer.«
»Ach was, Frobenius scheint nicht aufzugeben«, erwiderte Nicola. »Jetzt hat er seinen Bruder angesetzt.«
»Was hat er geschrieben?«, fragte Ulrike nachdenklich.
»Du kannst es lesen«, erwiderte Nicola nach einem kurzen Zögern, denn ganz wohl war ihr dabei doch nicht.
Sehr verehrtes gnädiges Fräulein, sehr erfreut über die Nachricht, dass Ihre Frau Mutter genesen ist und Sie das Examen glänzend bestanden haben, möchte ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche übermitteln. Ich hoffe, dass Sie mir den Sonderbonus nicht nachtragen und würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie mir Gelegenheit zu einem Wiedersehen geben würden. Mit aller Hochachtung für Ihre Einstellung
Ihr Adrian Frobenius
»Sehr höflich, so wie es bei uns früher üblich war«, sagte Ulrike gedankenvoll. »Was meint er mit dem Sonderbonus?«
»Frobenius hatte mir tausend Euro gezahlt statt achthundert. Ich habe aber zweihundert zurückgeschickt«, erwiderte Nicola errötend. »Schließlich bin ich nicht käuflich.«
»Vielleicht wollte er deinen Erfolg auch nur anerkennen, Nicky. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Es wurde bedauert, dass ein aufgehender Stern sich leider nur als Sternschnuppe erwiesen hätte.«
»Hat dich das etwa gefreut?«, fragte Nicola.
»Nun ja, so ein bisschen.«
»Willst du mir zureden, auf Frobenius’ Angebot zurückzukommen?«
»Nein, das gewiss nicht. Aber man ist auf dich aufmerksam geworden, Nicky. Es könnte dein berufliches Fortkommen erleichtern. Heutzutage haben es viele junge Leute schwer, Fuß zu fassen.«
Nun, über Angebote konnte sich Nicola wirklich nicht beklagen. Auch eines von Rolain war dabei, und das war das seriöste. Er wollte ihre Modelle kaufen, nicht das Mannequin. Er lud sie zu einem Gespräch ein.
Dazu war sie sofort bereit. »Aber dann machen wir erst ein paar Wochen Urlaub«, sagte Ulrike energisch. »Und vergiss nicht, dich bei Dr. Frobenius zu bedanken. Das erfordert der Anstand, Nicky.«
Nicola schob das noch vor sich her, so gut sie auch erzogen worden war. Zuerst kam das Gespräch mit Rolain.
Ein besseres Ergebnis hätte sie sich nicht wünschen können. Er bot ihr ein Gehalt, von dem sie nicht zu träumen gewagt hätte. Und für ihre Modelle bekam sie ein Honorar, das ihnen auch einen sorglosen Urlaub ermöglicht hätte, wenn die Versicherung nicht gezahlt hätte.
Nicola war überglücklich. »Aber mehr als achtzehn Tage sind nicht drin, Mami, dann fange ich schon bei Rolain an. Ich freue mich ja so. Da kann ich alles verwirklichen, was mir vorschwebt.«
»Frobenius wird wohl enttäuscht sein«, sagte Ulrike.
»Hätte es dir etwa gefallen, wenn ich nach Rom oder Wien gegangen wäre?«
»O nein, das bestimmt nicht. Ich rede dir ja auch nicht hinein, Liebes. Du weißt, was du willst, und ich bin froh darüber.«
Ja, sie wusste, was sie wollte, und sie schrieb einen kurzen Brief an Adrian.
Sehr geehrter Herr Dr. Frobenius, ich bedanke mich für die wunderschönen Blumen und Glückwünsche. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich mit meiner Mutter Urlaub mache und danach bei Rolain anfange.
Mit freundlichem Gruß
Nicola Hermsdorf
Kühle Höflichkeit, und Adrian erging es wie allen Verliebten, wenn sie eine solche kalte Dusche bekamen, er war völlig deprimiert.
Und was er dann ein paar Tage später von Waldmann über Helga erfuhr, trug nicht dazu bei, seine Stimmung zu bessern.
»Geboren am 19. November 1944 in Berlin. Vater in russischer Gefangenschaft. Mutter Helene, geborene Janos, flüchtete in den Westen, letzter Wohnort Nürnberg. Der Vater kommt 1954 aus der Gefangenschaft zurück, findet eine Stelle als Verwalter bei einem Gutsbesitzer im Fränkischen.« Aber Waldmann hatte sogar recherchiert, dass Helga aus der Klosterschule entflohen war, dann verlor sich jede Spur von ihr. Fünf Jahre ihres Lebens lagen im Dunkel, bis sie nach Rom kam, Herbert Frobenius kennenlernte und eine steile Karriere machte. Über die Zeit dazwischen hatte Waldmann noch nichts in Erfahrung bringen können.
Adrian rief ihn sofort an. »Sie nannte sich Janine und hat einige Zeit an der Côte d’Azur verbracht«, sagte er. »Diese Zeitspanne interessiert mich, und vielleicht spielt da ein gewisser Cambray mit.«
Den Namen hatte Adrian aufgefangen, nur im Unterbewusstsein, aber nun erinnerte er sich wieder daran.
»Es ist gut, wenn man einen Hinweis bekommt«, sagte Waldmann. »Sie hören wieder von mir.«
*
Herbert und Helga waren nach Südafrika geflogen. Es war ein reiches Land und bot alles, was Europäer erwarteten. In Kapstadt, Pretoria und Johannesburg wurden auch die Modelle von H. u. H. Frobenius getragen. Sie kannten schon einige einflussreiche Leute und lernten noch mehr kennen. Helga war in ihrem Element, und sie waren weit vom Schuss. Das war ihr jetzt am wichtigsten, denn der Name Cambray hatte ihr Angst eingejagt, noch mehr Angst als das Mädchen Nicola.
Lange Zeit hatte sich Herbert nicht als solch aufmerksamer und liebevoller Ehemann gezeigt.
»Unsere Flitterwochen, endlich«, sagte sie genussvoll, als sie an einem sonnigen Strand lagen, an dem sie aufmerksam bedient wurden mit allem, was sie wünschten.
»Du hast recht, mein Schatz, wir haben sie uns redlich verdient, aber nach so vielen Ehejahren können wir dabei doch auch eine gewisse Genugtuung empfinden.«
Er sieht gut aus, dachte Helga, warum habe ich das eigentlich vergessen? Freilich war Adrian jünger, attraktiver, vielleicht auch männlicher, aber Helga war bereit, ihn von nun an nur noch als Schwager zu betrachten, so tief gekränkt fühlte sie sich durch sein Benehmen.
Das zu bewahren, was sie erreicht hatte, war ihr jetzt wichtiger als alles andere, seit Cambrays Anruf sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
Ihrer Ansicht nach musste der Teufel die Hand im Spiel gehabt haben, dass Cambray die Vergangenheit heraufbeschwören wollte.
Aber die Angst ließ sie nicht los. Sie schlief schlecht. Vielleicht war es auch gerade die Ruhe, die sie zum Nachdenken zwang, während Herbert dies genoss.
Er lebte auf. Er hatte den Stress hinter sich gelassen, den Helga brauchte, um gar nicht zum Nachdenken zu kommen. Er schlief tief, während sie sich unruhig im Bett wälzte.
Wilde Träume riefen noch mehr Erinnerungen in ihr wach. Und in einer Nacht schreckte sie sogar Herbert aus dem Schlaf, als sie laut schrie: »Nein, ich will nicht nach Cremona!«
Er tätschelte ihre Wangen, holte sie aus dem Angsttraum. »Was hast du denn, Helli?«, fragte er. »Wir sind doch in Durban, Cremona ist weit.«
Sie starrte ihn abwesend und nicht begreifend an. »Was meinst du?«, fragte sie tonlos.
»Du hast eben geträumt. Du hast geschrien, dass du nicht nach Cremona willst.«
»Ich weiß nichts«, murmelte sie. »Ich war nie in Cremona.«
»Vielleicht habe ich es auch nicht richtig verstanden«, sagte er beruhigend. »Ich hatte tief geschlafen. Vielleicht hast du Roma gesagt, Darling.«
Er nahm sie in die Arme und spürte, wie sie zitterte. »Wollen wir noch woandershin reisen, Helli?«, fragte er. »Bekommt dir das Klima nicht? Man sagt doch, dass es sehr gut sein soll.«
»Es ist schön hier, Herbi, und du bist so lieb«, flüsterte sie. »Ich dachte, du hättest dich in das Mädchen verliebt.«
»So ein Unsinn. Aber ich glaube, dass Adrian Feuer gefangen hat, und darüber wäre ich sehr froh. Ich will dich nicht verlieren, Helli.«
Er liebt mich, er liebt mich wirklich, dachte sie.
»Ich bin wohl immer falsch verstanden worden«, murmelte sie.
»Ich denke schon, dass ich dich richtig verstanden habe, deinen Freiheitsdrang, dass du auch nicht abhängig sein wolltest von einem Mann. Unser Erfolg ist deiner Willenskraft zu verdanken. Das werde ich nie vergessen.«
»Denkst du wirklich so, Herb?«
»Ohne dich hätte ich das nicht erreicht, niemals«, erwiderte er.
»Wie hat es Rilke gesagt«, flüsterte sie. »Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen.«
»Ich sage, wie ich es denke, Helli, und Liebe verzeiht alles. Wenn du je daran gezweifelt hast, glaube es jetzt: Ich liebe dich.«
In seinen Armen schlief sie ruhig bis zum nächsten Morgen.
*
In einer kleinen, sehr gepflegten Pension verlebten Ulrike und Nicola währenddessen geruhsame Tage. Sie konnten von ihren Wirtsleuten hören, dass sie die angenehmsten Gäste waren, die sie je gehabt hätten, und oft saßen sie mit den netten, einfachen Leuten abends zusammen, wenn sie müde von langen Wanderungen zurückgekehrt waren.
Langsam hatten sie es angegangen, aber mit jedem Tag blühte Ulrike mehr auf, und mit gutem Appetit aß sie dann auch das vorzügliche Essen, das ihnen vorgesetzt wurde.
Nicola konnte sich freuen, wie schnell die geliebte Mami wieder aufholte, Farbe bekam und an Gewicht zunahm, gerade so viel, wie ihr zuträglich war. Dann meinte Ulrike lächelnd, dass sie eine Bremse einlegen müsse, weil ihr sonst nichts mehr passen würde.
»Wenn ich erst bei Rolain bin, bekommst du die allerschönsten Kleider, Mami«, sagte Nicola, »aber komm mir ja nicht auf den Gedanken, dir einen Mann anzulachen.«
»Da sei Gott vor«, sagte Ulrike, »das wirst du doch nicht glauben?«
Nicola wurde nachdenklich. »Eigentlich ist es egoistisch, so zu denken«, sagte sie.
»Es kommt nicht infrage«, widersprach Ulrike sogleich. »Ludwig war der erste und einzige Mann in meinem Leben, und dabei bleibt es auch. Ich erhoffe für dich, dass du auch einmal so denken kannst. Wie ist dieser Rolain eigentlich?«
»Himmel, machst du dir darüber Gedanken? Das brauchst du wirklich nicht. Äußerlich ist er klein und faltig, deswegen tritt er auch selbst nicht gern in Erscheinung, aber er ist genial. Ich kann von ihm noch viel lernen. Ich denke viel darüber nach, wie solche Menschen ihren Weg machen, die nicht mit äußerlichen Vorzügen ausgestattet sind. In meinen Augen sind sie die Größten.«
»Es ist mir eine große Freude, dass du so denkst, Nicky«, sagte Ulrike. »Schöne Menschen haben es leicht, Anerkennung zu finden, aber sie sind auch den größeren Gefahren ausgesetzt. Mir ist auch oft bange, wenn ich dich anschaue.«
»Denk dir doch nichts«, erwiderte Nicola lachend. »Hast du hier einmal bemerkt, dass ich Gefahren ausgesetzt bin?«
»Hier gibt es ja auch keine jungen Männer«, meinte Ulrike. »In der Pension sind nur Ehepaare, und da passen die Frauen sehr auf, dass die Blicke ihrer Männer nicht abirren.«
»Du passt aber auch gut auf, Mami«, sagte Nicola.
»Mütter sind nun mal so«, sagte Ulrike. »Bestimmt doppelt besorgt, wenn sie eine so hübsche Tochter haben.«
»Wie war ich als Baby?«, fragte Nicola. »Es wird doch immer gesagt, dass Neugeborene manchmal einen kläglichen Anblick bieten und gerade die Väter unglücklich ihrer Begeisterung Ausdruck geben. Fotografiert wurde ich erst, als ich bereits sitzen konnte.«
»Wir hatten damals noch wenig Geld, Nicky«, sagte Ulrike tonlos.
»Es sollte doch kein Vorwurf sein, Mami. Ich wollte nur wissen, was du wirklich empfunden hast.«
»Du warst für mich ein Geschenk des Himmels«, sagte Ulrike leise. »Du warst winzig, und ich gebe zu, dass wir nicht ahnen konnten, dass du mal eine Schönheit würdest, aber wir waren unendlich glücklich, und du bist ganz schnell ein wonniges Baby geworden mit riesengroßen Augen.«
»Und warum habt ihr mich Nicola genannt? Weil ich in Cremona zur Welt gekommen bin und Nicolo Paganini ein großer Geigenvirtuose war?«
»Mir hat der Name gefallen. An Nicolo Paganini habe ich nicht gedacht. Die Ärztin, die mich betreute, hieß Nicola.«
»Und wie noch?«
»Vercelli«, erwiderte Ulrike, »aber sie lebt sicher nicht mehr. Sie war nicht mehr jung. Sie war ein guter Mensch.«
Wie sie das sagt, dachte Nicola, was bewegt sie nur? »War es eine schwere Geburt, Mami?«, fragte sie. »Du kannst es mir ruhig sagen. Eines Tages möchte ich alles wissen. Jetzt bin ich ja erwachsen.«
Ulrike verschlang die Hände ineinander. »Ja, es war eine schwere Geburt. Aber das ist vergessen. Du bist gesund. Du hast uns so viele Freude gemacht.«
»Und ich kam in Cremona zur Welt, in der Stadt der Seidenspinner. Vielleicht war das ein gutes Omen. Man kann aus diesen herrlichen Stoffen so viel zaubern, Mami. Ich habe so viele Ideen, und ich freue mich so auf die Arbeit bei Rolain.«
*
David Delorme gab ein Konzert in München, und das war ein Anlass, dass auch Daniel und Fee sich mal wieder in der Öffentlichkeit zeigten. Das Konzert war ein rauschender Erfolg für den genialen Pianisten, aber für David war es dann schöner, im Familienkreis zu sein.
In einem kleinen Nebenraum des Hotels, in dem sie immer wohnten, war alles arrangiert für ein ungestörtes Beisammensein, zu dem sich auch Adrian Frobenius eingefunden hatte.
»Nett, dass du dir die Zeit genommen hast, Adrian«, sagte Katja. »Du hast schon viel zu tun?«
»Es lässt sich gut an. Ich bin zufrieden«, sagte er.
»Und was hört man von Helga und Herbert?«, fragte David.
»Sie machen immer noch Urlaub. Ihre ersten richtigen Flitterwochen, sagte mir Bert am Telefon.«
»Ist auch was wert. Wir machen jetzt unsere dritten«, sagte David. »Die Kinder bleiben bei den Großeltern.«
»Die freuen sich«, sagte Fee lachend. »Und wohin fahrt ihr?«
»Nach Madagaskar, aber nur für eine Woche.«
»Wie heißt doch das Lied«, meinte Daniel schmunzelnd. »Wir fuhren nach Madagaskar und hatten die Pest an Bord. Nehmt euch bloß in acht!«
»Du kannst es uns nicht verleiden, Daniel. Es sind andere Zeiten«, sagte Katja neckend. »Und wir fliegen hin und zurück. Und wann macht ihr mal wieder Flitterwochen?«
»Wir flittern immer, oder was meinst du, Fee?«, fragte Daniel.
»Sind fünf Kinder nicht der beste Beweis dafür?«, gab Fee schelmisch zurück.
»Und wenn man dann noch so aussieht«, warf Adrian ein.
»Wie Fee das macht, ist mir auch ein Rätsel«, sagte Katja. »Ich habe mich schon nach dem zweiten Kind hart getan, wieder Figur zu bekommen.«
»Das grüne Chiffonkleid steht dir aber sehr gut«, sagte Adrian.
»Verbindlichen Dank«, sagte Katja, »aber es war das einzige Kleid, für das Nicola doch ein bisschen zu jung war. Was macht sie eigentlich?«
»Sie hat bei Rolain eine sehr gute Stellung gefunden«, erwiderte Fee.
»Na, der tut ihr wenigstens nichts«, meinte Katja, »vielleicht hat er sie schon als Nachfolgerin im Auge. Lange macht er es doch nicht mehr.«
»Katja!«, sagte David mahnend.
»Ich sage, was ich denke«, konterte sie. »Wenn Herbert sich hier niederlassen würde, wäre er weg vom Fenster.«
»Herbert wird sich hier nicht niederlassen«, sagte Adrian. »Dafür wird Helga ganz bestimmt schon sorgen.«
»Und Nicola ist doch noch so jung«, warf Fee ein. »Rolain hat einen ganz anderen Stil als Frobenius, und viele mögen diesen Stil.«
Die Unterhaltung war locker, nur Adrian sagte wenig. Er fragte dann nur Fee, ob Frau Hermsdorf wieder ganz gesund sei.
»Wir hoffen, dass sie sich gut erholt hat«, erwiderte sie. »Uns wäre es ja lieber gewesen, wenn sie noch ein paar Wochen eine richtige Kur gemacht hätte, aber sie wollte mit Nicola zusammen sein. Aber im Schwarzwald ist ein gutes Genesungsklima.«
»Kannten Sie auch Herrn Hermsdorf?«, fragte Adrian stockend.
»Ja, natürlich. Er war ein sehr netter, tüchtiger Mann und kerngesund. Schrecklich, dass er so sterben musste. Erst jetzt haben die Versicherungen gezahlt, aber nun sind auch diese Sorgen von Frau Hermsdorf genommen.«
»Diese Ähnlichkeit mit Helga ist verblüffend«, bemerkte er gedankenverloren.
»Aber kein Einzelfall«, erklärte Fee. »Es besteht jedenfalls kein Zweifel, dass Nicola eine Hermsdorf ist. Herr Hermsdorf war auch ein dunkler Typ. Aber ich muss gestehen, dass ich auch konsterniert war.«
Was mag ihm nur durch den Sinn gehen, fragte sich Fee. Sicher war jedenfalls, dass er sich brennend für Nicola interessierte.
*
Ein paar Tage später kehrten Ulrike und Nicola heim, und die Nordens konnten sich bald überzeugen, dass sie beide frisch und munter waren. Nun schien auch Ulrike wieder voller Lebensfreude zu sein. Der leidvolle Ausdruck war aus ihrem Gesicht verschwunden, das Lächeln nicht mehr gequält.
Die Zeit half Wunden zu heilen, und dass sie nun frei von Angst sein konnte, da ihr die Schmerzen genommen waren, dass keine Sorgen sie jetzt noch drückten, hatte sicher mit dazu beigetragen.
Sie hatten für die Norden-Kinder hübsche Mitbringsel aus dem Schwarzwald mitgebracht und für die Eltern ein ganz echtes Kirschwasser.
Dr. Leitner bekam einen Himbeergeist, weil er mal gesagt hatte, dass der im Schwarzwald besonders gut geschmeckt hatte, und den Behnischs bereiteten sie mit köstlichem Schinken eine Freude. Sie hatten sich alles gemerkt, was man so nebenbei vor Antritt ihrer Reise gesagt hatte.
Und nun stieg Nicola ins Berufsleben ein, mit Elan und vielen Plänen. Jules Rolain ließ ihr alle Möglichkeiten zur freien Entfaltung, schon ganz sicher, dass dieses hochbegabte junge Mädchen ein großer Gewinn für sein Atelier war.
Aber schon bald sollte es Nicola von den Mitarbeiterinnen zu spüren bekommen, wie sehr man ihr diese Vorzugsstellung neidete.
Auch damit wollte sie fertig werden. Sie war in dem Sinne erzogen worden, dass einem nichts in den Schoß fiel und man im Beruf mit manchen Widrigkeiten fertig werden musste. Für sie zählte nur, dass Jules Rolain mit ihr auch zufrieden war.
Verwundert war sie nur, dass er sie eines Tages auf ihren Geburtsort ansprach.
»Das war ein Zufall«, erwiderte sie leichthin. »Mein Vater war zu dieser Zeit dort beschäftigt.«
»Und waren Sie später öfter dort?«
»Nein, nie mehr.«
»Würde es Sie nicht interessieren, Ihren Geburtsort kennenzulernen, ein wenig nur?«
Sie war völlig überrascht. »Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie.
»Nun, ich dachte daran, Sie dorthin zu schicken und Stoffe einzukaufen für die neue Kollektion. Ich vertraue auf Ihren ausgezeichneten Geschmack, Nicola.«
»Aber Sie machen das doch immer selbst«, sagte sie.
»Ich fühle mich nicht wohl. Und außerdem bin ich überzeugt, dass Sie kreativer sind als ein schon alter Herr.«
Sie errötete. »Ihre gute Meinung ist für mich eine große Ehre«, sagte sie zurückhaltend. »O ja, es würde mir schon Spaß machen. Aber wenn ich Sie nun enttäusche?«
»Sie enttäuschen mich nicht, Nicola. Ich bin noch keinem jungen Menschen begegnet, der so zielstrebig seinen Weg geht. Haben Sie eigentlich gar kein Privatleben?«
»O doch, ich lebe ja mit meiner Mutter zusammen. Wir verstehen uns wunderbar. Ich muss gestehen, dass ich mich ungern von ihr trenne.«
»Sie können Ihre Mutter ja mitnehmen«, schlug er vor.
*
Ulrike starrte Nicola fast entsetzt an, als sie ihr diesen Vorschlag unterbreitete.
»Warst du nicht gern in Cremona, Mami?«, fragte Nicola. »Mich interessiert es schon, diese Stadt einmal zu sehen. Aber es geht ja vor allem darum, dass ich selbst mal Stoffe auswählen kann. Findest du es nicht toll, dass Rolain nach dieser kurzen Zeit schon so viel Vertrauen zu mir hat?«
»Ich freue mich für dich, Kleines«, erwiderte Ulrike stockend. »Aber ich möchte nicht schon wieder reisen. Wir hatten doch gerade den Maler bestellt, und vielleicht kann er ausgerechnet da kommen.«
Da ist doch noch etwas anderes, dachte Nicola. Würde Mami mich wirklich allein fahren lassen?
Nein, das behagte Ulrike auch nicht, erst recht nicht, als Nicola sagte, dass Rolain seinen Wagen mit Chauffeur dazu zur Verfügung stellte.
»Ist er jung?«, fragte Ulrike sofort.
Nicola lachte auf. »Du weißt doch, wie alt Rolain ist.«
»Ich meinte den Chauffeur.«
»Ideen hast du, Mami!«, meinte Nicola nachsichtig. »Ich würde mich doch niemals mit dem Chauffeur meines Chefs anfreunden. Außerdem ist er verheiratet, über vierzig und keineswegs attraktiv. Aber da wir so lange auf den Maler warten mussten, könnte er jetzt auch warten.« Dann lächelte sie flüchtig. »Überleg mal, was Mädchen meines Alters alles schon allein unternehmen, und nicht nur geschäftlich.«
»Ich denke nur daran, was alles passiert.«
»Du musst das nicht immer denken. Ich fahre jeden Tag durch belebte Straßen. Du kannst mich nicht in Watte packen. Das soll kein Vorwurf sein, Mami, aber du darfst dir nicht ständig Sorgen machen.«
Jetzt wird sie erwachsen, richtig erwachsen, dachte Ulrike. Ich habe doch so oft gesagt, dass ich ihr nie im Wege stehen möchte, aber warum muss es ausgerechnet Cremona sein, wohin sie die erste Reise allein führt?
Cremona, das war tatsächlich mit einem Albtraum für sie verbunden.
Rolain, das war für Ulrike eine Überraschung, erwies sich als Chef mit väterlicher Einstellung. Er bat Ulrike zu einem Gespräch. So konnte sie auch Nicolas Wirkungsstätte kennenlernen, und er äußerte sich so anerkennend über Nicola, dass es ihr warm ums Herz wurde. Besser hätte es Nicola für den Start ins Berufsleben wirklich nicht treffen können. Auch Hermanke, den Chauffeur, lernte sie kennen, und da wusste sie, dass sie sich wirklich keine Gedanken machen musste.
»Fühlst du dich dieser Aufgabe auch gewachsen, Nicola?«, fragte sie aber doch.
»Wenn ich unsicher bin, kann ich den Boss anrufen, Mami. Die finanzielle Seite wird sowieso von ihm erledigt. Und sei ganz beruhigt, ich lasse mir nichts aufschwatzen, und ich lasse mich auch nicht aufs Kreuz legen.«
Selbstbewusst war sie eigentlich immer schon gewesen, so selbstbewusst, wie es sich Ulrike auch oft gewünscht hatte. Aber sie hatte ja einen Mann gehabt, der alles bestimmte, auf den sie sich verlassen konnte.
Mit Garderobe war Nicola von Rolain ausgestattet worden, und als eine vollendete junge Dame ging sie auf die Reise. Sie ahnte nicht, welche Gedanken Ulrike bewegten. Davon war nicht die leiseste Andeutung gefallen.
Frobenius soll staunen, was wir für eine Kollektion herausbringen, dachte Nicola, als sie sogar auf der Fahrt Skizzen machte.
»Wird Ihnen nicht schlecht, wenn Sie zeichnen, Fräulein Hermsdorf?«, erkundigte sich Hermanke fürsorglich.
»Wieso denn?«, fragte sie belustigt.
»Ich dachte nur, weil es den meisten nicht bekommt, wenn sie während des Fahrens lesen.«
Sie lachte. »Ich lese ja nicht, Herr Hermanke.«
So jung und schon so tüchtig, dachte er. Und dabei so bildhübsch. Aber dann fiel ihm auf, dass ihnen schon geraume Zeit ein Wagen mit Münchener Kennzeichen folgte, und der überholte nicht, obgleich es ein schneller Sportwagen war.
Bis Cremona blieb er hinter ihnen. Aber ganz seltsame Gedanken kamen Hermanke erst, als er am späten Abend diesen Wagen auch auf dem Hotelparkplatz entdeckte, als er sich noch ein bisschen die Füße vertreten wollte, während Nicola schon schlief, um am nächsten Tag ganz frisch zu sein.
*
Waldmann hatte es Mitarbeitern überlassen, Nicola im Auftrag von Dr. Frobenius zu beobachten, aber die Fahrt nach Cremona hatte er selbst übernommen, denn für ihn ging es nicht nur darum, Nicolas Wege zu erforschen, sondern auch jene von Helga Frobenius aus längst zurückliegender Vergangenheit.
Adrian hatte indessen von Waldmann einiges über Pierre Cambray erfahren. Das war nicht allzu schwierig gewesen, da er früher eine sehr renommierte Künstleragentur besaß. Er hatte auch Mannequins und attraktive Fotomodelle vermittelt, wenn sie beim Film nicht Fuß fassen konnten, und dazu hatte auch Janine, alias Helga Müller gehört.
Adrian Frobenius las den Bericht, den Waldmann ihm zugestellt hatte.
Ich habe Pierre Cambray gestern gesprochen. Als ich ihm sagte, dass mir sein Name von früher bekannt sei, taute er auf. Ein paar Gläser Whisky machten ihn gesprächig. Als ich den Namen Janine erwähnte, wurde er aggressiv. Er fragte mich, wie gut ich sie gekannt hätte. Er war da schon recht betrunken. Er redete wirres Zeug, aber es war dem auch zu entnehmen, dass er Janine jetzt als Helga Frobenius wiedergefunden hätte. Er hätte ihr damals die Adresse von Dr. Vercelli gegeben. Und jetzt würde er nach Rom fliegen und fragen, was damals in Cremona eigentlich geschehen sei, und diesmal würde sie zahlen müssen. Er wollte sich mit mir zusammentun, dachte wohl, dass ich auch von ihr geprellt worden sei. Ich werde diese Spur weiterverfolgen, da Nicola Hermsdorf im Auftrag von Rolain auch nach Cremona entsandt wurde. Ich wollte Sie noch telefonisch unterrichten, konnte Sie jedoch leider nicht mehr erreichen. Ich rufe von Cremona aus an.
*
In welchem Hotel Cambray wohnte, hatte Adrian schon vorher erfahren. Er hatte sich nicht einmischen wollen, doch nun rief er dort an und erfuhr, dass Monsieur Cambray nicht abgereist sei, sondern in eine Klinik eingeliefert werden musste, da er einen Herzanfall erlitten hatte. Man sagte ihm auch, in welche Klinik er gebracht worden war.
Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, läutete das Telefon. Es war Waldmann. Er sagte Adrian, in welchem Hotel Nicola und der Chauffeur abgestiegen waren.
Adrian sagte ihm, was er über Cambray erfahren hatte. »Ich werde mich darum kümmern und dann selbst nach Cremona kommen«, erklärte er.
Er gab Waldmann noch die Anweisung, sich tunlichst zurückzuhalten und möglichst nur in Erfahrung zu bringen, ob es dort einen Dr. Vercelli gäbe.
Dann fuhr Adrian zu der Klinik, in die man Cambray gebracht hatte. Er wurde mit größter Zurückhaltung empfangen, und der Oberarzt, der verständigt worden war, kam mit düsterer Miene, die sich nur wenig aufhellte, als Adrian sagte, dass ihm Dr. Cambray bekannt war.
»Es geht ihm sehr schlecht, aber er hat mehrmals den Namen Frobenius erwähnt. Helga Frobenius«, erklärte er. »Er spricht nur französisch und sehr undeutlich.«
Da kam eine Schwester angelaufen. »Der Patient, Herr Doktor«, rief sie erregt. »Bitte schnell!«
Es handelte sich um Cambray. »Bitte, warten Sie«, sagte der Oberarzt.
»Ich verstehe sehr gut französisch«, sagte Adrian heiser.
»Dann kommen Sie.«
Aber es war nicht mehr viel Zeit. Cambray bot einen erschreckenden Anblick. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber blicklos.
»Janine«, murmelte er. »Was ist mit dem Kind?« Aber selbst Adrian konnte das nur undeutlich verstehen. Und dann ein kurzes Aufbäumen, Aufstöhnen und es herrschte Totenstille. Cambray lebte nicht mehr. Alle ärztlichen Bemühungen blieben erfolglos.
Adrian fuhr noch in der gleichen Nacht nach Cremona. Waldmann saß beim Frühstück, als er dort eintraf. Er hatte in einem anderen Hotel ein Zimmer genommen, das aber in der Nähe von dem lag, in dem Nicola wohnte.
»Leider fast ebenso teuer«, erklärte er beiläufig. »Die junge Dame ist schon an der Arbeit. Eine Frau Dr. Vercelli lebt außerhalb der Stadt. Allzu früh wollte ich dort nicht erscheinen.«
»Das übernehme ich«, sagte Adrian. »Cambray ist an einem Herzinfarkt gestorben.«
»Ein Problem weniger – oder entstehen dadurch noch mehr?«, erkundigte sich Waldmann gelassen.
Für Helga ist sicher ein Problem aus der Welt, ging es Adrian durch den Sinn.
»Von ihm können wir jedenfalls nichts mehr erfahren«, stellte Waldmann gleichmütig fest.
»Es erübrigt sich. Sie können alle Nachforschungen aufgeben.«
»Und ich muss sagen, dass ich erleichtert bin. Es kommt meist nur Unheil dabei heraus, wenn man die Vergangenheit eines Menschen aufrollt, Dr. Frobenius. Selbst Straftaten sind nach so vielen Jahren verjährt. Aber als Anwalt wissen Sie das ja.«
*
Sie schieden in bestem Einvernehmen. Adrian übernahm Waldmanns Zimmer, duschte und ruhte sich zwei Stunden aus, dann fuhr er zu Dr. Nicola Vercelli.
Es war ein anmutiges Haus, das er nach einigem Suchen erreichte, weit abgelegen, und ein Hund, dem man ansah, dass verschiedene Rassen in ihm vereinigt waren, begrüßte ihn mit freudigem Gebell.
Mit einem Wortschwall in italienischer Sprache wurde der Hund zurückgerufen. Adrian verstand nur die Hälfte davon und fragte sich, wie er sich verständlich machen könnte, da er nur wenig italienisch konnte.
Aber die alte Dame, die langsam am Stock daherkam, eine dunkle Brille tragend, sagte dann langsam und deutlich: »Bocci freut sich. Wer sind Sie?«
Adrian suchte sein gesamtes italienisches Vokabular zusammen und stellte sich vor.
»Seltsam«, sagte die alte Dame in recht gutem Deutsch. »Bocci kennt Sie nicht und freut sich dennoch.«
»Ich mag Hunde, Signora«, erwiderte Adrian.
»Und was wünschen Sie?«, fragte Nicola Vercelli.
»Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das ist nicht mit ein paar Worten zu erklären.«
Sie nahm die Brille ab. »Ich sehe nicht mehr gut, aber ich kann erkennen, dass Sie jung sind. Ich bekomme selten Besuch, aber wenn Bocci nichts dagegen hat, sollen Sie willkommen sein. Bitte, treten Sie näher. Sie nannten den Namen Frobenius? Er sagt mir nichts.«
»Sagt Ihnen vielleicht der Name Hermsdorf etwas?«, fragte Adrian intuitiv.
Sie blieb stehen. »O Gott, es ist lange her, sehr lange«, flüsterte sie. »Sie wollen mir doch nicht die Nachricht bringen – eine schlimme Nachricht?«
Sie schwankte, und Adrian stützte sie.
»Es könnte eine gute Nachricht für Sie sein, Signora Dr. Vercelli«, erwiderte er darauf etwas stockend.
»Eine gute Nachricht? Gibt es solche noch? Ich bin eine alte Frau, fast blind. Es liegt alles so fern. So viele Jahre, ich weiß es nicht mehr.«
»Würden Sie mir bitte etwas Zeit widmen?«, fragte Adrian.
»Zeit? Ich habe so viel Zeit, viel zu viel, um zu denken.«
Eine stämmige Frau, auch nicht mehr jung, erschien jetzt. Wieder ein italienischer Wortschwall, dem Adrian nicht folgen konnte, aber Signora Vercellis Erwiderung verstand er.
»Wir haben einen Gast aus Deutschland, Rosina. Bring eine Erfrischung auf die Terrasse.«
»Bocci ist ein Wachhund mit Instinkt«, sagte Nicola Vercelli mit einem Lächeln, das Adrian verriet, welchen Charme sie einmal besessen haben musste. »Rosina hat keinen Instinkt. Für sie sind alle Fremden Feinde.«
Sie mochte alt und gebrechlich sein, aber ihr Geist war wach, das bekam Adrian zu spüren.
»Wenn Sie mir eine gute Nachricht bringen, sind Sie doppelt willkommen«, sagte sie, nachdem sie sich in einem bequemen Stuhl niedergelassen hatte.
Rosina brachte Orangensaft und Eiswürfel, auch eine Schale mit Gebäck. Sie musterte Adrian aus schrägen Augen, lächelte dann aber freundlich, weil Bocci sich zwischen ihm und Signora Vercelli niedergelegt hatte. Dann aber entfernte sie sich wieder.
»Erzählen Sie«, begann Nicola Vercelli. »Wie geht es dem Kind?«
Diese direkte Frage irritierte Adrian.
»Das Kind, Nicola, ist eine bildschöne junge Dame, und ich liebe sie«, sagte Adrian leise.
»Ja, ich liebe sie«, wiederholte er, als brauche er für sich diese Bestätigung.
»Und Frau Hermsdorf hat Ihnen alles erzählt, obgleich das für immer vergessen sein sollte?«
»Nicola weiß nichts«, sagte Adrian, »und wenn Helga nicht mit meinem Bruder verheiratet wäre … Aber ich muss weiter ausholen, Signora Vercelli.«
»Der Name Helga sagt mir nichts«, murmelte sie.
»Und der Name Janine?«
Sie schrak nur leicht zusammen. »Janine ist tot«, sagte sie leise.
Adrian war völlig konsterniert. »Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Es wurde mir mitgeteilt. Pierre hatte die Nachricht bekommen.«
»Pierre Cambray?«, fragte Adrian.
»Sie wissen von ihm?«, fragte sie gedankenverloren. »Was wissen Sie noch, Dr. Frobenius?«
»Pierre Cambray lebt nicht mehr. War er ein Freund von Ihnen?«
»Mein Cousin. Warum soll ich nicht alles sagen? Ich war schon damals nicht mehr jung, fern von Gut und Böse, enttäuscht, oft enttäuscht, aber manchmal begegnet einem doch ein guter Mensch, dem man helfen möchte. Sie war so verzweifelt, so unendlich traurig.«
»Janine?«, fragte er zögernd und ungläubig.
»Nein, von ihr spreche ich nicht. Ulrike Hermsdorf. Ich habe den Namen nie vergessen. Sie hatte eine Frühgeburt, das Baby war nicht lebensfähig, und sie hatte es sich doch so gewünscht.«
»Und Janine?«
»Sie hatte auch ein Mädchen zur Welt gebracht und verschwand. Ich gab das Kind Ulrike. ›Macht damit, was ihr wollt. Ich will es nicht haben‹, hatte Janine auf einen Zettel geschrieben. Kann man mich dafür jetzt noch bestrafen?«
»Niemand will Sie bestrafen«, sagte Adrian. »Ich möchte nur die Wahrheit wissen, weil ich Nicola liebe und sie schützen will. Sie soll die Wahrheit nie erfahren.«
Nicola Vercelli hatte die Brille wieder abgenommen, und plötzlich schien Leben in ihren Blick zu kommen. »Sie weiß es nicht? Ulrike hat geschwiegen?«, fragte sie leise. »Aber wieso wissen Sie es denn eigentlich?«
»Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie mir auch die ganze Geschichte erzählen«, erwiderte Adrian. Er kraulte den Kopf des Hundes, und Bocci grummelte behaglich vor sich hin.
»Es wird wohl gut sein, wenn ich einmal darüber sprechen kann«, sagte Nicola Vercelli leise. »Damit meine Seele Frieden findet, bevor ich die Augen schließe. Viel Zeit wird mir nicht mehr bleiben. Gott hat es wohl so gewollt.«
»Und ich bin Ihnen unendlich dankbar«, sagte Adrian.
»Ich weiß, dass Sie nichts Böses wollen«, sagte sie. »Bocci würde es fühlen. Als Pierre kam, war er böse.«
»Er war hier?«
»Ja, es ist noch nicht lange her. Ich habe nur den Zeitbegriff verloren. Er wollte wissen, was mit Janines Baby geschehen sei. Er war lange Zeit fort. Viele Jahre hat er mit Ramona in Rio gelebt. Ramona war seine Frau. Aber damals war er in Janine verliebt.«
»Er ist Nicolas Vater?«, entfuhr es Adrian.
»Es kann sein, aber ich glaube es nicht. Er wollte an Janine Geld verdienen, sie großmachen. Sie war bildschön. Aber er sagte mir, dass sie sich mit einem jungen Kerl eingelassen hätte, der sie sitzenließ, als sie schwanger war. Janine wollte das Kind loswerden. Er schickte sie zu mir, aber es war zu spät für einen Eingriff. Ich redete ihr zu, das Kind zur Welt zu bringen. Ich sagte ihr, dass ich Adoptiveltern finden würde. Ich dachte aber auch, dass sie das Kind behalten würde, wenn es erst geboren wäre. Ich habe so etwas oft erlebt. Aber sie wollte es nicht, und in einem anderen Zimmer war eine andere junge Frau so verzweifelt, dass sie ihr Kind verloren hatte. Es war Ulrike Hermsdorf. Ihr Mann war auf dem Bau, ein so netter Mann, so besorgt um seine Frau, und ich dachte, was diesem Baby, das Janine zur Welt gebracht hatte, alles geschehen könnte, welches Leben ihm beschieden sein würde, da seine Mutter verschwunden war. Ich dachte auch an Pierre, seine Frau, all die Schwierigkeiten. Ich gab das Baby Ulrike. Es wurde auf den Namen Nicola Hermsdorf getauft.«
»Und auch Herr Hermsdorf hat es nicht erfahren?«, fragte Adrian.
»Ich weiß nicht, ob sie es ihm nicht später gesagt hat. Wir kamen überein, darüber zu schweigen, und als Janine mich drei Monate später anrief und fragte, was mit dem Baby sei, sagte ich ihr, dass es gestorben sei. Sie war erleichtert. Das ist meine Geschichte.«
»Aber Sie wissen nicht, wer Nicolas Vater war?«
»Ist das wichtig? Ich konnte über Monate verfolgen, dass sie liebevolle Eltern hat. Als sie weggingen von Cremona, versprachen Ulrike und ich uns, nie etwas davon zu sagen, und ich dachte, dass es gut wäre für das Kind. Ist das ein Verbrechen?«
Als Richter fühlte sich Adrian keineswegs. »Sie hatte eine sehr glückliche Jugend«, sagte er leise. »Herr Hermsdorf ist vor etwas mehr als einem Jahr tödlich verunglückt, aber Nicola liebt ihre Mutter sehr.«
»Ich habe viel an Ulrike gedacht«, sagte Nicola Vercelli leise. »Dass das Kind Nicola getauft wurde, war für mich wie eine Verpflichtung. Ich habe Kinder immer geliebt, doch ich habe nie eines zur Welt gebracht. Dieses Glück blieb mir versagt. Vielleicht hätte ich sie behalten, aber damals war ich schon alt. Und ich wusste, dass Ulrike kein Kind mehr würde austragen können. Sie war eine so glückliche Frau, so bescheiden in ihrem Wesen. Es tut mir sehr leid, dass sie ihren Mann so früh verloren hat.«
»Sie hatten keine Verbindung mehr zu Frau Hermsdorf?«, fragte Adrian.
»Das hatten wir abgesprochen. Manchmal bekam ich Blumen geschickt, immer zu dem Datum, an dem Nicola im Geburtenregister hier eingetragen worden war. Sie ist genau genommen zwei Tage älter.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber Sie sprachen vorhin von einer Helga, Dr. Frobenius.«
Er zögerte, aber er konnte diese alte Dame jetzt nicht mehr täuschen. »Sie ist die Frau meines Bruders, und sie nannte sich früher Janine. Als Helga Müller haben Sie sie nicht kennengelernt?«
»Nein, und jetzt möchte ich ihr auch nicht wieder begegnen«, erwiderte Nicola Vercelli. »Wieso wurde Pierre mitgeteilt, dass sie tot sei?«
»Wann erfuhren Sie das?«, fragte Adrian.
»Ich muss nachdenken. Sie rief mich an und fragte nach dem Baby, und nicht lange darauf kam Pierre zu mir und fragte, ob das stimmt. Und da hat er mir gesagt, dass er die Nachricht bekommen hätte, dass Janine nicht mehr lebt. Ob er die Wahrheit sagte? Ich weiß es nicht. Was sagte er doch damals noch?« Sie versank in ein langes Schweigen.
»Können Sie sich nicht erinnern?«, fragte Adrian.
»Nein. Es tut mir leid. Erzählen Sie mir von Nicola.«
»Sie ist sehr tüchtig. Sie war auf der Meisterschule für Mode. Jetzt arbeitet sie für Rolain.« Er wollte auch noch sagen, dass sie in Cremona sei, aber Nicola Vercelli schrie leise auf.
»Dieser Name, jetzt weiß ich es«, stieß sie hervor. »Pierre sagte, dass dieser verdammte Rolain ihm Janine weggeschnappt hätte.«
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Adrian tonlos.
»Ja, ich bin ganz sicher. Der Name fiel mir nur nicht gleich ein. Aber warten Sie, er sagte noch etwas. Ja, jetzt erinnere ich mich auch daran. Er sagte: Claude Rolain ist doch tot, hat sie sich seinetwegen umgebracht?«
Adrian sah die alte Dame ungläubig an. »Hat er das wirklich gesagt? Claude Rolain, nicht Jules Rolain?«
»Jules bestimmt nicht«, sagte Nicola Vercelli. »Warum fragen Sie?«
»Interessieren Sie sich nicht für Mode?«, fragte Adrian.
»Für Mode? Dafür habe ich mich wirklich nie interessiert.«
»Dann sagt Ihnen der Name Rolain und auch der Name Frobenius nichts?«
»Ich habe eben einen Dr. Frobenius kennengelernt. Sagten Sie nicht, dass Sie Rechtsanwalt sind?«
»Das stimmt. Aber mein Bruder ist Modeschöpfer und Jules Rolain auch. Aber der ist bereits ein alter Mann, und er lebt.«
Nicola Vercelli legte die Hände vor ihr Gesicht. »Die Jahre gehen so schnell dahin«, murmelte sie. »Janine ist auch nicht mehr jung. Es ist alles so schwer zu verstehen. Verstehen Sie, dass sich in meinen Gedanken alles verwirrt. Aber Pierre sprach von einem Claude, und der muss jung gewesen sein. Wie alt ist jetzt Janine?«
»Sie wird neununddreißig, wenn es stimmt«, sagte Adrian schleppend. »Sie sagten, dass Sie fast blind sind, Signora Vercelli, sonst könnte ich Ihnen ein paar Fotos zeigen.«
Sie nickte. »Rosina soll die Lupe bringen«, sagte sie leise.
Rosina brachte sie. »Die Signora sollte jetzt eigentlich ruhen«, sagte sie vorwurfsvoll, und das verstand Adrian.
»Ich verabschiede mich bald«, erwiderte er.
Aber nun betrachtete Nicola Vercelli erst die Fotos von der Modenschau. Zuerst jene von Nicola.
»So ungefähr sah Janine aus«, sagte sie gedankenverloren. »Als sie zu mir kam, muss sie schon älter gewesen sein. Ja, so wie dieses Foto dort.«
Und das war eines von der zweiten Schau, eine Helga, die schon achtunddreißig war.
Adrian sagte nichts. »Aber ich kann mich noch gut an sie erinnern«, sagte Nicola Vercelli. »Sie ist nicht tot.«
»Aber sie wird nie erfahren, was wir besprochen haben, Signora Vercelli«, sagte Adrian. »Und auch Nicola wird es nicht erfahren. Ich schwöre es Ihnen. Sie weiß bisher gar nicht, dass ich sie liebe.«
»Und ich habe Ihnen alles verraten«, sagte die alte Dame. »Aber vergessen Sie nicht, dass ich Janine sagte, ihr Kind sei gestorben. Ich habe gesündigt.«
»Sie haben einem Kind ein glückliches Zuhause gegeben, nur das zählt für mich.« Er küsste ihre Hand. »Ich bin Ihnen unendlich dankbar.«
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt«, sagt sie leise, »aber vielleicht finden Sie den Weg noch einmal zu mir. Vielleicht sogar mit Nicola? Dann werde ich ihr nur sagen, dass sie einmal in meiner Klinik zur Welt kam. Es war eine kleine Klinik, aber ich habe sehr viel Trauriges erlebt.«
Bocci begleitete ihn zur Tür, und Rosina schickte ihm jetzt auch ein freundliches Lächeln nach.
Adrian streichelte den Hund. »Dir habe ich es zu verdanken, dass dein Frauchen mir vertraute. Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich dir schönes Fleisch mit. Bist ein ganz lieber Hund, Bocci.«
Und er konnte nun über vieles nachdenken. Es war alles anders gewesen, als er vermutet hatte, aber nun wusste er, dass es keine zufällige Ähnlichkeit war. Aber das sollte Nicola nicht erfahren. Niemals, das schwor er sich. Damit sollte ihr Leben und das von Ulrike Hermsdorf nicht überschattet werden.
*
Ulrike machte sich genug Gedanken. Sie hatte die Erinnerung niemals ganz aus dem Gedächtnis streichen können, aber da Nicola nun fern war, wurde ihr jene Zeit wieder ganz gegenwärtig.
Die gütige Ärztin Dr. Nicola Vercelli hatte ihr ein Baby in den Arm gelegt. »Sie haben Ihr Kind verloren und dieses Kind seine Mutter. Warum soll ich da nicht ein bisschen Schicksal spielen, wenn Sie das Baby haben wollen.«
Und sie wollte es haben. Sie hatte auch Ludwig erst die Wahrheit gesagt, als sie die Geburtsurkunde in den Händen hielt, in der sie als leibliche Eltern eingetragen waren. Ludwig hatte seine Gewissensbisse beruhigen lassen, weil sie sagte, dass Dr. Vercelli bestimmt schweigen würde, aber für ihn war es dann nur wichtig gewesen, dass Ulrike über ihren Schmerz hinweggetröstet wurde.
Freilich machte sich Ulrike nun auch Gedanken über die Ähnlichkeit zwischen Helga Frobenius und Nicola, aber dass sie Nicolas Mutter sein könnte, dachte sie nicht, da Dr. Vercelli gesagt hatte, das Kind hätte seine Mutter verloren. Gedanken machte sie sich nur darüber, dass es eine Verwandte sein könnte, und dass diese daran interessiert wäre, herauszufinden, worauf diese Ähnlichkeit zurückzuführen sei.
Solche Gedanken machte sich Helga wiederum nicht. Sie fürchtete jetzt nur Cambray, da sie wieder nach Rom zurückgekehrt waren. Herbert konnte sich nicht erklären, warum sie so nervös war nach diesem schönen Urlaub, den sie beide in vollster Harmonie genossen hatten.
Sie hatte sich ganz auf den Landsitz am Meer zurückgezogen, kümmerte sich nicht ums Geschäft und ging nicht aus. Wenn er sie fragte, ob sie sich nicht wohlfühle, gab sie ihm nur entsagungsvoll zur Antwort, dass sie Ruhe brauche und des hektischen Lebens überdrüssig sei.
Sie beschwerte sich nicht, dass Adrian nichts von sich hören ließ, und Herbert konnte sich nicht beklagen, so sanftmütig und liebevoll ging sie auf ihn ein.
Er gelangte zu der Überzeugung, dass sie das, was man Midlife-Krise nannte, überwunden hatte, und er überhäufte sie wieder mit Aufmerksamkeiten.
*
Völlig unbeschwert hatte Nicola indessen ihre Aufträge geordert. Man war entzückt gewesen, dass eine so bezaubernde junge Dame, die einen so vorzüglichen Geschmack besaß und auch so viel Sachverstand, ohne viel Gerede die Einkäufe tätigte. Monsieur Rolain hatte das große Los gezogen, davon war man auch in Cremona überzeugt.
Nicola hatte nur einmal mit ihm telefoniert und ihn gefragt, welches Limit er ihr setze, und er hatte erwidert, dass sie völlig freie Hand hätte.
Hermanke konnte nur über Nicolas große Selbstsicherheit staunen, auch dann, als sie dann ganz plötzlich in der Hotelhalle Adrian Frobenius gegenüberstanden.
Für Hermanke war er ein Unbekannter, Nicolas Augen weiteten sich.
»Soll das ein Zufall sein?«, fragte sie ironisch.
»Nicht ganz«, gab er zu, und eine Ausrede hatte er auch schon bereit. »Ich sollte für meinen Bruder hier etwas erledigen.«
»Mir nachspionieren?«, fragte sie anzüglich.
»Aber nein, wie können Sie das denken, gnädiges Fräulein. Bitte, lassen Sie es mich erklären.«
»Ich bin bei der Konkurrenz beschäftigt«, erklärte Nicola. »Das wissen Sie sicher.«
»Herbert ist in Rom, Rolain in München. Ich sehe das nicht als Konkurrenz.«
»Sie wollen mich nicht abwerben?«, fragte sie dann hintergründig.
»Aber nein, ich bin doch froh, dass Sie in München bleiben. Ich lebe auch dort.«
Nun wurde sie doch verlegen, als er sie so bittend anschaute.
»Gestatten Sie mir bitte, Sie zum Essen einzuladen«, sagte er leise.
»Gut«, erwiderte sie nach einem kurzen Zögern, und nun doch neugierig, was er ihr zu sagen hatte oder sagen wollte. »Wenn Sie das gnädige Fräulein weglassen, sonst werde ich erst recht ungnädig. Und wenn Sie damit einverstanden sind, dass über geschäftliche Dinge kein Wort verloren wird.«
»Dies liegt auch nicht in meiner Absicht.«
Eigentlich störte Nicola nur der Name Frobenius an ihm, das gestand sie sich ein, als sie sich für das Dinner umkleidete.
Auf der Hut war sie anfangs dennoch, als sie dann an einem hübsch gedeckten Tisch saßen. Aber Adrian dachte gar nicht daran, das Thema Beruf anzuschneiden.
Nicola ließ es sich schmecken. Sie hatte Hunger nach diesem anstrengenden Tag.
»Wenn ich nun sage, dass ich Ihretwegen nach Cremona gekommen bin, Nicola, sind Sie dann eigentlich böse?«
Sie sah ihn nun forschend an. »Dann würde ich erst gern wissen, von wem Sie es wissen, dass ich hier bin.«
»Von Frau Dr. Norden«, erwiderte er. Er hoffte, dass Fee ihm diese Ausrede nicht verübeln würde. »Sie sagte es ganz beiläufig, als ich mich nach Ihrem Befinden erkundigte.«
»Und sie weiß es natürlich von meiner lieben Mami, die sich wieder hunderttausend Gedanken macht, dass ihr kleines Mädchen wieder heil zurückkommt«, meinte Nicola lächelnd. »Mütter können nicht verstehen, dass ihre Kinder erwachsen werden.«
»Es ist doch gut, eine solche Mutter zu haben«, sagte Adrian. »Manche Mütter kümmern sich überhaupt nicht um ihre Kinder, und dann wundern sie sich, wenn sie unter die Räder kommen.«
»Solche Frauen sollten sich doch besser keine Kinder anschaffen«, sagte Nicola.
Plötzlich konnte sie viel unbefangener mit ihm sprechen. Die Mauer, die zwischen ihnen stand, war nicht mehr vorhanden. Die Mauer, das waren Herbert und Helga Frobenius gewesen.
Und sie war es dann, die auf die Ähnlichkeit zu sprechen kam.
»Herr Frobenius hatte mir ja gesagt, dass ich dem Typ entspreche, den er sucht, als er mich engagierte, aber ich konnte nicht ahnen, dass ich so eine große Ähnlichkeit mit seiner Frau habe. Wie so was wohl möglich ist?«
»Laune der Natur«, erwiderte Adrian.
»Frau Frobenius schien keineswegs entzückt«, stellte Nicola fest.
»Für die Ältere sieht es ja auch ein bisschen negativer aus als für ein junges Mädchen.«
»Eigentlich ist in diesem Beruf doch die Routine maßgeblich«, erklärte Nicola unbefangen. »Ich wollte nie Mannequin werden. Für mich war es nur eine Gelegenheit, Geld zu verdienen, da wir ja noch ziemlich in der Klemme waren. Aber das wissen Sie ja. Jetzt sind wir aller Sorgen ledig, und ich habe eine sehr gute Stellung.« Sie errötete leicht, denn vom Beruf hatte sie ja nicht sprechen wollen.
»Es gefällt Ihnen also bei Rolain«, sagte Adrian.
»Ja, sehr gut.«
»Es freut mich, und es freut mich umso mehr, da Sie in München bleiben. Ich hoffe, dass ich Sie doch ab und zu treffen werde, Nicola.«
»Warum hoffen Sie das?«
»Weil es mir sehr viel bedeuten würde, wenn wir gute Freunde werden könnten. Mir wäre es jetzt wirklich lieber, wenn ich nicht der Bruder von Herbert Frobenius wäre.«
»Aber Sie verstehen sich doch sehr gut mit Ihrem Bruder.«
»Sie bedeuten mir mehr, Nicola«, sagte er leise. »Sehr viel mehr.«
Es war eine solche Wärme, eine solche Herzlichkeit in seiner Stimme, dass Nicola der Atem stockte. Und sein Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie war jung. Ein Zauber hielt sie gefangen, der sie augenblicklich alles vergessen ließ. Und er nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen.
»Ich liebe dich, Nicola«, flüsterte er. »Ich bin nach Cremona gekommen, weil ich große Angst um dich hatte.«
»Warum Angst?«, fragte sie beklommen.
»Eine unbekannte Angst, dass dir etwas geschehen könnte.«
»Seltsam«, sagte sie nachdenklich, »Hermanke sagte, dass ich beobachtet würde. Ein Mann in einem hellen Sportwagen sei uns gefolgt, und er hätte den Wagen auch auf dem Hotelparkplatz gesehen.«
»Ich habe einen blauen Wagen«, sagte Adrian. »Hermanke kann sich überzeugen, dass ich dir nicht gefolgt bin.«
Sie senkte den Blick. »Ich bin ziemlich verwirrt«, flüsterte sie. »Ich brauche frische Luft.«
*
Das Hotel lag am Rande der Stadt, und hier waren die Straßen nicht mehr so belebt. Aber Nicola hätte sowieso nichts mehr wahrgenommen, als Adrian seinen Arm um sie legte. Nicht fähig, ein einziges Wort zu sagen, ließ sie sich ganz von dem Zauber der hereinbrechenden Nacht einfangen, und als er sie an sich zog und küsste, fühlte sie sich gänzlich unbekannten Gefühlen ausgeliefert.
»Ausgerechnet in Cremona«, murmelte sie, als sie endlich wieder Atem schöpfen konnte.
»Wieso ausgerechnet?«
»Ich bin in Cremona zur Welt gekommen.«
»Was du nicht sagst!« Es kam heiser über seine Lippen, und es gefiel ihm nicht, dass er ihr nicht die Wahrheit sagen konnte.
»Papi hatte damals für Monate hier zu tun.« Sie hielt plötzlich inne. »Eigentlich müsste ich mich doch mal erkundigen, ob es diese Klinik noch gibt. Mami hat gesagt, dass Frau Dr. Vercelli sicher gar nicht mehr leben würde.«
»Die Hauptsache ist, du bist auf der Welt, Nicola«, sagte Adrian leise, »und ich hatte das Glück, dich zu finden.«
»Ich habe aber sehr liebe Eltern. Leider ist Papi ja nun nicht mehr bei uns, aber meine Mami lasse ich nie allein, Adrian. Das sollst du gleich wissen.«
»Ich werde es niemals von dir verlangen«, sagte er. »Wenn nur ein bisschen Platz in deinem Herzen auch für mich ist.«
»Es ist schwierig, eine solche Entscheidung zu treffen«, sagte Nicola nachdenklich. »Das Herz allein kann das nicht entscheiden. Morgen ist wieder ein Tag, ein hellichter Tag, und da kann alles anders aussehen.«
»Nicht bei mir, Nicola«, sagte Adrian. »Warum zweifelst du? Ich würde schon morgen zu deiner Mutter gehen und um deine Hand anhalten.«
Nicola löste sich von ihm. »Und wenn ich ja sage und einen Frobenius heirate, würde ich in diese Familie integriert«, sagte sie beklommen.
»Das darfst du doch nicht denken. Du darfst mir so was nicht unterstellen, Nicola«, widersprach er leidenschaftlich. »Meine Gefühle für dich haben mit Herberts Interessen überhaupt nichts zu tun.«
»Aber ich habe mich für Rolain entschieden, und er schenkt mir Vertrauen. Ich kann dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Ich habe mich für diesen Beruf entschieden. Ich bin keine Traumtänzerin, Adrian, auch wenn diese Nacht zum Träumen verführt.«
Sie wandte sich zu ihm um und legte spontan ihre Arme um seinen Hals.
»Selbst jetzt, da du eine Rolle in meinem Leben spielst, wird sich an meiner Einstellung zu diesem Leben nicht so schnell etwas ändern. Wenn es schon einen Mann gibt, dann bin ich für eine ehrliche Partnerschaft.«
»Und was stellst du dir darunter vor?«, fragte er.
»Man braucht ziemlich viel Zeit, um sich genau kennenzulernen.«
Seine Hände legten sich um ihr Gesicht. »Wirst du mir Gelegenheit dazu geben, Nicola?«, fragte er beklommen.
»Du hast deine Arbeit, ich habe meine Arbeit, und sicher werden wir manchmal Freizeit haben. Einverstanden, Adrian?«
»Und in diese Freizeit werden wir deine Mami einbeziehen?«
»Bist du dagegen?«
»Ganz im Gegenteil. Ich finde es wunderbar, wenn es solche Mütter gibt.«
»Du hast doch auch eine Mutter«, sagte sie ganz leise.
»Ich hatte eine, aber ich lernte sie nie richtig kennen. Sie starb, als ich noch klein war, und dann wurde ich von meinem Vater und meinem großen Bruder aufgezogen und ein paar Angestellten, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Und dann starb auch mein Vater, und Herbert sorgte für mich.«
»Und deshalb bist du ihm auch verpflichtet«, sagte Nicola nachdenklich.
»Gewiss, aber nicht so sehr, dass die Frau, die ich liebe, ihm auch verpflichtet sein müsste. Ich wäre ihm zuliebe auch nicht in seine Fußstapfen getreten.«
»Aber zufällig habe ich den gleichen Beruf gewählt«, sagte Nicola.
»Und ich habe mir ein Ziel gesteckt, das ich nicht aufgeben will, Adrian.«
»Gute Partner passen sich einander an, wenn wir es so betrachten wollen, Nicola«, sagte er weich. »Eine gute Partnerschaft setzt auch viel Verständnis voraus, und auch Geduld. Du bist noch sehr jung, aber schon sehr zielbewusst.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Gut, dass du nicht egoistisch sagst, Adrian. Das bin ich nicht.«
»Nein, das bist du gewiss nicht. Du denkst an deine Mutter, aber vielleicht wird sie mich auch mögen.«
Da kam ein schelmisches Blitzen in Nicolas Augen. »Jedenfalls wird sie sehr überrascht sein, dass ich den Dr. Frobenius in Cremona getroffen habe«, sagte sie. »Sie hat mich sehr ermahnt, mich ja höflich bei dir zu bedanken, als du die Blumen geschickt hast.«
»Ich werde dir jetzt jeden Tag welche schicken«, sagte Adrian.
»Untersteh dich. Blumen sind schrecklich teuer«, sagte Nicola, »und sie verwelken jetzt so schnell. Und außerdem haben wir jetzt viele Herbstblumen im Garten.«
Ja, daheim wurde es jetzt schon langsam Herbst. Am Morgen lagen schon Nebelschwaden über dem Garten, und Ulrike fürchtete um ihre schönen Tomaten, die noch nicht ganz reif waren. Brombeeren hatte sie in reichlicher Fülle geerntet und zu köstlicher Marmelade gekocht, während Nicola fern war, und von den Äpfeln, die schon reif vom Baum gefallen waren, hatte sie einen Kuchen gebacken.
Als Nicola in Cremona erwachte und das Frühstück bestellte, fand sie auf dem Serviertisch drei rote Rosen vor und ein kleines Päckchen.
Darin fand sie einen schmalen Ring mit einem wunderschönen Topas. Und ein Zettelchen lag auch dabei.
Hier in Cremona ist alles möglich. Der Topas hat die Farbe Deiner Augen, wenn sie im Mondlicht erstrahlen. Diesmal werde ich Eurem Wagen folgen, aber Herr Hermanke braucht es nicht zu wissen, wer Dir auf den Fersen ist.
Für immer
Dein Adrian
Wo er den Ring noch aufgetrieben hatte, war Nicola ein Rätsel, aber ihr Herz war erfüllt von Glück. Gefühl und Verstand musste man trennen, das hatte ihr der Vater schon beigebracht, aber es gab da doch wohl eine Brücke, und der Ring passte. Sie steckte ihn an ihren linken Ringfinger, und dort blieb er auch.
Und sie sah dann auch den Wagen, der ihnen folgte. Hermanke verlor kein Wort darüber, bis sie München erreicht hatten. »Diesmal war es ein blauer Wagen«, sagte er.
»Sie müssen jetzt aber nach links abbiegen«, sagte sie.
»Nein, ich soll Sie gleich heimbringen, hat der Chef befohlen. Er hat heute Abend eine Konferenz. Sie sollen sich ausruhen. Ist ja auch schon spät genug und doch eine lange Fahrt.«
Eine halbe Stunde später war Nicola daheim und wurde von Ulrike in die Arme geschlossen. Es roch nach frischer Farbe.
»Die Maler waren tatsächlich da«, staunte Nicola. »War das nicht ein bisschen viel für dich, Mami?«
»Ganz im Gegenteil, da verging die Zeit doch schneller. Und schau mal, wie du empfangen wirst!«
Ein großer Strauß dunkelroter Rosen stand auf dem Tisch. Und Nicolas Wangen wurden auch dunkel, als sie die beigefügte Karte las.
Auf baldiges Wiedersehen, geliebte Nicola.
Dein Adrian
Nicola sah ihre Mutter an. »Es soll niemals Heimlichkeiten zwischen uns geben, Mami«, sagte sie leise. »Ich habe Adrian Frobenius in Cremona getroffen. Du darfst nicht denken, dass es verabredet war. Du wirst ihn bald kennenlernen.«
»Ich freue mich darauf, mein Kleines. Aber jetzt ruhst du dich aus, und dann können wir uns beim Essen unterhalten.«
»Warum fragst du nichts?«
»Du wirst mir schon alles erzählen«, sagte Ulrike. »Ich bin glücklich, dass du gesund heimgekehrt bist.«
*
Nicola hatte geduscht und sich einen leichten Hausanzug angezogen. Und nun ließ sie sich das heimatliche Essen gut schmecken.
»Niemand kocht so gut wie du, Mami«, sagte sie.
»Übertreib nicht«, meinte Ulrike lächelnd. »Du hast doch in einem Luxushotel gewohnt.«
»Aber zum Essen hatte ich nicht viel Zeit.« Sie blickte auf und geriet ins Stocken. »Was ist los mit dir? Woher hast du diese Flecken, Mami?«
»Das kommt von der Farbe, hat Dr. Norden gesagt. Mach dir keine Gedanken. Es war gestern schlimmer. Ich habe die Heizkörper streichen lassen, und dann hat es leider so geregnet, dass ich die Fenster nicht offenlassen konnte.«
»Du hast Fee Norden erzählt, dass ich in Cremona bin«, sagte Nicola nachdenklich. »Ich dachte schon, Adrian hätte es geschwindelt.«
Ulrike stocherte auf dem Teller herum. »Ich habe es wohl erwähnt«, sagte sie stockend, aber sie wusste genau, dass sie das nicht getan hatte, und sie machte sich Gedanken.
Nicola erzählte ganz unbekümmert weiter. »Eigentlich wollte ich mich noch erkundigen, ob es diese Dr. Vercelli noch gibt, aber weil dann Adrian plötzlich erschien, bin ich einfach nicht mehr dazu gekommen. Denk jetzt aber nur nicht, dass ich seinetwegen wirklich alles über den Haufen werfe. Wenn er dir gar nicht gefällt, werde ich es schon zurechtbiegen. Du darfst niemals denken, dass mir ein Mann wichtiger ist als du.«
Ulrike hielt den Atem an. Sie brauchte ein paar Minuten, um nach einer Antwort zu ringen.
»Es kommt doch ganz darauf an, ob du ihn liebst, Nicky«, sagte sie verhalten. »Du darfst nicht allzu viel Rücksicht auf mich nehmen.«
»Ich glaube schon, dass ich ihn sehr lieb habe«, sagte Nicola, »aber es muss sich ja erst beweisen. Jedenfalls habe ich gleich gesagt, dass ich dich niemals alleinlassen werde, und damit war er eigentlich auch einverstanden. Und meinen Beruf gebe ich auch nicht auf. Das ist klar. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, dass ich gleich den Kopf verliere, Mami.«
»Mit dem Verstand allein kann man das aber nicht entscheiden, Nicky«, sagte Ulrike. »Es ist dein Leben, und nicht meines. Ich habe dir oft gesagt, dass ich dir niemals im Wege stehen will.«
»Ja, das hast du oft gesagt, aber ich sage dir, dass du zu meinem Leben gehörst wie kein anderer Mensch, und dass wir immer beisammenbleiben werden. Vielleicht wäre alles ein bisschen anders, wenn Papi noch leben würde und ich wüsste, dass du nicht allein bist. Aber was sollen wir lange darüber reden. An Heirat denke ich noch lange nicht. Wir werden abwarten, was Herbert Frobenius denkt und sagt und wie Adrian sich verhält, wenn ich weiterhin bei Rolain bleibe.«
»Wie kannst du nur so nüchtern denken, Nicky?«, fragte Ulrike leise.
»Ich mache mir keine Illusionen, Mami. Ich habe mir nie welche gemacht. Ich weiß schon zu gut, wie der Hase läuft. Es gibt doch so viele Beispiele dafür. Da schweben sie über den Wolken, wird von der großen Liebe geredet und eine Traumhochzeit gefeiert, und was dann kommt, ist erbärmlich. Ich habe keine Erfahrungen mit Männern gesammelt. Das will ich auch nicht. Aber wenn der erste Mann, den ich liebhabe, mich enttäuscht, ist es aus und Amen. Dann habe ich einen Beruf, in dem ich den Männern beweisen kann, was auch eine Frau leisten kann.«
»Und wenn er dich nicht enttäuscht, Nicky?«
»Dann werde ich ihn lieben, und er wird der einzige bleiben, weil ich weiß, dass er mich akzeptiert, und dass er auch dich akzeptiert.« Mit einem Lächeln sah sie ihre Mutter an. »Und dann werden wir eine Omi brauchen, weil ich nicht im Sinn habe, meinen Beruf aufzugeben. Was hältst du von diesem Vorschlag?«
»Ich würde sehr gern eine Omi sein, aber du musst daran denken, dass Kinder eine Mutter noch nötiger brauchen, Nicky«, erwiderte Ulrike. »Und ein richtiger Mann möchte auch seine Frau für sich haben.«
»Okay, alles klar, Mami, aber ein richtiger Mann hat auch seinen richtigen Beruf und ist den ganzen Tag beschäftigt. Und eine Ehe ist doch erst eine richtige Gemeinschaft, wenn man Kinder hat.«
»Auch dann ist es aber nicht gesagt, dass eine Ehe von Bestand ist, Nicky«, sagte Ulrike leise.
»Siehst du, du hast es gesagt. Deshalb sollte man sich nicht verliebt und kopflos in eine Ehe stürzen, nur weil der Verstand mal aushakt, oder weil man auch die Bequemlichkeit vorzieht, sich versorgen zu lassen.«
»Du darfst nicht denken, dass ich unter solchen Voraussetzungen ja gesagt habe«, flüsterte Ulrike.
»Das war doch nicht auf dich gemünzt, Mami. Susi denkt so.«
»Hast du sie mal wieder getroffen?«
»Wann denn? Ich habe keine Zeit, und sie hat jetzt nur noch ihren Freund im Kopf.«
Ulrike war doch ein wenig besorgt, dass Ulrike die Karriere wichtiger sein könnte als alles andere. Aber so war es doch nicht. Mit einem verträumten Blick betrachtete Nicola die Rosen.
»Er ist sehr, sehr nett, Mami«, sagte sie leise. »Er wird dir bestimmt gefallen. Aber was wird Rolain denken?«
Wenn sie geahnt hätte, dass Jules Rolain und Adrian jetzt beisammensaßen, hätte sie nicht so ruhig einschlafen können.
*
Adrian hatte Rolain schon von Cremona aus angerufen und ihn um diese Unterredung gebeten, zu der sich Rolain auch sofort bereit erklärt hatte. Diese Bereitwilligkeit hatte Adrian überrascht. Und noch mehr überrascht war er, als Jules Rolain gleich die Karten auf den Tisch legte.
»Ich weiß, dass Sie in Cremona waren, Dr. Frobenius. Ich nehme an, Sie wollen mit mir über Nicola sprechen.« Als Adrian ihn ganz fassungslos anblickte, fuhr er mit einem weisen Lächeln fort: »Vielleicht auch über Janine oder Helga Frobenius?«
»Ich bin sprachlos«, entfuhr es Adrian.
»Dann bleiben Sie es vorerst«, sagte Jules Rolain.
»Ich glaube, dass wir auf verschiedenen Wegen zu gleichen Erkenntnissen gekommen sind, womit ich sagen will, dass ich auch einen Privatdetektiv beschäftigt habe, als mir diese Ähnlichkeit zwischen Helga und Nicola zu denken gab. Ich weiß, dass Sie Dr. Vercelli aufgesucht haben, Nicola Vercelli. Wir können also ganz offen miteinander reden.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Adrian stockend.
»Durch Pierre Cambray.«
»Er ist tot!«
»Ja, ich weiß. Es löst manches Problem für alle Beteiligten. Ich habe seine Beerdigung bezahlt. Für Erpresser habe ich nichts übrig, aber im Grunde war er eine arme Kreatur.«
»Sie kannten ihn?«, fragte Adrian.
»Er kam zu mir, nachdem Herbert und Helga mit unbekanntem Ziel verreist waren. Er brauchte Geld, da wollte er sich an mich halten.« Nun machte er eine Pause und sah Adrian forschend an. »Was haben Sie von Nicola Vercetti erfahren?«
»Sie erwähnte den Namen Rolain, Claude Rolain allerdings.«
»So hieß mein Sohn. Er starb vor zwanzig Jahren. Sie haben doch nicht etwa vermutet, dass ich Nicolas Vater sein könnte?« Er lachte bitter auf. »Ich hatte eine gute Frau, und sie war eine gute Mutter. Ich kann leider nicht sagen, dass Claude auch ein guter Sohn war. Er hatte nicht das geringste Verantwortungsbewusstsein. Wenn er mir gesagt hätte, dass Janine schwanger ist, wäre alles anders gekommen.«
»Wäre es für Nicola besser gewesen?«, fragte Adrian tonlos.
»Nun, diese Frage habe ich mir auch gestellt, seit ich sie kenne.«
»Ich glaube, dass es besser ist, wenn sie die Wahrheit nicht erfährt«, sagte Adrian mit erzwungener Ruhe.
Nun sah Jules Rolain ihn konsterniert an. »Aber warum haben Sie dann alles ausgeforscht?«
»Weil ich Nicola liebe, und weil ich nicht will, dass ihr jemand zerstört, was ihr so viel bedeutet.«
»Sie setzen mich in Erstaunen, Dr. Frobenius. Ich war der Meinung, dass Helga sie beauftragt hat, diese Nachforschungen vorzunehmen.«
»Sie hat keine Ahnung und wird es auch nie erfahren«, erwiderte Adrian. »Von mir jedenfalls nicht, und ich glaube auch nicht, dass sie interessiert ist, sich als Mutter von Nicola zu bekennen.«
»Aber sie muss sich doch Gedanken machen«, sagte Jules Rolain.
»Sie hat das Talent, alles, was ihr nicht in den Kram passt, zu vergessen oder zu verleugnen.«
Jules runzelte die Stirn. »Man sprach davon, dass zwischen Ihnen und Helga ein ganz besonderes Verhältnis herrscht. Verübeln Sie mir bitte nicht, dass ich es erwähne.«
»Man hat sich getäuscht«, sagte Adrian. »Ein intimes Verhältnis war es nicht. Ich will einräumen, dass Helga mehr von mir erwartet hat als Dankbarkeit, aber ich bitte Sie mir zu glauben, dass diese Gerüchte der Wahrheit entbehren. Ich gebe zu, dass ich anfangs von der Ähnlichkeit zwischen Helga und Nicola fasziniert war, aber die Gefühle werden nicht durch Äußerlichkeiten bestimmt. Darf ich fragen, wie lange Sie eigentlich schon wissen, dass Helga Nicolas Mutter ist?«
»Noch nicht lange«, erwiderte Jules Rolain gedankenverloren. »Ich muss von der Vergangenheit sprechen, da wir nun einmal dabei sind, und es mir um Nicolas Wohl geht. Claude, mein Sohn, hatte viele Ambitionen. Schnelle Autos, schöne Frauen, kostspielige Abenteuer jeder Art. Er fing früh damit an. Dass Janine ein Kind von ihm bekam, erfuhr ich von ihr selbst. Da war Claude schon tot. Sie brauchte Geld, ich habe es ihr gegeben. Als sie mir dann mitteilte, dass das Kind nicht lebensfähig gewesen sei, gab ich ihr nochmals Geld. Wir schlossen ein Abkommen, damit alles zu vergessen. Es war vergessen. Ich wusste ja nicht, dass das Kind lebte.«
»Helga wusste es auch nicht. Dr. Vercelli hat ihr gesagt, dass das Kind gestorben sei.«
Jules Rolain schloss die Augen. »Es ist gut, das zu wissen«, sagte er leise. »Es verzeiht vieles.«
»Aber Sie wussten, dass Janine Helga Frobenius wurde«, sagte Adrian.
»Ja, das konnte mir nicht verborgen bleiben. Doch wir konnten uns aus dem Weg gehen und schwiegen beide. Dann aber sah ich Nicola auf der Meisterschule. Ich glaubte von Anfang an nicht an eine zufällige Ähnlichkeit, zumal Nicola auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Claude hat.« Er machte wieder eine kleine Pause. »Sie gestatten mir ein wenig Sentimentalität. Ich spreche schließlich von meiner Enkeltochter.«
»Sie wollen es ihr sagen?«, fragte Adrian bestürzt.
Jules sah ihn voll an. »Ich würde es gern tun, aber ich werde nichts tun, was ihr Schaden zufügen könnte. Ich werde jeden Tag genießen, den ich noch mit ihr beisammen sein kann, und ich werde dafür sorgen, dass sie und auch Frau Hermsdorf ein sorgloses Leben führen können.«
»Sie sind ein großherziger Mensch«, sagte Adrian leise.
»Ich bin ein sehr einsamer Mann, Dr. Frobenius. Meine Frau starb vor Kummer über den Tod unseres Sohnes. Mein Gott, ich denke, dass er vielleicht glücklich gewesen wäre, eine solche Tochter zu haben, und vielleicht hätte es vor allem meiner Frau geholfen, den Schmerz zu überwinden, wenn sie für das Kind hätte sorgen können. Ich weiß nicht, was eine Frau bewegen kann, ihr Kind im Stich zu lassen.«
»Es gibt mehr solcher Frauen«, sagte Adrian. »Helga war jung, zu jung, und vielleicht hätte sie anders gehandelt, wenn Ihr Sohn nicht verunglückt wäre. Es mag sein, dass sie sich jetzt auch Gedanken macht, aber ich bin sicher, dass sie die Vergangenheit ruhen lassen will. Nicola hat das bessere Los gezogen, das sollten auch Sie akzeptieren.«
»Ich akzeptiere es«, sagte Jules leise. »Ich bin ein alter Mann. Ich kann mich jetzt noch daran freuen, welch wundervolles Menschenkind Nicola ist. Ich kann ihr den Weg in die sichere Zukunft ebnen.«
Er versank wieder in Nachdenken. »Aber wenn Sie Nicola lieben, wenn Sie sie heiraten wollen, sind dies vielleicht nur Träume, denen ich jetzt nachhänge.«
»Nicola hat sehr konkrete Vorstellungen über ihre Zukunft«, sagte Adrian. »Sie ist entschlossen, ihren Beruf auszuüben.«
Nun lächelte Jules flüchtig. »In diesem Beruf bleibt auch Zeit für das Privatleben, sofern der Partner Verständnis aufbringt. Die einzige Schwierigkeit sehe ich darin, dass der Partner Frobenius heißt.«
»Adrian Frobenius, von Beruf Rechtsanwalt, und der versichert mit großem Ehrenwort, dass kein Wort von diesem Gespräch, für das ich überaus dankbar bin, weitergesagt wird.«
»Ich vertraue Ihnen, sonst wäre ich nicht so offen gewesen«, erwiderte Jules. »In meinem Alter hat man so viele Menschen kennengelernt, dass man die Spreu vom Weizen zu scheiden vermag, wenn man mit offenen Augen durch die Welt gegangen ist. Ich hoffe, wir werden uns öfter sehen.«
»Es würde mich freuen«, sagte Adrian, »und ich bin glücklich, dass Nicola so gut aufgehoben ist.«
»Für mich war es eine große Freude, dass sie sich nicht durch ein ganz bestimmt glänzendes Angebot von Herbert Frobenius verlocken ließ.«
»Nicht um das Doppelte«, sagte Adrian. »Ein Beweis, wie sehr sie ihre Mutter liebt.«
»Ich habe es begriffen, als ich Frau Hermsdorf kennenlernte. Ja, Adrian, es ist gut, dass wir uns einig sind. Ich besaß wenig echte Freunde im Leben, für die ich einfach Jules war. Machen Sie mir die Freude, mich auch so zu nennen, wenn ich auch Ihr Vater sein könnte.«
»Es wäre schön gewesen, einen solchen Vater zu haben, Jules, aber es ist auch schön, einen solchen Freund zu haben.«
»Wir sind enger verbunden«, sagte Jules gedankenverloren. »Wir lieben das gleiche Mädchen unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Ja, ich habe sie sofort geliebt, und nichts wünsche ich mir mehr, als so eine Art Schutzengel für sie sein zu können, wenn ich als Großvater nicht in Erscheinung treten darf.«
*
Das Schicksal gleicht vieles aus, dachte Adrian in dieser Nacht. Oder sollte man es Gottes Güte nennen? Lernte er jetzt gar das zu glauben, was er bisher doch ein wenig belächelt hatte?
Erst gegen Morgen schlief er tief und traumlos, aber dann riss ihn das Läuten des Telefons aus tiefstem Schlaf.
Zuerst hörte er es nicht, aber es läutete immer wieder, und dann nahm er schlaftrunken den Hörer auf.
Es war sein Bruder, und seine Stimme klang aufgeregt. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Adrian. Helga ist krank. Sie hat die ganze Nacht phantasiert. Ich verstehe nicht, was in ihr vor sich geht. Jetzt ist sie völlig apathisch.«
»Hast du nicht einen Arzt gerufen?«, fragte Adrian, der nun sofort munter wurde.
»Natürlich habe ich das, aber sie hat ihn weggeschickt. Sie hat gesagt, dass sie sich nicht verrückt machen lässt, und er hat mich ganz komisch angeschaut. Jetzt packt sie die Koffer. Sie will mich verlassen, sich auf eine einsame Insel zurückziehen. Ich dreh auch schon langsam durch.«
»Gib sie mir«, sagte Adrian.
»Das ist sinnlos. Sie geht überhaupt nicht mehr ans Telefon. Kannst du nicht kommen? Vielleicht bringst du sie zur Vernunft.«
Adrian überlegte. »Sag ihr, dass Cambray tot ist«, sagte er. »Ich komme, wenn ich noch einen Platz im Mittagsflugzeug bekomme.«
»Buche First Class, ich bezahle es«, sagte Herbert. »Was ist denn mit diesem Cambray?«
»Ich erkläre es dir«, erwiderte Adrian. Aber wie er es seinem Bruder erklären sollte, wusste er noch nicht. Er musste sich erst sammeln, nüchtern überlegen. Er rief den Flugplatz an. Für eine First Class-Buchung hatte man ein Ohr. Und eine kalte Dusche machte Adrians Kopf wieder ganz klar.
Ihm wäre gewiss nicht wohl gewesen, hätte er erlebt, was sich jetzt in Rom, in Herberts Palais, abspielte.
Als Herbert Helgas Zimmer betrat, hatte sie den letzten Koffer geschlossen.
»Du fährst nicht weg«, sagte er entschlossen. »Adrian kommt.«
»Dann fahre ich erst recht«, stieß sie hervor. »Du musst dich immer hinter Adrian stecken, wenn es um mich geht.« Sie zitterte, und in ihren Augen war ein Ausdruck, der ihm Angst machte.
»Du hast immer gesagt, dass Adrian dich besser versteht als ich«, sagte er. »Ich soll dir sagen, dass Cambray tot ist.«
Sie stand geduckt da, die Hände krallten sich in den Lederkoffer. »Tot?«, murmelte sie, »ich glaube so was nicht mehr. Diese verdammten Ausreden, sie ist ja auch nicht tot. Ich lasse mich nicht mehr täuschen.«
Und ganz plötzlich rang sie nach Atem und sank bewusstlos zu Boden.
Herbert Frobenius erstarrte. Er war kein starker Mann, und er liebte diese Frau, seine Frau.
Er kniete neben ihr nieder. »Helli, mein Liebstes, komm zu dir«, stammelte er. »Ich will dir doch helfen, du sollst mich nur nicht verlassen. Ich liebe dich, Helli, hab’ doch Vertrauen zu mir.«
Doch dann begriff er, dass sie ihn nicht hörte, dass seine Stimme sie nicht ins Bewusstsein zurückbringen konnte. Er rief in panischer Angst wieder den Arzt, und schon zehn Minuten später wurde Helga Frobenius mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus gefahren. Herbert fuhr mit.
*
Als Adrian in Rom ankam und durch den Zoll gegangen war, vernahm er schon den Aufruf, dass er sich sofort bei der Information melden sollte.
Dort wurde ihm gesagt, in welchem Hospital er sich melden solle.
Er dachte weniger an Helga als an seinen Bruder, aber als er nach vierzigminütiger, halsbrecherischer Taxifahrt dort ankam, sah er schon seinen Bruder bleich und zusammengefallen in einem Sessel hocken.
»Was ist passiert, Bert?«, fragte er, ihn an den Schultern rüttelnd.
»Ich weiß nicht, niemand sagt mir etwas«, lallte Herbert. »Helga ist zusammengebrochen. Ich warte schon Stunden.« Er starrte Adrian fassungslos an. »Was hat es mit diesem verfluchten Cambray auf sich?«
»Er ist tot«, erwiderte Adrian.
»Ich habe es ihr gesagt, aber sie sagte, dass sie sich nicht mehr täuschen lasse. Sie lebe ja auch. Wer ist diese ›Sie‹?«
»Dreh jetzt bitte nicht durch«, sagte Adrian bittend und voller Sorge.
»Es wird alles zu klären sein.«
»Du weißt mehr als ich«, stöhnte Herbert. »Du wusstest immer mehr! Aber ich liebe Helli. Ich bin seit zwölf Jahren mit ihr verheiratet und kenne sie noch länger. Mir ist egal, was früher einmal war, was für eine Rolle dieser Cambray in ihrem Leben gespielt hat, ich will sie nicht verlieren. Vor mir braucht sie doch keine Angst zu haben. Sie muss doch wissen, dass ich immer zu ihr halte. Ich bin nichts ohne sie.«
Mein Gott, dachte Adrian, er darf doch nicht daran zerbrechen. Und dann kam der Arzt. Seine ernste Miene raubte auch Adrian den Atem.
»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihre Frau eine Bauchhöhlenschwangerschaft hatte, Signore Frobenius«, sagte er leise. »Wir mussten operieren, aber ihr Zustand ist leider bedenklich.«
»Eine Schwangerschaft«, murmelte Herbert. »Oh, Gott im Himmel, daran darf sie doch nicht sterben, nein, nicht daran!«
»Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, sagte der Arzt. Und er sah Adrian beschwörend an.
»Sie wollte doch gar kein Kind, und mir ist es auch nicht wichtig«, flüsterte Herbert mit trockenem Schluchzen. »Sie soll leben. Ich will zu ihr.«
»Ihre Frau ist nicht bei Bewusstsein, Signore Frobenius, sie liegt auf der Intensivstation. Wir benachrichtigen Sie, wenn sie zu Bewusstsein kommt.«
»Ich bleibe«, sagte Herbert. »Ich will sie sehen. Ich will bei ihr sein.«
Adrian wurde es heiß und kalt. So sehr liebt er sie, ging es ihm durch den Sinn, und es war ihm, als würde seine Brust zusammengeschnürt. Nie hatte er gedacht, dass Herbert tatsächlich solch tiefer Gefühle fähig sein könnte, und immer noch, obgleich Helga doch gewiss keine liebevolle Frau gewesen war. Oft genug war er Zeuge gewesen, wie sie ihn abkanzelte oder maßregelte. Nicht immer hatte es Herbert geschluckt, aber jetzt brach alles Gefühl aus ihm hervor. Er war verzweifelt.
Es nützte nichts, dass Adrian beruhigend auf ihn einsprach. »Du kannst mich nicht verstehen«, murmelte Herbert. »Ohne sie hätte ich es zu nichts gebracht, und wer weiß, was dann aus dir geworden wäre. Wage ja nicht, ein böses Wort gegen Helli zu sagen.«
»Das will ich doch nicht, Bert«, sagte Adrian. »Ich weiß, was ich ihr verdanke. Ich wollte ihr auch nicht wehtun, gewiss nicht.«
»Aber du hast Cambray ins Spiel gebracht«, warf Herbert ihm vor.
»Nein, er hat sich selbst ins Spiel gebracht, aber er ist wirklich tot. Er kann auch Helga nicht mehr schaden.«
Herbert starrte ihn blicklos an. »Warum wollte er ihr schaden? Sie hatte Angst vor ihm, das weiß ich.«
»Jetzt ist doch nicht die Zeit, darüber zu sprechen«, sagte Adrian.
»Wann denn? Ich will alles wissen, um ihr helfen zu können, um jeden Feind auszuschalten.«
»Sie hat keine Feinde, Bert.«
»Aber sie hat Angst. Sie hat mich angeschaut wie ein todwundes Reh. Ich werde diesen Blick nie vergessen. Sie lebt doch auch, hat sie gesagt. Wer ist diese ›Sie‹? Ich muss es wissen. Niemand darf Helli Angst einjagen. Ich bin bereit, alles zu zahlen, wenn man sie erpressen will.«
»Niemand will Geld, Bert«, sagte Adrian. »Niemand will die Vergangenheit heraufbeschwören. Ich wollte es Helga sagen.«
»Für mich zählt die Vergangenheit nicht«, sagte Herbert tonlos. »Sie soll leben. Ich brauche sie, ich liebe sie. Aber das kann nur jemand verstehen, dem ein Mensch auch alles bedeutet.«
»Ich vestehe es, Bert. Du darfst auch nicht denken, dass ich dir Helga wegnehmen wollte. Niemals wollte ich das. Ich werde ihr immer Dank schulden für das, was sie für mich getan hat, und deshalb bin ich bereit, auch alles für ihren Seelenfrieden zu tun.«
»Dann sag mir alles, was du weißt«, forderte Herbert. »Was immer auch gewesen sein mag, es kann nicht so wehtun, als sie zu verlieren.«
*
Sie saßen in einem kleinen Raum. Herbert hatte die Hände vor sein Gesicht gelegt, während Adrian erzählte. Die Geschichte eines lebenshungrigen Mädchens kleidete er in sanfte, verstehende Worte, von dem Wunsch beseelt, seinem Bruder diese schweren Stunden zu erleichtern. Und als er geendet hatte, schluchzte Herbert trocken auf. »Aber warum hat sie es mir nicht gesagt? Ich hätte sie doch nur besser verstehen können.«
»Warum sollte sie über ein Kind sprechen, dass sie nicht mehr am Leben wähnte? Sieh es doch so, Bert. Für sie war das ein Stück Vergangenheit, das sie vergessen wollte. Sie hatte wohl Angst, dass du sie nicht verstehen könntest. Dich wollte sie nicht auch noch verlieren, nachdem sie wohl schon mancher Illusion beraubt war.«
Davon, dass Jules Rolain ihr Geld gegeben hatte, sagte er nichts, auch Claude erwähnte er nicht. Aber ganz eindringlich erklärte er, dass auch in Nicolas Interesse Stillschweigen bewahrt werden sollte.
»Sie ist doch ein sehr intelligentes Mädchen«, sagte Herbert etwas ruhiger. »Sie wird sich auch Gedanken machen.«
»Sie glaubt an eine Laune der Natur. Sie weiß es nicht anders, als dass sie als Kind von Ludwig und Ulrike Hermsdorf zur Welt gekommen ist. So steht es auch in der Geburtsurkunde. Es würde nur allen Beteiligten schaden, wenn die Wahrheit publik würde. Nicola ist kein Kind mehr, das Hilfe braucht, auch keine finanzielle, und ich denke, dass ich darauf hoffen darf, dass sie eines nicht mehr allzu fernen Tages meine Frau wird.«
»Du willst sie heiraten?«, rief Herbert überrascht aus.
»Ja, ich will es. Ich liebe Nicola, dabei spielt es keine Rolle, wer ihre Eltern sind. Ich liebe sie so, wie sie ist.«
Nun wurden sie gestört. Der Arzt kam und sagte, dass Herbert jetzt zu seiner Frau dürfe.
Adrian hielt er zurück. »Bitte, warten Sie, Ihr Bruder wird Trost brauchen«, sagte er leise.
Adrian sah ihn voller Entsetzen an. »Sie ist doch nicht tot«, flüsterte er.
»Sie ist nicht zu retten. Ihr Herz ist zu schwach. Es ist da auch ein Herzklappenfehler festgestellt worden.«
»Es ist schlimm, besonders schlimm für meinen Bruder«, murmelte Adrian.
Und Herbert saß an Helgas Bett und hielt ihre Hände. Er sprach auf sie ein, voller Zärtlichkeit, flehend und mit den liebevollsten Worten.
»Es wird alles gut, mein Liebling. Wenn du willst, gehen wir fort, dorthin, wo du Ruhe finden wirst. Mir ist nichts so wichtig wie du.«
Doch Helga hörte ihn nicht. Ihr Atem wurde immer schwächer. Und dann merkte Herbert, dass ihr Gesicht und auch ihre Hände eine wächserne Farbe annahmen. Verzweifelt rief er nach dem Arzt, und als er dann die für ihn so grausame Wahrheit erfuhr, brach er zusammen. Er weinte wie ein Kind, und nichts konnte ihn trösten, während Adrian nun dachte, dass es für Helga wohl am besten sei, nicht mehr aufzuwachen und sich mit Gewissensbissen zu quälen. Er ahnte, dass diese Qualen ihr alle Kraft geraubt hatten. Er wusste nun aber auch schon, dass Herbert sich von diesem Schicksalsschlag nicht mehr erholen würde.
*
Für Nicola war es ein glücklicher Tag. Sie hatte ein langes Gespräch mit Jules Rolain geführt, ihm die Stoffmuster gebracht und ihm erklärt, wie sie sich die neue Kollektion vorstelle. Dazu hatte sie auch gleich einige Skizzen aufs Papier geworfen und höchstes Lob ernten können.
Fast andächtig lauschte ihr Jules, und sein Blick ruhte voller Entzücken auf ihr, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen musste.
Plötzlich sah sie ihn an und errötete, weil er nicht sofort wieder sein Mienenspiel in der Gewalt hatte.
»Meine Ideen entsprechen wohl nicht ganz der Tradition des Hauses Rolain«, sagte sie stockend.
»Sie haben freie Hand, frischer Wind weht durch diese Hallen«, sagte er. »Ich hatte mich festgefahren, ich war auch müde geworden. Sie sind für mich ein Geschenk des Himmels, Nicola. Gestatten Sie mir, Sie und Ihre Frau Mama heute Abend zum Essen einzuladen?«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Monsieur Rolain. Es wird nicht allseits freundlich vermerkt, dass ich als Neuling so bevorzugt werde.«
»Wem es nicht passt, der kann gehen«, sagte er ruhig. »Falls Sie heute schon etwas anderes vorhaben, bestimmen Sie einen Termin.«
»Nein, wir haben eigentlich nie etwas vor. Wenn wir nicht mal ein paar Konzert- oder Opernkarten ergattern können, gehen wir nicht aus.«
Ihre unbefangene Natürlichkeit zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Ist das wirklich so schwierig?«, fragte er.
Sie nickte. »Und mächtig teuer.«
Dann wurde sie etwas verlegen, weil sie so ungeniert mit ihm sprach, und sie entschuldigte sich sogleich dafür.
»Bleiben Sie so, wie Sie sind, Nicola«, sagte er. »Ich schicke Hermanke so gegen sieben Uhr. Einverstanden?«
Ulrike betrachtete diese Einladung auch als eine Auszeichnung für ihre tüchtige Tochter, auf die sie so stolz sein konnte.
»Besser hättest du es wirklich nicht treffen können, Nicky«, sagte sie zufrieden.
»Ich weiß es zu schätzen, Mami. Hat Adrian angerufen?«
»Nein.«
»Nun, er wird auch zu tun haben«, sagte Nicola.
Aber gegen sechs Uhr läutete das Telefon. Da hatte Adrian sich doch so weit wieder in der Gewalt, dass er Nicola Bescheid geben konnte, und mit einem starken Beruhigungsmittel war er dann eingeschlafen.
Nicola hielt zuerst den Atem an, als Adrian sagte, dass er in Rom sei, aber was er dann sagen musste, war für sie doch ein Schock.
»Natürlich verstehe ich es, dass du jetzt bei deinem Bruder bleiben musst«, sagte sie leise. »Es ist schrecklich, sie war doch noch so jung.«
Als Ulrike diese Worte vernahm, durchlief ein Frösteln ihren Körper. Sie war kreidebleich, als Nicola den Hörer auflegte.
»Was ist geschehen?«, fragte sie bebend.
»Helga Frobenius ist gestorben. Sie hatte eine Bauchhöhlenschwangerschaft. Herbert Frobenius ist völlig gebrochen. Adrian bleibt jetzt bei ihm.« Sie lehnte sich an die Wand. »Zu denken, dass sie sich vielleicht immer ein Kind wünschte und deshalb sterben musste, ist so entsetzlich, Mami. Sie waren doch schon lange verheiratet, und sie hatten alles.« Tränen liefen jetzt über ihre Wangen. »Was bin ich nur froh, dass du diese Operation so gut überstanden hast. Hast du sie bei der Modenschau gesehen? Sie sah ja phantastisch aus. Man kann das doch gar nicht glauben, dass sie nun nicht mehr lebt.«
Ulrike hatte sich abgewandt. Ihr Herz schlug bis zum Halse und das, was sie hatte verdrängen wollen, war so lebendig, wie Helga Frobenius nun tot war.
»Ja, es ist schrecklich«, sagte sie heiser. »Ich weiß, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert.« Und was wird nun auf uns zukommen, fragte sie sich.
*
Hermanke war pünktlich angekommen. Sie hatten Jules Rolain nicht absagen wollen, aber fröhliche Gesichter konnten sie nicht zeigen.
Ulrike wurde von Sorgen gepeinigt, dass nun doch noch alles ans Tageslicht kommen könnte, Nicola dachte an Adrian.
In Jules Rolains wunderschöner Wohnung wurde ihnen ein vorzügliches Essen serviert, aber Jules entging es nicht, dass seine Gäste wenig Appetit hatten.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte er sich besorgt.
»Es tut mir leid, Monsieur Rolain«, sagte Nicola leise. »Ich möchte Ihnen nicht die Stimmung verderben. Wir haben vorhin gerade erfahren, dass Helga Frobenius gestorben ist.«
Auch um seine Fassung war es geschehen. »Das ist doch nicht möglich«, murmelte er. »Hat es Ihnen Dr. Frobenius gesagt?«
»Ja, er ist in Rom«, erwiderte Nicola. »Sie wissen, dass ich ihn kenne?«
»Ich kenne ihn auch, Nicola. Wir verstehen uns sehr gut. Das Wort Konkurrenz wollen wir jetzt mal ganz vergessen. Ich bin erschüttert, Helga war vor vielen Jahren einmal mit meinem Sohn befreundet, der vor zwanzig Jahren tödlich verunglückt ist. Ich musste das jetzt sagen. Es tut mir leid, dass dieses Beisammensein so getrübt wird.«
Einige Minuten herrschte tiefes Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Nicola sagte: »Dann sind auch Sie auf mich aufmerksam geworden, weil ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Helga Frobenius habe, Monsieur Rolain?«
»Ja, ich gebe es zu. Aber Sie sind ganz anders im Wesen, Nicola. Es kommt nicht auf Äußerlichkeiten an.«
Er fing Ulrikes Blick auf und hielt ihn fest, und da wurde sie ruhiger. Sie hatte plötzlich die Gewissheit, warum Jules Rolain Nicola so viel Zuneigung schenkte, und sie wusste auch, dass sie mit diesem Mann in einer stillen Stunde darüber sprechen konnte.
Der Bann war gebrochen. Nicola entschloss sich, auch ihr privates Anliegen zu klären.
»Ich möchte nicht, dass Sie falsche Schlüsse ziehen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Adrian in Cremona getroffen habe, Monsieur Rolain«, sagte sie.
»Das weiß ich bereits von Adrian«, erwiderte er. »Ich weiß, welches große, persönliche Interesse er an Ihnen hat, und ich hoffe, dass Sie es ihm nicht verübeln, dass er mit mir darüber gesprochen hat.«
»Warum hat Adrian mir das nicht gesagt?«, fragte Nicola.
»Er ist ein kluger Mann, mein junger Freund«, sagte Jules mit einem flüchtigen Lächeln, das auch eine leise Wehmut in sich hatte. »Er weiß genau, dass Nicola Hermsdorf einen starken Willen hat und ihre Mutter über alles liebt. Aber ein Mann kann seine Liebe am besten beweisen, wenn er nicht egoistisch denkt und wenn er auch einem alten Mann vergönnt, sich an einem hochbegabten jungen Mädchen zu freuen. Ich hatte nur einen Sohn. Er war einundzwanzig Jahre alt, als er starb. Ich wäre unendlich glücklich gewesen, ein Enkelkind zu haben, eines wie Sie, Nicola.«
Nicola sah ihre Mutter aus tränenfeuchten Augen an. »Für uns wäre es auch schön gewesen, wenn wir einen solchen Großpapa gehabt hätten, meinst du das nicht auch, Mami?«
»Ja, es wäre schön«, sagte Ulrike leise.
Wieder tauschte Jules einen langen Blick mit Ulrike. Dann hob er sein Glas. »Ich bitte darum, mich als solchen Ersatz zu akzeptieren«, sagte er leise. »Ich wäre unendlich glücklich.«
*
Dass dieser Abend einen so gefühlvollen Abschluss nehmen würde, hätten sie wohl alle nicht gedacht.
»Er ist ein wundervoller Mann«, sagte Nicola gedankenvoll, als sie daheim waren.
»Ich kann dir nur beipflichten, Nicky«, sagte Ulrike.
»Aber ich werde Adrian doch eines Tages fragen müssen, wie es zu dieser Freundschaft zwischen ihm und Jules gekommen ist.«
»Frag nicht, er wird es dir schon sagen«, erwiderte Ulrike. »Was aus Liebe getan wird, geschieht fern von Gut und Böse. Und ich denke jetzt auch, dass jede Schuld mit Liebe bezahlt werden kann.«
»Was meinst du damit, Mami?«, fragte Nicola.
Ulrike schrak zusammen. »Ich denke, dass Helga Frobenius ihren Mann sehr geliebt hat«, erwiderte sie. »Wirst du zu ihrer Beerdigung nach Rom fliegen?«
»Ich habe es Adrian doch versprochen«, sagte Nicola.
»Leg ihr auch von uns ein paar Blumen auf das Grab, Nicky«, sagte Ulrike. »Ich muss jetzt soviel daran denken, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Claude Rolain nicht so früh hätte sterben müssen.«
»Herbert Frobenius hat sie sehr geliebt, Mami«, sagte Nicola. Sie drehte sich um. »Ich wünsche mir, dass Adrian lange lebt und der einzige Mann in meinem Leben sein wird, wie Papi in deinem Leben.«
Dann ging sie schnell hinaus. Und im Bad hörte sie nicht das Klingeln des Telefons.
Es war Jules, der anrief. »Ich habe den Flug für Nicola gebucht, Ulrike«, sagte er. »Hermanke holt euch ab, und ich werde am Flugplatz sein. Dann können wir miteinander sprechen.«
»Ja, was wird wohl nötig sein«, erwiderte sie leise. »Danke für alles, Jules.«
*
Als sie sich von Nicola verabschiedet hatten, schob Jules seine Hand unter Ulrikes Arm.
»Du weißt ja alles«, sagte sie leise.
»Wir können schweigen, Ulrike, wir müssen es. Nicolas Leben soll so verlaufen, wie es bisher war, das will Adrian auch. Die Rolle des Großpapas kann ich auch so spielen, dafür bin ich dankbar. Und dass bei ihr mein Lebenswerk in den besten Händen sein wird, das weiß ich auch.«
»Denk doch nicht so weit, Jules.«
Schnell drückte er ihre Hand an seine Lippen. »Ich denke daran, dass ich erleben möchte, ein Kind von ihr heranwachsen zu sehen. Ich habe Vertrauen zu Adrian. Ich habe lange mit ihm gesprochen, und ich weiß, dass er Nicola sehr liebt.«
»Wie seid ihr zusammengekommen?«, fragte Ulrike.
Er erzählte es ihr. »Dann weiß er also auch alles«, sagte sie nachdenklich.
»Und es ist gut so. So können wir am besten fernhalten von ihr, was ihr vielleicht doch Kummer bereiten könnte. Sie soll an keine andere Mutter denken als an dich.«
»Denkst du nicht doch, dass es ein Unrecht war, Nicola als unser Kind auszugeben? Dass wir uns schuldig machten?«
»Es ist wirklich nur Gutes daraus entstanden. Eine verjährte Schuld, Ulrike.«
»Als Ludwig starb, so sterben musste, dachte ich, dass das die Strafe sei«, flüsterte sie.
»Und was hätte geschehen können, wenn Nicola in ein Waisenhaus gekommen wäre? Das wollen wir doch gar nicht denken. Dr. Nicola Vercelli wusste, dass sie das Kind in gute Hände legte.«
»Ich hatte mein Kind verloren«, sagte Ulrike leise.
»Ich weiß alles. Adrian hat mit Dr. Vercelli gesprochen, und er hat mir alles erzählt.«
»Wenn aber Helga am Leben geblieben wäre …«
»Lassen wir solche Gedanken«, unterbrach er sie.
*
In Rom schloss Adrian Nicola in die Arme, wortlos und erfüllt von dem großen Glück, dass sie gekommen war.
»Wie geht es deinem Bruder?«, fragte sie beklommen.
»Nicht gut, aber er ist jetzt etwas ruhiger geworden. Er wird alles aufgeben, Nicola.«
»Das darf er nicht. Er braucht eine Aufgabe«, sagte sie.
»Ohne Helga geht nichts mehr, Katja und David Delorme sind gekommen. Sie werden ihn zur Insel der Hoffnung bringen, wenn der morgige Tag vorbei ist. Vielleicht kann man ihm dort weiterhelfen.«
»Jules Rolain sieht in ihm keinen Konkurrenten, Adrian. Er hat mir erzählt, dass sein Sohn früher einmal mit Helga befreundet war.«
»Und was noch?«, fragte Adrian.
»Dass er sich gut mit dir versteht. Du bist sein junger Freund, und er wäre gern mein Großpapa. Helgas Tod hat ihn wirklich sehr erschüttert. Denk nicht, dass er ein böses Wort gegen sie gesagt hätte. Er ist so voller Güte.«
»Ja, er ist ein guter Mensch«, sagte Adrian.
»Wie das Leben doch so spielt«, sagte Nicola nachdenklich. »Wenn ich nicht zufällig diese Ähnlichkeit mit Helga gehabt hätte, wären wir uns vielleicht nie begegnet, und auch Jules wäre nicht auf mich aufmerksam geworden.«
Er sah sie lange an. »Jetzt finde ich, dass du ihr gar nicht so ähnlich bist«, sagte er leise.
Und auch all jene, die am nächsten Tag an Helgas Grab versammelt waren, schienen sich keine Gedanken zu machen. Nicolas Gesicht war allerdings auch fast verdeckt von einem schwarzen Spitzentuch.
Herbert schien nichts wahrzunehmen, was um ihn vor sich ging.
Aber auch diese Stunde ging vorbei. Am gleichen Abend trafen sie sich noch einmal auf dem Airport. Herbert flog mit den Delormes nach Frankfurt, Adrian und Nicola bestiegen wenig später die Maschine nach München.
Beim Abschied hatte Herbert für einen Augenblick die dunkle Brille abgenommen. Er sah Nicola aus todtraurigen Augen an.
»Werdet ihr glücklich«, sagte er leise.
»Etwas Gutes ist aus allem doch entstanden.«
*
Zwei Jahre später heirateten Adrian Frobenius und Nicola Hermsdorf. Adrian war ein angesehener Anwalt, Nicola präsentierte den Namen Rolain mit Kollektionen, die Aufsehen erregten. Jules Rolain hatte sich aus der Öffentlichkeit völlig zurückgezogen, aber es behagte ihm, ein Familienleben zu genießen, das ihm, nach seinen Worten, von Gott geschenkt worden war.
Herbert Frobenius hatte auf der Insel der Hoffnung eine neue Heimat gefunden. Er war ein stiller, in sich gekehrter Mann geworden, aber doch dem Leben nun wieder zugewandt, als er bei dieser Hochzeit als Trauzeuge neben Jules Rolain fungierte.
Jules hatte seine Hand mit festem Griff umschlossen, als sie sich zum ersten Male wieder begegneten.
»Jetzt zählt nur noch die Zukunft dieser beiden, Herbert«, sagte er.
»Und der Rest ist Schweigen«, sagte Herbert leise.
»Wir verstehen uns«, erwiderte Jules.
»Es wäre schön, wenn du Nicola ein bisschen unter die Arme greifen würdest, wenn sich Nachwuchs ankündigt, den ich mit brennender Ungeduld erwarte.«
Und lange brauchten sie darauf nicht mehr zu warten. Herbert Frobenius war ins Leben zurückgekehrt.
»Rolain und Frobenius sind vereint. Ich bin froh«, sagte Nicola unbeschwert. »Ich kann meine Kinder kriegen, ohne mir Sorgen ums Geschäft zu machen.«
»Unsere Kinder«, wurde sie von Adrian berichtigt.
»Natürlich unsere Kinder. Leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage, Schatz. Wir haben eine Großmama, einen Urgroßpapa, und nun auch noch einen Onkel, der was vom Geschäft versteht.«
»Und das Geschäft ist natürlich wichtig«, sagte Adrian.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Du hast doch gewusst, wen du heiratest«, sagte sie lächelnd. »Aber nun wird Herbert auch wieder Tritt fassen.«
»Und du schonst dich«, sagte Adrian.
»Da passt Dr. Norden auf«, lachte sie. »Es ist wirklich alles in bester Ordnung. Sammle deine Kräfte, ich will nämlich, dass du bei mir bist, wenn es soweit ist.«
»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte er zärtlich.
Und er war bei ihr, in der Leitner-Klinik, bis sich ihr Sohn ins Leben schrie, lautstark, dass es auch Ulrike und Jules hören konnten, die draußen warteten. Und Dr. Norden war es, der ihnen verkündete, dass es ein Sohn sei. Das hatte er sich nicht nehmen lassen, einmal eine so glückliche Nachricht zu überbringen, nachdem er so viel mit dieser Familie mitgemacht hatte.
Claudius Ludwig Julian Frobenius machte das Glück vollkommen, aber auch weiterhin musste sich Herbert Frobenius sehr engagieren, damit die Namen Rolain und Frobenius ihr Markenzeichen behielten, denn schon achtzehn Monate später gesellte sich noch eine Ariane Ulrike zu ihrem Brüderchen, und als sich dann zwei Jahre später das dritte Kind ankündigte, bot sich Herbert sofort als Pate an.
»Das müsst ihr mir jetzt zugestehen«, sagte er. »Nicolas Entwürfe sind wundervoll, aber jetzt möchte ich auch mal für etwas ganz Lebendiges verantwortlich sein.«
Und das konnte er für Nicolas Frobenius, den Jüngsten der Familie, der seinem Onkel und Paten alle Lebensfreude zurückgab.
Noch lange konnte sich Jules Rolain über seine Urenkel freuen und auch darüber, dass Nicolas unerschöpfliche Kreativität dann Herbert Frobenius immer neue Impulse gab.
Von allen geliebt war Nicola zu einer glücklichen Frau und Mutter geworden, und nie sollte sie erfahren, dass ihre Ähnlichkeit mit Helga doch nicht nur eine Laune der Natur gewesen war.
Für sie war es der göttliche Wille, der ihr das große Glück beschert hatte.